Aus dem Amerikanischen von Michael Krug

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Ghosts – Hell Divers #2

erschien 2017 im Verlag Blackstone Publishing.

Copyright © 2017 by Nicholas Sansbury Smith

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-781-3

www.Festa-Verlag.de

Für Maria …

Du bist das Beste, was mir je passiert ist.

Je größer die Schwierigkeit ist, desto mehr Ruhm liegt darin, sie zu überwinden.

Geschickte Kapitäne erlangen ihren Ruf durch Stürme und Unwetter.

– Epiktet

PROLOG

Der letzte Mensch auf Erden wusste, dass ihn Monster jagten. Es spielte keine Rolle, dass er bereits in die Hölle verdammt war – die Bestien würden niemals aufgeben.

Das Licht von Blitzen führte ihn und den Hund durch die Ruinen der Stadt. Mit geübter Präzision bewegten sie sich durch die Dunkelheit. Sein Strahlenschutzanzug lag eng an seinen drahtigen Muskeln und der vernarbten Haut an. Seinen Siberian Husky Miles schützte ein ähnlicher Anzug.

Der Hund drehte sich nach einem Geräusch um, das von einem Geröllhaufen ausging. Eine Flasche rollte die Seite herunter, hob ab, flog durch die Luft und zerbarst auf dem Boden. Der Wind peitschte über die Kuppe des Haufens, erfasste eine Blechdose und wirbelte sie mit sich.

Der Mann schwenkte sein Sturmgewehr hin und her, hielt Ausschau nach Feinden. Er konnte die Kreaturen zwar nicht sehen, aber er spürte ihre Gegenwart in der Nähe.

Miles trottete weiter, hatte das Interesse an dem Geröllhaufen verloren.

Im Augenblick schien ringsum alles ruhig zu sein, doch der Pfad, der sich vor ihnen erstreckte, war tückisch. Mit vorsichtigen Schritten überquerte der Mann das Trümmerfeld und huschte in einen Gang, der durch die bröckligen Ruinen eines Häuserblocks der Stadt verlief. Geschwärztes, von Rost gesprenkeltes Metall übersäte den Weg vor ihm. Die scharfkantigen Enden konnten seinen Anzug mühelos aufreißen.

Er hielt inne und gab Miles das Zeichen zum Anhalten. Der Hund setzte sich auf die Hinterbeine, dann warteten sie auf einen Blitz, der ihnen den Weg erhellte. Der Mann kannte diese Route gut und hatte sich eingeprägt, wo sich die größten Gefahrenquellen befanden, dennoch barg jeder Schritt seine eigenen Tücken.

Vor einigen Monaten wären Miles und er beinah von einem Senkloch verschluckt worden, das nach 15 Metern folgte. 20 Meter hinter jener heimtückischen Grube folgte ein Gewirr scharfkantiger Bewehrungsstäbe, an denen er sich schon zweimal den Anzug aufgerissen hatte. Aber die größte Gefahr ging, abgesehen von den Monstern, von dem giftigen Unkraut aus, das in der Gegend wucherte. Ganz gleich, wie oft er es mit seiner Machete bearbeitete, es wuchs jedes Mal nur noch dichter nach. Ihn verletzten die brennenden Berührungen der Pflanzen lediglich, einen Hund jedoch konnten sie sogar töten.

Ein Blitz breitete seinen blauen Schein über das freigelegte Eisengerippe eines alten Gebäudes aus. Der Mann nutzte das Licht. Er nutzte immer das Licht. Rasch suchte er mit der Mündung des Gewehrs die Umgebung auf Feindkontakt ab, achtete auf das potenziell tödliche Unkraut und rückte schließlich ins Innere des Gebäudes vor.

Am Himmel grollte Donner wie eine Kriegstrommel, die ihn anspornen wollte. Er lauschte auf andere Geräusche: das Klicken klauenbewehrter Füße oder – schlimmer – das widernatürliche Geheul der Sirenen.

In dieser Nacht jedoch hörte er sie nicht. Was immer Miles und ihn jagte, es musste sich um ein Monster anderer Art handeln.

