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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Und es ward Licht

Guter Hoffnung?

Folgeschwangerschaft – Der Begriff

Individuelle Erfahrungen

Zielgruppe

Interviews

Ein Schritt nach dem anderen

Wünsche

Erfahrungen des Verlusts

Erfahrungen der Autorin

Wohin soll es gehen?

Erfahrungen der TeilnehmerInnen

Layout und Seitenaufbau

Sortierung

Die Frage nach dem Warum

Warum ich, warum mein Kind?

Glaubensfrage

Schuldfrage

Konkrete Gründe finden

Die Frage nach der Wiederholbarkeit

Antworten finden

Fehlgeburten

Häufigkeit

Ursachen

Chromosomale Probleme

Neuralrohrdefekte

Mütterliche Probleme

Immunologische Probleme

Infektionen in der Schwangerschaft

Unbekannte Ursachen

Pränataldiagnostik – Chancen und Risiken

Totgeburten

Ursachen

Plazentastörungen

APS und Thromboseneigung

Leberfunktionsstörungen: Schwangerschaftsvergiftung, Präeklampsie, HELLP-Syndrom

Nabelschnurprobleme

Plötzlicher Kindstod im Mutterleib

Geburtskomplikationen

Neugeborenentod

Risiko Frühgeburt

Angeborene Krankheiten

Anpassungsstörungen

Infektionen des Kindes

SIDS – Plötzlicher Kindstod

Eine neue Schwangerschaft wagen

Meine persönliche Erfahrung

Vom Strom des Lebens

Wie weit bin ich in meiner Trauer um mein gestorbenes Kind?

Könnte ich mit einem erneuten Verlust umgehen?

Erlaubt meine körperliche Heilung bereits eine Folgeschwangerschaft?

Wünsche ich mir ein Folgekind oder einen Ersatz?

Kann ich die Belastungen einer neuen Schwangerschaft (er-)tragen?

Wie steht mein Partner zu einer neuen Schwangerschaft?

Spielt mein Alter eine Rolle?

Gibt es ein Wiederholungsrisiko?

Vom richtigen Zeitpunkt

Gefühlswirrwarr

Trauer und Folgeschwangerschaft

Trauerphasen

Zwischen Trauer und Zuversicht

Ein Leben ohne Kinder?

Trauer in der Schwangerschaft

Der kritische Tag, die kritische Woche

Tage des Gedenkens

Schuldgefühle

Tiefe Liebe

Warten auf die Folgeschwangerschaft

Die Suche nach Begleitern

Gynäkologe

Hebamme

Vorbereitende Untersuchungen

Fertilitätsprobleme

Neid, Trauer und Wut

Kinderwunschbehandlung

Eine große Belastung

Eigene Ressourcen

Wieder schwanger!

Die Zeit der Folgeschwangerschaft

Vorsorge und Unterstützung

Ärztliche Begleitung

Hebammenbegleitung

Doulabegleitung

Begleitung durch deinen Partner

Selbsthilfegruppen und Internetforen

Psychologische Begleitung

Familie und Freunde

Anderweitige Begleitung

1. Trimester

Gemischte Gefühle

Ankündigung

Wenn der Bauch wächst

Schwangerschaftsvorsorge

Weitergehende Tests

Gefahrenzeichen

Tag für Tag

2. Trimester

Wie viele Kinder?

Das Geschlecht des Babys

Erste Bewegungen

Was tun bei Panikattacken?

Beschäftigungsverbote für erwerbstätige Frauen

3. Trimester

Beschwernisse

Angst

Lebende Geschwisterkinder

Praktische Vorbereitungen

Namensgebung

Psychologische Unterstützung

Die lieben Mitmenschen

Gefühle

Angst

Zuversicht

Aberglaube

Wichtige Meilensteine

Scheinbare Vorahnungen

Trauer

Dein guter Instinkt

So geht es mir …

Ein Wort zum Thema …

Geburtsvorbereitungskurs

Glaube

Krankenhausaufenthalt

Risikoschwangerschaft

Sex in der Schwangerschaft

Sport in der Schwangerschaft

Tagebuchschreiben

Verordnete Bettruhe

Das Schlimmste geschieht – erneuter Verlust

Verlust mehrerer Kinder

Tiefe Gefühle

Umgang mit Nichtbetroffenen

Begleitung

Eigene Ressourcen

Die Geburt

Der Schlüssel zur Geburt

Zeitpunkt

Geburtsort

Geburtseinleitung

Geburtsmodus

Betreuung während der Geburt

Flashbacks

Die Rolle des Sternenkindes

Das Baby ist da!

Leben mit dem Baby

Geburtsanzeige

Wochenbett – Erwartungen und Realität

Trauer

Ein neuer Anfang

Das Folgekind

Ein besonderes Kind?

Schwester oder Bruder sein

Wäre ich hier?

Väter und Folgeschwangerschaft

Seinen Mann stehen

Ein neuer Partner

Tiefe Anteilnahme

Gefühlte Hilflosigkeit

Belastungen gemeinsam tragen

Verbundenheit

Geschwister und Folgeschwangerschaft

Vorstellungen vom Tod

Ein neues Geschwisterkind

Gefühlslagen

Die Mitmenschen

Der weitere Kreis

Medizinische und Hebammenbegleitung

Private Umwelt

Die eigene Mutter

Andere Betroffene

Schmerzliche Erfahrungen

Folgefolgeschwangerschaft(en)

Gelassenheit

Erinnerung

Im Strom des Lebens – Ein Resümee

Und doch kein Ende

Loslassen

Ein Teil von mir geht

Danksagung

Appendix

Glossar

Weiterführende Informationen und Hilfen

Adressen

Links zu Online-Informationen

Internet-Foren

Literatur

Vorwort

Das vorliegende Buch von Heike Wolter bildet schon mit dem Titel „Meine Folgeschwangerschaft“ eine spannungsvolle Brücke von vorangegangenen Verlusten hin zu weiteren Schwangerschaften, die häufig zwischen großem Bangen und ängstlichem Hoffen stattfinden.

Zum Thema Verlusterlebnisse in der Schwangerschaft und nach der Geburt gibt es nur wenige Ratgeber und einige Selbsterfahrungsberichte. Eine Begleitung für eine Folgeschwangerschaft suchten Betroffene bislang jedoch vergeblich.

Bereits in ihrem Verlusterleben fühlen sich verwaiste Eltern häufig allein gelassen und unverstanden. Tritt eine weitere Schwangerschaft ein, hofft das Umfeld auf ein Vergessen oder eine Heilung von der Trauer und reagiert nicht selten erneut mit Unverständnis, wenn die Schwangere nicht fröhlich und hoffnungsvoll scheint, phasenweise sogar erneut in die Trauererinnerung versinkt. Die Betroffenen fragen sich selber, ob sie mit ihren wechselnden Stimmungen „normal“ sind oder auch ob sie dem Folgekind in der Schwangerschaft schaden, wenn sie ängstlich und traurig und nicht so unbeschwert sind, wie es bisweilen von Schwangeren erwartet wird.

