Vorwort

Dieses Buch wendet sich sowohl an Kranke als auch an Menschen, die Kranke pflegen oder begleiten. Es will den Kranken helfen, ihre eigene Krankheit zu verstehen und spirituell damit umzugehen. Zugleich lädt dieses Buch dazu ein, sich selbst Gedanken zu machen über den Sinn der eigenen Krankheit und über die Erfahrungen, die jeder mit seiner Krankheit macht.

Der Kranke wird dazu ermuntert, ein Tagebuch zu führen und die Gedanken aufzuschreiben, die ihm in seiner Krankheit durch den Kopf gehen. Zu diesem Buch haben mich die Erfahrungen angeregt, die ich mit eigener Krankheit und bei der Krankenbegleitung gemacht habe. Bereichernd war auch der Austausch mit der evangelischen Theologin Hsin-Ju Wu, mit der ich während eines längeren Aufenthaltes in Taiwan zusammengearbeitet und gemeinsame Vorträge gehalten habe und die ganz ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht hat. Inspiriert hat uns beide die Erzählung eines Pastors, der von einer Frau berichtete, die während ihrer Krankheit ihre Gedanken aufgeschrieben hat. Bei der Beerdigung haben dann die Verwandten aus diesem Tagebuch vorgelesen. Alle Anwesenden waren tief berührt von den Gedanken, die dieser Frau in ihrer Krankheit gekommen sind und die sie für sich selbst, aber auch für ihre Familie aufgeschrieben hat.

Dieses Buch ist aber auch gedacht für die Männer und Frauen, die Kranke begleiten: für die Krankenhausseelsorger, für die Mitglieder der Pfarreien, die Kranke aus ihrer Pfarrei besuchen, und für die Angehörigen von Kranken. Sie finden in diesem Buch Gedanken, die ihnen möglicherweise bei der Begegnung mit Kranken helfen, und Vorschläge, wie sie Kranke dazu ermutigen können, mit ihrer Krankheit spirituell umzugehen. Hinzu kommen Anregungen für Rituale, welche die Begleiter mit den Kranken vollziehen können. Darüber hinaus bietet dieses Buch Meditationen und Gebetskarten, die in Zeiten der Krankheit trost- und hilfreich sein können. Kranke brauchen Bilder und Worte, an denen sie sich gleichsam festhalten können. Und sie sehnen sich danach, dass die Begleitung nicht nur mit Worten geschieht, sondern durch Rituale, die tiefer gehen als bloße Worte.

So hoffe ich, dass ich mit diesem Buch den Kranken eine Hilfe in die Hand gebe, wie sie mit ihrer Krankheit umgehen können. Und ich wünsche den Begleitern von Kranken, dass sie in diesem Buch Anregungen finden für den Umgang mit kranken Menschen. Ich habe die Texte dieses Buches im Austausch mit Frau Hsin-Ju Wu besprochen. So sind diese Texte aus der gemeinsamen Erfahrung entsprungen. Ziel ist es, den Kranken und den Begleitern von Kranken zu helfen, ihre eigenen Erfahrungen zu verstehen und sie bewusster zu erleben.

Pater Anselm Grün

Einleitung

Jesus hat sich in besonderer Weise den Kranken zugewendet. Er hat Kranke geheilt und uns Christen den Auftrag gegeben, uns um die Kranken zu kümmern, ja sie sogar zu heilen. In der Aussendungsrede gibt Jesus den Jüngern den Auftrag: »Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!« (Matthäus 10,7f)

Die Heilung der Kranken ist Zeichen für die Nähe des Himmelreiches. Wenn Gott im Menschen herrscht, dann kann dieser gesund werden. Das heißt nicht, dass jede körperliche Krankheit sofort geheilt wird. Aber der Mensch wird in seiner Seele heil und ganz. Von den Christen – so fordert uns Jesus auf – soll eine heilende Ausstrahlung auf die Menschen ausgehen. Sie sollen Leben wecken in Menschen, die innerlich tot sind. Sie sollen Aussätzige rein machen, indem sie Menschen, die sich selbst nicht annehmen können, durch ihre liebende Zuwendung dazu befähigen, sich als wertvoll und rein zu empfinden. Und sie sollen Dämonen austreiben, das heißt, sie sollen die Menschen befreien von krank machenden, unreinen Geistern, die das Denken und Fühlen eintrüben. Sie sollen die Menschen von inneren Zwängen befreien.