Leise bahnten sich Hund und Mann den Weg durch den ausgeweideten Kadaver des Bauwerks aus der alten Welt. Stahlträger ragten über ihnen auf wie die Gebeine eines gigantischen Tieres. Als der Mann den Ort ursprünglich entdeckt hatte, musste er unwillkürlich an die Skelette von Dinosauriern denken, die er in seiner Jugend in Büchern gesehen hatte.

Ein weiterer Blitz beleuchtete auf der Erde vor ihm echte Skelette – die Überreste zweier menschlicher Seelen, eingerollt in Embryonalhaltung. Das größere Skelett umarmte das kleinere – eine Mutter, die ihr Kind vor der gewaltigen Explosion schützen wollte, die vor Hunderten Jahren die Stadt dem Erdboden gleichgemacht hatte.

Der Mann versuchte, bei dem Anblick etwas zu empfinden. Erinnerungen fluteten seinen Geist, aber wie immer drängte er sie prompt zurück. Verdammte hatten kein Recht, etwas zu fühlen.

Mittlerweile schien sein früheres Leben so weit entfernt zu sein, und er war nicht sicher, was er verbrochen hatte, um eine dermaßen grauenhafte Bestrafung zu verdienen. Ein Teil von ihm wünschte, er wäre vor zwei Jahren einfach am Himmel gestorben. Gegrillt von einem Blitzschlag oder erwischt von den geflügelten Jägern. Aber zumindest hatte er Miles. Ein Hund und ein Traum – das war alles, was
er besaß.

Zusammen rückten sie weiter durch die Ödnis vor – weiter in Richtung der einen Sache, wegen der er sich immer wieder hinaus in die Dunkelheit wagte. Diesmal würde er die Funkübertragungen zum letzten Mal überprüfen. Wenn es keine Reaktion auf seinen Notruf gäbe, würde er den Hades endgültig verlassen.

Zwei Jahre lang hatte er darauf gewartet, etwas von den Menschen am Himmel zu hören. Zwei Jahre lang hatte er die Trümmer mit Miles auf der Suche nach Lebensmitteln und Vorräten durchforstet, um durchzuhalten, bis Hilfe eintreffen würde. Zusammen waren sie den Monstern ausgewichen und hatten gegen sie gekämpft, wenn sie sich ihnen nicht mehr entziehen konnten.

Es war schwierig, die Zeit zu messen, vor allem da der Mann keine Ahnung hatte, wann Tag und wann Nacht herrschte. Er fristete sein Leben in Finsternis und hatte es vor über einem Jahr aufgegeben, Striche in die Wand seines Unterschlupfs zu ritzen. Als die Tage in Monate und die Monate in Jahre übergegangen waren, musste er zur Kenntnis nehmen, dass es aus der Hölle keine Rettung gab – und auch keine Flucht. Wenn er versuchte, diesen Ort zu verlassen, musste er ihre Vorräte, ihre Lebensmittel und ihre einzige Wasserquelle zurücklassen. Der Marsch in das Ödland jenseits des Hades würde vermutlich den Tod für sie beide bedeuten.

Die Zeit war alles und die Zeit war nichts. Und während sie langsam verstrich, verkümmerten die Einzelheiten seines früheren Lebens wie Knochen, die nach und nach zu Staub zerfielen. Es wurde zunehmend schwerer, sich an die Gesichter und Stimmen der Menschen zu erinnern, die er verloren hatte.

Deshalb wusste er, dass er bereits tot war. Sein Körper mochte noch am Leben sein, doch die Einsamkeit und die Abgeschiedenheit hatten abgetötet, was noch von seiner Seele übrig gewesen war.

Trotzdem glomm noch ein Funke von etwas Menschlichem in dem Mann. Was vermutlich an der Zuneigung lag, die er für Miles empfand. Er wollte den Hund so beschützen, wie er früher Menschen beschützt hatte.

Und noch etwas anderes trieb ihn durch die gnadenlose Welt, die von der Menschheit einst als Heimat bezeichnet worden war. Den Mann beseelte das dringende Bedürfnis zu kämpfen. Es steckte tief im Mark seiner Knochen wie ein Krebsgeschwür, das er nicht ausmerzen konnte.

Miles blieb vor einem Dickicht leuchtender Büsche stehen. Ranken mit dornigen Saugnäpfen streckten sich nach dem Hund und der Mann winkte ihn zurück.