In diesem Buch gibt Heike Wolter sehr umfangreich, gleichzeitig sensibel und einfühlsam Antworten auf all die Fragen, die sich für Betroffene in Folgeschwangerschaften auftun. Durch ihre eigenen Erfahrungen und ihre Befragung von 34 Müttern und Vätern, die ihre Geschichten und Erlebensweisen mitteilen, ist ein tiefer Einblick in diese spezifische Gefühlswelt gelungen. Keine Perspektive wird ausgelassen, von der Frage nach dem Warum für den erlebten Verlust über ambivalente Gefühle zu einer Folgeschwangerschaft, Aspekte der Trauer, eventuelle neue Verluste, verschiedene Phasen der Schwangerschaft, die Besonderheiten der Geburt und Perspektiven, die den Partner, Geschwisterkinder und das Umfeld mit einbeziehen.

Vor allem im Mittelteil des Buches, in dem auf die verschiedenen Phasen einer Folgeschwangerschaft eingegangen wird, finden Betroffene eine gute Begleitung. Ich bin sicher, dass sich hier jede schwangere Frau und jedes Paar mit Verlusten in vorangegangenen Schwangerschaften und nach der Geburt gut aufgehoben fühlen, da es Frau Wolter gelungen ist, jede Konstellation mit einzubeziehen, von der frühen Fehlgeburt bis zum plötzlichen Kindstod, von dem einmaligen Verlust bis zu wiederholten Verlusterfahrungen. Auch das Thema Schwangerschaftsabbrüche wird nicht ausgespart; jede Geschichte bekommt ihren Platz und ihre Bedeutung.

In meiner psychotherapeutischen Begleitung von Frauen und Paaren in und nach Verlusterfahrungen steht häufig das Gefühl im Mittelpunkt, mit dem Trauererleben alleine zu sein und sich kaum mitteilen zu können. Allzu häufig sehe ich auch das Bestreben, sich möglichst schnell von der Trauer befreien zu wollen. Für viele ist es ein schmerzvoller Lernprozess, dass erst die Hinwendung zur Trauer und zum Verlust auf Dauer Trost bringen können. Die Frage nach dem „Warum?“ spielt in diesem Verarbeitungsprozess immer wieder eine zentrale Rolle. Dieser Frage geht Heike Wolter besonders sensibel nach, indem sie die Schuldgefühle der Mütter aufgreift und deren Suche nach Erklärungen, auch dort wo es keine gibt. Neben der umfangreichen Auflistung möglicher medizinischer Ursachen fließen immer wieder Zitate aus ihren Interviews mit Betroffenen ein, so dass sich sachliche Informationen mit dem tiefen subjektiven Erleben paaren.

Dieses Buch gibt den Betroffenen die so häufig notwendige Erlaubnis, auch in Folgeschwangerschaften sich dem inneren Schmerz zuwenden zu dürfen und diesen nicht leugnen zu müssen. Gleichzeitig ermutigt das Buch mit seinen vielen Fallbeispielen, trotz der Trauer und teils traumatisierender Vorerfahrungen, sich einem neuen Leben und Hoffnung zuzuwenden.

Aber nicht nur Betroffenen gibt dieses Buch wertvolle Einblicke. Ganz bewusst hat Heike Wolter die vielen Erfahrungsberichte gewählt, um auch Partnern, Angehörigen und vor allem Fachpersonen die Gedanken, Hoffnungen, Ängste, Zweifel und alle weiteren Gefühle näher zu bringen, die eine Verlusterfahrung rund um Schwangerschaft und Geburt nach sich ziehen und in eine Folgeschwangerschaft hinein wirken.

Dr. phil. Almut Dorn

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Und es ward Licht

Guter Hoffnung?

‚Guter Hoffnung sein’ – so wird eine Schwangerschaft im Volksmund oft bezeichnet. Und nichts ist in einer Folgeschwangerschaft oft schwieriger, als dieses Gefühl zu haben. Mag sein, dass die Statistik für ein lebendes und gesundes Baby spricht, doch meist ist die Zuversicht mit dem Verlust eines Kindes verschwunden.

So ging es auch mir, nachdem meine Tochter bei der Geburt gestorben war. Einerseits wollte ich unbedingt noch ein Baby bekommen – und medizinisch hatte ich nach einem Jahr grünes Licht erhalten –, andererseits hielt ich es für unwahrscheinlich, jemals wieder ein lebendes Kind nach Hause bringen zu dürfen.

Doch dann, fast zwei Jahre nach ihrem Tod, hielt ich einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand. Meine unbändige Freude darüber währte nur kurz, und schon bald hatte mich die Angst* fest im Griff. Ich verschlang alles, was ich zum Thema ‚Folgeschwangerschaft’ finden konnte – leider war das nicht allzu viel. Ich hätte mir ein Buch gewünscht, das mich durch die bevorstehenden neun Monate führt. Doch mit ‚normalen’ Schwangerschaftsbegleitern wusste ich nichts anzufangen. Die beschriebenen Gefühlslagen passten nicht zu meinem Erleben, Schwangerschaftsstreifen interessierten mich nur mäßig, und nichts beantwortete die unzähligen Fragen, die mir um zwei Uhr nachts durch den Kopf gingen.

Folgeschwangerschaft – Der Begriff

Eine ‚Folgeschwangerschaft‘, was ist das? Schon der Begriff ist doppeldeutig. Einerseits ist jede nicht-erste Schwangerschaft eine Folgeschwangerschaft, und immer ist diese auch durch die Erfahrungen der vorangegangenen Schwangerschaft(en) geprägt.

Was aber mit ‚Folgeschwangerschaft‘ hier gemeint ist, ist eine Schwangerschaft nach dem Verlust eines oder mehrerer Kinder. Es spielt keine Rolle, wann dieser geschehen ist:

Auch Frauen, die sich für eine Abtreibung entschieden haben, trauern häufig und können sich daher in der nächsten Schwangerschaft ‚folgeschwanger’ fühlen. Und fasst man den Begriff noch weiter, so betrifft das Thema auch all jene, die nach der Geburt eines behinderten Kindes oder nach einer komplikationsreichen, traumatischen* Schwangerschaft und/oder Geburt den Verlust ihrer inneren Vorstellung vom Kinderkriegen zu beklagen haben.

Individuelle Erfahrungen

Mein Buch basiert auf der Annahme, dass Verlusterfahrungen eine nachfolgende Schwangerschaft in einer spezifischen Weise prägen, die viele Frauen ähnlich erleben. Nur ein Beispiel: Die Statistik mag einer betroffenen Frau sagen, dass die Wiederholungswahrscheinlichkeit des erlittenen Verlusts verschwindend gering sei. Doch sie hat den Tod ihres Kindes zu 100 Prozent erlebt. Das ihr Zugestoßene hat keinen Zahlenwert, den man rational diskutieren könnte. Die Erfahrung des Verlustes bestimmt das Leben von uns Frauen danach so allumfassend, dass es verwunderlich wäre, wenn nicht auch eine Folgeschwangerschaft vor allem dadurch geprägt wäre. Die ‚normale’ Annahme, aus einer Schwangerschaft resultiere ein lebendes, gesundes Kind, ist nachhaltig erschüttert. Da der Verlust nur in Ausnahmefällen zu verhindern gewesen wäre, gibt es meist nichts besser zu machen. Nichts falsch gemacht zu haben, kann beruhigend sein; es kann jedoch die Angst auch grenzen- und schrankenlos machen.

