Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The One Man

erschien 2016 im Verlag Minotaur Books.

Copyright © 2016 by Andrew Gross

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-787-5

www.Festa-Verlag.de

Meinem Schwiegervater, Nate Zorman.

Für Geschichten, die er mir erzählt hat, und andere, die er mit in den Tod nahm.

Jüngste Berichte sowohl von Medien- als auch von Geheimdienstseite deuten an, dass sich die Deutschen im Besitz einer mächtigen neuen Waffentechnologie befinden, die vermutlich zwischen November 1943 und Januar [1944] einsatzbereit sein wird. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit basiert sie auf der Produktion von waffenfähigem radioaktivem Material – konkret: Uran]. Es dürfte nicht notwendig sein, die zu erwartenden Folgen zu schildern, falls sich diese Annahme als zutreffend erweist.

Es ist denkbar, dass die Deutschen bereits jetzt – oder bis Ende des Jahres – über genügend Uran zur Bestückung einer großen Zahl von Waffen verfügen, um sie gleichzeitig in England, Russland und unserem Land einzusetzen. Für diesen Fall besteht wenig Hoffnung auf wirksame Abwehrmaßnahmen. Insbesondere Großbritannien wird durch diese Entwicklung in eine extrem ernste Lage versetzt. Immerhin besteht Aussicht auf einen Gegenschlag von unserer Seite, ehe der Krieg verloren ist. Das setzt allerdings voraus, dass unser eigenes Waffenprogramm auf Basis atomarer Substanzen in den nächsten Wochen durchschlagende Fortschritte erzielt.

Aus einem Bericht der

Manhattan-Projekt-Physiker Edward Teller

und Hans Bethe an Robert Oppenheimer

21. August 1943

Prolog

Das Einzelzimmer befindet sich in der dritten Etage des Veteranen-Verwaltungskrankenhauses Edward Hines Jr. vor den Toren Chicagos, in der geriatrischen Abteilung. Alte Männer schlurfen gebeugt in weit geschnittenen Pflegehemden durch den Trakt, gestützt von Krankenschwestern, und ziehen Gestelle mit Infusionsbeuteln hinter sich her.

Die Frau tritt ein. Sie ist Mitte 50, wirkt aber deutlich jünger, trägt eine raffinierte Kombination aus kurzer Burberry-Steppjacke und olivgrünem Cape. Die dunklen Haare sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie entdeckt ihren Vater auf einem Stuhl. Er sitzt kraftloser da, als sie ihn je erlebt hat, wirkt noch zerbrechlicher als vor zwei Monaten bei der Beerdigung. Zum ersten Mal fällt ihr auf, dass sich die Wangenknochen unter der Haut abzeichnen. Geblieben ist ihm das bemerkenswert volle Haar – angegraut, aber längst noch nicht weiß. Über den Schoß ist eine Decke drapiert. Der Fernseher läuft. CNN. Darauf war schon immer Verlass. Selbst an Thanksgiving, wenn sich die Enkelkinder zum Footballmatch der Bears um den Bildschirm versammelten, fragte ihr Vater jedes Mal, ob sie auf die Nachrichten umschalten könnten. »Ich will mitbekommen, was passiert! Was ist daran falsch?« Doch heute sieht er gar nicht hin, starrt nur ins Leere.

Sie merkt, dass seine Hand zittert. »Paps?«

Die Pflegerin, die neben ihm sitzt, legt das Buch zur Seite und steht auf. »Sehen Sie mal, wer hier ist.«

Er reagiert kaum, hört auf dem rechten Ohr nicht mehr so gut. Seine Tochter kommt näher und lächelt die Schwester an, eine imposante Schwarze aus St. Lucia, die sie angestellt haben, um quasi rund um die Uhr auf ihn aufzupassen. Als ihr Vater sie endlich bemerkt, erhellt sich seine Miene und er lächelt sie selig an. »Nat.«

»Ich hab doch versprochen, dass ich komme, Paps.« Sie beugt sich hinunter, umarmt ihn und drückt ihm einen Kuss auf die Wange.

»Ich hab auf dich gewartet«, sagt er.

»Hast du?«

»Natürlich. Sonst gibt’s hier ja nichts zu tun.«

Ihre Augen wandern zum Regal neben dem Bett, zu den Sachen, die sie bei ihrem letzten Besuch vor einem Monat mitgebracht hat.

