Susann Sitzler

Freundinnen

Was Frauen einander
bedeuten

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München

unter Verwendung einer Illustration von Olimpia Zagnoli

Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98067-7

E-Book: 978-3-608-10979-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Lea – Prolog

Teil Eins
Die Geschichte der Besten

1 Macht

2 Yvette

3 Kummer

4 Zeit

5 Risiko

6 Ranking

7 Ballsaal des Lebens

8 Konkurrenz

9 Ähnlichkeit

10 Körper

11 Balance

12 Schmerz

Teil Zwei
Lektionen in Freundschaft

1 Flucht

2 Glas

3 Wurzel

4 Themen

5 Abrupt

6 Verwitterung

7 Abenteuer

8 Latex

9 Hausrat

10 Schulterschluss

11 Sex

12 Wert

Lea: Pause

Teil Drei
Bildnisse der Freundin

1 Normen

2 Pfurri

3 Schaden

4 Hell on High Heels

5 Ausdünnen

6 Mob

7 Schwestern

8 Strauß

9 Räume

10 Sally und Harry

11 Porno

12 Kaffee

Teil Vier
Freundschaft selbst

1 Witwen

2 Bälle

3 Übergang

4 Ideal

5 Deshaming

6 Prinzip

7 Glamour

8 Varianten

9 Gleichgewicht

10 Harrys Comeback

11 Es ist was es ist, sagt die Freundschaft

12 Selfie

Lea – Epilog

Literatur

Wenn ich mir die Frauen angucke, von denen
ich umgeben bin, würde ich sagen: Ihre größte kommunikative Fähigkeit besteht darin, Gemeinschaft herzustellen, in der Widersprüche ertragen werden.

Michalis Pantelouris

Lea – Prolog

Die Große Versöhnung hat schon bei Sonnenschein stattgefunden, bei Wind und auch in einem Café unter Neonlicht. Aber gestern, als die Freundschaft zwischen Lea und mir wieder einmal weiterging, hat es übel geregnet.

Die Große Versöhnung mit Lea findet ungefähr alle fünf Jahre statt. Auch der Endgültige Bruch kommt ungefähr alle fünf Jahre. Er liegt immer etwa ein Jahr vor der Gro-ßen Versöhnung. So groß ist die Versöhnung eigentlich gar nicht. Wir verabreden uns, widerwillig, zu einem Treffen an irgendeinem neutralen Ort, meist angeregt von Lea; studieren ausführlicher als sonst die Getränkekarte, um noch etwas Zeit zu gewinnen, wählen dann umständlich etwas zu essen, eine Pizza oder Nudeln, um durch das Essen noch mehr Zeit zu gewinnen, und reden dann über etwas Nebensächliches. Irgendwann lenkt Lea das Thema dann entschlossen auf uns und den letzten Zwist, der zum Bruch führte und an dem aus ihrer Sicht ich die Hauptschuld trage. Ich weiß, dass ihr Blut zu sieden beginnt, wenn sie diesen Satz liest. Sie wird ihn wohl lesen, ich wünsche es mir. Ich wünsche mir bei vielen meiner Sätze, dass sie sie liest, auch wenn ich weiß, dass die meisten meiner Sätze, in denen sie vorkommt, sie wütend machen. Sie sagt, warum sie mein Verhalten nicht tolerierbar fand, und ich sage, dass es mir von Herzen leid tut und dass ich sie nicht verletzen wollte. Und das ist immer wahr. Irgendwie.

Höchstwahrscheinlich ist ein Verhalten von mir tatsächlich nicht tolerierbar, ganz sicher tut es mir von Herzen leid, wenn ich sie verletzt habe, und ziemlich sicher wollte ich das nicht, nicht so sehr. Und fast sicher fühlt sie sich missverstanden, wenn ich den Anlass für unser Missverständnis aus meiner Sicht schildere. Wir verstehen uns oft falsch, und immer dann, wenn ich mir nicht besondere Mühe gebe, mich ihr verständlich zu machen, ohne Spielraum für Interpretation. Auch dadurch hat sie mich in dem, was ich tue, besser gemacht. Dass es wieder auf den Endgültigen Bruch zugeht, erkenne ich stets daran, dass auch die eindeutigsten Worte, die aufrichtigsten Formulierungen, die sehnlichsten Anmerkungen nicht verhindern, dass Lea das, was ich sagen will, falsch versteht. Beim letzten Mal waren es bloß drei, vier Sätze in einem Telefonat und der Umstand, dass ich sie nicht zu einer Veranstaltung begleiten wollte.