Zielgruppe

Mein Buch richtet sich nicht nur an Frauen, die bereits eines oder mehrere Kinder verloren haben. Es ist gleichermaßen für Väter eines Folgekindes und dessen Geschwister, für Hebammen, Ärzte und anderes medizinisches Personal, für Seelsorger, Psychologen und Mitarbeiter in Familienberatungsstellen, für Selbsthilfegruppen und jeden, der einen Einblick in die Besonderheiten von Folgeschwangerschaften wagen möchte, geeignet.

Interviews

Die Idee zu diesem Buch entstand aus meinem persönlichen Erleben. Ermöglicht wird ein solches Projekt jedoch erst durch die zahlreichen Betroffenen, die mir in Interviews Einsicht in ihr Leben und Erleben gestattet haben.

34 Mütter und Väter haben sich meinen vorformulierten Fragen gestellt und oft auch aus ihrer Sicht wichtig erscheinende Dinge hinzugefügt. Mit ihrer Offenheit zeigen die Teilnehmer dieses Buches auch einen (langsamen) Wandel im Umgang mit Elterntrauer und der Verlusterfahrung. Wurde noch vor wenigen Jahren empfohlen, den Tod eines Kindes möglichst zu verdrängen und den Verlust durch eine rasche Folgeschwangerschaft zu kompensieren, so wächst heute das Bewusstsein für die spezifischen und individuell verschiedenen Bedürfnisse verwaister Eltern.

Ein Schritt nach dem anderen

Dieses Buch nähert sich einer Folgeschwangerschaft so, wie ich sie selbst erlebt habe – Schritt für Schritt. Sie beginnt mit der Erfahrung des Verlusts und der Reflexion über das ‚Warum‘ dieses Erlebens.

Irgendwann stellt sich für die meisten Eltern die Frage nach einer neuen Schwangerschaft. Doch wie wird das Zusammenspiel von Trauer und Familienplanung funktionieren? Ist ein (weiteres) Kind der Weg zurück in den ‚Strom des Lebens’? Ist die Entscheidung für ein ‚Ja’ gefallen, so denken Eltern zunächst oft über den ‚richtigen’ Zeitpunkt nach und bereiten sich dann ganz bewusst auf eine neue Schwangerschaft vor. Diese kann schnell eintreten, sie lässt aber auch oft (ungewöhnlich) lange auf sich warten.

Eine Folgeschwangerschaft beginnt nicht erst mit dem positiven Schwangerschaftstest – aber durch ihn oder seitens der Frau subjektiv erfahrene, gefühlte Schwangerschaftsanzeichen wird sie Realität. Neben den medizinischen Aspekten der Vorsorge spielt ab jetzt die emotionale und mentale Unterstützung eine zentrale Rolle. Umso mehr, da viele Folgeschwangerschaften – oftmals grundlos – als Risikoschwangerschaft* eingestuft werden.

Das Erleben einer Folgeschwangerschaft zeigt einige Besonderheiten, die sich von Trimester zu Trimester ändern. Dieses Buch möchte zeigen, dass die auftretenden Gefühle und Gedanken normal sind, auch wenn sie auf den ersten Blick vielleicht seltsam oder befremdlich erscheinen. Viele Mütter wünschen sich eine entspannte Schwangerschaft und leiden unter starken Schuldgefühlen, weil nicht Hoffnung, sondern Angst im Vordergrund steht. Es gilt daher, eine Balance zu finden, anstatt die spezifischen Belastungen zu verdrängen.

Die Geburt eines Folgekindes wird schließlich mit besonderen Emotionen verbunden sein, und auch das nun beginnende Leben mit dem Baby zu Hause kann vielfältig durch einen früheren Verlust geprägt sein. Eigene Kapitel sind den Themen ‚Väter und Folgeschwangerschaft’, ‚Geschwister und Folgeschwangerschaft’, dem Folgekind selbst und den Mitmenschen gewidmet.

Wünsche

Ich wünsche dem Buch die nötige Aufmerksamkeit für ein Ereignis, das viele tausend Eltern pro Jahr in den deutschsprachigen Ländern betrifft. Euch, lieben Eltern, vor, in oder nach einer Folgeschwangerschaft wünsche ich, dass ihr in diesem Buch eine Stütze und Verständnis findet. Und allen Lesern wünsche ich eine tiefere Einsicht in das Thema Folgeschwangerschaft, welche die Basis für einen hilfreichen Umgang mit betroffenen Eltern und Familien sein kann.

Heike Wolter, im November 2010

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Erfahrungen des Verlusts

Erfahrungen der Autorin

Nichts hat mich so beeinflusst und nachhaltig geprägt wie der Verlust meines Kindes. Auch nicht die Geburt meiner zwei Folgekinder. Der Tod meines dritten Kindes hat mir die Endlichkeit des Lebens mit solcher Härte und Brutalität bewusst gemacht, dass ich auch heute oft mit Unfassbarkeit auf das Geschehene zurückblicke.

Ich habe gelernt, gut damit zu leben und dieses Ereignis in mein ganz persönliches Leben zu integrieren. Heute kann ich ruhiger auf die Zeit von damals zurückschauen und verstehe mich, meinen Mann und mein Umfeld neu. Und manchmal glaube ich, ich musste in die Abgründe meiner selbst schauen, um heute der Mensch zu sein, der ich bin.

Auch du hast ein solches Schicksal erlebt und weißt auf deine eigene Art damit umzugehen und das Erlebte zu verarbeiten. Und auch wenn du den Verlust deines Kindes akzeptiert hast – eine Folgeschwangerschaft holt dich doch sofort in jenen Ausnahmezustand zurück, von dem du vielleicht meintest, ihn hinter dir gelassen zu haben.

Unser Leben ist zugeschlagen wie ein Buch, in dem wir eben noch entspannt gelesen hatten. Jetzt, da wir es wieder zur Hand nehmen, können wir die Seite nicht mehr finden, bis zu der wir gekommen waren. Auf gut Glück versuchen wir es ein kleines Stück, aber wir erkennen nichts wieder. Auch beim Zurückblättern stoßen wir auf keine Stelle, von der wir sagen könnten: Ja, das kommt mir wieder bekannt vor.

Als ich etwa zwei Jahre nach dem Tod meiner Tochter diese Zeilen in einem Buch las, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, da wüsste jemand genau, wie sich ihr Tod angefühlt hatte. Die Fassungslosigkeit und Surrealität dessen, was mir da passiert war, wurde auf den Punkt gebracht.i

Wohin soll es gehen?