Die ›Jurist des Jahres‹-Auszeichnung der Anwaltskammer von Northern Illinois, die in seiner Kanzlei an der Wand hing. Ein Schnappschuss von ihm und ihrer Mutter an der Chinesischen Mauer. Ein Foto der zwölf Meter langen Hatteras-Motorjacht, die in Jupiter, Florida, im Hafen liegt und für die sie aktuell einen Käufer suchen. Gerahmte Porträts von den Enkelkindern. Auch ihre eigenen Söhne, Luke und Jared, sind vertreten.

Erinnerungen an ein erfülltes, glückliches Leben.

»Greg meinte, er kommt ein bisschen später.« Ihr Mann. »Er muss noch ein paar geschäftliche Angelegenheiten erledigen.« Papierkram zum alten Haus in Highland Park und einiges, was bezüglich des Anwesens ihrer Mutter noch in der Schwebe hängt.

Ihr Vater blickt auf. »Geschäftliches? Meinetwegen?«

»Ach, das sind nur Kleinigkeiten, Paps. Mach dir keine Sorgen. Wir kümmern uns um alles.«

Er nickt nur, gibt sich geschlagen. »Okay.« Noch vor einem Jahr hätte er jetzt seine Lesebrille aufgesetzt und darauf bestanden, jedes einzelne Dokument, jeden Kaufvertrag eigenhändig zu prüfen.

Sie fährt liebevoll mit der Hand durch sein unverändert dichtes Haar. »92, hm? Dafür siehst du wirklich noch ganz schön zackig aus, Dad.«

»Für einen alten Sack gar nicht so übel, was?« Er zuckt die Achseln und spendiert ihr ein knochiges Grinsen. »Mit dem Marathon wird’s aber nichts mehr.«

»Wer weiß, vielleicht nächstes Jahr.« Sie stupst ihm gegen den Arm. »Und?«, fragt sie die Schwester. »Wie schlägt er sich? Ich hoffe, er ist artig.«

»Oh, er ist immer artig.« Sie lacht. »Aber er redet nicht mehr so viel, seit seine Frau gestorben ist. Er schläft viel. Wir machen ab und zu Spaziergänge durch die Station. Es gibt ein paar Freunde, die er gern besucht. Meistens sitzt er einfach nur da, so wie jetzt. Schaut fern. Er mag Nachrichten, das wissen Sie ja. Und Baseball …«

»Geredet hat er eigentlich nie viel«, gesteht die Tochter. »Es sei denn, es ging ums Geschäft. Oder um seine Cubs. Er liebt seine Cubs. Dafür, dass er nicht mal wusste, was Baseball ist, als er ins Land kam, ist er ziemlich scharf drauf. Seit über 100 Jahren kein Titel mehr, stimmt’s, Paps?«

»Man darf nie die Hoffnung aufgeben.« Er grinst.

»Nein, darf man nicht. Hey, hast du Lust auf einen kleinen Ausflug mit mir?«

Sie beugt sich zu ihm hinunter und greift nach der zittrigen Hand. »Ich erzähl dir das Neueste über Luke. Er wurde gerade an der Northwestern angenommen. An derselben Uni wie du, Paps. Er ist ein kluger Junge. Und er kämpft im Wrestling-Team. Noch eine Gemeinsamkeit mit dir …«

Mit einem Mal wirkt das Gesicht ihres Vaters besorgt. »Sag ihm, er soll auf diese Jungs von den Farmen in Michigan aufpassen, Häschen. Die sind kräftig. Und sie schummeln …«, raunt er. »Weißt du, sie …«

Er macht ein Geräusch, als will er noch etwas sagen. Etwas Wichtiges. Dann nickt er nur und lehnt sich zurück und starrt ins Leere. Seine Augen werden trüb.

