VII.

Wahrscheinlich besorgte er an diesem Tage bei seinen vielen Laufereien noch eine ganze Menge von Geschäften und erledigte sie offenbar erfolgreich; das zeigte der selbstzufriedene Ausdruck seines Gesichtes, als er am Abend Punkt sechs Uhr bei Nikolai Wsewolodowitsch erschien. Aber zu diesem wurde er nicht sogleich hereingelassen, weil sich gerade Mawriki Nikolajewitsch bei Nikolai Wsewolodowitsch im Arbeitszimmer befand. Diese Nachricht machte ihn sofort besorgt. Er setzte sich dicht an die Tür des Arbeitszimmers, um zu warten, bis der Besucher weggehen würde. Daß gesprochen wurde, war zu hören; aber die Worte ließen sich nicht verstehen. Der Besuch dauerte nicht lange; bald wurde ein Geräusch vernehmbar; eine sehr laute, scharfe Stimme ertönte; darauf öffnete sich die Tür, und Mawriki Nikolajewitsch trat mit ganz blassem Gesichte heraus. Er bemerkte Peter Stepanowitsch nicht und ging schnell an ihm vorbei. Peter Stepanowitsch lief sofort in das Arbeitszimmer hinein.

Ich kann nicht umhin über diese kurze Begegnung der beiden »Nebenbuhler« ausführlich zu berichten, eine Begegnung, die unter den obwaltenden Umständen anscheinend unmöglich war, aber doch tatsächlich stattfand.

Das begab sich folgendermaßen. Nikolai Wsewolodowitsch schlummerte nach dem Mittagessen in seinem Arbeitszimmer auf der Chaiselongue, als ihm Alexei Jegorowitsch die Ankunft des unerwarteten Besuchers meldete. Als er bei der Meldung den Namen hörte, sprang er erstaunt auf und wollte es nicht glauben. Aber bald glänzte ein Lächeln auf seinen Lippen auf, ein Lächeln hochmütigen Triumphes und gleichzeitig einer mißtrauischen Verwunderung. Den eintretenden Mawriki Nikolajewitsch schien dieses eigenartige Lächeln stutzig zu machen; wenigstens blieb er auf einmal mitten im Zimmer stehen, wie wenn er unschlüssig wäre, ob er weitergehen oder umkehren solle. Der Wirt veränderte aber im selben Augenblicke sein Gesicht und kam ihm mit dem Ausdruck ernster Verwunderung entgegen. Dieser nahm die hingestreckte Hand nicht an, zog sich linkisch einen Stuhl heran und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen und ohne eine Aufforderung abzuwarten, noch vor dem Wirte hin. Nikolai Wsewolodowitsch setzte sich ihm schräg gegenüber auf die Chaiselongue, blickte Mawriki Nikolajewitsch aufmerksam an, schwieg und wartete.

»Wenn Sie können, so heiraten Sie Lisaweta Nikolajewna!« sagte Mawriki Nikolajewitsch auf einmal, und, was das merkwürdigste war, an dem Tone, in dem er das sagte, ließ sich nicht erkennen, was es eigentlich war, eine Bitte, eine Empfehlung, ein Zugeständnis oder ein Befehl.

Nikolai Wsewolodowitsch fuhr fort zu schweigen; aber der Gast hatte offenbar bereits alles gesagt, weswegen er gekommen war, und blickte in Erwartung einer Antwort seinem Gegenüber ins Gesicht.

»Wenn ich mich nicht irre (übrigens ist die Sache ja sehr sicher), so ist Lisaweta Nikolajewna bereits mit Ihnen verlobt,« erwiderte Stawrogin endlich.

»Sie ist in aller Form mit mir verlobt,« bestätigte Mawriki Nikolajewitsch mit fester, deutlicher Stimme.

»Haben Sie ... sich entzweit? ... Verzeihen Sie die Frage, Mawriki Nikolajewitsch!«

»Nein. Sie ›liebt und achtet‹ mich; das sind ihre eigenen Worte. Und ihre Worte sind absolut zuverlässig.«

»Daran ist kein Zweifel.«

»Aber wissen Sie: wenn sie in der Kirche schon am Lesepult unter der Brautkrone dastehen wird und Sie sie rufen, dann wird sie mich und alle im Stich lassen und zu Ihnen hingehen.«

»Von der Trauung weg?«

»Ja, und auch nach der Trauung.«

»Irren Sie sich auch nicht?«

»Nein. Unter dem ununterbrochenen, aufrichtigen, starken Hasse, den sie gegen Sie empfindet, leuchtet alle Augenblicke die Liebe und ... der Wahnsinn hervor ... die aufrichtigste, maßlose Liebe und ... der Wahnsinn! Umgekehrt leuchtet aus der Liebe, die sie ebenso aufrichtig zu mir fühlt, jeden Augenblick der größte Haß hervor! Ich hätte mir früher all diese Metamorphosen niemals vorstellen können.«

»Aber ich wundere mich darüber, wie Sie herkommen konnten, um über Lisaweta Nikolajewnas Hand zu verfügen. Haben Sie ein Recht dazu? Oder hat sie Ihnen eine Vollmacht erteilt?«

Mawriki Nikolajewitsch machte ein finsteres Gesicht und senkte einen Augenblick den Kopf.

»Das sind ja von Ihrer Seite nur Worte,« sagte er dann plötzlich, »rachsüchige, triumphierende Worte; ich bin überzeugt, Sie verstehen auch das, was ich unausgesprochen lasse; und ist denn hier wirklich der Ort für kleinliche Prahlerei? Ist Ihnen diese Genugtuung noch nicht ausreichend? Soll ich denn wirklich alles ausführlich und haarklein darlegen? Nun gut, ich werde es tun, wenn Ihnen an meiner Demütigung soviel gelegen ist: ein Recht habe ich nicht; eine Vollmacht ist ein Ding der Unmöglichkeit; Lisaweta Nikolajewna weiß von nichts, sondern ihr Bräutigam hat den letzten Rest von Verstand verloren und ist reif für das Irrenhaus, und um allem die Krone aufzusetzen, kommt er selbst her, um Ihnen davon Meldung abzustatten. Auf der ganzen Welt können nur Sie allein sie glücklich und nur ich allein sie unglücklich machen. Sie machen sie mir streitig, Sie verfolgen sie; aber, ich weiß nicht warum, Sie heiraten sie nicht. Wenn der Grund dafür ein Liebeszank ist, der im Auslande stattgefunden hat, und wenn, um ihn zu beenden, ich zum Opfer gebracht werden muß, so bringen Sie mich zum Opfer! Sie ist sehr unglücklich, und ich kann das nicht ertragen. Meine Worte sind keine Erlaubnis, keine Vorschrift und enthalten daher auch nichts, was für Ihr Selbstgefühl verletzend sein könnte. Wenn es in Ihrer Absicht läge, meinen Platz am Kirchenpult einzunehmen, so hätten Sie das ohne jede Erlaubnis von meiner Seite tun können, und ich hätte dann keinen Anlaß gehabt, mit diesem verdrehten Anliegen zu Ihnen zu kommen. Um so mehr, da auch unsere Hochzeit nach meinem jetzigen Schritte schon unmöglich geworden ist. Ich kann sie doch nicht zum Altare führen, wenn ich ein gemeiner Mensch bin! Und das, was ich jetzt tue, indem ich sie Ihnen, vielleicht ihrem unversöhnlichsten Feinde, übergebe, ist eine solche Gemeinheit, daß ich sie selbstverständlich nicht überstehen werde.«

»Sie werden sich erschießen, wenn wir getraut werden?«

»Nein, erst weit später. Wozu soll ich ihr Hochzeitskleid mit meinem Blute beflecken? Vielleicht werde ich mich überhaupt nicht erschießen, weder jetzt noch später.«

»Durch diese letzte Bemerkung wollen Sie mich wohl beruhigen?«

»Sie beruhigen? Was macht es Ihnen denn aus, ob etwas Blut mehr vergossen wird?« Er war blaß geworden, und seine Augen fingen an zu funkeln. Es folgte ein Stillschweigen, das wohl eine Minute lang dauerte.