Dann stochern wir beide, im Essen und in unseren Gefühlen, um die größten Schäden zu beheben. Früher habe ich mich meistens mehr als nötig gerechtfertigt, für Fehler in Wort und Tat, die ich eigentlich nicht einsah. Für Missverständnisse, die für mich eigentlich keine waren. Für Dinge, die ich gesagt und gefühlt hatte, und für die ich mich im Grunde nicht rechtfertigen wollte. Ich habe mich gegenüber Lea oft gerechtfertigt, von Anfang an. Früher habe ich Leas Vorwürfe, die sie immer als harmlose Fragen aufbringt, aufgenommen und versucht, mich für jeden einzelnen zu erklären, jede Handlung, die sie missverstanden hatte, für sie ins richtige Licht zu rücken und ihr damit die Feindseligkeit zu nehmen, die sich wie eine schwarz wimmelnde Hecke vor ihre so angenehme Gestalt geschoben hatte. Gestern nahm ich die vorwurfsvollen Fragen einfach hin, grübelte nicht mehr über Details und entschuldigte mich bei ihr pauschal für all den Schmerz, ohne Erklärung. Zum ersten Mal fühlte ich wirklich den Wunsch nach Entschuldigung. Zum ersten Mal wollte ich wirklich, dass sie mir vergibt. Nicht, dass sie jede Verästelung meines Handelns nachvollzieht und gutheißt. Einfach nur, dass sie mir glaubt, dass ich nichts Böses wollte und, vor allem, dass sie mir glaubt, dass ich ihr nicht wehtun wollte. Dass sie mir zugesteht, dass ich anders bin als sie, anders denke, anders fühle und manchmal, wenn ich keine Kraft habe, auch nicht mehr jedes Wort so formulieren kann, dass sie es in meinem Sinn aufnimmt. Und dass ich beim besten Willen nicht zu dieser Veranstaltung gehen wollte. Seit der dritten oder vierten Großen Versöhnung kommen mir die Inhalte unserer Streits auch gar nicht mehr so wichtig vor. Wir verstehen uns falsch. Wir können nicht mehr.

»Ich habe dich total vermisst«, sagt Lea und verfüttert den Rest ihrer Nudelsauce an den Mops, der zu ihren Füßen liegt. Seit etwas mehr als einem Jahr hat Lea einen Mops. Sie nahm ihn auf kurz vor unserem letzten Endgültigen Bruch. Ich konnte erst nicht glauben, dass sie sich für einen Mops entschieden hatte. Ein Schäferhund oder ein Retriever, das hätte gepasst. Sie kennt sich, anders als ich, mit Hunden aus. Aber der Mops wurde einfach zur Tatsache und ich habe mich gehütet, jemals ein Wort über ihn zu sagen außer »Er hat ja vier Beine« und »Schau mal, wie er sich freut«. Ich habe dich total vermisst. Sie sagt es nicht zart, sondern als Vorwurf. Sie hat mich vermisst. Durch mein Fehlverhalten, durch den Bruch, der darauf folgte, bin ich zuständig, dass sie mich auch noch vermisst hat. Dass sie ein Jahr lang ihre Gedanken und viele ihrer Zweifel nicht mit mir teilen konnte. Sie hat mich vermisst. Das hat sie vorher noch nie gesagt.

Bei all unseren letzten Brüchen hätte mich der Doppelsinn dieser Worte schon wieder auf Abstand gehen lassen. Ich wäre auf sie zugegangen, aber den Satz hätte ich in meinen Munitionskeller eingelagert und vermutet, dass er mir irgendwann Dienste tun könnte. Irgendwann, wenn die Missverständnisse wieder anfangen würden und sie immer öfter unzufrieden mit mir wäre, würde ich anfangen, von mir selbst fast unbemerkt, mit meinen Worten an uns zu rütteln, bis die Risse sich einmal mehr weiten. Zu wissen, dass sie mich vermissen wird, hätte mir wohl den Mut dazu gegeben. Ich hätte wohl auf den Bruch zugehalten, wieder auf den Endgültigen, damit diese zerdehnten, in Anteilnahme und Sachgespräche eingewickelten Kämpfe endlich ein Ende nehmen, die Uneindeutigkeiten und zwischen ihren Zeilen die immer unerträglichere Unzufriedenheit mit mir.