Sie streichelt ihm mit der Hand über die Wange. »Worüber grübelst du die ganze Zeit nach, Paps? Ich wünschte, du würdest es mir verraten.«

»Er denkt vermutlich kaum noch an etwas, seit …« Die Schwester möchte seine verstorbene Frau nicht noch einmal erwähnen. »Ich bin mir nicht sicher, ob er noch sonderlich viel mitbekommt.«

»Ich bekomme so gut wie alles mit«, weist er sie zurecht. »Jedenfalls mehr, als Sie glauben.« Er wendet sich an seine Tochter. »Es ist nur so … Ich vergesse von Zeit zu Zeit was. Wo ist Mom?« Er schaut sich um, als würde er erwarten, sie auf ihrem alten Ohrensessel vorzufinden. »Wieso ist sie nicht hier?«

»Mom ist nicht mehr da, Paps«, antwortet die Tochter. »Sie ist gestorben. Erinnerst du dich?«

»Oh, richtig, sie ist tot.« Er nickt und richtet den Blick erneut ins Leere. »Manchmal bin ich ein wenig verwirrt.«

»Er steckte immer so voller Lebensfreude«, vertraut die Tochter der Pflegerin an. »Obwohl er eine tiefe Traurigkeit mit sich herumtrug, von der wir nie wussten, woher sie kam. Vermutlich hat es damit zu tun, dass er im Krieg fast seine komplette Familie in Polen zurücklassen musste. Er fand nie raus, was aus ihnen geworden ist. Wir versuchten irgendwann mal, sie ausfindig zu machen, um Gewissheit zu bekommen. Doch es gibt keine Aufzeichnungen. Er wollte es sowieso nie wissen. Das stimmt doch, Paps?«

Ihr Vater bewegt lediglich den Kopf auf und ab. Seine linke Hand zittert unablässig.

»Schau mal, ich hab dir was mitgebracht.« Sie zieht eine Plastiktüte aus ihrer Umhängetasche. Sachen, die er mag. Die aktuelle Ausgabe des Economist. Ein paar aktuelle Schnappschüsse von den Enkeln. Eine Tafel Ghirardelli-Schokolade. »Und wir haben etwas gefunden … beim Ausräumen vom Haus. Wir stießen auf ein paar Kartons, die Mom auf dem Speicher abgestellt hat.« Sie zieht eine Zigarrenkiste aus der Tüte. »Das hier …«

Sie klappt die Kiste auf. Darin liegen verblichene Fotos. Eins zeigt ihre Eltern zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs, wie ihnen von zwei ranghohen Soldaten eine Medaille überreicht wird. Dann sind da noch ein alter Pass und militärische Unterlagen. Ein kleines, knittriges Schwarz-Weiß-Porträt einer attraktiven Blondine im Ruderboot, der Schirm ihrer weißen Mütze ist neckisch nach oben geklappt. Die in der Mitte zerrissene Partitur eines Mozart-Konzerts, provisorisch mit Tesafilm zusammengefügt. Und schließlich eine glänzende weiße Schachfigur. Ein Turm.

Für einen kurzen Moment blitzt etwas in den Augen ihres Vaters auf.

»Und dann noch …« Sie entnimmt der Kiste einen Samtbeutel und schüttelt etwas heraus.

Eine Medaille. Ein Bronzekreuz mit einem Adler darauf, befestigt an einem blauen Band mit schmalem rot-weißem Streifen am Rand. Der Beutel ist etwas angestaubt. Er scheint lange in der Kiste gelegen zu haben. Sie legt das Abzeichen auf ihre Handfläche. »Das ist nicht irgendeine Medaille, Dad. Es ist eine Auszeichnung für besondere Verdienste. Ein Distinguished Service Cross.«

Er starrt es für eine Sekunde an, dann dreht er sich weg. Er wirkt nicht besonders erfreut, es zu sehen.

»Es wird nur für besondere Tapferkeit verliehen. Die Jungs haben es nachgeschlagen. Du hast nie mit uns darüber gesprochen, was du im Krieg erlebt hast. Zu Hause in Polen. Nur, dass du in einem …«

Sie hält inne. Jedes Mal wenn sie die Schrecken in ›den Lagern‹ anspricht, schaltet ihr Vater auf Durchzug oder verlässt den Raum. Jahrelang hat er sich strikt geweigert, kurzärmlige Hemden zu tragen, und niemandem seine Tätowierung gezeigt.

»Nimm …« Sie reicht ihm das Foto mit den hochrangigen Offizieren. »Das Bild hast du uns nie gezeigt. Wie kann das sein? Du warst ein Held.«

»Ich war kein Held.« Er schüttelt den Kopf. »Du hast ja keine Ahnung.«

»Dann erzähl es mir«, bittet die Tochter. »Wir wollen schon so lange erfahren, was wirklich passiert ist. Bitte.«

Er öffnet den Mund, als ob er etwas sagen will, endlich, nach all den Jahren, doch dann schüttelt er nur den Kopf und starrt Löcher in die Luft.