»Verzeihen Sie mir die Fragen, die ich Ihnen vorlegte,« begann Stawrogin von neuem. »Einige derselben Ihnen vorzulegen war ich nicht berechtigt; aber zu einer andern Frage habe ich, wie ich meine, ein volles Recht: sagen Sie mir: durch welche Tatsachen sind Sie veranlaßt worden, auf meine Gefühle gegen Lisaweta Nikolawjewna zu schließen? Ich meine auf einen solchen Grad dieser Gefühle, daß die Überzeugung von deren Vorhandensein Ihnen erlaubte, zu mir zu kommen ... und einen solchen Vorschlag zu riskieren?«

»Wie?« rief Mawriki Nikolajewitsch und zuckte dabei sogar ein wenig zusammen; »haben Sie sich denn nicht um sie beworben? Bewerben Sie sich nicht um sie, und wollen Sie sich nicht um sie bewerben?«

»Über meine Gefühle gegen diese oder jene Frau kann ich überhaupt nicht laut zu einem Dritten sprechen, wer es auch sein mag, sondern nur zu der betreffenden Frau. Verzeihen Sie, das ist nun einmal eine Eigentümlichkeit meines Organismus. Aber dafür will ich Ihnen im übrigen die volle Wahrheit sagen: ich bin verheiratet, und es ist mir daher nicht mehr möglich, mich zu verheiraten oder mich zu ›bewerben‹.«

Mawriki Nikolajewitsch war dermaßen erstaunt, daß er gegen die Rückenlehne des Sessels zurückschwankte und seinem Gegenüber eine Zeitlang ins Gesicht sah ohne sich zu rühren.

»Denken Sie sich, das habe ich wirklich in keiner Weise gedacht,« murmelte er. »Sie sagten damals, an jenem Vormittag, Sie seien nicht verheiratet ... und daher glaubte ich, daß es nicht der Fall sei.«

Er war furchtbar blaß geworden; auf einmal schlug er aus voller Kraft mit der Faust auf den Tisch.

»Wenn Sie nach diesem Bekenntnis nicht von Lisaweta Nikolajewna ablassen und sie absichtlich unglücklich machen, so werde ich Sie mit dem Stocke totschlagen, wie einen Hund am Zaun!«

Er sprang auf und verließ schnell das Zimmer. Als Peter Stepanowitsch hereingelaufen kam, fand er Stawrogin in einer ganz unerwarteten Gemütsverfassung.

»Ah, Sie sind da!« rief dieser, laut lachend. Er lachte anscheinend nur über Peter Stepanowitschs Figur, der mit allen Zeichen neugieriger Aufregung hereingelaufen kam.

»Haben Sie an der Tür gehorcht? Warten Sie mal, warum sind Sie doch gekommen? Ich habe Ihnen ja etwas versprochen ... Ach ja, ich erinnere mich: wir wollten zu den ›Unsrigen‹! Gehen wir; ich freue mich sehr darauf, und Sie hätten nichts ersinnen können, was mir jetzt gelegener käme.«

Er griff nach seinem Hute, und beide verließen ohne Verzug das Haus.

»Sie lachen schon im voraus darüber, daß Sie die ›Unsrigen‹ zu sehen bekommen werden?« fragte Peter Stepanowitsch, lustig umherscherwenzelnd, indem er bald neben seinem Gefährten auf dem schmalen Ziegeltrottoir zu gehen suchte, bald sogar auf den Straßendamm geradezu in den Schmutz lief, weil sein Gefährte es gar nicht gewahr wurde, daß er allein gerade in der Mitte des Trottoirs ging und es somit mit seiner eigenen Person allein einnahm.

»Ich lache durchaus nicht,« antwortete Stawrogin laut und fröhlich. »Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, daß ich bei Ihnen dort sehr ernste Leute finden werde.«

»›Ingrimmige Dummköpfe‹, wie Sie sich einmal auszudrücken beliebten.«

»Es gibt nichts Amüsanteres als so einen ingrimmigen Dummkopf.«

»Ah, damit zielen Sie auf Mawriki Nikolajewitsch! Ich bin überzeugt, daß er soeben zu Ihnen gekommen war, um Ihnen seine Braut abzutreten, wie? Dazu habe ich ihn direkt aufgehetzt, wie Sie sich vorstellen können. Und wenn er sie Ihnen nicht abtritt, dann nehmen wir sie ihm einfach weg, nicht wahr?«

Peter Stepanowitsch wußte natürlich, was er riskierte, wenn er sich auf solche Wendungen einließ; aber da er selbst sehr aufgeregt war, so wollte er lieber nötigenfalls alles riskieren, als länger in Ungewißheit bleiben. Nikolai Wsewolodowitsch lachte nur.

»Spekulieren Sie immer noch darauf, mir zu helfen?« fragte er.

»Sobald Sie rufen werden. Wissen Sie aber, daß es einen sehr guten Weg gibt?«

»Ich kenne Ihren Weg.«

»Nein doch, das ist vorläufig noch ein Geheimnis. Aber vergessen Sie nicht, daß das Geheimnis Geld kostet!«

»Ich weiß, wieviel es kostet,« brummte Stawrogin vor sich hin, beherrschte sich aber und sprach nicht weiter.

»Wieviel? Was sagten Sie?« fragte Peter Stepanowitsch aufgeregt.

»Ich sagte: Gehen Sie zum Teufel mit Ihrem Geheimnisse! Sagen Sie mir lieber, wen ich da jetzt treffen werde. Ich weiß, daß wir zur Feier eines Namenstages gehen; aber wer ist denn eigentlich da?«

»Oh, ein äußerst bunter Mischmasch! Selbst Kirillow wird da sein.«

»Lauter Komiteemitglieder?«

»Donnerwetter, haben Sie es aber eilig! Hier hat sich noch kein einziges Komitee gebildet.«

»Wie haben Sie es denn dann fertigbekommen, so viele Proklamationen zu verbreiten?«

»Dort, wohin wir gehen, sind nur vier Komiteemitglieder. Die übrigen bespionieren einander vorläufig um die Wette und erstatten mir Bericht. Es sind Leute, von denen man sich viel versprechen kann. Das ist lauter Material, das man organisieren muß; dann allerdings muß man sich davonmachen. Übrigens haben Sie ja selbst das Statut verfaßt; da brauche ich Ihnen nichts weiter auseinanderzusetzen.«