Diesmal ist es anders. Mit ihrem Satz erreicht Lea wirklich mein Herz. Der Munitionsraum bleibt zu. Sie gibt mir die Schuld, weil sie in diesem Moment nicht anders kann. Sie hat mich vermisst. Sie findet, ich bin schuld. Und ich rechtfertige mich dafür nicht. Im Laufe des Jahres, seit dem letzten Endgültigen Bruch, ist nicht nur die Freundschaft mit Lea angehalten worden, sondern mein ganzes Leben. Ein paarmal habe ich, nur kurz, beim Duschen oder Zähneputzen, erstaunt registriert, wie wenig ich Lea vermisse. Ich spürte keinen Groll mehr gegen sie, die Erinnerung an die Freundschaft war intakt, aber ich vermisste sie nicht. Es erschien mir eher, als hätte ich etwas Gewichtiges abgelegt, etwas, das vorwärts zu bewegen ich keine Kraft mehr hatte. In unserer Beziehung gab immer Lea den Ton an, auch wenn sie das natürlich von sich weisen würde. Lea ist älter als ich, ein ganzes Stück, auch wenn sie viel mädchenhafter wirkt, viel zarter. Aber sie hat eine Schwester, sie weiß, wie man bei einer Frau das Kommando hält, sogar unter Qualen. Ich bin als jüngere Schwester geboren, und viele Jahrzehnte lang wäre es mir gar nie in den Sinn gekommen, die Autorität einer Älteren in Frage zu stellen oder auch nur zu zweifeln, ob ihr diese Autorität angenehm ist, ob sie den Ton überhaupt immer führen will. In all den Jahren, in denen ich immer versuchte, es Lea recht zu machen, war für mich existentiell, dass sie mit mir zufrieden ist. Davon wusste sie nichts, und vielleicht hätte sie es auch nicht gewollt. Aber sie hat mich nie anders gekannt. Vielleicht war sie darum immer so erstaunt und erbost, wenn es mir einmal nicht gelang oder wenn etwas in mir, ohne dass ich es wahrnahm, langsam aufsässig wurde und gegen sie rebellierte, bis wir wieder auf einen Endgültigen Bruch zusteuerten.

In diesem Zwischenjahr habe ich viel am Weg zurückgelassen. Ich habe das Ende einer Liebe erlebt, mein Dasein als kleine Schwester revidiert, habe meinen Beruf gewechselt und irgendwann angefangen, mich selbst fast nicht mehr zu erkennen. Ich kann nicht sagen, ob das gut oder schlecht war. Ich kann nur sagen, dass es nötig war. Es ist immer noch nicht vorbei. Das Gebäude meines Lebens ist zusammengebrochen, aus vielerlei Gründen, dabei stürzte, mit allen anderen Wänden, auch die Freundschaft zu Lea um. Jetzt, wo die Staubwolke sich wieder legt, stelle ich fest, dass ich Luft bekomme. In manchen Momenten erscheint sie mir klarer als je zuvor.

Ein wenig hatte ich ihr während der Nudeln in dürren Worten erzählt, wie mein letztes Jahr verlaufen war. Davon hatte sie kaum etwas mitbekommen, sie war erschrocken und erstaunt. Auch bei ihr hatte es ein paar Scherben gegeben, aber das meiste stand noch wie zuvor, und der Mops hatte ein sicheres Heim. Während ich berichtete und mir Tränen über die Wangen liefen, die wir beide nicht beachteten, änderte sich etwas zwischen uns. Eine unsichtbare Wand zwischen Lea und mir schob sich wie die Schiebetür in einem Filmraumschiff zur Seite. Erst, als wir schon mit dem Mops spazierten, fühlte ich den Unterschied. Die Wand ist mir ein Leben lang selbstverständlich, ich nehme sie kaum wahr, weil sie immer da ist, wenn Menschen in der Nähe sind.

Als die Wand auf einmal weg war, sah ich, dass Lea für mich keine Gefahr mehr darstellt. Meine Freundin stellt keine Gefahr mehr für mich dar. Ich brauche sie nicht mehr so sehr. Ich bin freiwillig bei ihr. Unsere ganze Freundschaft ist freiwillig geworden dadurch, dass ich sie nicht mehr brauche. Seither merke ich, dass ich Lea auch ertrage, wenn es nicht gut läuft mit uns. Dass sie einfach da ist oder nicht da ist, und ich auch, und dass rätselhafterweise gerade darin ein Trost und eine Zuversicht zu stecken scheinen, die ich bisher in der Gegenwart einer Freundin nie empfunden habe. Nach dieser Großen Versöhnung, die gerade erst begonnen hat, weiß ich, dass die Tür zwischen uns in Zukunft offen bleiben kann. Dass nicht mehr die künstliche Wand, der große Bruch, notwendig ist, um wieder ein bisschen Raum für sich zu finden. Dass der Raum zwischen uns offen bleiben kann und wir uns selbständig zurückziehen dürfen, wann immer wir wollen. Vielleicht dann nicht mehr immer für ein Jahr, vielleicht auch nur für ein paar Tage oder Wochen.