»Wenn du nichts Wichtiges geleistet hast, wieso hat man dir dann diese Medaille verliehen?« So schnell lässt sie nicht locker. Sie zeigt ihm das Foto der hübschen Frau im Boot. »Und wer ist das? Gehörte sie damals zur Familie? In Polen?«

»Nein, keine Familie …«

Diesmal greift ihr Vater nach den zerrissenen Notenseiten und betrachtet sie. Ein entrücktes Funkeln in den Augen. Der Anflug eines Lächelns, als wäre etwas in der Vergangenheit Begrabenes unerwartet zu neuem Leben erwacht.

»Das geht vielen so«, meldet sich die Pflegerin zu Wort. »Sie wollen sich nicht an früher erinnern, behalten alles für sich, bis es irgendwann …«

»Dolly …«, entfährt es ihm.

»Dolly …?« Seine Tochter berührt ihn sanft am Arm.

»Die Kurzform von Dołeczki. Das ist Polnisch für Grübchen.« Ein zartes Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Sie hat damals so herrlich gespielt.«

»Wer ist diese Frau, Dad? Bitte, verrat es mir. Und auch, womit du dir die verdient hast.« Sie drückt ihm die Medaille in die Hand. »Es gibt keinen Grund, dass du es noch länger für dich behältst.«

Ihr Vater lässt einen ausgedehnten Atemzug entweichen. Es hat den Anschein, als ob er sein ganzes Leben darauf warten musste, nach draußen zu gelangen. Er sieht seine Tochter nachdenklich an. »Willst du es wirklich wissen, Häschen?«

»Das will ich.« Sie setzt sich neben ihn. »Das wollen wir alle, Paps.«

Er nickt. »Dann ist es wohl an der Zeit.« Er betrachtet noch einmal das Foto. Erinnerungen stürzen auf ihn ein wie bei der unerwarteten Entdeckung eines Grabmals, das Jahrhunderte unter einer Schicht aus Sand verborgen war. »Ja, ich habe eine Geschichte zu erzählen. Doch wenn du alles erfahren willst, beginnt sie nicht mit ihr.« Er legt den Abzug zur Seite. »Sondern mit zwei Männern. In einem Wald. In Polen.«

»Zwei Männer …« Seine Tochter versucht, ihn zum Weiterreden zu ermutigen. »Was haben sie dort gemacht?«

»Sie sind gerannt.« Der alte Mann sieht sie an. Zum ersten Mal seit langer Zeit blitzen lebhafte Erinnerungen in seinen Pupillen auf. »Sie rannten um ihr Leben …«

TEIL EINS

1

April 1944

Das Gebell der Hunde kam immer näher, erklang jetzt direkt hinter ihnen.

Die beiden Männer kämpften sich mitten in der Nacht durch das dichte polnische Waldstück, hangelten sich am Ufer der Weichsel entlang, nur wenige Kilometer von der Grenze zur Slowakei entfernt. Ihre abgemagerten Körper schrien vor Erschöpfung, standen am Rande des Zusammenbruchs. Sie trugen zerlumpte, schmutzige Kleidung; die viel zu großen Holzpantinen, nutzlos im dichten Unterholz, hatten sie längst weggeworfen. Sie stanken, glichen eher gehetzten Tieren als Menschen.

Doch nun endete die Jagd.

»Sie sind hier!«, hörten sie die Rufe der deutschen Soldaten im Rücken. »Kommt her!«

Drei Tage und Nächte hatten sie sich im Unterholz direkt vor dem Grenzzaun des Lagers verkrochen. Ihren Geruch verbargen sie mit einer Mischung aus Tabak und Kerosin vor den Spürhunden.

Oft hörten sie die Stiefel der Wachmänner direkt neben sich, nur Zentimeter von der Entdeckung entfernt; kurz davor, einem Tod entgegengeschleift zu werden, den niemand sich ausmalen mochte, nicht mal nach allem, was sie im Lager durchgemacht hatten.