Der Wind neigte die Halme gefährlich nah und er wich einen weiteren Schritt zurück. Vor einem Jahr wäre er beinah gestorben, als eine der Pflanzen sein Bein erwischt hatte. Eine saugnapfförmige Narbe war ihm von der Begegnung geblieben – eine weitere Kerbe an seinem gequälten Leib.

Er hob das Gewehr an und überprüfte erneut die Umgebung. Aufmerksamkeit war entscheidend zum Überleben. Miles besaß zwar schärfere Ohren und Augen, aber die Maske, die er trug, beeinträchtigte seinen Geruchssinn.

Der Mann lauschte, suchte und lauschte erneut, bevor er den Hund vorwärtsschickte. Der Bunker der Industrial Tech Corporation befand sich nicht mehr weit entfernt, doch er lag tief in den Eingeweiden der Stadt vergraben.

Das Licht der Blitze zeigte ihm weiterhin den Weg durch die skelettartigen Überreste des Gebäudes. Er zog die Machete und hackte damit auf einen Busch ein. Die zu Boden fallenden Zweige wanden sich wie geköpfte Schlangen.

Er wischte den glibberigen Saft sorgfältig an der Erde ab, bevor er die Klinge zurück in die Scheide steckte. Um die nächste Ansammlung von Unkraut nahmen sie einen kleinen Umweg in Kauf. Die Stängel reagierten auf ihre Gegenwart und erwachten mit einem mattrosafarbenen Schein flimmernd zum Leben. Wie bei den meisten Lebensformen auf der Erdoberfläche handelte es sich um ein fleischfressendes Gewächs.

Ein widerhallendes Grollen am Himmel ließ den Mann zu der strudelnden Suppe aus Wolken und statischer Elektrizität aufschauen. Der Sturm weitete sich aus.

Ein vereinzelter Regentropfen platschte auf das Visier des Mannes. Einen Herzschlag später brachen die Bäuche der Wolken auf und entfesselten strömenden radioaktiven Regen über der Stadt. Miles, den die Donnerschläge erschreckten, schmiegte sich an das Bein seines menschlichen Gefährten.

Der Mann spielte mit dem Gedanken, zum Unterschlupf zurückzukehren, entschied jedoch letztlich, dem Unwetter zu trotzen. Er hatte beinah den Ort erreicht, an dem er Miles vor rund einem Jahr entdeckt hatte. Sie gingen weiter. Der Hund trottete dicht neben ihm, als sie sich den Weg durch den letzten Abschnitt mit flimmernden Büschen bahnten. Das pulsierende Licht mutete gespenstisch und zugleich wunderschön an. Die Anzeichen von Leben boten die kleine Hoffnung, dass die Erdoberfläche vielleicht, nur vielleicht eines Tages wieder blühen und gedeihen würde.

Vielleicht würde die Hölle doch nicht ewig währen.

Ein jäher, besonders greller Blitz riss ihn aus seinen Gedanken. Die Entladung schlug in einen drei Stockwerke hohen Geröllhaufen am Westrand des offenen Tunnels ein. Funken regneten über Ziegelsteintrümmer und spitze Bewehrungsstreben herab.

Er trat einen Schritt vor, hielt jedoch unvermittelt inne, als er Bewegung wahrnahm. Miles sah es im selben Moment und schlich in geduckter Haltung ein Stück vorwärts, bevor er ein tiefes Knurren anstimmte.

Die Augen des Mannes waren nicht so gut wie die des Hundes und er musste sie zusammenkneifen. Regen prasselte auf ihn herab, während er auf Licht wartete. Drei Herzschläge verstrichen, bis sich ein weiterer Blitz über das Firmament wölbte und die Häuserblocks der Stadt erhellte. Diesmal musste er die Augen nicht zusammenkneifen.

Sein Finger bewegte sich instinktiv zum Abzug und sein totes Herz krampfte sich jäh zusammen, als er die Kreaturen sah, von denen sie gejagt wurden. Er hatte sich zuvor geirrt. Die Sirenen hatten ihn von Anfang an verfolgt – Hunderte, die gerade über die Geröllhaufen wuselten.

Noch nie zuvor im Leben hatte er so viele auf einmal zu Gesicht bekommen.