Noch ist die Große Versöhnung nicht ganz vollzogen. Wir haben uns erst einmal wieder gesehen, nach den Nudeln und der Pizza sind wir durch einen Wald spaziert und der Mops hat zutraulich an meiner Hand geschnuppert. Ich habe es Lea auf diesem Spaziergang nicht recht machen wollen. Uns beiden war klar, dass mir dazu jede Kraft fehlt. Lea schien erschrocken, als sie mich sah, mit Tränen in den Augen. In der frischen, neuen, noch kalten Luft, die mich umgibt, bemerkte ich auf einmal, wie gut ich Lea immer noch kenne und wie sehr ich sie eigentlich mag. Wie brüchig sie ist, aber auch wie zäh und unerbittlich klug. Wie sehr ihre Widersprüche mir erlauben, zu meinen eigenen Widersprüchen zu finden. Ich habe den Einsturz meines Lebensgebäudes fürs Erste überstanden. Jetzt können mir auch Leas Enttäuschung und ihr Zorn nichts mehr anhaben, und das gab mir an diesem Nachmittag eine Leichtigkeit, die mich selbst erstaunte. Lea war über meine fehlenden Worte offenbar nicht wütend. Sie scheint von mir im Moment nicht zu erwarten, dass ich mich ihr in aller Deutlichkeit erkläre. Hat sie es womöglich nie erwartet, war es nur meine Vorstellung von mir? Das habe ich noch nicht herausgefunden.

»Ich lerne zu sehen, dass sich Freundschaft auch daran misst, dass man weitermacht«, habe ich ihr jetzt geschrieben. So einen Satz hätte ich ihr früher nie gegönnt, ich hätte es auch nicht gewagt, ihn ihr zu schreiben, weil ich weiß, wie viel Missverständnis darin liegen kann, wie viel Möglichkeit zur fehlerhaften Interpretation, jedenfalls für Lea, wenn er von mir kommt. Doch diesmal ist er richtig und die einzige Bedeutung, die ich ihm geben will, steht offen da. Auch das ist neu für mich, bei ihr. Seit ich das Bedürfnis verlor, mich vor Lea zu rechtfertigen, hat sich mein Herz für sie geweitet. Ich bin ganz anders als sie, und sie ist ganz anders als ich. Ungefähr die Hälfte unserer Sätze verstehen wir falsch oder finden darin Sprengstoff, wenn wir wieder anfangen, danach zu suchen. Aber die andere Hälfte gilt für uns beide. Wir verstehen unsere Worte sofort, und es sind Sätze, die ich mit niemand anderem als Lea finden und aussprechen kann. Gedanken, die niemand anderes als Lea aufnehmen und auf eine Weise weiterführen kann, dass sie mir oft noch Jahre später den Weg weisen.

Ich weiß noch nicht, wie sich das neue Kapitel der Freundschaft zwischen Lea und mir entwickelt. Vorhin hat sie geschrieben, dass wir zusammen eine neue Bar besuchen sollen und dass sie sich darauf freut. Auch mir geht es so. Ich freue mich darauf. Ich freue mich darauf, sie zu sehen und zu hören, wie es ihr ergangen ist in diesem Jahr. Ich freue mich auf ihre Zweifel und ihre Unberechenbarkeit, die Wut, die sie manchmal bekommt, wenn etwas anders ist, als sie es erwartet hat. Lea ist meine älteste Freundin in dieser Stadt, ich lernte sie wenige Wochen, nachdem ich hierher gezogen war, kennen, und sie hat mir nicht nur den Weg zu meinem Beruf, sondern den Weg zu meiner eigenen Sprache ein Stück geebnet. Gestern, als wir uns wieder einmal versöhnten, hat es geregnet und der Wind war noch kühl. Doch schon heute weckte mich das bebende Mosaik der Blätter, die vor meinem Fenster im Sonnenlicht flirrten. Es ist wieder einmal Frühling geworden. Die Jahreszeit, in der Lea und ich Geburtstag haben, beide am selben Tag.