Dann, in der dritten Nacht, hatten sie sich im Schutz der Dunkelheit davongeschlichen. Sie liefen nur nach Einbruch der Dämmerung, stahlen auf den Bauernhöfen, an denen sie vorbeikamen, alles, was irgendwie satt machte. Rüben. Rohe Kartoffeln. Kürbisse. Sie stürzten sich darauf wie ausgehungerte Tiere. In jedem Fall schmeckte es besser als das ranzige Etwas, das sie in den letzten zwei Jahren nur mit Mühe am Leben gehalten hatte. Anfangs erbrach ihr Körper alles sofort, weil er nicht mehr an feste Nahrung gewöhnt war. Gestern hatte Alfred sich den Knöchel verstaucht und humpelte seitdem mühsam voran.

Nun schien sie jemand entdeckt zu haben. Die Hunde waren nur noch wenige Meter entfernt, genau wie die Rufe auf Deutsch, die sekündlich lauter wurden.

»Hier entlang! Da drüben!«

»Alfred, komm weiter, schnell!«, spornte der Jüngere seinen Freund an. »Wir müssen uns irgendwo verstecken.«

»Ich kann nicht. Ich kann nicht.« Der Humpelnde geriet ins Stolpern und rutschte hilflos die Böschung zum Fluss hinunter, der Fuß blutig und wund. Er blieb einfach sitzen, der völligen Erschöpfung nah. »Ich bin erledigt.« Wieder die Rufe, aus noch kürzerer Distanz. »Was soll’s? Es ist eh vorbei.« Die Resignation in seiner Stimme bestätigte, was sie beide längst wussten: Sie hatten verloren. Ihre Chance war verstrichen. Sie hatten den ganzen mühsamen Weg zurückgelegt, nur um am Ende doch von den Verfolgern geschnappt zu werden.

»Alfred, wir müssen weiter«, drängte sein Freund. Er stolperte über den Abhang und versuchte, den Mitstreiter hochzureißen, der ihm trotz des abgemagerten Zustands schwer wie ein Klumpen Blei vorkam.

»Rudolf, ich schaff’s nicht. Es hat keinen Sinn.« Der Verletzte blieb einfach sitzen, völlig erledigt. »Geh allein weiter. Hier.« Er reichte seinem Freund den Beutel. Darin steckten die Beweise, die sie rausgeschmuggelt hatten. Lange Listen mit Namen und Daten. Karten. Unanfechtbare Belege der unaussprechlichen Verbrechen, von denen die Welt erfahren musste. »Lauf! Ich werd denen sagen, dass du dich schon vor Stunden von mir getrennt hast. Das verschafft dir ein bisschen Zeit.«

»Nein.« Rudolf zerrte ihn auf die Beine. »Wir haben uns geschworen, nicht dort zu sterben. Nicht in dieser Hölle. Und jetzt willst du es hier nachholen?«

Rudolf las in den Augen seines Freundes dasselbe wie in Hunderten anderer Augenpaare im Lager. Resignation. Nein, dasselbe wie in Tausenden.

Manchmal war es leichter zu sterben, als weiterzukämpfen.

Alfred blieb liegen. Er atmete schwer, lächelte beinahe. »Mach’s gut.«

Zwischen den Bäumen, in unmittelbarer Nähe, klickte etwas. Ein Gewehr, das entsichert wurde.

Sie erstarrten.

Es ist vorbei, ging ihnen schlagartig auf. Man hat uns gefunden. Grenzenlose Angst erfasste ihre Herzen.

Aus der Dunkelheit näherten sich zwei Männer. Beide trugen Zivilkleidung, Gewehre im Anschlag, die Gesichter mit Sand und Ruß verschmiert. Eindeutig keine Soldaten. Wahrscheinlich Bauern aus der Gegend. Wahrscheinlich die, die sie an die Deutschen verraten hatten.

»Seid ihr vom Widerstand?«, fragte Rudolf mit einem letzten Funken Hoffnung.

Für einen Augenblick schwiegen die Neuankömmlinge. Einer spannte den Hahn am Gewehr. Dann nickte der Größere, ein Bärtiger mit zerknautschter Jagdmütze.

»Dann helft uns, bitte!«, flehte Rudolf ihn auf Polnisch an. »Wir sind aus dem Lager entflohen.«

»Aus dem Lager?« Der andere starrte ihre gestreifte Häftlingskleidung an, ohne zu begreifen.

»Seht ihr? Hier!« Rudolf zeigte ihm die in den Unterarm eintätowierte Registrierungsnummer. »Auschwitz.«

Die Hunde hatten sie fast erreicht. Sie waren jeden Moment da. Der Mann mit der Mütze drehte sich in Richtung des Gebells. »Hilf deinem Freund. Kommt mit.«

2

Anfang Mai

Washington, D. C.

