Aus dem Amerikanischen von Simona Turini

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe All the Ugly and Wonderful Things

erschien 2016 im Verlag Thomas Dunne Books.

Copyright © 2016 by Bryn Greenwood

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Lektorat: Katrin Hoppe

Titelbild: iStock – druvo

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-756-1

www.Festa-Verlag.de

Für meine kuschligen,

Kekse backenden Großmütter

Teil 1

1

Amy

März 1975

Wenn meine Mutter die Geschichte erzählte, begann sie immer mit »Na ja, sie wurde auf dem Rücksitz eines Fremden geboren«, als würde das erklären, warum Wavy nicht normal war. Ich fand, dass das doch jedem passieren konnte. Der respektable Mittelklassewagen der Eltern konnte auf dem Weg zum Krankenhaus einfach liegen bleiben. Aber das war bei Wavy nicht der Fall gewesen. Sie wurde auf dem Rücksitz im Auto eines Fremden geboren, weil Onkel Liam und Tante Val obdachlos waren. Sie fuhren gerade durch Texas, als ihr alter, runtergekommener Van den Geist aufgab. Im neunten Monat schwanger trampte Tante Val in die nächste Stadt, um Hilfe zu holen. Falls Sie je in Betracht ziehen sollten, für eine schwangere Frau den guten Samariter zu spielen, denken Sie daran, dass Sie das hinterher auch wieder sauber machen müssen.

All das erfuhr ich, als ich dienstagabends Moms Buchklub belauschte. Manchmal redeten sie über Bücher, aber meistens tratschten sie. Hier erhielt Die tragische und erbauliche Geschichte der Wavonna Quinn durch meine Mom den letzten Schliff.

Nachdem Wavy auf die Welt gekommen war, hörte Mom fast fünf Jahre lang nichts mehr von Tante Val. Das Erste, was sie danach mitbekam, war, dass Onkel Liam wegen Drogenhandels verhaftet worden war und Tante Val Geld brauchte. Dann wurde Tante Val selbst wegen irgendwas verhaftet, das Mom nicht sagen wollte, und es war niemand mehr da, der sich um Wavy kümmern konnte.

Am Tag nach diesem zweiten Telefongespräch kam Grandma zu Besuch, und hinter verschlossenen Türen stritten sie und Mom über »Du erntest, was du säst« und »Blut ist dicker als Wasser«. Grandma, meine kuschlige, Kekse backende Grandma, brüllte: »Sie gehört zur Familie! Wenn du sie nicht aufnimmst, tue ich es!«

Wir holten sie zu uns. Mom versprach Leslie und mir neues Spielzeug, aber wir waren so neugierig auf unsere Cousine, dass uns das egal war. Wavy war unsere einzige Cousine, denn laut Mom war Dads Bruder schwul. Mit neun und fast sieben dachten Leslie und ich uns Geschichten über Wavy aus, die von den Gebrüdern Grimm hätten stammen können. Ausgehungert, in einem Käfig eingesperrt, unter Wölfen im Wald lebend.

Als Wavy ankam, passte das Wetter zu unseren düsteren Theorien: bedeckt und regnerisch, dazu ein böiger Wind. Es wäre so viel passender gewesen, wenn Wavy in einer schwarzen Limousine oder einer Pferdekutsche angekommen wäre und nicht im beigefarbenen Sedan der Sozialarbeiterin.

Sue Enaldo war eine massige Frau in einem blauen Hosenanzug. Für mich sah sie wie der Weihnachtsmann aus, der mir ein wundervolles Geschenk brachte. Bevor Sue sich eine Regenhaube über ihr sorgfältig frisiertes Dolly-Parton-Haar stülpen konnte, hüpfte Wavy schon mit einer Plastik-Einkaufstüte in der Hand vom Rücksitz. Sie war winzig und bis sie die Tür erreichte, hatte der Regen sie völlig durchnässt.

Leslies Miene entgleiste, als sie unsere Cousine sah, aber ich war begeistert. Als meine Mutter die Tür öffnete, trat Wavy ein und begutachtete ihr neues Zuhause mit diesem ausdruckslosen Blick, den ich lieben lernen und der meine Mutter schon bald zur Verzweiflung treiben sollte. Ihre Augen waren dunkel, aber nicht braun. Grau? Grün? Blau? Ich konnte es nicht genau sagen. Nur dunkel und angefüllt mit diesem langen Blick auf die Welt. Ihre Wimpern und Augenbrauen waren durchscheinend wie ihr Haar. Silberblond klebte es an ihrem Kopf und entließ Wasserströme über ihre Schultern auf die Fliesen des Eingangsbereichs.