»Wie ist es? Die Sache geht wohl schwer? Hapert es?«

»Wie es geht? So leicht, wie man es sich nur denken kann. Ich werde Sie zum Lachen bringen: das erste, was gewaltig wirkt, das sind die Ämter. Die sind das stärkste Zugmittel. Ich ersinne absichtlich Titel und Obliegenheiten: ich habe Sekretäre, geheime Kundschafter, Kassierer, Vorsitzende, Registratoren und Gehilfen all dieser Chargen; das gefällt sehr und ist sehr gut aufgenommen worden. Dann folgt natürlich als zweites kräftiges Moment die Sentimentalität. Wissen Sie, der Sozialismus verdankt seine Verbreitung bei uns vorzugsweise der Sentimentalität. Aber das Malheur ist, daß sich auch Unterleutnants finden, die zu beißen anfangen; da kann man leicht hereinfallen. Darauf folgen die reinen Schurken; na, die sind ein ganz braves Völkchen und manchmal sehr nützlich; nur muß man auf sie viel Zeit verwenden; sie verlangen eine unaufhörliche Überwachung. Na, und dann schließlich das Hauptmoment, der alles bindende Zement, das ist die Scheu vor einer eigenen Meinung. Sehen Sie, das ist etwas, was stark wirkt! Und wer hat das durch seine Arbeit herbeigeführt? Welcher ›liebe Mensch‹ hat es durch seine Bemühungen dahin gebracht, daß kein einziger eigener Gedanke in jemandes Kopfe übriggeblieben ist? Selbständiges Denken betrachten sie geradezu als eine Schande.«

»Wenn es so dürftige Menschen sind, warum geben Sie sich dann mit ihnen soviel Mühe?«

»Aber wenn sie doch so einfach daliegen und einen gleichsam mit aufgesperrtem Munde dazu einladen, wie sollte man sie da nicht in die Tasche stecken! Es klingt, als ob Sie an die Möglichkeit des Gelingens nicht ernsthaft glaubten? Oder vielmehr, der Glaube ist schon da, es fehlt jedoch am rechten Wollen. Aber gerade mit solchen Leuten ist ein Gelingen möglich. Ich sage Ihnen, meine Kerle gehen durch Wasser und Feuer; ich brauche ihnen nur zuzurufen, sie seien nicht fortschrittlich genug. Die Dummköpfe werfen mir vor, ich hätte sie alle hier mit dem Zentralkomitee und den ›zahllosen Verzweigungen‹ hinters Licht geführt. Auch Sie selbst haben mich einmal deswegen gescholten; aber wie kann da von Täuschung die Rede sein: das Zentralkomitee sind Sie und ich, und Verzweigungen wird es so viele geben, als man nur will.«

»Und alles, was Sie hier haben, ist solcher Pöbel!«

»Es ist Material. Auch die sind zu brauchen.«

»Und Sie spekulieren immer noch auf mich?«

»Sie sind der Chef, Sie sind die bewegende Kraft; ich werde Ihnen nur zur Seite stehen, etwa als Sekretär. Wissen Sie, wir werden in einen Nachen steigen, dessen Ruder von Ahornholz, dessen Segel von Seide sind, und am Steuer sitzt ein schönes Mädchen, die liebe Lisaweta Nikolajewna ... oder wie das da in jenem Liede heißt ...«

»Da ist er stecken geblieben!« lachte Stawrogin. »Nein, da will ich Ihnen lieber noch ein gutes Mittel angeben. Sie zählen an den Fingern die wirksamen Umstände auf, durch die die Komitees gebildet und zusammengehalten werden. All dieses Beamtenwesen und diese Sentimentalität, das ist wohl ein guter Kleister; aber es gibt noch einen besseren Kunstgriff: bereden Sie vier Komiteemitglieder, das fünfte zu ermorden, unter dem Vorgeben, dieses sei ein Denunziant, und sofort werden Sie sie mittels des vergossenen Blutes wie mit einem Strick zusammenknoten. Sie werden Ihre Sklaven werden und nicht wagen, sich zu empören oder Rechenschaft zu fordern. Ha-ha-ha!«

»Aber«, dachte Peter Stepanowitsch für sich, »aber für diese Worte sollst du mir büßen, und noch heute abend. Du erlaubst dir denn doch schon gar zu viel!«

So oder fast so mochte Peter Stepanowitsch denken. Übrigens näherten sie sich schon dem Hause Wirginskis.

»Sie haben mich da gewiß für ein Mitglied ausgegeben, das aus dem Auslande kommt und mit der Internationale in Verbindung steht, für einen Revisor?« fragte Stawrogin.

»Nein, für einen Revisor nicht; den Revisor sollen nicht Sie, sondern ein anderer spielen; Sie werden ein zu den Gründern gehöriges, aus dem Auslande eingetroffenes Mitglied sein, dem gewisse höchst wichtige Geheimnisse bekannt sind; das ist Ihre Rolle. Sie werden natürlich reden?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sie sind jetzt verpflichtet zu reden.«

Stawrogin blieb vor Verwunderung mitten auf der Straße stehen, nicht weit von einer Laterne. Peter Stepanowitsch hielt seinen Blick dreist und ruhig aus. Stawrogin spuckte aus und ging weiter.

»Aber Sie selbst, werden Sie reden?« fragte er auf einmal Peter Stepanowitsch.

»Nein, ich werde Ihnen zuhören.«

»Hol Sie der Teufel! Sie bringen mich wirklich auf eine Idee!«

»Auf was für eine?« fragte Peter Stepanowitsch hastig.

»Ich werde da reden, meinetwegen; aber dafür werde ich Sie nachher durchprügeln, und wissen Sie, gehörig durchprügeln.«

»Apropos, ich habe vorhin von Ihnen zu Karmasinow gesagt, Sie hätten über ihn geäußert, man müsse ihn durchpeitschen, aber nicht einfach, um ihm eine Unehre anzutun, sondern wie man einen Bauer durchpeitscht, schmerzhaft.«

»Aber ich habe das ja nie gesagt, ha-ha!«

»Das tut nichts. Se non è vero ...«

»Nun, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen aufrichtig.«

»Noch eins; wissen Sie, was Karmasinow sagte? In der Hauptsache sei unsere Lehre eine Verneinung der Ehre, und mit dem offen verkündeten Recht auf Ehrlosigkeit könne man den Russen am leichtesten anlocken und mit sich ziehen.«

»Ein vorzüglicher Gedanke! Ein goldener Gedanke!« rief Stawrogin. »Da hat er den Nagel auf den Kopf getroffen! Das Recht auf Ehrlosigkeit, – ja, dann werden alle zu uns gelaufen kommen, und kein einziger wird auf der anderen Seite bleiben! Aber hören Sie mal, Werchowenski, gehören Sie auch nicht zur Geheimpolizei, was?«

»Aber wem solche Fragen im Kopfe herumgehen, der spricht sie doch nicht aus.«

»Ich verstehe; aber wir sind ja unter uns.«

»Nein, vorläufig gehöre ich noch nicht zur Geheimpolizei. Aber nun genug; wir sind am Ziele. Machen Sie Ihr Gesicht zurecht, Stawrogin; ich tue das auch immer, wenn ich zu ihnen hineingehe. Recht viel finsteren Ernst; weiter ist nichts nötig; es ist kein Kunststück.«

IV.

Er hatte sich schon vor längerer Zeit einen Paß auf einen falschen Namen beschafft. Es ist ein befremdender Gedanke, daß dieser regulär lebende Mensch, ein kleinlicher Familientyrann, dabei Beamter (wenn auch Anhänger Fouriers) und endlich vor allen Dingen Kapitalist und Wucherer, daß der schon vor langer Zeit im stillen auf den phantastischen Einfall gekommen war, sich für alle Eventualitäten diesen Paß zu beschaffen, um mit dessen Hilfe nach dem Auslande zu entkommen, »wenn« ... Das Eintreten eines solchen Falles hielt er für möglich, wiewohl er selbst nie imstande war, genauer anzugeben, was dieses »wenn« eigentlich bedeuten konnte.