Zum ersten Mal durfte er bei einer Besprechung mit so bedeutenden Teilnehmern dabei sein. Captain Peter Strauss hoffte, dass es nach dem, was er vorzuschlagen hatte, nicht die letzte blieb.

Es war ein regnerischer Montagabend und die Stimmung am Tisch im Oval Office des Weißen Hauses ähnlich trüb wie der Himmel vor den Fenstern. Die Neuigkeiten von den zwei Entflohenen, Rudolf Vrba und Alfred Wetzler, hatten Präsident Roosevelts inneren Kreis wenige Tage nach deren Flucht über die polnische Grenze in die Slowakei erreicht.

Strauss war nicht nur einer von Bill Donovans jüngsten OSS-Offizieren, obwohl er bereits eine leitende Position bekleidete, sondern auch selbst Jude. Er wusste, dass man die Nazis bereits seit 1942 verdächtigte, Vernichtungslager zu unterhalten, nicht bloß Lager für Zwangsarbeit.

Damals hatten sie erste Berichte aus Europa erreicht, wonach mehrere Hunderttausend Juden aus den Ghettos in Warschau und Łódź deportiert wurden und kurze Zeit später umkamen. Erst die Berichte der beiden Auschwitz-Flüchtlinge belegten diesen Verdacht eindeutig. Sie hatten Unterlagen aus der Verwaltung des Lagers mitgebracht, die Namen, Zahlen und den fließbandähnlichen Prozess der Massenhinrichtungen dokumentierten und ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigten.

Um den ovalen Tisch hatten sich Roosevelt, sein Kriegsminister Henry Stimson, Finanzminister Robert Morgenthau und William Donovan eingefunden, führender Geheimdienstler und Leiter des Office of Strategic Services. Außerdem sein persönlicher Assistent, Captain Peter Strauss, der sich gerade mit dem Bericht auseinandersetzte und den Kopf darüber zerbrach, was das Ganze zu bedeuten hatte. Am meisten beunruhigten ihn die Schilderungen der Entflohenen, wonach die Zahl der Gefangenen und im gleichen Maß der Rhythmus der Hinrichtungen durch Vergasen rasant zunahmen und Abertausende Menschenleben Woche für Woche systematisch ausgelöscht wurden.

»Und das ist nur eine von vielen solcher Todesfallen«, fasste Morgenthau zusammen, selbst Jude und Spross einer prominenten Familie New Yorker Bankiers, die dafür gesorgt hatten, dass die Berichte der früheren Auschwitz-Insassen direkt in den Händen des amerikanischen Präsidenten landeten. »Angeblich gibt es noch Dutzende weitere. Ganze Familien werden in die Gaskammern geschickt, sobald sie in den Lagern eintreffen. Ach was, sie entvölkern ganze Städte.«

»Und welche Möglichkeiten haben wir, etwas dagegen zu unternehmen, Gentlemen?« Ein niedergeschlagener FDR musterte die Anwesenden. Ein drittes blutiges Kriegsjahr, die Sorge um eine bevorstehende Invasion, die Entscheidung, ob er für eine vierte Amtszeit kandidieren wollte, und das Voranschreiten seiner schweren Erkrankung machten ihm schwer zu schaffen. Trotzdem klang er kämpferisch. »Wir können nicht einfach hier rumsitzen und dulden, dass solche unfassbaren Verbrechen verübt werden.«

»Der Jüdische Weltkongress und das War Refugee Board drängen auf ein Bombardement der Camps«, verkündete sein Finanzminister. »Wir müssen dringend handeln.«

»Was soll das bringen?«, fragte Henry Stimson, der schon an zwei Regierungen vor Roosevelt beteiligt gewesen und aus dem Ruhestand zurückgekehrt war, um die Kriegshandlungen zu koordinieren. »Dann klebt höchstens das Blut unschuldiger Gefangener an unseren Händen. Unsere Kampfflugzeuge schaffen es nur in den seltensten Fällen mit voller Sprenglast nach Deutschland und wieder hinaus. Wir müssten mit empfindlichen Verlusten rechnen. Und wir wissen alle, dass wir jeden dieser Flieger dringend für das brauchen, was uns noch bevorsteht.«

Man schrieb den Mai des Jahres 1944. Selbst Strauss hatte mitbekommen, dass sich die Vorbereitungen für eine Invasion Europas im finalen Stadium befanden.