Die Erfahrung des Verlusts ist so erschütternd und umfassend, dass du dein Leben, zumindest für eine Zeitlang, vermutlich nicht mehr wiedererkannt hast. Und wenn es dir wie mir ging, dann wolltest du auch gar nicht, dass dir etwas bekannt vorkommt, du hast dich gewehrt gegen dieses dir aufgezwungene Leben mit der schrecklichen Erfahrung, dass dein Kind gestorben ist. Dass du dieses Buch zur Hand genommen hast, weil du erneut eine Schwangerschaft wagen möchtest oder aber schon mitten in ihr steckst, zeigt, dass du dich erneut für eine große Lebensreise entschieden hast, sozusagen mit der Erfahrung des Verlusts im Gepäck.

Tanja, deren Kinder in der neunten und zwölften Schwangerschaftswoche gestorben sind, drückt es folgendermaßen aus:

Natürlich ist der Verlust des Kindes das Schlimmste überhaupt, denn an dieses Kind knüpfte man eben auch Träume und Vorstellungen und Wünsche, die somit auch alle von einer Sekunde auf die andere nicht mehr in Erfüllung gehen werden. Zum Beispiel die Vorstellung der Elternzeit, drei Jahre mit dem Kind zu Hause verbringen. Die Unternehmungen, auf die man sich freut: Spielen, Krabbelgruppe, Schwimmen, Spielplatz, Vorlesen. Der Traum einer Familie, all dies stirbt ja mit dem Kind und auf all das hat man ja auch ein Stück weit hingelebt, seit man schwanger werden wollte. Es kann niemand, der keine Ahnung hat, sagen, man soll einfach weiter leben wie bisher. Denn es ist nichts mehr, wie es war. Ich hatte nun mal nicht vor, die nächsten Jahre um fünf Uhr morgens aufzustehen, um zur Arbeit zu gehen, sondern ich hätte glücklich um diese Zeit im Kinderzimmer gestanden, um meinem Kind die Windeln zu wechseln.

Deinen Verlust zu kategorisieren erscheint willkürlich und wertend. Daher sind in den folgenden Verlusterfahrungen der TeilnehmerInnen die Geschichten nicht gruppiert, sondern zufällig aneinandergereiht.

Im Kapitel ‚Die Frage nach dem Warum‘ aber folgt neben allgemeinen Überlegungen auch ein Abschnitt zu medizinischen Ursachen eines Verlustes. Die dortige Unterteilung in Fehl- und Totgeburten sowie den Neugeborenentod ist problematisch, entspricht jedoch dem medizinischen Sprachgebrauch und ist eine gegebenenfalls wichtige Information für deine Folgeschwangerschaft.

Erfahrungen der TeilnehmerInnen

Alle Frauen und Männer dieses Buches haben eine eigene, unverwechselbare Geschichte – auch aus medizinischer Sicht. Ohne Eingriff von außen sollen in diesem Kapitel alle betroffenen Eltern in ihrem ganz eigenen Ausdruck und Denken zur Erfahrung ihres Verlustes zu Wort kommen.

Layout und Seitenaufbau

Kerninhalt dieses Kapitels sind die Verlustgeschichten der Mütter und Väter, die für das Gesamtbuch ihre Erfahrungen zu Folgeschwangerschaft(en) zur Verfügung gestellt haben. Sie alle hätten an diesem Projekt nicht teilgenommen, wenn sie nicht zuvor die schmerzliche Erfahrung des Verlusts gemacht hätten. Dieser hat sie in umfassender, aber sehr verschiedener Art und Weise geprägt. Daher sollen die Teilnehmer an dieser Stelle ausführlich und in eigenen Worten und Bildern zum Ausdruck kommen.

Der Seitenaufbau gleicht immer demselben Prinzip:

Die Bilder entstammen – bis auf die Pusteblumenmotive – dem persönlichen Fundus der einzelnen Familien. Sie sind nicht professionell gefertigt und entstanden oft unter traumatischen Bedingungen. Die Qualität ist daher technisch vielleicht eingeschränkt, aber ihren unschätzbaren Wert erhalten die Bilder als Zeugnisse eines kurzen Lebens.

Die Pusteblumen sind Fotografien von Kathrin Dahl, die auch sämtliche Fotos für die Kapitelbebilderungen aufgenommen hat. Nicht jede Familie hat bildliche Erinnerungen oder möchte diese veröffentlichen. Aus Respekt vor dieser Entscheidung, aber um auch diesen Seiten eine symbolhafte Abbildung beizugeben, wurden diese zarten Naturfotografien gewählt.

Bewusst sind die Fotos nicht untertitelt. Der Leser soll die Möglichkeit haben, seine eigenen Gedanken zu den Bildern zu entwickeln.

Um eine rasche Übersicht zu erreichen, wurde eine Kurzvorstellung vorgenommen. Diese verzeichnet:

Die Berichte sind im Originalwortlaut aus den Fragebögen übernommen worden, aber zum Teil gekürzt.

Sortierung

Die Verlusterfahrungen der Mütter – und auch jene dreier Väter – wurden dem Alter entsprechend sortiert, bei Altersgleichheit alphabetisch. Dies spiegelt die Zufälligkeit wider, mit der eine Verlusterfahrung uns alle treffen kann.

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i   P. F. Thomése: Schattenkind (Berlin Verlag), Berlin 2004, S. 22.

„Ab da begann der abgründigste
Alptraum unseres Lebens!“

Jessica, 22

Beruf: Bürokauffrau

1. Kind: Tochter (*+ vor 3 Jahren), Curettage in der 9. SSW, unbekannte Ursache

2. Kind: Tochter (*+ vor 2 Jahren), spontane Geburt in der 40. SSW, Tod am 5. Lebenstag, Neugeborenensepsis

3. Kind: Tochter/Sohn (*+ vor 1 Jahr), Spontanabort mit anschließender Curettage in der 12. SSW, unbekannte Ursache

4. Kind: Tochter (* vor 1 Monat), spontane Geburt

Die zweite Schwangerschaft verlief komplikationslos, die üblichen Wehwehchen halt. Ich hatte aber so ein komisches Gefühl in mir, und obwohl die ganze Schwangerschaft immer alles soweit in Ordnung war, wurde ich die Angst nicht los, dass ich mein Kind verlieren könnte. Ich habe die Schwangerschaft sehr genossen und meine Tochter war sehr lebhaft. Ich hatte einen sehr engen Kontakt mit ihr, es war etwas ganz Besonderes. Es klingt verrückt, aber sie gab mir zu spüren, wenn etwas nicht gut war.

So auch an einem Donnerstagabend in der 32. Schwangerschaftswoche: Meine Ärztin schickte mich ins Krankenhaus, denn ich hatte einen Nierenstau und die Herztöne des Babys waren zu rasch. Im Krankenhaus machten sich mein Freund und ich das erste Mal so richtig Gedanken. Keiner wusste, was los war.

Nachts konnte ich nicht schlafen, lauschte ständig in mich hinein und hatte große Angst. Meine Tochter spürte dies, strampelte ziemlich heftig und schlief überhaupt nicht, was gar nicht ihre Art war, denn sie schlief eigentlich immer nachts. Meine vorzeitigen Wehen kamen damals, wie sich später herausstellte, von einer Scheideninfektion. Die letzten Wochen verliefen dann aber ruhig und ohne Probleme. Wir konnten uns ungehemmt auf unsere Tochter freuen.