Teil Eins

Die Geschichte der Besten

1

Macht

Ich ordne die Passfotos. Mit 14, 15, 16 Jahren habe ich sie eine Weile fast täglich in einer altmodischen, klobigen Fotokabine gemacht. Die Kabine stand auf dem Weg in die Innenstadt an einer lauten Straßenkreuzung. Für eine kleine Münze blitzte das Gerät viermal, und wenige Minuten später konnte man einen säuerlich riechenden Streifen aus dickem Papier aus einem Schacht an der Außenseite der Kabine ziehen. Da saß längst die Nächste auf dem herauf- und herunterschraubbaren Drehhocker und guckte mit dem Gesichtsausdruck, der ihr gerade am attraktivsten erschien, in die spiegelnde Glasscheibe. Zusammengerechnet müssen es Tage sein, die ich mit meinen Freundinnen in dieser Kabine verbrachte. Manchmal quetschten wir uns zu mehreren hinein und die Fotos zeigten muntere Grimassen, alberne Gesten und manchmal auch abgeschnittene Münder und Ohren. Manchmal auch zwei oder mehr ernsthafte, glatte Gesichter, die gesetzt und geheimnisvoll in eine unbestimmte Ferne gucken. Der fahle Blitz und die jungen Jahre ließen uns auf diesen Bildern fast immer vorteilhaft aussehen, blühend und prall und voller Zuversicht. In meinem Schrank stapeln sich ganze Schuhkartons mit solchen Bildern. Bei jedem Foto versuche ich mich zu erinnern, wie mein Leben damals war. Was beschäftigte mich, als ich diese merkwürdige Krausendauerwelle hatte? Diese seltsame Rüschenbluse trug, von der ich noch weiß, dass sie die Farbe eines angetrockneten Himbeerjoghurts hatte? Woran dachte ich, als das Tuch mit den aufgedruckten Totenköpfen meine Haare straff aus der blassgepuderten Stirn zog? Doch als Erstes kommt bei so gut wie jedem Foto eine andere Frage: Wer war damals meine beste Freundin, wer stand draußen an der Kabine und wartete auf die Bilder? War es noch Louisa? Oder schon Odille? Oder war es dieser eine Nachmittag, als ich mit Vivian unterwegs war, bevor ich merkte, dass wir einander viel zu schnell auf die Nerven gingen? Lange dachte ich, dass in den Kapitelüberschriften meines Lebens wohl Männernamen zu stehen hätten. Aber das erweist sich jetzt, wo ich darüber nachdenke, als Irrtum. Der Zeitstrahl meines Lebens ist durch Freundschaften zu Frauen unterteilt. Nicht immer nur zu einer, bestimmte Beziehungen überlagern sich. Auch waren die Hauptrollen meist an Männer vergeben. Aber immer war es eine Zäsur, wenn die Beziehung zu einer Freundin endete. Ein Einschnitt, dem meist eine große innere Veränderung vorangegangen war.

Freundschaft bedeutet »eine freiwillige, persönliche Beziehung, die auf gegenseitiger Sympathie, Vertrauen und Unterstützung beruht, nicht aber auf Verwandtschaft oder einem sexuellen Verhältnis«, hieß es 2013 im deutschen Wissenschaftsmagazin Spektrum in einem Artikel mit dem Titel »Die Gesetze der Freundschaft«. Es stand darin auch, dass die Wissenschaft sich immer noch nicht auf eine verbindliche Definition einigen könne. Ungefähr seit den 1980er Jahren steht Freundschaft verstärkt im Fokus vor allem der Sozialpsychologie. Ganze Abhandlungen wurden allein über die exakte Abgrenzung zu anderen Bindungsformen wie Liebe oder Kameradschaft verfasst. 76 Prozent der Deutschen definieren Freundschaft in erster Linie über »Verlässlichkeit, Rat, Ehrlichkeit, Offenheit und Trost«. Das hat eine bevölkerungsrepräsentative Studie mit dem Titel »Freunde fürs Leben« 2014 ergeben. Das Institut für Demoskopie Allensbach hatte eine Auswahl von 1648 Menschen nach ihrer Einstellung zum Thema befragt. 75 Prozent der Befragten glauben uneingeschränkt an eine »Freundschaft fürs Leben«. Doch schon in der Gestaltung von Freundschaft ergeben sich große Unterschiede, etwa zwischen Männern und Frauen. »Wenn wir zusammen sind, wird viel und ausgiebig geredet«, gaben 80 Prozent der befragten Frauen, aber nur 63 Prozent der Männer zu Protokoll. »Wir stehen uns sehr nahe, wissen praktisch alles voneinander«, sagen 53 Prozent der Frauen, aber nur 38 Prozent der Männer. »Frauen leben Freundschaften anders als Männer«, überschreiben die Demographen diese Resultate. Fünf Jahre zuvor hatte die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung in einer Umfrage herausgefunden, dass 91 Prozent der befragten Frauen im Leben »eher auf Sex verzichten« könnten als auf ihre beste Freundin. Diese Umfrage war von einem amerikanischen Limonadenhersteller in Auftrag gegeben worden. Die Studie aus Allensbach entstand im Auftrag eines großen Kaffeeproduzenten. Die Resultate aus beiden Untersuchungen wurden anschließend in den Medien breit und optimistisch präsentiert: Frauen scheinen ihre Freundinnen zu lieben. Und die Hersteller von Konsumprodukten scheinen Frauenfreundschaften zu lieben.