Er versuchte, sich zu bewegen, aber seine schmerzenden Muskeln waren erstarrt. Vielleicht würden die Monster sie nicht finden, wenn sie völlig regungslos blieben. Immerhin hatte er keine Batterie oder sonstige Energiequelle dabei, die diese Ungeheuer zu ihnen locken würde.

Der Mann schluckte und beobachtete, wie sie geballt auf seine Position zuhielten. Er konnte ihnen nicht entkommen und er konnte nicht gegen sie alle kämpfen. Der Hades hatte letztlich gewonnen. Überraschenderweise stimmte ihn an seinem unmittelbar bevorstehenden Untergang nur Miles traurig. Der Tod des Hundes würde auf seine Kappe gehen.

Plötzlich wurde der Schein der Büsche heller und verfärbte sich von Rosa zu Feuerrot. Die Sirenen kreischten lauter und stürmten weiter an. Die Monster hatten es auf die Pflanzen abgesehen, nicht auf den Mann und den Hund.

Das schrille Geheul der Ungetüme übertönte sogar das laute Donnergrollen. Sooft der Mann die Geräusche auch hörte, sie ließen sein Blut nach wie vor zu Eis erstarren.

Miles wich zurück und der Mann setzte sich jäh in Bewegung. Er rannte los. Mühsam stapften seine Stiefel durch den Schlamm. Der Hund sprang durch einen Spalt im Beton, der Mann hingegen musste abbremsen und den Bauch einziehen. Er senkte das Gewehr, um sich durch die schmale Öffnung zu zwängen. Bewehrungsstäbe ragten aus den Seiten, aber er duckte sich darunter hindurch. Ohne neue Risse im Anzug schaffte er es auf die andere Seite und rannte weiter. Er sprang über eine Ansammlung des leuchtenden Unkrauts hinweg. Platschend landeten seine Stiefel auf dem Boden und sanken in den verseuchten Matsch. Er zog sie heraus und setzte den Weg fort.

Miles wartete auf den Hinterbeinen hockend auf ihn.

Der mittlerweile schwer atmende Mann schaute am Hund vorbei und konzentrierte sich auf den Ausgang des Tunnels. Er mündete in eine zu beiden Seiten von Bauten mit durchhängenden Dächern gesäumte Straße der Stadt. Es handelte sich um eine der zahlreichen ITC-Anlagen, deren Gebäude man darauf ausgelegt hatte, die Apokalypse zu überstehen. Für Menschen jedoch galt das nicht.

Das Kreischen schwoll zu jenem vertrauten Geheul an, das wie eine Alarmsirene klang. Als er herumwirbelte, sah er, wie die Monster in den offenen Tunnel vordrangen. Die überall wuchernden Büsche schwankten hin und her. Ranken streckten sich vor ihnen den augenlosen Ungeheuern entgegen. Einen Moment lang verharrte der Mann und beobachtete, wie die Sirenen fraßen. Sie rissen die Stängel aus und stopften sich die Ranken in Münder voller unebenmäßiger, aber scharfer Zähne.

Mit hämmerndem Herzen wich er einen Schritt zurück, als eines der Monster, das noch auf einem leuchtenden Zweig kaute, den Kopf in seine Richtung drehte. Das ledrige, blinde Gesicht heftete den imaginären Blick auf ihn. Die Kreatur spuckte den Stängel aus und entfesselte einen hohen, schrillen Ruf.

Zwei Dutzend konische Köpfe schwenkten gleichzeitig zu ihm herum. Vom Himmel dröhnte ein Donnerschlag wie eine Erwiderung auf das Geheul.

»Lauf!«, rief er dem Hund zu.

Der Mann verspürte einen Anflug von Angst, verdrängte sie aber. Er stemmte die Füße fest in den Boden, straffte die Schultern und feuerte eine Salve auf die Kreatur ab, die sich ihm zuerst zugedreht hatte. Die Projektile trafen ihr Ziel und schlugen in den dicken Schädel ein. Blut verdunkelte den Schlamm, als die Sirene zu Boden krachte. Eine zweite Salve schaltete zwei weitere der Monster zu seiner Linken aus. Der Rest verteilte sich blitzschnell. Einige erhoben sich in die Luft, andere preschten davon und suchten Deckung hinter dem verseuchten Geröll.