Eine Woche vor dem Termin hielt ich es zu Hause nicht mehr aus vor Schmerzen, ich war zu diesem Zeitpunkt schon total abgekämpft. Ich quälte mich den ganzen restlichen Tag, die Nacht, bis in die frühen Morgenstunden. Schließlich, um 12 Uhr mittags, erblickte unsere Tochter das Licht der Welt. Mit einem kräftigen Schrei und ganz vielen dunkelbraunen Haaren auf dem Kopf. Ich habe so weinen müssen vor Freude, das Glück war perfekt. Es war geschafft und es war alles bestens. Sie war gesund und putzmunter. Ein wunderschönes kleines Mädchen, ich werde nie vergessen, wie sie mich das erste Mal angeblinzelt hat.

Sie schrie dann noch ziemlich lange und verschlief den restlichen Tag und die Nacht. Am nächsten Tag entließ man uns dann mit ihr aus dem Krankenhaus.

Zu Hause schlief unsere Tochter sehr viel und wir hatten immer das Problem, dass sie nicht so richtig trinken wollte. Die Hebamme meinte zu uns, wir sollten sie immer wieder wecken, denn durch die Neugeborenengelbsucht würden die Kinder sehr schläfrig.

Am Abend weinte ich sehr viel und erzählte meinem Freund, dass ich Angst hätte, dass sie uns jemand wegnehmen würde. Da war so ein unbeschreibliches Verlustgefühl und ich konnte es mir selber nicht erklären. Mein Freund sagte mir in der Nacht, dass unsere Tochter ganz kalt sei, und so machte ich das Kirschkernkissen warm. Beim Wickeln wurde es uns dann ganz anders, als wir sahen, dass die Kleine ganz komisch atmete. Sie atmete normal ein und krampfartig aus. Dazu kam noch, dass sie nicht mehr reagierte und wir sie nicht wach bekamen. Wir waren ratlos und riefen im Krankenhaus an.

Ab da begann der abgründigste Alptraum unseres Lebens! Ich setzte mich zu den beiden aufs Sofa und ich dachte, ich sähe nicht richtig, denn meine Tochter war blau. Ich geriet in Panik, wählte den Notruf und schrie schon fast ins Telefon, dass unsere Tochter nicht mehr atmet! Die schlimmsten Minuten unseres Lebens, wir waren so hilflos, panisch, wussten nicht, was wir tun sollten.

Der Krankenwagen brachte sie in die Klinik. Im Krankenhaus, nach einer halben Ewigkeit, folgten die Worte, die mir bis heute noch in den Ohren hallen und mir Tränen in die Augen treiben: „Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihrer Tochter nicht mehr helfen konnten!“ Ich bin weinend und schluchzend zusammengebrochen, dachte immer nur, das darf nicht sein, nein, der irrt sich, das darf doch nicht wahr sein! Es spielte sich alles wie in einem Film ab. Ich stand völlig unter Schock, und dieser Schmerz nahm mir fast die Luft zum Atmen.

Wir durften sie noch taufen lassen und irgendwann durften wir sie noch einmal sehen. Der Raum war sehr abgedunkelt, sie lag auf einem rosa Tuch. Sie sah so friedlich aus, als würde sie schlafen. Das Foto, das wir bekamen, empfand ich noch monatelang als Zumutung und sah es mir nur ungern an.

Etwa nach einem halben Jahr wurde mir dieses Foto unsagbar wichtig und heute bin ich dankbar, dieses letzte Foto von ihr zu haben. Jetzt sehe ich ein wunderschönes, schlafendes Mädchen darauf. Und ich habe mir meine Tochter zwei Tage später am Bergfriedhof angesehen und habe es nie bereut. Nur leider habe ich kein Foto gemacht, da ich mich nicht traute. Dieses Bild wäre ein sehr wichtiges Erinnerungsstück für mich gewesen, das mir heute sehr fehlt.

Ich habe gelernt, ihren Tod zu respektieren und damit zu leben. Die Frage nach dem Warum habe ich schon lange aufgegeben. Sie wird in meinem Herzen immer weiterleben, und ich liebe sie, ohne Ende! Die Zeit mit ihr möchte ich niemals missen, und ich würde den Weg immer wieder gehen, selbst wenn ich wüsste, dass sie sterben wird. Sie ist ein Teil von mir und ihr Tod ein Teil meines Lebens. Es ist eine Lücke entstanden, die nichts und niemand je füllen kann.

Ich musste noch einen Verlust erleiden, bevor ich tatsächlich ein Folgekind bekam. In dieser Schwangerschaft war ich zuerst sehr mutlos und wütend. Die entsprechenden Schwangerschaftswochen, in denen meine anderen drei Kinder gestorben waren, waren sehr schlimm für mich. Ich hatte richtig Panik, dass ich das Baby nicht halten könne. Eigentlich war die ganze Schwangerschaft ein Auf und Ab. Ganz heftig war es ab der 38. Woche. Durch das Warten fühlte ich mich, als würde ich geradewegs das Schicksal herausfordern.

Die komplikationslose Geburt meiner Tochter gab mir wieder ein Stück Vertrauen in die Natur zurück. Ich konnte sie die ersten drei Lebenswochen nicht abgeben. Nahm mir mein Freund mal die Kleine weg, brach ich in Tränen aus und ich war stundenlang nicht mehr ansprechbar. Ich war wie eine Henne auf ihren brütenden Eiern. Ich konnte und wollte sie mit niemandem teilen.

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„Ich schrie meine Wut und Verzweiflung heraus.“

Karolin, 23

Beruf: Kindergärtnerin

1. Kind: Sohn (*+ vor 3 Jahren), eingeleitete spontane Geburt und anschließende manuelle Plazentalösung in der 28. SSW, unbekannte Ursache

2. Kind: Tochter/Sohn (*+ vor 2 Jahren), Curettage in der 9. SSW, unbekannte Ursache

3. Kind: Tochter (* vor 1 Jahr), spontane Geburt

4. Kind: Tochter (noch nicht geboren)

Als ich herausfand, dass ich mit meinem Sohn schwanger war, waren mein Mann und ich überglücklich.

Während der ersten Untersuchung konnte man noch nicht wirklich viel erkennen, aber ich machte mir nicht allzu viele Sorgen, da ich nicht im Traum daran dachte, dass irgendetwas schieflaufen könnte. Kurz darauf waren wir wieder beim Arzt, doch er sagte mir, dass ich ein sehr großes Hämatom in der Gebärmutter habe und dass das unserem Kleinen gefährlich werden könnte. Ich musste daraufhin eine Woche im Krankenhaus liegen. Etwa in der 16. Woche war das Hämatom weitgehend verschwunden.

Ich fing an, die Schwangerschaft in vollen Zügen zu genießen. Ich nutzte die Zeit, um mich ganz intensiv mit dem Kleinen auseinanderzusetzen und es war das schönste Gefühl der Welt, als ich ihn zum ersten Mal gespürt habe. Bei weiteren Untersuchungen beim Frauenarzt war immer alles in bester Ordnung und in der 24. Schwangerschaftswoche fielen dann alle Bedenken von mir ab.