Aber jetzt hatte sich diese Bedeutung ganz von selbst und in völlig unerwarteter Weise ergeben. Die tolle Idee, mit der er bei Kirillow eingetreten war, nachdem ihm Peter Stepanowitsch auf dem Trottoir jenes Schimpfwort »Dummkopf« zu hören gegeben hatte, bestand darin, gleich am folgenden Tage frühmorgens alles im Stich zu lassen, dem Vaterlande den Rücken zu kehren und ins Ausland zu gehen! Wer es nicht glauben mag, daß solche phantastischen Dinge auch jetzt in unserer alltäglichen Wirklichkeit vorkommen, der möge sich nach dem Lebenslaufe aller jetzigen russischen Emigranten im Auslande erkundigen. Kein einziger ist aus verständigeren, realistischeren Gründen entflohen. Alle haben sie lediglich unter der unwiderstehlichen Herrschaft von Wahnvorstellungen gehandelt.

Als er nach Hause gekommen war, schloß er sich sofort ein, nahm eine Reisetasche und begann, sie hastig zu packen. Seine Hauptsorge bildete das Geld, nämlich die Frage, wieviel er davon retten könne, und wie er es machen müsse. Jawohl, retten; denn nach seiner Vorstellung durfte er auch nicht eine Stunde mehr zaudern und mußte sich bei Tagesanbruch bereits auf der Landstraße befinden. Er wußte auch nicht, wie er in die Eisenbahn steigen sollte; unklar nahm er sich vor, etwa auf der zweiten oder dritten größeren Station von der Stadt einzusteigen, den Weg bis dahin aber nötigenfalls zu Fuß zurückzulegen. So mühte er sich instinktiv und mechanisch, den Kopf voll von durcheinander wirbelnden Gedanken, mit seiner Reisetasche ab und – hielt plötzlich inne, ließ alles liegen und streckte sich tief aufstöhnend auf dem Sofa aus.

Er fühlte es deutlich und war sich darüber klar, daß er fliehen werde, nun ja, fliehen werde, aber daß es jetzt über seine Kraft gehe, die Frage zu entscheiden, ob er vor Erledigung der Schatowschen Angelegenheit fliehen müsse oder erst nachher; daß er jetzt nur ein materieller, vernunftloser Körper, eine träge Masse sei, daß ihn aber eine fremde, schreckliche Kraft in Bewegung setze, und daß er, trotzdem er einen Auslandspaß besitze und vor der Schatowschen Angelegenheit weggehen könne (weswegen hätte er sich denn auch sonst so beeilt?), dennoch nicht vorher, sondern erst nachher weggehen werde, und daß das nun einmal beschlossene Sache, unterschrieben und untersiegelt sei. In unerträglicher Unruhe, indem er alle Augenblicke zu seiner eigenen Verwunderung zitterte, stöhnte und vor Angst vergehen wollte, verbrachte er, in seinem zugeschlossenen Zimmer auf dem Sofa liegend, kläglich die Zeit bis elf Uhr vormittags, und da erfolgte plötzlich der erwartete äußere Anstoß, der seinem Entschlusse die Richtung gab. Sowie er um elf Uhr seine Tür aufgeschlossen hatte und zu den Seinigen gegangen war, erfuhr er von ihnen, daß der entlaufene Sträfling Fedka, der alle in Schrecken versetzt hatte, dieser Straßen- und Kirchenräuber, Mörder und Brandstifter, den unsere Polizei verfolgte, ohne ihn doch fassen zu können, daß der bei Tagesgrauen erschlagen aufgefunden sei, sechs Werst von der Stadt entfernt, da, wo von der großen Landstraße der Weg nach Sacharjino abzweigt, und daß schon die ganze Stadt davon spreche. Sogleich lief er Hals über Kopf aus dem Hause, um Näheres in Erfahrung zu bringen, und erfuhr erstens, daß Fedka mit zerschmettertem Schädel gefunden und nach allen Anzeichen beraubt worden sei, und zweitens, daß die Polizei schon starken Verdacht und sogar einige bestimmte Indizien habe, aus denen sich schließen lasse, daß sein Mörder der Schpigulinsche Arbeiter Fomka sei, eben der, mit welchem zusammen Fedka zweifellos den Mord und die Brandstiftung bei den Geschwistern Lebjadkin begangen habe; es sei wahrscheinlich zwischen ihnen unterwegs ein Streit entstanden, wohl wegen einer größeren Geldsumme, die Fedka bei Lebjadkin entwendet und dann verheimlicht habe ... Liputin lief auch nach Peter Stepanowitschs Wohnung und erfuhr an der Hintertreppe heimlich, Peter Stepanowitsch sei zwar in der Nacht erst gegen ein Uhr nach Hause gekommen, habe dann aber die ganze Nacht bis acht Uhr morgens sehr schön geschlafen. Selbstverständlich war an dem Tode des Räubers Fedka absolut nichts, was ungewöhnlich erscheinen konnte, da gerade solche Laufbahnen am häufigsten einen derartigen Ausgang nehmen; aber das Zusammentreffen der verhängnisvollen Worte, daß Fedka an diesem Abend zum letztenmal Branntwein getrunken habe, mit der unverzüglichen Erfüllung dieser Prophezeiung war doch so merkwürdig, daß Liputin auf einmal aufhörte zu schwanken. Der äußere Anstoß war gegeben; es war gleichsam auf ihn ein großer Stein herabgefallen, der ihn für immer zu Boden drückte. Als er nach Hause zurückgekehrt war, stieß er schweigend seine Reisetasche mit dem Fuße unter das Bett und erschien am Abend zur festgesetzten Stunde als erster von allen an dem für das Zusammentreffen mit Schatow verabredeten Orte, allerdings immer noch mit seinem Passe in der Tasche.

VI.