Jesus ist auf kranke Menschen zugegangen. Der Evangelist Matthäus deutet sein heilendes Handeln an den Kranken mit einem Verweis auf den Propheten Jesaja: »Dadurch sollte sich erfüllen, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist: Er hat unsere Leiden auf sich genommen und unsere Krankheiten getragen« (Matthäus 8,17 und Jesaja 53,4). Und der 1. Petrusbrief versteht das Wirken Jesu vor dem Hintergrund der prophetischen Worte folgendermaßen: »Durch seine Wunden seid ihr geheilt« (1 Petrus 2,24 und Jesaja 53,5). So hat er uns einen Weg aufgezeigt, wie wir mit der Krankheit im Blick auf Christus spirituell umgehen können. Und so fordert Jesus auch uns Christen auf, Kranke zu besuchen und sie auf ihrem Weg der Krankheit zu begleiten. Den Worten der Bibel folgend möchte ich daher diese drei Bereiche behandeln: die Deutung der Krankheit, den spirituellen Umgang mit der Krankheit und die christliche Begleitung kranker Menschen.

I.
Die Deutung
der Krankheit

Wenn wir krank werden, sind wir innerlich verunsichert. Wir fragen uns: Warum gerade ich? Ich habe doch immer gesund gelebt, mich immer um meine Gesundheit gekümmert. Warum hat es mich getroffen? Was habe ich verkehrt gemacht? Habe ich mich falsch ernährt? Oder haben mich die Umstände in der Firma oder die schwierige Beziehung in der Ehe krank gemacht?

Wir suchen immer nach Ursachen für unsere Krankheit. Und manchmal beziehen wir diese Ursache auch auf Gott: Warum hat Gott das zugelassen? Wie kann Gott so grausam sein? Was ist das für ein Gott, dem ich bisher gedient habe? Habe ich mich in Gott getäuscht? Hat Gott mich durch die Krankheit gestraft, weil ich nicht so gelebt habe, wie er sich das vorstellt?

Keiner von uns ist gefeit gegen Krankheit. Auch wenn wir noch so gesund leben, wenn wir auf gesunde Ernährung achten und uns genügend bewegen, haben wir keine Garantie, von Krankheit verschont zu bleiben. Werden wir krank, gehen wir zum Arzt und setzen alles daran, die medizinischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Aber wir müssen uns auch innerlich mit der Krankheit auseinandersetzen. Wir haben sie als unsere Aufgabe zu sehen, an der wir wachsen können. In diesem Sinne ist unsere Krankheit als geistliche Aufgabe zu verstehen.

Die Krankheit stellt mich in Frage – sie stellt mir viele Fragen. Die erste Frage ist die nach dem richtigen Leben: Weist mich meine Krankheit darauf hin, dass ich etwas übersehen habe, dass ich an meiner Wahrheit vorbeigelebt habe? Habe ich mich übernommen? Habe ich zu viel gearbeitet? Habe ich zu viel heruntergeschluckt? Habe ich wichtige Signale meines Leibes und meiner Seele überhört? Was will mir die Krankheit sagen? Was sollte ich verändern? Wo sollte ich andere Akzente in meinem Lebenskonzept setzen? Worauf kommt es wirklich an in meinem Leben? Sollte ich kürzertreten, behutsamer und achtsamer leben? Was bedeuten mir meine Freunde, meine Familie? Wo habe ich sie vernachlässigt? Wie möchte ich mit ihnen umgehen, wenn die Zeit, die mir mit ihnen bleibt, begrenzt ist? Die Krankheit ist eine Chance, mein Leben zu überdenken und die Schwerpunkte anders zu setzen.

Was sagt dir deine Krankheit? Wo hat sie deine Sicht des Lebens verändert? Wo hat sie die Maßstäbe, nach denen du lebst, relativiert und dir andere Maßstäbe für dein Leben geschenkt? Und wo hat dich deine Krankheit verwirrt und ratlos gemacht? Oder hat dich deine Krankheit wütend werden lassen: wütend gegen Gott, wütend gegen das Schicksal, wütend gegen die Ärzte, die dich nicht vor der Krankheit geschützt haben?