Mir machten Freundinnen immer Angst. Ich hatte Angst, dass ich keine finde. Angst, dass ich sie wieder verliere. Später ist die Furcht dazugekommen, selbst eine schlechte Freundin zu sein. Eine, die im Notfall keine Unterstützung verdient, keine Loyalität, weil sie zu wenig für andere da ist, weil sie den Ansprüchen der anderen nicht genügen kann. Die Angst galt nicht den Mädchen, gilt nicht den Frauen, die für Freundschaft in Frage kommen. Sie galt der Macht, die diese Beziehungen haben. Dem Scheitern, das sie bedeuten können. Freundinnen haben einen so großen Einfluss auf das Leben einer Frau. Auf ihr Ansehen, darüber, wie sie von anderen gesehen wird. Darüber, wie sie sich selbst sieht. Wer keine Freundinnen hat, steht weit unten in der Hierarchie und ist angreifbar für alle. Das weiß jede Frau, die je als Mädchen alleine auf dem Schulhof stand. »Beste Freundschaften werden in der Regel in jungen Jahren geschlossen und halten lange«, heißt es in der Freundschaftsstudie aus Allensbach. Konservieren wir damit eine jüngere, vielleicht unbeschwertere Version von uns? Oder erkennen wir erst mit den langjährigen Freundinnen, die mit uns älter werden, dass uns im Lauf des Lebens Veränderung und Entwicklung doch immer wieder gelungen ist, egal, wie schwer sie manchmal fiel?

2

Yvette

Meine erste Freundin war Yvette. Ich liebte sie wegen ihrer langen, dicken Haare und wegen ihres sonnengebräunten Gesichts mit den feinen, goldenen Härchen. Sie war hübsch, gefasst und immer sehr schön angezogen. Yvette war das, was ich wollte. Das wusste ich, seit ich sie zum ersten Mal sah, mit sieben Jahren, am Tag der Einschulung. Die anderen Mädchen in der Klasse waren für mich ab da fast unsichtbar und völlig uninteressant. Es dauerte allerdings, bis Yvette meine Freundin wurde. Ihre Mutter wählte sogfältig aus, mit wem Yvette spielen durfte. Frau Hillbauer war eine attraktive Frau, die einen viel älteren Mann geheiratet hatte. Sie verstand etwas vom Neid unter Frauen. Und sie wusste um die Bedeutung von Beziehungen. Es sei am besten, Yvette habe nur eine, dafür eine beste Freundin, erklärte sie meiner Mutter an einem Elternabend. Frau Hillbauer organisierte Yvettes Leben ohne Zaudern. Eigentlich war ich schon gleich aus dem Rennen gewesen. Zu zurückhaltend meine Eltern, zu unscheinbar ich selbst. Außerdem war ich schon am ersten Unterrichtstag von der Lehrerin wegen Plapperns vor die Tür geschickt worden. Doch Frau Hillbauer hatte nicht mit meiner Entschlossenheit gerechnet. Und nicht damit, dass ich schon schreiben konnte. Mehrmals pro Woche gab ich Yvette sorgfältig beschriftete Zettel an ihre Mutter mit nach Hause: »Libe Frau Hillbauer, darf Yvette nach der Schuhle zu mir komen?« Auf diese Weise eroberte ich ihre Mutter. Nach ein paar Wochen gab sie mir Yvette, die sich ohne größere Regung in ihr Schicksal ergab.

Die Zeit mit Yvette war schön. Nach der Schule kam sie mit zu mir nach Hause, wo meine Mutter für uns frischen Eistee und Früchte hinstellte. Wir zeichneten oder blätterten die Bravo-Hefte meiner Schwester durch. Manchmal durften wir eine Serie im Fernsehen schauen. Wenn das Wetter schön war, holten wir den Pudel von Yvettes Großmutter ab und spazierten mit ihm zum Stadtrand. Das war allerdings nur Tarnung, denn nach einiger Zeit betrieben wir ein geheimes Detektivbüro. Leider fielen uns aber keine Fälle ein, so dass wir uns nach einer Weile wieder hauptsächlich auf den Hund konzentrierten.