Die Nacht verging. Schatow wurde gescholten, fortgeschickt, wieder zurückgerufen. Marjas Angst um ihr Leben stieg auf den höchsten Grad. Sie schrie, sie wolle »unbedingt, unbedingt« leben und fürchte sich zu sterben: »Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!« wiederholte sie einmal über das andere. Wäre nicht Arina Prochorowna dagewesen, so würde die Sache einen sehr schlimmen Verlauf genommen haben. Allmählich gewann diese vollständig die Herrschaft über ihre Patientin. Letztere hörte wie ein kleines Kind auf jedes Wort und jeden Ruf von ihr. Arina Prochorowna wirkte durch Strenge, nicht durch Freundlichkeit, verrichtete aber ihre Obliegenheiten meisterhaft. Es begann zu dämmern. Arina Prochorowna erwähnte auf einmal, daß Schatow soeben auf die Treppe hinausgelaufen war, um zu beten, und sie fing an zu lachen. Marja lachte ebenfalls in einer boshaften, giftigen Art, als ob ihr von diesem Lachen leichter ums Herz würde. Zuletzt wurde Schatow ganz und gar hinausgejagt. Ein feuchter, kalter Morgen brach an. Schatow drückte sich mit dem Gesichte gegen die Wand, in die Ecke, genau so wie tags zuvor, als Erkel gekommen war. Er zitterte wie Espenlaub und fürchtete sich davor, etwas zu denken; aber sein Geist klammerte sich in Gedanken an alles, was sich ihm darbot, gerade wie es im Traum zu geschehen pflegt. Zukunftsphantasien schlugen ihn fortwährend in ihren Bann und zerrissen wieder fortwährend wie mürbe Fäden. Aus dem Zimmer erscholl endlich kein Stöhnen mehr, sondern ein furchtbares, rein tierisches Geschrei, das gar nicht zu ertragen war. Er wollte sich die Ohren zustopfen; aber er konnte es nicht und fiel auf die Knie, indem er bewußtlos wiederholte: »Marja, Marja!« Und siehe da, endlich erscholl ein Schrei, ein neuer Schrei, bei welchem Schatow zusammenfuhr und von den Knien aufsprang, der schwache, abgebrochene Schrei eines kleinen Kindes! Er bekreuzte sich und lief ins Zimmer. In Arina Prochorownas Händen schrie und zappelte mit den winzigen Händchen und Füßchen ein kleines, rotes, runzeliges Wesen, das erschreckend hilflos und wie ein Stäubchen vom ersten besten Windstoße abhängig war, aber doch schrie und sich kundgab, als hätte es ebenfalls ein volles Recht auf das Leben ... Marja lag wie bewußtlos da; aber eine Minute darauf schlug sie die Augen auf und sah Schatow ganz seltsam an: das war ein ganz neuartiger Blick; was für ein Blick es eigentlich war, das vermochte er noch nicht zu begreifen; aber nach seiner Erinnerung hatte er einen solchen Blick früher an ihr noch nie kennen gelernt.

»Ein Knabe? Ein Knabe?« fragte sie Arina Prochorowna mit schwacher Stimme.

»Ja, ein Knabe!« rief diese zur Antwort, während sie das Kind wickelte.

Als sie damit fertig war und sich anschickte, das Kind zwischen zwei Kissen quer über das Bett zu legen, gab sie es Schatow einen Augenblick zum Halten. Marja gab ihm gewissermaßen verstohlen, als fürchte sie sich vor Arina Prochorowna, einen Wink mit dem Kopfe. Dieser verstand sie sofort und trug ihr das Kind hin, um es ihr zu zeigen.

»Wie hübsch ... er ist ...« flüsterte sie lächelnd mit matter Stimme.

»Nein, aber wie sehen Sie aus!« rief die triumphierende Arina Prochorowna fröhlich lachend, als sie Schatows Gesicht erblickte. »Was machen Sie für ein Gesicht!«

»Lachen Sie nur darüber, Arina Prochorowna ... Das ist eine große Freude ...« stammelte Schatow mit idiotenhaft glückseliger Miene; nach den wenigen Worten, die Marja über das Kind gesagt hatte, strahlte er über das ganze Gesicht.

»Wieso ist denn das für Sie eine so große Freude?« fragte Arina Prochorowna belustigt, während sie eifrig herumhantierte und arbeitete wie eine Zuchthäuslerin.

»Es ist das Geheimnis des Erscheinens eines neuen Wesens, ein großes, unerklärliches Geheimnis, Arina Prochorowna; wie schade, das Sie dafür kein Verständnis haben!«

Und dann murmelte er unzusammenhängend, ganz benommen und verzückt vor sich hin. Die Gedanken schienen in seiner Seele hin und her zu wogen und ihr unwillkürlich zu entströmen.

»Es waren zwei Menschen, und auf einmal ist ein dritter Mensch da, ein neuer, ganzer, vollständiger Geist, wie er aus Menschenhänden nicht hervorgehen kann; eine neue Denkkraft und eine neue Liebe; es ist geradezu furchtbar ... Und es gibt nichts Höheres auf der Welt!«

»Was schwatzen Sie da zusammen! Es ist einfach die Weiterentwickelung eines Organismus, und weiter ist nichts dabei, kein Geheimnis!« sagte Arina Prochorowna mit herzlichem, fröhlichem Lachen. »Auf die Art wäre ja jede Fliege ein Geheimnis. Aber ich will Ihnen etwas sagen: überflüssige Menschen sollten nicht geboren werden. Gestaltet zunächst alles auf der Welt um, damit sie nicht überflüssig sind, und dann erzeugt sie! So aber wollen wir ihn übermorgen ins Kinderasyl bringen ... Übrigens ist das auch notwendig.«

»Niemals soll er von mir weg in das Kinderasyl gebracht werden!« erklärte Schatow, auf den Fußboden starrend, in festem Tone.

»Sie werden ihn adoptieren?«

»Er ist so schon mein Sohn.«

»Gewiß, er ist ein Schatow, nach dem Gesetz ist er ein Schatow, und Sie sind nicht in der Lage, sich als Wohltäter des Menschengeschlechtes aufzuspielen. Bei manchen Leuten geht es eben ohne Phrasen nicht ab. Na, nun gut; aber jetzt will ich Ihnen etwas sagen, meine Herrschaften,« fügte sie hinzu, da sie endlich mit ihrer geschäftigen Tätigkeit fertig war: »ich muß jetzt gehen. Ich werde im Laufe des Vormittags noch einmal herankommen und ebenso am Abend, wenn es nötig sein sollte; jetzt aber, da alles so glücklich vonstatten gegangen ist, muß ich zu anderen gehen, die schon lange warten. Sie haben da schon irgendwo eine alte Frau sitzen, Schatow; das ist ja ganz gut; aber verlassen auch Sie, als lieber Gatte, die Wöchnerin nicht! Setzen Sie sich da neben sie; vielleicht können Sie ihr von Nutzen sein; Marja Ignatjewna wird Sie ja wohl nicht wegjagen ... nun, nun, ich scherze ja nur ...«

Am Tore, wohin Schatow sie begleitete, fügte sie noch für ihn allein hinzu:

»Sie haben mir für das ganze Leben Stoff zum Lachen gegeben; Geld werde ich von Ihnen nicht nehmen; selbst im Traum werde ich lachen. Etwas Komischeres, als Sie in dieser Nacht, habe ich noch nie gesehen.«

Sie ging ganz zufrieden weg. Nach Schatows Miene und Worten schien es ihr sonnenklar, daß dieser Mensch »den Vater spielen werde und ein Waschlappen erster Güte sei«. Obgleich sie auf direktem Wege näher hätte zu einer anderen Patientin gehen können, ging sie doch absichtlich erst nach ihrer Wohnung heran, um ihrem Manne davon Mitteilung zu machen.

»Marja, sie hat dir befohlen, mit dem Schlafen noch eine Weile zu warten, obgleich dir das, wie ich sehe, furchtbar schwer wird ...« begann Schatow schüchtern. »Ich werde mich hier ans Fenster setzen und auf dich achtgeben, nicht wahr?«

Und er setzte sich ans Fenster hinter das Sofa, so daß sie ihn nicht sehen konnte. Aber es war noch keine Minute vergangen, als sie ihn zu sich rief und ihn mürrisch ersuchte, ihr Kopfkissen zurechtzulegen. Er begann, das zu tun. Sie blickte ärgerlich nach der Wand.

»Nicht so, ach, nicht so ... Was haben Sie für ungeschickte Hände!«

Schatow legte es noch einmal zurecht.

»Beugen Sie sich zu mir herunter!« sagte sie auf einmal in seltsamem Tone, indem sie sich nach Möglichkeit bemühte, ihn nicht anzusehen.