Der Mann wischte sein Visier sauber, wandte sich ab und rannte die Straße entlang hinter dem Hund her. In der Ferne konnte er den gewölbten Eingang des Bunkers bereits sehen, allerdings waren auf dem Weg dorthin etliche der giftigen Büsche gewachsen, seit er zuletzt hier gewesen war. Als Miles in ihre Nähe geriet, erwachten ihre Stängel zum Leben und blinkten wie Warnleuchten.

»Pass auf!«, rief er dem Hund hinterher.

Miles bahnte sich mühelos einen Weg durch das Minenfeld der Pflanzen und absolvierte den letzten Block in vollem Lauf, ehe er sich vor die Doppeltür hockte, die in Sicherheit führte.

Der Mann schlang sich im Rennen das Gewehr über die Schulter. Er tastete nach dem Schlüssel in seiner Westentasche. Auf halbem Weg die Straße entlang drehte er sich um und feuerte auf eine durch die Luft heransegelnde Sirene. Sie drehte bei, um seinen Schüssen auszuweichen, bevor sie in den Sturzflug überging und direkt auf ihn zuhielt. Mit angehaltenem Atem kniff er die Augen zusammen und entfesselte eine Dreiersalve ins dornige Rückgrat der geflügelten Kreatur. Sie schlug wie eine Rakete in den Boden ein und schleuderte Erde und Schlamm in die Luft.

Mittlerweile bellte Miles, was die Aufmerksamkeit der Monster erregte. Eine andere Sirene schwebte auf den Hund zu. Der Mann hob das Gewehr an und gab zwei Feuerstöße ab, die das ledrige Gewebe der Kreatur zerfetzten. Dann sprang er mit der Anmut eines wesentlich jüngeren Mannes über einen weiteren giftigen Busch hinweg. Ranken streckten sich nach ihm. Eine streifte seinen Stiefel. Dornen schlitzten das abgewetzte Leder auf. Die Spitze durchstieß es und bohrte sich brennend in seine Haut, doch er atmete den Schmerz weg und humpelte auf die Eingangstür zu. Einen kleinen Stich würde er überleben, solange er rechtzeitig Salbe draufschmieren konnte – die Sirenen hingegen würde er nicht überleben. Sie würden ihn an Ort und Stelle in Stücke reißen und sich um seine Überreste zanken. Vor Jahren hatte er das schon einmal bezeugt.

Eine Erinnerung an einen alten Freund tauchte aus seinem Gedächtnis auf, aber er verdrängte die traumatische Szene rasch und flüchtete weiter vor den Monstern.

Mittlerweile lief Miles unruhig vor der Tür auf und ab, den Blick fest auf sein Herrchen geheftet. Der Mann wischte sich Regen vom Visier, während er auf den Eingang zuraste. Den letzten Abschnitt der Strecke kannte er besser als jeden anderen Ort im Hades. Aber wenngleich er sich den Weg eingeprägt hatte, war er nicht gegen den nassen Asphalt gewappnet. Er geriet auf eine glitschige Stelle, rutschte aus und stürzte. Als er fiel, verlor er den Schlüssel. Schmerzen schossen durch seinen von Narben gezeichneten Körper.

Miles kläffte und wollte zu ihm rennen, aber der Mann befahl dem Hund mit einem scharfen Befehl zurückzubleiben.

Er stemmte sich in dem Moment hoch, als ein Geflecht von Blitzen am Himmel eine Sirene traf und trudelnd abstürzen ließ. Die qualmende Kreatur krachte mitten in eine Ansammlung der Büsche. Prompt schossen Ranken hervor und schlangen sich um sie. Die Sirene war nicht tot und zappelte wild inmitten der rot pulsierenden Stängel. Blut spritzte auf und dampfte in der Kälte.

Der Schlüssel. Wo zum Teufel ist der Schlüssel?

Der Mann suchte den Boden ab, während sich das Monster unter Qualen wand. Die Ranken hatten sich am Körper der Sirene festgesetzt wie an eine unförmige Maschine angeschlossene Kabel. Das Kreischen wurde so laut, dass es das durch die Ohren des Mannes rauschende Blut zum Vibrieren brachte.

50 weitere Schritte – das war alles, was er noch schaffen musste. Zu Miles und ab in den Bunker. Aber zuerst brauchte er den Schlüssel. Er konzentrierte sich auf den Boden, suchte verzweifelt.