Dass ich Yvette erobert hatte, war mein erster Erfolg im Leben. Ich hütete diese Freundschaft wie einen Schatz. Yvette war meist freundlich und schien mit meinen Vorschlägen einverstanden. In der Schule wurde unsere Verbindung vorbehaltlos akzeptiert. Auch andere Mädchen waren an Yvette interessiert, doch sie hatten keine Chance. Da konnte ich auf ihre Mutter zählen. Sie hatte sich inzwischen mit mir abgefunden. Immerhin grüßte ich freundlich und machte stets meine Hausaufgaben. Außerdem akzeptierte ich kommentarlos, dass man bei Hillbauers zu Hause auf keinen Fall die Teppichfransen im Wohnzimmer durcheinanderbringen durfte. Im Sommer im Freibad lagen mein Handtuch und die Badesachen neben denen der Hillbauers. Im Herbst kam Yvette mit uns in unsere Ferienwohnung in den Bergen. Wenn wir durch das Kaufhaus in der Nähe unserer Schule streiften, kaufte ich ihr manchmal Zopfgummis in Form von dicken Plastikkirschen. Eigentlich hätte ich selbst gerne solche Zopfgummis getragen, aber in meinen feinen Haaren hielten sie nicht. Yvette war die nächstbeste Möglichkeit, die Gummis trotzdem zu haben. Eine Art Erweiterung meiner Möglichkeiten. Yvette war das, was ich wollte. Eigentlich war sie aber vor allem das, was ich sein wollte. Meine erste Freundin war ein Idol, und solange sie in meiner Nähe war, strahlte ein Stück ihres Glanzes, ihrer Haare und auch ihrer Beliebtheit auch auf mich. Ihr Schein schützte mich und an ihrer Seite fühlte ich mich stärker als ohne sie. Tatsächlich konnte ich mir Tage ohne Yvette gar nicht vorstellen. Was ich nicht wusste war, ob sie mich eigentlich auch mochte. Darüber hatte sie nie etwas gesagt. Ich traute auch nicht, sie zu fragen. Ich war damit ausgelastet, sie bei Laune zu halten, damit sie bei mir blieb. Ich wusste noch nicht, dass Gegenseitigkeit für eine Beziehung ziemlich wichtig ist.

Aus der Entwicklungsforschung weiß man, dass Kinder in der Auswahl ihrer Freunde einen Zweck verfolgen. Nicht Selbstlosigkeit und Altruismus formen die Verbindung. Die hehren Ideale prägen, wenn überhaupt, erst reifere Freundschaften. In der Kindheit beginnt Freundschaft mit klaren – und egoistischen – sozialen Interessen. »Kinder spüren sehr bald, dass die eigene Person mithilfe einer Freundschaftsbeziehung an Bedeutung gewinnt«, schreibt die Reutlinger Sozialpädagogin Margarete Blank-Mathieu in einem Aufsatz mit dem Titel »Kinderfreundschaft: Weshalb brauchen Kinder Freunde?«. »Da Kinder in ihrem Alltag die Erfahrung machen, dass sie alleine unbedeutend und klein und auf die Hilfe der Erwachsenen angewiesen sind, suchen sie sich Verbündete, die ihrem Selbstbewusstsein ›auf die Sprünge‹ helfen können«, heißt es weiter. Zusammen mit dem Freund oder der Freundin fühlt sich ein Kind »stärker, durchsetzungsfähiger, kompetenter und ernst genommener«. Darum, empfiehlt die Pädagogin, sollen Erwachsene »ihre Begriffe von Freundschaft nie auf Kinderfreundschaften übertragen«. Kinderfreundschaften seien oft für einzelne Entwicklungsphasen äußerst wichtig; »sind diese abgeschlossen, werden auch die Freundschaftsbeziehungen unwichtig«.

Auch über die Kindheit hinaus habe ich immer wieder Freundinnen wie Yvette gesucht, deren Glanz auf mich strahlte und die es zu erobern galt. Mädchen, bei denen ich mich anstrengen musste, um gegen die Konkurrenz der anderen Mädchen standzuhalten. Mädchen aber auch, die mich davor schützten, eine Außenseiterin zu sein. Mädchen, die mich davor bewahrten, mir selbst nicht zu genügen. Durch die Freundschaft mit ihnen stieg ich in der Rangordnung der Klasse auf. In den ersten Jahren meines Lebens waren Freundinnen harte Arbeit für mich, und nicht jedes dieser Mädchen belohnte meinen Einsatz. Doch um das zu erkennen, mussten noch ziemlich viele Jahre vergehen, und ich musste noch um einige Yvettes bitter weinen.