Er fuhr zusammen, beugte sich aber herab.

»Noch weiter ... nicht so ... näher!« Und auf einmal schlang sich ihr linker Arm ungestüm um seinen Hals, und er fühlte auf seiner Stirn einen kräftigen, herzlichen Kuß.

»Marja!«

Ihre Lippen bebten; sie suchte sich zu beherrschen; aber plötzlich richtete sie sich auf und sagte mit funkelnden Augen:

»Nikolai Stawrogin ist ein Schuft!«

Und kraftlos, wie niedergemäht, fiel sie mit dem Gesicht auf das Kissen, schluchzte krampfhaft und drückte Schatows Hand fest in der ihrigen zusammen.

Von diesem Augenblicke an ließ sie ihn nicht mehr von sich; sie verlangte, daß er neben ihr am Kopfende sitzen solle. Sprechen konnte sie nur wenig; aber sie blickte immer nach ihm hin und lächelte ihm glückselig zu. Sie hatte sich auf einmal in eine Art von Törin verwandelt. Alles schien umgewandelt zu sein. Schatow weinte bald wie ein kleiner Knabe, bald redete er Gott weiß was in seltsamer, nebelhafter, begeisterter Art; er küßte ihr die Hände; sie hörte ihm entzückt zu, vielleicht ohne ihn zu verstehen; aber sie spielte mit ihrer matten Hand freundlich in seinem Haar, streichelte es und betrachtete es mit Wohlgefallen. Er sprach ihr von Kirillow und davon, daß sie jetzt für alle Zeit ein neues Leben beginnen würden, und von der Existenz Gottes und davon, daß alle Menschen gut seien ... In ihrem Entzücken nahmen sie das Kindchen wieder heraus, um es zu betrachten.

»Marja!« rief er, während er das Kindchen auf den Händen hielt, »nun hat der alte Fieberwahn und die Schmach und der seelische Tod ein Ende! Laß uns arbeiten und zu dreien einen neuen Weg wandeln, ja, ja! ... Ach ja: wie wollen wir ihn denn nennen, Marja?«

»Nennen? Wie wir ihn nennen wollen?« fragte sie erstaunt zurück, und plötzlich malte sich auf ihrem Gesichte eine furchtbare Traurigkeit.

Sie schlug die Hände zusammen, blickte Schatow vorwurfsvoll an und warf sich mit dem Gesichte auf das Kissen.

»Marja, was ist dir?« rief er betrübt und erschrocken.

»Und Sie konnten, Sie konnten ... Oh, Sie Undankbarer!«

»Marja, verzeih mir, Marja ... Ich fragte nur, wie wir ihn nennen wollen. Ich weiß nicht ...«

»Iwan, Iwan,« erwiderte sie und hob ihr glühendes, tränenfeuchtes Gesicht in die Höhe. »Konnten Sie wirklich denken, daß wir ihm einen andern, einen schrecklichen Namen geben könnten?«

»Marja, beruhige dich! Oh, wie reizbar du bist!«

»Das ist eine neue Grobheit, daß Sie das auf Reizbarkeit zurückführen. Ich möchte wetten, daß, wenn ich jenen schrecklichen Namen für ihn in Vorschlag gebracht hätte, Sie sogleich einverstanden gewesen wären, ja es nicht einmal beachtet hätten! O wie undankbar, wie niedrig denkend alle sind, alle!«

Nach einer Minute hatten sie sich natürlich versöhnt. Schatow redete ihr zu zu schlafen. Sie schlief ein, ließ aber seine Hand immer noch nicht aus der ihrigen, wachte häufig auf, blickte ihn an, als fürchte sie, daß er weggehe, und schlief dann wieder ein.

Kirillow schickte die alte Frau, »um zu gratulieren«, und außerdem heißen Tee, frisch gebratene Koteletts und Bouillon mit Weißbrot »für Marja Ignatjewna«. Die Kranke trank gierig die Bouillon; die Alte legte das Kind in Windeln; Marja veranlaßte auch Schatow, ein Kotelett zu essen.

Die Zeit verging. Auch Schatow schlief kraftlos auf seinem Stuhle ein, mit dem Kopfe auf Marjas Kissen. So fand die beiden Arina Prochorowna vor, welche Wort gehalten hatte; sie weckte sie fröhlich, besprach mit Marja das Nötige, besah das Kind und sagte wieder zu Schatow, er solle bei der Kranken bleiben. Dann machte sie über die »Eheleute« ein paar Witzchen, die einen Beigeschmack von Geringschätzung und Hochmut hatten, und ging ebenso zufrieden fort wie das erstemal.

Es war schon ganz dunkel, als Schatow aufwachte. Er zündete schnell Licht an und lief weg, um die alte Frau zu holen; aber kaum fing er an, die Treppe hinabzusteigen, als er zu seiner Verwunderung die leisen, langsamen Schritte eines ihm entgegen Heraufsteigenden hörte. Es war Erkel.

»Ich kann Sie nicht ins Zimmer lassen!« flüsterte Schatow, ergriff ihn hastig bei der Hand und zog ihn nach dem Tore zurück. »Warten Sie hier; ich komme gleich heraus; ich hatte Sie vollständig vergessen. Oh, unter welchen Umständen bringen Sie sich wieder in Erinnerung!«

Er beeilte sich so sehr, daß er nicht einmal zu Kirillow heranlief, sondern nur die alte Frau rief. Marja geriet in Verzweiflung und Entrüstung darüber, daß er »auch nur daran denken konnte, sie allein zu lassen«.

»Aber«, rief er ganz glückselig, »das ist auch der letzte Schritt, den ich auf der alten Bahn tue! Und dann liegt ein neuer Weg vor uns, und niemals, niemals werden wir an die alte schreckliche Zeit zurückdenken!«

Er beruhigte sie mit Not und Mühe und versprach, pünktlich um neun Uhr zurück zu sein, küßte sie herzlich, küßte das Kind und lief schnell hinunter zu Erkel.

Sie schlugen die Richtung nach dem Stawroginschen Parke in Skworeschniki ein, wo Schatow vor anderthalb Jahren an einem einsamen Platze, ganz am Rande des Parks, da, wo bereits ein Fichtenwald anfing, die ihm anvertraute Druckerei vergraben hatte. Es war ein wilder, abgelegener Ort, ganz unbemerkbar, von dem Gutsgebäude ziemlich weit entfernt. Von dem Filippowschen Hause hatten sie etwa drei und eine halbe Werst zu gehen, vielleicht auch vier.

»Wollen wir denn den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen?« fragte Schatow. »Ich werde eine Droschke nehmen.«

»Ich bitte Sie dringend, das nicht zu tun,« erwiderte Erkel. »Die Unsrigen haben das ausdrücklich verlangt. Ein Droschkenkutscher würde ein Zeuge sein.«

»Na, hol's der Teufel, meinetwegen! Es ist ja ganz gleich, wenn die Sache nur zu Ende kommt, endlich zu Ende kommt!«

Sie gingen sehr schnell.

»Erkel, Sie kleiner Knabe!« rief Schatow. »Sind Sie einmal glücklich gewesen?«

»Sie sind, wie es scheint, jetzt sehr glücklich,« bemerkte Erkel mit lebhaftem Interesse.

III.