»Dann sollten wir sie wenigstens vom Transport weiterer Gefangener abhalten, indem wir die zentralen Gleisanlagen zerstören«, plädierte Morgenthau, der den Präsidenten unbedingt zum Handeln veranlassen wollte. »Die Menschen werden in Güterzügen in die Lager gebracht. Auf diese Weise könnten wir wenigstens das Tempo der Vernichtung ausbremsen.«

»Bomber, die nachts über Europa ausschwärmen und präzise Luftschläge auf Bahngleise durchführen? Und Sie sagen, es gibt viele solcher Lager?« Stimson machte keinen Hehl aus seiner Skepsis. »Ich glaube, Mr. President, das Beste, was wir für diese armen Menschen tun können, sind gezielte Befreiungsaktionen. Wenn Sie mich fragen, so halte ich nichts von mit der heißen Nadel gestrickten Attacken.«

Der Präsident räusperte sich und setzte die Brille mit dem dünnen Drahtgestell ab. Die dunklen Ringe um seine Augen dokumentierten die schlaflosen Nächte, in denen er über die Widernisse dieses Krieges nachgegrübelt hatte. Viele seiner engsten Freunde waren Juden und erwarteten ein entschlossenes Vorgehen von ihm. Seine Regierung hatte mehr Juden in führende Positionen berufen als alle vorherigen zusammen. Und als empathischer Humanist, der sich für Chancengleichheit und Aufstiegschancen für jeden Bürger einsetzte, widerten ihn die Gräueltaten, von denen er gerade gelesen hatte, mehr an als alles andere, das je auf seinem Schreibtisch gelandet war. Sogar mehr als die tragischen Verluste von Amerikanern an den Stränden im Pazifik oder die schweren Opfer der Marines im Zuge der Überfahrt nach England.

Als Realist wusste Roosevelt dennoch, dass sein Kriegsminister recht hatte. Zu viel stand auf dem Spiel. Zu viel, was wichtig war. Hinzu kamen die starken antisemitischen Tendenzen in Amerika. Drangen Berichte von US-Soldaten, die ihr Leben bei der gezielten Rettung jüdischer Opfer verloren, an die Öffentlichkeit, dürften ihm die Lobbyisten für eine vierte Amtszeit einen Strich durch die Rechnung machen. »Bob, mir ist klar, dass Ihnen das an die Nieren geht.« Er schob eine Hand auf die Schulter des Finanzministers. »Uns allen geht es nah, das versichere ich Ihnen. Was uns zu dem Grund bringt, weswegen wir uns heute hier versammelt haben, Gentlemen. Zu unserem Spezialprojekt. Wie haben wir es noch gleich getauft? Seewolf?« Er wandte sich an Colonel Donovan vom OSS, dem militärischen Auslandsnachrichtendienst. »Seien Sie ehrlich, Bill, gibt es überhaupt noch Erfolgschancen für dieses Projekt?«

Projekt Seewolf war nur wenigen Eingeweihten ein Begriff. Dahinter verbarg sich eine von Strauss verantwortete Unternehmung, ein bestimmtes Individuum aus Europa in die Staaten zu schmuggeln. Einen polnischen Juden, der laut Roosevelts Experten den weiteren Kriegsverlauf entscheidend beeinflussen konnte.

Bereits 1942 hatten findige Köpfe entdeckt, dass Personen im Besitz von lateinamerikanischen Ausweisdokumenten in Warschau eine Sonderbehandlung erhielten. Monatelang stellte man Hunderten polnischer und holländischer Juden falsche Papiere aus Paraguay oder El Salvador aus, um ihnen ein Verlassen des Kontinents zu ermöglichen. Viele von ihnen schlugen sich nach Nordfrankreich durch, wo sie in einem Gefangenenlager im kleinen Dorf Vittel interniert wurden, in dem skeptische deutsche Beamte ihre Fälle prüften. Obwohl die Nazis die Herkunft der Papiere anzweifelten, wagten sie es nicht, sich mit den neutralen lateinamerikanischen Staaten anzulegen, deren autoritäre Anführer mit ihren Absichten sympathisierten.