Nur zwei Wochen später wurde ich unruhig. Ich konnte den Kleinen nicht mehr richtig spüren und erzählte das auch meinem Mann. Kurze Zeit später konnte ich auch wieder etwas spüren, aber das waren in Wirklichkeit erste Kontraktionen meiner Gebärmutter. Ich fieberte meinem nächsten Termin beim Frauenarzt entgegen. Die Minuten dort waren die schlimmsten in meinem ganzen Leben. Ich legte mich zum Ultraschall hin und freute mich, als ich unseren Zwerg auf dem Monitor sah. Ich dachte mir auch anfangs nichts dabei, als mein Arzt den Kleinen von verschiedenen Perspektiven betrachtete. Da er aber ungewöhnlich genau zu suchen begann, verstand ich: Er suchte nach einer Herzaktion. Nach einigen Minuten sagte ich: „Es ist etwas nicht in Ordnung, oder?“ Ich wollte nicht wahrhaben, dass dieses kleine Wesen in meinem Bauch tatsächlich nicht mehr lebte.

Der Arzt kommentierte das Geschehen nicht weiter und schickte uns nach Hause. Am nächsten Tag sollten wir in die Klink kommen, um die Geburt einzuleiten. Diese eine Nacht war die Hölle für mich. Ich konnte kaum schlafen, und wenn es mir gelang, ein paar Minuten einzunicken, holte mich jedes Mal, wenn ich aufwachte, sofort die Realität ein. Mein Mann versuchte mir klarzumachen, dass es nicht meine Schuld war. Doch ich glaubte ihm nicht. Die Frage, warum es gerade mein Kind sein musste, kreiste andauernd in meinem Kopf.

Im Krankenhaus wurde mir eine Tablette in den Muttermund gelegt und im Krankenzimmer bekam ich die ersten Infusionen, um die Geburt einzuleiten. Während dieser ersten Stunden der Geburt war ich ruhig und irgendetwas tief in mir freute sich sogar auf den Moment, an dem ich unser Baby zum ersten Mal sehen sollte. Ich hörte, wie eine Frau im Nebenzimmer ein gesundes Kind zur Welt brachte, und das Schreien des Neugeborenen löste bei mir ein riesiges Gefühl der Leere und der Trauer aus. Ich schrie meine Wut und Verzweiflung heraus.

Als mein Sohn geboren war, wollte ich ihn sehen, doch die Hebamme nahm ihn und sagte, sie wolle ihn erst herrichten. Mir wäre das egal gewesen, aber die Hebamme kam mit dem Umstand nicht zurecht und wollte mich irgendwie schützen. Sie hüllte ihn in ein Tuch und legte ihn auf ein kleines Tischchen. Man konnte nur sein Gesicht sehen. Sie stellte ein kleines Tonengelchen und eine Karte mit seinem Fuß- und Handabdruck dazu. Sie sagte mir, ich solle den Kleinen nicht anfassen. In diesem Moment war ich zu schwach, um mich zu wehren. Ich konnte ihn dann noch ungefähr eine halbe Stunde betrachten, bevor er mir weggenommen wurde.

Am Vormittag bat ich eine Schwester, ob ich mein Kind noch einmal sehen könnte, und man brachte ihn mir. Endlich konnte ich meinen Sohn in den Arm nehmen, ihn genau sehen und riechen. Ich konnte ihn streicheln und fühlte mich in der kurzen Zeit als Mutter. Ich werde nie vergessen, wie es sich angefühlt hat, das winzige Kind in den Armen zu halten. Für mich war er einfach perfekt.

Unser Sohn ist jetzt fest in unserem Leben verankert. Er hat seinen eigenen Platz bei uns im Wohnzimmer, an der Gedenkstätte und in unserem Herzen. Und er gehört auch für meine gesamte Familie einfach mit dazu!

Bei meiner ersten Folgeschwangerschaft, die mit einer Fehlgeburt endete, war ich sehr positiv eingestellt und machte mir erstmal keine Sorgen. Erst mit den Blutungen kam die Unsicherheit. Doch ich wollte es einfach nicht wahrhaben, dass es schon wieder scheitern könnte. Als man mir dann sagte, dass die Schwangerschaft vorbei sei, ist für mich eine Welt zusammengebrochen und mit ihr mein Glauben daran, dass ich ein gesundes Kind bekommen könnte, obwohl man mir versicherte, dass das aus medizinischer Sicht kein Problem sei.

Als ich bei der Schwangerschaft meiner Tochter den positiven Test in der Hand hielt, konnte ich es zunächst nicht glauben. Ich dachte nur: Nicht schon wieder! Doch irgendwo in meinem Innersten freute ich mich auch. Nur konnte ich diese Freude nicht zulassen.

Als ich in der 9. Woche eine Blutung bekam, dachte ich: Jetzt ist es aus! Die nächsten Wochen waren ein einziges Auf und Ab. Ich hatte regelmäßig Panikattacken und konnte mich nur beruhigen, wenn ich mein Baby am Ultraschall gesehen habe. Als ich die 30. Woche erreicht hatte, konnte ich mich zum ersten Mal richtig entspannt auf die Ankunft unserer kleinen Tochter freuen.

Ich wollte die ultimativ schöne Geburt, aber ich durfte im Krankenhaus nur auf dem Rücken liegen und musste die ganze Zeit am CTG hängen. Die Geburt dauerte ewig. Doch als die Kleine dann endlich auf meinem Bauch lag, war alles vergessen. Ich war noch nie so glücklich und konnte nicht fassen, dass dieses kleine, schreiende Etwas mein Kind sein sollte, das ich sogar mit nach Hause nehmen durfte! Ich konnte nicht einmal weinen. Ich konnte gar keine klaren Gedanken fassen. Ich war einfach nur da und sie war einfach nur da – und das war das schönste Gefühl auf der Welt.

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„Leer wie auch mein Bauch, der gerade
ein Kind verabschiedet hatte, das
niemals wirklich begrüßt wurde.“

Marion, 23

Beruf: Studentin

1. Kind: Tochter/Sohn (*+ vor 3 Jahren), Spontanabort in der 6. SSW, unbekannte Ursache

2. Kind: Sohn (*+ vor 2 Jahren), spontane Geburt in der 41. SSW, Tod am 2. Lebenstag, SIDS

3. Kind: Tochter/Sohn (*+ vor 1 Jahr), Spontanabort in der 5. SSW, unbekannte Ursache

4. Kind: Tochter/Sohn (*+ vor 1 Jahr), Spontanabort in der 5. SSW, unbekannte Ursache

5. Kind: Sohn (* vor 4 Monaten), spontane Geburt

Mit 20 Jahren hatte ich mich für die Verhütung mit der Spirale entschieden. Einige Wochen später entdeckte ich typische Schwangerschaftszeichen an mir, wollte sie mir allerdings nicht eingestehen. Bis ich Ende der 6. Schwangerschaftswoche mein Kind verlor und ich mir zugestehen musste, dass ich schwanger gewesen war, bevor ich es überhaupt realisiert hatte.