Das war Warwara Petrowna selbst, die in einem viersitzigen, vierspännigen Wagen mit zwei Dienern und mit Darja Pawlowna angekommen war. Dieses Wunder war auf ganz einfache Weise zustande gekommen. Anisim, der vor Neugier starb, war nach seiner Ankunft in der Stadt gleich am folgenden Tage in Warwara Petrownas Haus gegangen und hatte der Dienerschaft erzählt, er habe Stepan Trofimowitsch allein in einem Dorfe getroffen, nachdem ihn vorher Bauern auf der großen Landstraße allein und zu Fuß gefunden hätten; jetzt sei er in Gesellschaft Sofja Matwejewnas über Ustjewo nach Spasow abgefahren. Da Warwara Petrowna ihrerseits sich bereits furchtbar beunruhigte und, soweit es möglich war, nach ihrem entlaufenen Freunde Nachforschungen hatte anstellen lassen, so wurde ihr sofort über Anisim Meldung gemacht. Nachdem sie ihn angehört und ihn besonders eingehend über die Abfahrt nach Ustjewo in ein und derselben Britschke mit einer gewissen Sofja Matwejewna zusammen hatte berichten lassen, machte sie sich im Handumdrehen fertig und fuhr eilig auf der frischen Fährte selbst nach Ustjewo. Von seiner Krankheit hatte sie noch keine Kenntnis.

Es erscholl ihre strenge, gebieterische Stimme; selbst die Wirtsleute bekamen Angst. Sie ließ nur anhalten, um zu fragen und sich zu erkundigen, da sie überzeugt war, daß Stepan Trofimowitsch schon längst in Spasow sei; als sie nun erfuhr, daß er noch hier sei und krank liege, kam sie in großer Aufregung ins Haus.

»Nun, wo ist er denn? Ah, das bist du!« rief sie, als sie Sofja Matwejewna erblickte, die gerade in diesem Augenblicke auf der Schwelle des zweiten Zimmers erschien. »An deinem schamlosen Gesichte habe ich gleich gesehen, daß du das bist. Hinaus, Nichtswürdige! Mach sofort, daß du aus dem Hause kommst! Jagt sie hinaus; sonst werde ich dafür sorgen, meine Werteste, daß man dich lebenslänglich ins Gefängnis sperrt. Einstweilen soll sie in einem andern Hause in Gewahrsam gehalten werden. Sie hat schon einmal in der Stadt im Gefängnis gesessen und wird auch wieder sitzen. Ich ersuche dich, Wirt, niemanden hereinzulassen, solange ich hier bin. Ich bin die Generalin Stawrogina und nehme das ganze Haus für mich in Beschlag. Du aber, meine Verehrteste, wirst mir für alles Rechenschaft ablegen.«

Die bekannten Töne ließen Stepan Trofimowitsch zusammenfahren. Er fing an zu zittern. Aber schon trat sie zu ihm hinter die Halbwand. Ihre Augen funkelten; sie stieß mit dem Fuße einen Stuhl heran, ließ sich darauf nieder, warf den Kopf gegen die Lehne zu rück und rief Dascha zu:

»Geh vorläufig hinaus und bleib bei den Wirtsleuten! Was ist das für eine Neugier? Und mach die Tür fest hinter dir zu!«

Eine Zeitlang sah sie ihm schweigend und mit dem Blicke eines Räubers in das erschrockene Gesicht.

»Nun, wie geht es Ihnen, Stepan Trofimowitsch? Haben Sie einen hübschen Spaziergang gemacht?« sagte sie dann plötzlich mit grimmiger Ironie.

»Chère,« stammelte Stepan Trofimowitsch fassungslos, »ich habe das wirkliche russische Leben kennen gelernt ... Et je prêcherai l'Evangile ...«

»O Sie schamloser, undankbarer Mensch!« schrie sie auf einmal und schlug die Hände zusammen. »Nicht genug, daß Sie mich so blamiert haben, mußten Sie auch gleich solche Beziehungen anknüpfen ... O Sie alter, schamloser Wüstling!«

»Chère ...«

Die Stimme versagte ihm; er konnte kein Wort herausbringen, sondern sah sie nur erschrocken mit weitgeöffneten Augen an.

»Was ist die für eine?«

»C'est un ange ... C'était plus qu'un ange pour moi; sie hat die ganze Nacht ... Oh, schreien Sie nicht; erschrecken Sie sie nicht, chère, chère ...« Er bekam einen Ohnmachtsanfall.

Warwara Petrowna sprang mit Gepolter vom Stuhle in die Höhe und schrie erschrocken: »Wasser, Wasser!« Er kam zwar bald wieder zu sich; aber sie zitterte immer noch vor Angst und blickte blaß in sein entstelltes Gesicht: erst jetzt begann sie den Ernst seiner Krankheit zu ahnen.

»Darja,« flüsterte sie dieser schnell zu, »laß sofort einen Arzt holen, Dr. Salzfisch; Jegorowitsch soll gleich hinfahren; er soll hier Pferde mieten und zur Rückfahrt von der Stadt einen anderen Wagen nehmen. Sag ihm, er müsse zur Nacht wieder hier sein.«

Dascha eilte davon, um den Auftrag auszuführen. Stepan Trofimowitsch hatte immer denselben erschrockenen Blick aus den weitgeöffneten Augen; seine blaßgewordenen Lippen zitterten.

»Gedulden Sie sich nur ein Weilchen, Stepan Trofimowitsch; gedulden Sie sich nur, Täubchen!« redete sie ihm zu wie einem kleinen Kinde. »Na, so gedulden Sie sich doch, gedulden Sie sich; Darja kommt ja gleich wieder und ... Ach Gott, Wirtin, Wirtin, komm du wenigstens her, Mütterchen!«

In ihrer Ungeduld lief sie zur Wirtin hin.

»Sofort, augenblicklich soll diese Frauensperson wieder zurückgerufen werden. Holt sie wieder her, holt sie wieder her!«

Zum Glück hatte sich Sofja Matwejewna noch nicht vom Hause entfernt, sondern war eben erst mit ihrem Sack und ihrem Bündel aus dem Tor getreten. Man holte sie zurück. Sie war so erschrocken, daß ihr sogar die Hände und die Beine zitterten. Warwara Petrowna packte sie am Arm, wie der Habicht ein Hühnchen, und zog sie ungestüm zu Stepan Trofimowitsch hin.

»Na, da haben Sie sie! Aufgefressen habe ich sie nicht. Sie dachten wohl, ich würde sie auffressen?«

Stepan Trofimowitsch ergriff Warwara Petrownas Hand, führte sie an seine Augen und brach in Tränen aus. Er schluchzte schmerzlich und krampfhaft.

»Na, beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich, mein Täubchen, na, Väterchen! Ach, mein Gott, so be-ru-hi-gen Sie sich doch!« schrie sie aufgebracht. »Oh Sie sind mein Peiniger, mein Peiniger, lebenslänglich mein Peiniger!«

»Liebes Kind,« stammelte endlich Stepan Trofimowitsch, sich zu Sofja Matwejewna wendend, »gehen Sie ein Weilchen dorthin; ich möchte hier ein paar Worte reden ...«

Sofja Matwejewna beeilte sich sofort hinauszugehen.

»Chérie ... chérie ...« sagte er, schwer atmend.