Wie es diesen Flüchtlingen gelungen war, an entsprechende Ausweisdokumente zu gelangen, die unter der Hand über nazifeindliche Botschafter der paraguayischen und salvadorianischen Vertretungen in Bern beschafft wurden, blieb ebenso im Dunkeln wie ihre genaue Herkunft. Das Gleiche galt für die Frage, wie es den USA freundlich gesinnte Kontakte schafften, solche Dokumente in die Hände der fraglichen Zielperson (alias Seewolf) und ihrer Familie zu bringen, damit sie Europa verlassen konnten. Anfangs entwickelte sich die Sache vielversprechend. Zweimal hatte man einen entsprechenden Transport arrangiert, einmal über die Niederlande, einmal über Frankreich. Dummerweise sorgten die Deutschen jedes Mal kurzfristig dafür, dass es nicht klappte. Vor drei Monaten hatte schließlich ein Informant aus Warschau die fragwürdige Natur sämtlicher lateinamerikanischer Papiere auffliegen lassen. Seitdem stand das Schicksal aller Juden in Vittel auf Messers Schneide – inklusive derer, die sie so verzweifelt in die USA schmuggeln wollten.

»Ich bedaure, wir stecken diesbezüglich in einer Sackgasse, Mr. President«, erwiderte Donovan. »Wir können nicht mal mit Bestimmtheit sagen, ob er noch da ist.«

»Und falls doch, ob er noch am Leben ist«, steuerte Kriegsminister Stimson bei. »Unsere Kontakte sind alle abgebrochen.«

Die Botschafter, die für die Weiterleitung der Ausweisdokumente gesorgt hatten, waren mittlerweile festgenommen worden und steckten in Gefängnissen der Nazis.

»Es hieß, dass wir diesen Mann unbedingt brauchen. Koste es, was es wolle.« Der Präsident wandte sich an Stimson. »Ist das nach wie vor so?«

»Absolut.« Der Minister nickte. »In Rotterdam standen wir kurz vor dem Durchbruch. Er hielt sogar schon die nötigen Fahrkarten in Händen. Jetzt …« Er schüttelte düster den Kopf, zückte einen Stift und deutete damit auf einen winzigen Fleck auf der europäischen Landkarte, die neben dem Besprechungstisch an einem Ständer hing.

Auf einen Ort namens Oświęcim im südlichen Polen.

»Oświęcim?« Roosevelt setzte die Brille wieder auf.

»Oświęcim ist der polnische Name von Auschwitz, Mr. President«, erklärte Stimson. »Aufgrund dieser Stadt und des Berichts, den wir alle gelesen haben, sitzen wir hier.«

»Verstehe.« Der Präsident nickte. »Also ist er jetzt einer von fünf Millionen gesichtslosen Juden, die man aus dem eigenen Haus vertrieben hat und dort ohne Papiere und Identität festhält?«

»Mit ungewissem Schicksal …« Finanzminister Morgenthau blickte betroffen drein.

»Es ist unser aller Schicksal, das auf dem Spiel steht, Gentlemen.« Roosevelt rollte mit dem Stuhl vom Tisch zurück. »Sie sind also gekommen, um mir mitzuteilen, dass wir alles versucht haben, um diesen Mann zu finden und dort rauszuholen. Und dass er verloren ist. Dass wir verloren sind.«

Er lief einmal um den ganzen Tisch. Vorübergehend herrschte Schweigen.

»Vielleicht ist er noch nicht endgültig verloren, Mr. President.« Der OSS-Chef beugte sich vor. »Mein Kollege, Captain Strauss, hat sich intensiv mit der Situation auseinandergesetzt. Er glaubt, dass es eine letzte Möglichkeit gibt …«

»Eine letzte Möglichkeit?« Der müde Blick des Präsidenten senkte sich auf den jungen Assistenten.

»Ja, Mr. President.«

Der Captain schien um die 30 zu sein, obwohl er bereits Geheimratsecken hatte. Der Sohn eines Kantors, Absolvent der Columbia Law School. Ein cleveres Kerlchen, hatte man Roosevelt versichert. »Also schön, mein Junge, dann lassen Sie mal hören.«

Strauss räusperte sich und schielte fragend zu seinem Boss. Nachdem der ihm zugenickt hatte, schlug er die Mappe auf, die vor ihm lag.

»Nur zu«, ermunterte ihn Donovan. »Schildern Sie ihm Ihren Plan.«