Dann sichtete er ihn ein paar Meter entfernt zwischen sich und dem sterbenden Monster. Ranken schnellten ihm entgegen, als er sich näherte. Er wehrte sie mit dem Kolben des Gewehrs ab, bevor er sich bückte, um den Schlüssel aufzuheben. Eine andere Ranke zischte an seinem Arm vorbei. Eine weitere kam von links, klatschte gegen das Visier seines Helms und blieb am Glas haften. Er zog die Machete aus der Scheide an seiner Hüfte und hieb durch den Stängel. Ein Geysir aus grünem Blut spritzte in die Luft.

Miles kläffte weiter, hörte sich mittlerweile panisch an. Der Mann vergewisserte sich mit einem Blick zum Himmel, dass keine Monster auf den Hund zusteuerten.

Die gefangene, vom Blitz getroffene Sirene hörte auf, sich zu wehren, und sackte auf den Rücken. Prompt zogen die Ranken sie in die Reichweite anderer Tentakel, die sie ihrerseits im Dickicht des Gebüsches verschwinden ließen.

Ein letztes Kreischen ertönte, als sich der Mann zur Flucht wandte.

Hinter ihm rasten Dutzende krallenbewehrte, nackte Füße klatschend über Asphalt oder schmatzend durch Schlamm. Heulende Sirenen füllten den Himmel aus, und über den schreienden Kreaturen zeichnete sich etwas anderes ab: die käferartigen Umrisse eines Luftschiffes.

Emotionsgeladene Erinnerungen prasselten auf den Mann wie heftiger Regen ein. Erinnerungen an eine Zeit vor Miles, vor dieser elenden Hölle. Sie fluteten seinen Geist und für einen Herzschlag verschwand der Hades, der von der gleißenden Sonne ersetzt wurde. In der Ferne flog die Hive langsam davon. Während sein Körper vom Ballon nach oben gezogen wurde, zog ihn sein Herz zum Luftschiff. Während er durch den Himmel trieb, funkte er unablässig Captain Maria Ash an, bis das Helium allmählich aus seinem Ballon entwich und er langsam zurück zur verwüsteten Erdoberfläche sank. Sein Flehen um Rettung war unbeantwortet geblieben.

Blitze erhellten die Wolke, die er irrtümlich für ein Luftschiff gehalten hatte.

Hinter ihm schrillte eine der Sirenen. Er zog die Schrotpistole von der Hüfte und feuerte ein Leuchtgeschoss auf die galoppierenden Bestien ab. Das gleißende rote Licht zischte über die Straße und die Monster preschten von dem grellen Schein weg. Der Mann steckte die Schrotpistole zurück ins Holster, griff sich das Gewehr und feuerte Salven hinter den flüchtenden Sirenen her, bevor er sich mit dem Schlüssel in der anderen Hand wieder Miles zudrehte.

Der Hund kam angetrabt, um ihn zu begrüßen, doch der Mann zeigte hinter ihn und rief: »Hinein!« Er schloss die Tür auf und Miles huschte durch die Öffnung.

Mit einem fließenden Bewegungsablauf setzte der Mann das Gewehr erneut an der Schulter an, wirbelte herum und entfesselte Schüsse auf die anrückenden Monster. Das Leuchtgeschoss spuckte immer noch Feuer auf die Straße. Allerdings bot es nicht mehr viel Licht und der Mann vergeudete es nicht.

Er gab eine Salve auf eine Kreatur ab, die in vollem Lauf die Tür anvisierte. Projektile schlugen in den Schädel ein und ließen dort, wo sich Augen befinden sollten, zwei saubere Löcher entstehen. Eine andere Sirene nahm ihren Platz ein und er schleuderte sie mit drei schnellen Schüssen in den Rumpf zurück. Der Mann stemmte sich dem Rückstoß entgegen, während er sich im schwindenden Licht ein Ziel nach dem anderen suchte. Blut sammelte sich auf dem Boden zu Pfützen und die gefallenen Kadaver bildeten allmählich einen Halbkreis um den Eingang des ITC-Bunkers. Hinter den Monstern fuchtelten die tentakelartigen Ranken der Büsche hin und her wie tänzelnde Kerzenflammen.