»Warten Sie noch mit dem Sprechen, Stepan Trofimowitsch; warten Sie noch ein bißchen, bis Sie sich erholt haben! Da ist Wasser. So warten Sie doch!«

Sie setzte sich wieder auf den Stuhl. Stepan Trofimowitsch hielt sie fest an der Hand. Lange Zeit erlaubte sie ihm nicht zu reden. Er zog ihre Hand an seine Lippen und küßte sie. Sie preßte die Zähne aufeinander und blickte irgendwohin in eine Ecke.

»Je vous aimais!« stieß er endlich hervor. Nie hatte sie von ihm ein solches Wort und in dieser Weise ausgesprochen gehört.

»Hm!« brummte sie zur Antwort.

»Je vous aimais toute ma vie ... vingt ans!«

Sie schwieg immer noch, zwei, drei Minuten lang.

»Aber als Sie sich für Dascha angeputzt und mit Parfüm besprengt hatten ...« sagte sie auf einmal, in schrecklichem Tone flüsternd. Stepan Trofimowitsch wurde ganz starr.

»Auch ein neues Halstuch hatten Sie sich umgebunden ...«

Wieder ein Stillschweigen, das zwei Minuten dauerte.

»Denken Sie wohl noch an die Zigarre?«

»Meine Freundin,« murmelte er undeutlich in seinem Schrecken.

»An die Zigarre, abends, am Fenster ... der Mond schien ... nach dem Gespräche in der Laube ... in Skworeschniki? Erinnern Sie sich, erinnern Sie sich?« Sie sprang von ihrem Platze auf, faßte sein Kopfkissen an den beiden oberen Ecken und schüttelte es mitsamt seinem Kopfe. »Denken Sie wohl daran, Sie hohler, hohler, schändlicher, kleinmütiger, lebenslänglich hohler Mensch?« zischte sie in ihrem wütenden Flüstertone, indem sie sich Gewalt antat, um nicht zu schreien. Endlich ließ sie ihn wieder fahren, sank auf den Stuhl zurück und verbarg das Gesicht in den Händen. »Genug davon!« sagte sie abbrechend und richtete sich auf. »Zwanzig Jahre sind dahingegangen; die bringt man nicht wieder zurück. Auch ich bin eine Törin gewesen.«

»Je vous aimais,« sagte er noch einmal und faltete die Hände.

»Aber wozu sagen Sie mir immer aimais und aimais! Hören Sie auf damit!« rief sie und sprang wieder auf. »Und wenn Sie nicht jetzt gleich schlafen, so werde ich ... Sie haben Ruhe nötig; schlafen Sie, schlafen Sie sofort; machen Sie die Augen zu! Ach, mein Gott, er möchte vielleicht etwas zum Frühstück essen! Was möchten Sie essen? Was kann er wohl essen? Ach, mein Gott, wo ist die? Wo ist sie?«

Sie wollte schon alles in Bewegung setzen. Aber Stepan Trofimowitsch flüsterte mit schwacher Stimme, er wolle wirklich schlafen, une heure, und dann un bouillon, un thé ... »Enfin je suis si heureux!« Er legte sich hin und schien tatsächlich einzuschlafen (wahrscheinlich stellte er sich nur so). Warwara Petrowna wartete eine kleine Weile und verließ dann auf den Zehen den abgebuchteten Raum.

Sie setzte sich in das Zimmer der Wirtsleute, jagte die Wirtsleute selbst hinaus und befahl Dascha, »jene Frauensperson« zu ihr zu bringen. Nun begann ein strenges Verhör.

»Erzähle jetzt, mein Kind, alles ganz genau; setz dich neben mich, so! Nun?«

»Ich traf Stepan Trofimowitsch ...«

»Halt, schweig! Ich will dir noch vorher sagen: wenn du mir etwas vorlügst oder verschweigst, so sollst du dein ganzes Leben lang vor mir keine ruhige Stunde haben. Nun?«

»Ich traf Stepan Trofimowitsch ... als ich nach Chatowo gekommen war ...« begann Sofja Matwejewna, die nur mühsam atmete ...

»Halt, schweig, warte mal! Warum so hastig? Erstens: was bist du selbst für ein Vogel?«

Die Bücherverkäuferin erzählte ihr, so gut es gehen wollte, übrigens in möglichster Kürze, einiges über sich selbst, wobei sie mit Sewastopol anfing. Warwara Petrowna hörte schweigend zu, indem sie gerade aufgerichtet auf ihrem Stuhle saß und mit strengem, unverwandtem Blicke der Erzählerin gerade in die Augen sah.

»Warum bist du denn so ängstlich? Warum siehst du auf die Erde? Ich habe es gern, wenn man mich gerade ansieht und sich nicht scheut, mit mir zu streiten. Fahre fort!«

Sie erzählte von der Begegnung, von den Büchern, und wie Stepan Trofimowitsch die Bauerfrau mit Branntwein regaliert habe.

»So ist's recht, so ist's recht! Laß auch die kleinsten Einzelheiten nicht aus!« sagte Warwara Petrowna ermunternd. Zuletzt erzählte sie, wie sie weggefahren waren, und wie Stepan Trofimowitsch in einem fort geredet habe; »er war schon ganz krank«, und wie er ihr hier seine ganze Lebensgeschichte vom allerersten Anfange an mehrere Stunden lang erzählt habe.

»Erzähle von seinem Leben!«

Sofja Matwejewna stockte auf einmal und wurde ganz verlegen.

»Davon verstehe ich nichts zu erzählen,« erwiderte sie beinahe weinend, »und ich habe auch beinah nichts davon begriffen.«

»Du lügst! Es ist unmöglich, daß du nichts begriffen hast.«

»Von einer brünetten, vornehmen Dame erzählte er lange,« berichtete Sofja Matwejewna tief errötend; übrigens bemerkte sie, daß Warwara Petrowna blondes Haar hatte und jener Brünette absolut unähnlich war.

»Von einer Brünette? Was erzählte er denn? Nun, sprich!«

»Diese vornehme Dame sei in ihn sehr verliebt gewesen, das ganze Leben lang, zwanzig Jahre hindurch; aber sie habe immer nicht gewagt sich zu entdecken und habe sich vor ihm geschämt, weil sie schon sehr korpulent gewesen sei.«

»Der Dummkopf!« sagte Warwara Petrowna nachdenklich, aber kurz und entschieden.

Sofja Matwejewna weinte nun schon vollständig.

»Ich verstehe das nicht ordentlich zu erzählen, weil ich selbst in großer Angst um ihn war und nicht begreifen konnte, was er sagte, da er ein so kluger Mann ist ...«

»Ob er klug ist, darüber hat ein so dummes Frauenzimmer wie du kein Urteil. Hat er dir seine Hand angeboten?«

Die Erzählerin fing an zu zittern.

»Hat er sich in dich verliebt? Sprich! Hat er dir seine Hand angeboten?« schrie Warwara Petrowna.

»Beinah kam es so heraus,« erwiderte jene weinend. »Aber ich hielt das alles nicht für Ernst, wegen seiner Krankheit,« fügte sie hinzu und schlug mit festem Blicke die Augen in die Höhe.

»Wie heißt du, mit Vor- und Vatersnamen?«

»Sofja Matwejewna.«

»Nun, so wisse denn, Sofja Matwejewna, daß dies das kläglichste, hohlste Menschlein ist ... O Gott, o Gott du hältst mich wohl für eine nichtswürdige Person?«

Die andere riß erstaunt die Augen auf.

»Für eine nichtswürdige Person, für eine Tyrannin, die ihm das Leben verdorben hat?«