Durch dieses Erlebnis wuchs mein Kinderwunsch, und sofort nach Absetzen der Verhütung wurde ich schwanger. Es war einerseits eine schöne Schwangerschaft, andererseits war sie bedingt durch Wehen von Ängsten durchzogen. Drei Tage nach dem errechneten Termin kam mein Sohn zu Hause zur Welt. Gesund. Kräftig. Lebensfroh. Zumindest scheinbar: 45 Stunden später lag er tot in meinen Armen. Er war eingeschlafen und einfach nicht mehr aufgewacht. Grundlos. An SIDS verstorben.

Die Schwangerschafts- und Geburtshormone dämpften zwar einerseits den Schmerz, ließen aber auch gleichzeitig einen sehr starken Kinderwunsch aufkommen. Es war eine Zeit der Extreme, eine Zeit des Umbruchs.

Eigentlich hätte ich wegen der Bedürfnisse meines Sohnes schlaflose Nächte verbringen sollen, nicht aber, weil mein Kissen tränennass war und mich Bilder im Traum verfolgten, die keine Mutter jemals sehen sollte. Fein säuberlich hergerichtet warteten Babygewand und Babybettchen auf ihren ersten Einsatz. Doch der Platz blieb leer. Leer wie auch mein Bauch, der gerade ein Kind verabschiedet hatte, das niemals wirklich begrüßt wurde.

Dann schrieb ich an mein geliebtes Kind:

Was sagt man einem wenige Tage alten Kind? Normalerweise hält man es lächelnd im Arm, sucht nach Familienähnlichkeiten und ist davon überzeugt, das großartigste Kind der Welt vor sich zu haben. Gehaltvolle Reden und ernsthafte Vorträge hebt man sich für später auf. Denn normalerweise gibt es ein Später. Bei uns nicht. Du hast Dich letzten Mai bei uns angekündigt, hast Dich Woche für Woche und Monat für Monat weiter entwickelt, hast Dich tapfer ans Licht der Welt durchgeschoben, bist zwei Tage bei uns geblieben – und bist dann wieder gegangen. Still und unbemerkt. Wenn Gott Deine Nieren schon im Mutterleib gebildet hat, wenn Gott all Deine Haare auf dem Kopf gezählt hat, wenn Gott Deine Lebensspanne bemessen hat – wieso hat er Dir dann gerade mal zwei Tage auf Erden zugemessen? Hast Du Deine Lebensaufgabe in zwei Tagen schon vollendet? War es Deine Lebensaufgabe, uns eine Lebensaufgabe zuzuspielen?

Wir haben geglaubt, eine unserer Lebensaufgaben ist es, unseren Erstgeborenen auf seiner Reise durch Kindheit und Jugend anzuleiten und ihn später in seinem Leben als Mann oder Ehemann oder Vater oder sogar Großvater zu begleiten. Wir haben mit aufgeschürften Knien, fehlerhaften Gedächtnisübungen in der Schule oder auch Vorzugszeugnissen gerechnet, mit Feuchtblattern und Liebeskummer. Nie hätten wir damit gerechnet, dass wir von Dir keinen ersten Zahn, kein „Mama“ und „Papa“, keine einzige Warum-Frage und keine selbst gebastelten Geschenke bekommen werden.

Du wirst nie größer sein als 51 Zentimeter, nie schwerer als 3,6 Kilogramm, nie älter als zwei Tage. So klein und leicht und jung hast Du dennoch unser Leben durch und durch verändert. So tief war die Freude, als Du endlich bei uns warst, so tief war der Schmerz, als Du plötzlich gegangen bist. Innerhalb weniger Stunden hast Du uns in beide Extreme gestellt. Und wir müssen jetzt in uns Platz finden für beides: die Freude und den Schmerz.

Du wirst immer Deinen ehrenvollen Platz haben bei uns. […] Wir geben Dir also einen Ehrenplatz in der Familie. Und wir versprechen Dir, jeden Tag ein ganz, ganz kleines bisschen Traurigkeit loszulassen, damit jeden Tag ein kleines bisschen mehr von der Liebe und der Dankbarkeit sich ausbreiten kann, mit der wir Dich bei uns willkommen geheißen haben.

Nie, nie, nie wird Dein Tod etwas Gutes sein. Aber irgendwie, irgendwann, auf irgendeine Weise wird sich etwas Gutes und Schönes und Heiles entwickeln aus dem Schmerz und der Traurigkeit von heute. Und das wegen Dir!

Nie, nie, nie werden wir dankbar sein für Deinen Tod. Aber irgendwie, irgendwann werden wir auf unser Leben blicken und dankbar sein, wie sich in unserem Leben das Gute und Schöne und Heile entwickelt hat. Und das wegen Dir!

Danke, dass Du bei uns warst! – Danke, dass Du uns angesehen und berührt hast! – Danke, dass Du uns im Innersten verändert hast! – Danke, dass wir Dich zwei Tage in unseren Armen halten durften! – Danke, dass wir Dich unser Leben lang lieben dürfen!

Ein erneuter Kinderwunsch war sowohl bei meinem Mann als auch bei mir sehr schnell wieder da. Trotz der Trauer und der Angst. Fünf Monate vergingen, bis ich wieder schwanger werden durfte. Für wenige Tage, denn auch dieses Kind verabschiedete sich so schnell, wie es gekommen war. Zwei Monate später ging mein viertes Kind zu den Sternen.

Für mich brach eine Welt zusammen. Ich glaubte, ich könne nie ein Kind am Leben erhalten. In dieser Zeit der neuerlichen Trauer wurde ich wieder schwanger. Es war für mich unfassbar. Unfassbar schön. Mein fünftes Kind ist endlich bei uns geblieben.

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„Da war dann schon
mein kleiner Engel.“

Nina, 24

Beruf: Kinderpflegerin / Metallverarbeiterin

1. Kind: Tochter (* vor 6 Jahren), geplante Sectio

2. Kind: Sohn (* + vor 1 Jahr), spontane Geburt und anschließende Curettage in der 23. SSW, Infektion

Bis zur 16. Woche war alles okay, doch in der Nacht bekam ich plötzlich Blutungen, also bin ich gleich zu meiner Ärztin, da ich schon das Schlimmste befürchtet hatte. Sie hat mich dann gleich ins Krankenhaus geschickt, weil sie ein Hämatom in der Gebärmutter sah.

Im Krankenhaus hatte ich eine Woche Bettruhe und durfte nur auf die Toilette gehen. Ich hatte dann keine Blutungen mehr und durfte wieder nach Hause, sollte mich aber schonen und viel liegen. Mit einem vierjährigen Kind? Meine Mutter und meine Nachbarin haben mir sehr geholfen.

Bei den Vorsorgeuntersuchungen war immer alles okay und das Hämatom hat sich nicht mehr verändert. Mein Sohn wurde immer als sehr groß eingestuft. Wir waren jedes Mal überglücklich, wenn wir hörten, es geht ihm gut und er entwickelt sich gut.