Aus dem Gang hinter dem Mann drang das Kläffen des Hundes, während er eine Kugel nach der anderen abfeuerte.

»Warte, Miles! Ich komme gleich!«

Schließlich fiel der Schlagbolzen auf das leere Patronenlager des Gewehrs. Er griff gerade nach einem weiteren Magazin, als eine Flut von Blitzen in die Stahlgerüste weiter unten an der Straße einschlug. Dutzende skelettartige, ledrige Körper bewegten sich im Licht des flackernden Funkenschauers.

Es waren zu viele, um gegen sie alle zu kämpfen. Es war an der Zeit, die Flucht zu ergreifen.

Er ließ das Gewehr sinken, zog sich in den Gang zurück, drückte die Tür mit der Schulter zu und verriegelte sie von innen. Der Mann schaltete die kostbare, an der Waffe montierte Lampe ein, leuchtete mit ihrem Strahl ins Treppenhaus und eilte dann in einen tiefer gelegenen Flur hinab.

»Hinter mich«, befahl er Miles.

Der Hund trabte hinter ihm her durch den schmalen Gang, der sich unter dem ITC-Gelände erstreckte. Diese verfallenden Korridore verbanden die Untergeschosse von Gebäuden miteinander, die man darauf ausgelegt hatte, die Apokalypse zu überstehen, dennoch waren viele eingestürzt.

Mit gezückter Waffe bog der Mann um eine Ecke, aber der Strahl der Lampe erhellte einen verwaisten Flur. Diesen Gang kannte er besser als jeden anderen. Jede der fünf Türen führte zu einem anderen Raum. Der erste war luftdicht versiegelt gewesen, bis er ihn geöffnet hatte. Darin hatte er genug Lebensmittel, Wasser und medizinisches Bedarfsmaterial für 500 Jahre entdeckt. Als er diesen Ort ursprünglich gefunden hatte, war er im Begriff gewesen, an Blutverlust und einer Strahlenvergiftung zu sterben. Die Entdeckung hatte ihn so weit gerettet, wie ein Toter gerettet werden konnte.

Hinter der zweiten Tür verbarg sich eine Waffenkammer, die Schusswaffen verschiedenster Art, Munition, Zubehör und Strahlenschutzanzüge sowohl für Erwachsene als auch für Kinder enthielt. Einer der kleineren Anzüge hatte mit leichten Anpassungen auch Miles recht gut gepasst.

Der Mann passierte im Laufschritt die dritte Tür. Hinter ihr verbarg sich ein Gewölbe mit jedem Samen, den die Menschheit für einen Neubeginn an der Erdoberfläche brauchen würde. Der Mann hatte viele Stunden damit zugebracht, die Informationen über jede Sorte zu lesen. Mehrere der versiegelten Tütchen trug er bei sich, wenngleich er nicht sicher war, weshalb. Ohne Sonne konnten Obstbäume nicht wachsen.

Die vierte Tür, die ein Schild mit der Aufschrift KRYOTECHNIK kennzeichnete, war versiegelt. In diesem Raum hatte er vor einem Jahr Miles in einer der Kammern in scheintotem Zustand gefunden.

Als der Mann ursprünglich auf diesen Bereich gestoßen war, hatte er nicht gewusst, was »Kryotechnik« bedeutete. Aber als er den Fahrstuhl nach unten genommen und den Silo mit den einzelnen Zellen gesehen hatte, wusste er Bescheid. Menschen sowie Tiere, die er noch nie zu Gesicht bekommen hatte, füllten die Kapseln. Tausende und Abertausende hingen an der autonomen Stromversorgung, die noch weitere 250 Jahre laufen würde. Dennoch waren nicht alle erhalten geblieben. Ein gesamter Abschnitt der Kammern stand offen, mehrere andere Abschnitte waren zerstört worden. Was immer in den Bereich eingebrochen oder aus einer der Zellen ausgebrochen sein mochte, war längst weg, als der Mann zum ersten Mal dort eintraf.