3

Kummer

Das Ende mit Yvette war karg und brutal. Meine Eltern ließen sich scheiden und meine Mutter plante mit mir einen Umzug zu ihrem neuen Mann an einen anderen Ort. Nach den Herbstferien würde ich nicht mehr mit Yvette in eine Klasse gehen. Es waren nur noch wenige Wochen. Ich erstarrte vor Kummer. Am Abend vor dem letzten Schultag begann ich, winzige Glasperlen auf zwei Nylonfäden aufzuziehen. Armbändchen für Yvette und mich. Am Morgen fuhren wir mit unserer Lehrerin in einen Vergnügungspark. Im Zug legte ich mir ein Bändchen an und knotete das andere um Yvettes Handgelenk. Während des ganzen Tages war mein Herz schwer. Wir waren übereingekommen, dass wir uns am Ende des Ausflugs, wenn uns die Eltern abholen, nur kurz verabschieden und dann nicht mehr umdrehen würden. Das kam mir am erträglichsten vor. Auf der Rückfahrt im Zug riss mein Bändchen auf und die Glasperlen prasselten auf den Boden des ganzen Abteils. Darin erkannte ich ein entsetzliches Omen. Noch nie in den bisher zehn Jahren meines Lebens hatte ich eine solche Ausweglosigkeit gefühlt. Nach dem Abschied am Abend drehte ich mich nicht mehr um. Weil wir es so verabredet hatten. Und vielleicht auch, das vermute ich heute, um nicht sehen zu müssen, ob auch Yvette sich noch einmal zu mir wendet.

Das Ende einer Freundschaft kann so scheußlich schmerzen wie das Ende einer Liebe. Und doch sind es zwei ganz unterschiedliche Gefühlsbindungen, die wir meist leicht auseinanderhalten können. Sehr viel leichter jedenfalls, als es der Wissenschaft gelingt. »Was unterscheidet eine Freundschafts- von einer Liebesbeziehung?«, fragt der Hagener Psychologe Horst Heidbrink 2009 in einem Aufsatz mit dem Titel »Definitionen und Konzepte der Freundschaft«. »Die Freundschaftsforschung ist dieser Frage bislang meist ausgewichen, beispielsweise mithilfe der expliziten Ausklammerung ›offener Sexualität‹ aus dem (wissenschaftlichen) Freundschaftsbegriff«, schreibt er darin. In einer empirischen Untersuchung unter 58 Studierenden kam Heidbrink 1993 zu dem Resultat, »dass die Begriffe Liebe und Freundschaft eine hohe semantische Ähnlichkeit aufweisen«. Er ließ seine Probanden die Begriffe »Freundschaft«, »Liebe«, »Sympathie«, »Zuneigung«, »Anziehung« und »Attraktivität« in einem normierten Bedeutungsraster zueinander in Beziehung setzen. Die höchste Korrelation mit einem Wert von fast 100 Prozent ergab sich dabei zwischen den Begriffen »Sympathie« und »Zuneigung«: Sie sind sowohl für eine Liebesbeziehung als auch für Freundschaft zentral. Am besten lässt sich Liebe von Freundschaft abgrenzen, wenn man davon ausgeht, dass Liebe eine erotische Komponente hat und diese in einer heterosexuellen Norm vorwiegend dem anderen Geschlecht gilt. Während enge Freundschaft ohne sexuelle Anziehung am stärksten Personen des eigenen Geschlechts zugeordnet wird. Die niedrigste Relation in Heidbrinks Untersuchung ergab sich zwischen den Begriffen »Freundschaft« und »Attraktivität«. Für den Wert einer Freundschaft spielt es keine prägende Rolle, ob man den Freund oder die Freundin körperlich anziehend findet. Doch tatsächlich fließen die beiden Bereiche eher ineinander, als dass sie voneinander deutlich abgrenzbar sind. »Ich hatte als Kind nie eine beste Freundin«, sagt meine Kollegin J. »Meine beste Freundin war immer ein Junge.« Ihr bester Freund, der im Haus nebenan wohnte, sei die ganze Kindheit hindurch der wichtigste Vertraute für sie gewesen, sagt J., und sie habe alles mit ihm geteilt. »Bis dann die Pubertät kam und er plötzlich nicht mehr mit mir spielen wollte. Weil die anderen Jungs anfingen, ihn wegen uns auszulachen.« Das habe sie sehr lange nicht verdaut. Und auch wenn sie heute einige sehr gute Freundinnen habe, sei diese Erfahrung prägend geblieben. Auch heute, sagt J., sei wieder ein Mann ihre beste Freundin – »praktischerweise ist es der, den ich auch liebe und geheiratet habe«.