Mitte März hatte ich wieder leichte Schmierblutungen und fuhr in die Klinik. Ich hatte schon extra meine Tasche gepackt, da ich davon ausging, dass ich stationär bleiben muss. Es war aber alles okay. Zur Sicherheit wurde ein Abstrich gemacht. Dann sagte der Arzt, ich könne wieder nach Hause gehen.

In der übernächsten Nacht hatte ich immer wieder Rückenschmerzen. Als sie nicht besser wurden, habe ich meinen Mann geweckt und sagte, er müsse mich in die Klinik fahren, denn ich hätte Wehen. Als wir in der Klinik ankamen, hatte ich schon alle fünf Minuten Wehen. Wir haben am Kreißsaal geklingelt und die Hebamme brachte uns dann in ein leeres Entbindungszimmer. Ich wurde an ein CTG angeschlossen, das zeigte, dass ich schon sehr starke Wehen hatte.

Der Ultraschall zeigte, dass das Herzchen noch schlägt und die Ärztin sagte, sie würden alles versuchen, dass sie das Kind noch fünf Wochen halten. Dann organisierte sie den Befund vom Abstrich.

Ich hatte eine Infektion und sie versuchten, sie mit Antibiotika zu bekämpfen. Ich wollte versuchen, mich ein wenig auszuruhen, aber die Wehen kamen nun schon jede Minute. Nicht mal die Schmerztabletten haben was geholfen. Die Nachtschwester war aber auch ehrlich und hat zu mir gesagt, dass sie, wenn es nicht besser wird, nicht mehr glaubt, dass es was wird. Da fielen mir die Worte der Ärztin wieder ein, dass sie ihm nicht helfen können, wenn er die nächsten Tage geboren wird.

Um drei Uhr nachts hatte ich ein Gefühl, als würde es mich zerreißen. Da war dann schon mein kleiner Engel, ich sah hinunter und habe gewartet, dass er sich rührt, aber es tat sich nichts. Die Hebamme sagte: „Es ist ein wunderschöner Junge.“

Mittlerweile möchten wir es wieder wagen. Wir sind wieder am Üben. Auch wenn es immer wieder Aufs und Abs gibt, wir geben nicht auf und hoffen, dass sich bald ein Geschwisterchen anmeldet.

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„Es ist unfassbar, dass wir ihn nie wirklich
kennenlernen, nie lachen und durch
Pfützen springen sehen werden.“

Dani, 28

Beruf: Hausfrau

1. Kind: Tochter (* vor 5 Jahren), spontane Geburt

2. Kind: Tochter (* vor 4 Jahren), spontane Geburt

3. Kind: Sohn (*+ vor 2 Jahren), eingeleitete spontane Geburt in der 20. SSW, vorzeitiger Blasensprung; unbekannte Ursache

4. Kind: Tochter (* vor 1 Jahr), spontane Geburt

Die Schwangerschaft mit unserem Sohn verlief von Anfang an anders als die vorherigen. Mir war kaum schlecht, und deshalb machte ich mir von Anfang an Gedanken, dass etwas nicht stimmen könnte.

Und tatsächlich: In der zehnten Woche bekam ich plötzlich starke Blutungen. Ich befürchtete das Schlimmste und konnte vor lauter Tränen kaum etwas erkennen, als ich zum Krankenhaus fuhr. Dort wurde ein Hämatom unter dem Plazentarand festgestellt. Die Ärzte legten mir nahe, mich zu schonen, was ich, so gut es eben mit zwei kleinen Kindern ging, auch tat. Sie meinten, dass man nicht mehr tun könne, dass so etwas öfter vorkomme und es meist gut ausgehe.

In der 13. Woche bekam ich starke Blutungen. Es war ein Tag vor Weihnachten und ich sollte meinem Kind zuliebe im Krankenhaus bleiben, da sich das Hämatom immer mehr unter die Plazenta grub. Da die Blutung aufhörte, durfte ich Silvester wieder nach Hause. Es blutete noch einmal Ende der 15. Woche, aber auch diesmal sagte der Arzt im Krankenhaus, dass er schon große Hoffnung hat, dass es gut wird. Allerdings wurde ich nie diese unterschwellige Angst los. Ich sagte meinem Mann, dass wir, falls doch noch etwas passieren sollte, einen Fotoapparat mitnehmen müssten, und dass er aufpassen solle, dass ich mir unser Baby dann anschauen könne.

Dann war drei Wochen Ruhe. Keine Blutung. Mit jedem Tag mehr stieg die Hoffnung! Am 3. Februar, ich war in der 19. Woche, hatte ich einen Termin bei meiner Frauenärztin. Sie vermaß das Hämatom und ich konnte es kaum glauben: Es war geschrumpft! Endlich! Nur noch ganz schmal war es zu sehen. „Jetzt schaffen wir das“, sagte sie. Ich fuhr selig nach Hause. Manchmal merkte ich meinen Sohn ganz sachte zappeln.

Eines Nachts wurde ich wach, weil mir etwas zwischen die Beine lief: Blut! Ich war geschockt. Es lief und lief. Dann bekam ich Wehen, ich musste sogar etwas pusten. Aber sie gingen wieder weg. Am Morgen fuhr ich ins Krankenhaus. Als ich mich zum Ultraschall hinlegte, wurde mein Bauch ganz hart, der Arzt schaute sehr skeptisch. Er sah auf den Monitor und dann kam die Frage, die alles veränderte: „War es Fruchtwasser, das herauslief?“ Ich wusste sofort, was los war: Blasensprung! Ich konnte gar keinen Gedanken fassen, mir wurde heiß und kalt zugleich, es zog mir den Boden unter den Füßen weg und Tränen schossen in meine Augen. Ich konnte einfach nur weinen, weinen, weinen.

Ich sah mein kleines Baby zusammengekauert in der kontrahierten* Gebärmutter fast ganz ohne Fruchtwasser. Aber es lebte! Doch es sah schlecht aus, schließlich waren wir erst in der 20. Schwangerschaftswoche. Eine Fruchtwasserauffüllung kam nicht in Frage. Ich konnte es nicht begreifen und alles, was dann kam, erlebte ich nur in Trance.

Man hatte uns die Einleitung der Geburt empfohlen, weil das Infektionsrisiko mit offener Fruchtblase für mich sehr groß war und das Baby sicher in den nächsten Tagen sterben würde. Es begannen Blutungen und leichte Wehen. Mir liefen die Tränen – ich konnte sie nicht stoppen.

Mein Mann und ich streichelten abwechselnd den kleinen Mensch in meinem Bauch, anfangs zappelte er noch. Aber, das hatte uns der Arzt auf Nachfrage gesagt, er war noch viel zu zart, um die Wehen zu überleben.

Ich hatte sehr große Angst, dass mein kleiner Schatz im Bauch Schmerzen hatte und leiden musste. Es passierte sehr lange nichts und das Warten auf das Unvermeidliche war sehr kräfteraubend. Eigentlich wollte ich mein Baby ja auch noch gar nicht hergeben.

Und trotzdem wurden die Wehen stärker. In der Nacht merkte ich, dass unser Sohn auf die Welt kam.