Allerdings hielt er sich nicht für Gott. Deshalb holte er nie einen der anderen Menschen ins Leben zurück, ganz gleich, wie einsam er wurde. Aber als er Miles im Kryoschlaf sah, konnte er nicht widerstehen und taute ihn auf. Wie die Hunde an Bord des Luftschiffes, das der Mann einst als Zuhause betrachtet hatte, war Miles ein Siberian Husky. Aber der Mann hatte schnell erkannt, dass sich Miles von jenen Hunden unterschied. Er schien dafür geschaffen zu sein, unter feindseligen Bedingungen zu überleben. Miles verkraftete hohe Strahlungsdosen und seine scharfen Sinne hatten sie beide öfter vor den Monstern gerettet, als der Mann zählen konnte.

Der Hund lief zu einer Explosionsschutztür am anderen Ende des Korridors voraus. Als der Mann dort ankam, hatten die Sirenen die Tür oben auf der Straße gefunden. Die Bestien hämmerten mit ihren ledrigen Fäusten gegen den Stahl. Der Eingang oben würde nicht lange halten, die Explosionsschutztür hingegen würde Miles und ihm etwas zusätzliche Zeit verschaffen. Außerdem würden sie eingeschlossen sein. Und den einzigen anderen Ausgang stellte ein hochgradig radioaktiv verseuchter Kriechzwischenraum dar. Wenn ihre Anzüge unversehrt waren, würden sie überleben. Wenn sie auch nur den kleinsten Riss aufwiesen, würden sie sterben.

Er fingerte in der Tasche nach dem anderen Schlüssel und steckte ihn ins Schloss, dann schob er die schwere Tür mit aller Kraft auf. Miles eilte hindurch.

Der Mann hob das Gewehr an und schwenkte das Licht der Lampe durch einen mit Metalltischen möblierten Raum. Funkausrüstung und Flachbildschirme, die nicht mehr funktionierten, warteten auf Benutzer, die nie eintreffen würden. Mit einem Grunzen schloss er die Tür, verriegelte sie und eilte zum einzigen noch einsatzfähigen Funkgerät.

Der Mann beugte sich hinunter und drehte den Regler. Statisches Knistern drang aus uralten Lautsprechern, als er die Kanäle nach Übertragungen absuchte. Aber wie bei allen anderen Versuchen hörte er nur ein Rauschen. Keine Stimmen. Keinen Hinweis darauf, dass es irgendwo draußen noch eine andere menschliche Seele geben könnte.

Ein schrilles Kreischen drang aus dem Korridor herein, und Miles stimmte ein tiefes Knurren an. Die Monster waren da. Früher hatten sie es nie ins Innere der Anlage geschafft. Ihm blieb nicht viel Zeit.

Langsam drehte er den Regler, lauschte mit gespitzten Ohren auf irgendein Geräusch, das Überlebende erahnen ließ. Ein Chor des Geheuls der Sirenen draußen übertönte das Rauschen, und er beugte sich näher an die Lautsprecher.

Niemand hatte auf seinen Notruf reagiert. Niedergeschlagen ließ er den Kopf hängen. Zwei Jahre lang hatte er seine Botschaft über jede Frequenz hinaus in die Welt geschickt und zwei Jahre lang hatte er nur Stille als Antwort erhalten. Es würde keine Hilfe kommen. Somit gab es hier nichts mehr für ihn. Zu gehen bedeutete, die Vorräte und die Ausrüstung aufzugeben, die ihn am Leben erhalten hatten. Aber zu bleiben bedeutete, er würde nie wieder ein anderes menschliches Wesen zu Gesicht bekommen.

Die letzten Zweifel in seinem vereisten Herzen fielen von ihm ab.

Es war letztlich an der Zeit, diesen verfluchten Ort, diese Hölle zu verlassen. Er wollte schon immer einmal das Meer sehen. Vielleicht würde er es in ein paar weiteren Jahren dorthin schaffen.

»Komm, Junge«, sagte er zu Miles. Der Hund winselte, als könnte er ihn verstehen, und er versuchte, mit dem Schwanz zu wedeln, wobei ihn jedoch der schlecht sitzende Strahlenschutzanzug behinderte.

Die Sirenen schleuderten sich gegen die Explosionsschutztür. Ihr elektronisch klingendes Geheul hallte durch den Raum, als der Mann seine letzte Übertragung aus der Hölle aufzeichnete.

»Falls das jemand hört, hier spricht Commander Xavier Rodriguez. Ich verlasse jetzt den Hades und breche nach Osten in Richtung der Küste auf.«