»Wavonna, Schätzchen, ich bin deine Tante Brenda.« Da sprach eine Mutter, die ich nicht kannte, mit zu hoher und unnatürlich fröhlicher Stimme, während sie Sue einen ängstlichen Blick zuwarf. »Geht … geht es ihr gut?«

»Wie immer. Sie hat auf der Fahrt keinen Ton gesagt. Die Pflegefamilie, bei der sie diese Woche war, sagte, sie sei so still wie eine Maus.«

»War sie denn mal bei einem Arzt?«

»Schon, aber sie lässt sich nicht anfassen. Sie hat zwei Schwestern getreten und den Arzt geschlagen.«

Die Augen meiner Mutter weiteten sich und Leslie trat einen Schritt zurück.

»Okay, Kleines«, gurrte Mom. »Hast du in deiner Tasche da ein paar Kleider, Wavonna? Komm, wir ziehen dir was Trockenes an, ja?«

Sie hatte wohl erwartet, dass Wavy sich wehren würde, aber als sie nach der Einkaufstüte griff, ließ Wavy einfach los. Meine Mutter machte sie auf und runzelte die Stirn.

»Wo sind ihre restlichen Sachen?«

»Das ist alles«, antwortete Sue. »Als sie zu uns kam, trug sie ein Männerunterhemd. Das sind die Sachen, die die Pflegefamilie für sie zusammengesucht hat.«

»Amy hat bestimmt was, das sie vorerst anziehen kann.«

Sue ging ein wenig in die Knie, um mit Wavy auf Augenhöhe zu sein, und sagte: »Wavonna, ich gehe jetzt und du bleibst hier bei deiner Tante. Verstehst du?«

Die Erwachsenen mochten mit Wavy sprechen, als wäre sie ein Kleinkind, aber mit ihren fünf Jahren machte sie eine ausgesprochen erwachsene Geste: ein knappes Nicken, mit dem sie Sue entließ.

Als Sue weg war, standen wir zu viert im Flur und Mom, Leslie und ich sahen Wavy an. Wavy schien wie mit einem Röntgenblick durch die Wohnzimmerwand auf die Venus-Öllampe zu starren, die im anderen Zimmer hing. Woher wusste sie, dass man dort etwas anstarren konnte?

»Na, dann gehen wir doch mal hoch und suchen Wavonna ein paar trockene Klamotten«, sagte Mom.

In meinem Zimmer stand Wavy zwischen den beiden Betten und tropfte auf den Teppich. Mom wirkte nervös, aber ich war völlig aus dem Häuschen, meine Cousine leibhaftig hier in meinem Zimmer zu haben.

»Amy, hilf ihr doch mit dem Auspacken, während ich ein Handtuch hole.« Mom ließ uns allein.

Ich zog eine leere Schublade auf und »packte« Wavys Tüte aus: ein weiteres abgetragenes Sommerkleid, so fadenscheinig wie das, das sie trug, zwei Unterhosen, ein Unterhemd, ein Flanell-Nachthemd und eine neue Babypuppe, die noch nach Plastik roch.

»Das ist deine Kommode.« Ich wollte nicht klingen wie meine Mutter, wie eine Erwachsene. Ich wollte, dass Wavy mich mochte. Als ich die Kleidung in der Schublade verstaut hatte, hielt ich ihr die Puppe hin. »Ist das dein Baby?«

Sie sah mich an, sah mich richtig an, und ich merkte, dass ihre Augen nicht braun waren. Ihr Kopf bewegte sich nach links, rechts und zurück in die Mitte. Nein.

»Oh. Okay. Wir können sie ja hier reintun, damit ihr nichts passiert«, sagte ich.

Mom kam mit einem Handtuch zurück und versuchte, es über Wavys klatschnasse Haare zu legen. Bevor sie sie berühren konnte, schnappte sich Wavy das Handtuch und trocknete ihr Haar selbst.

Nach einem Augenblick verblüffter Stille sagte Mom: »Wir suchen dir was zum Anziehen.«

Sie legte eine Unterhose und ein Unterhemd auf das Bett. Ohne Scham zog Wavy das Sommerkleid aus und ließ es auf den Boden fallen, ehe sie aus ihren Turnschuhen schlüpfte. Sie war fast so dünn wie die Kinder in der UNICEF-Werbung. Ihre Rippen stachen durch das trockene Baumwollunterhemd, das sie überzog.

Ich wollte ihr meine Lieblingscordhose und ein kariertes Hemd geben, aber sie schüttelte den Kopf. Mit Daumen und Zeigefinger zupfte sie an einem unsichtbaren Rock. Mom wirkte ratlos.

»Sie will ihr Kleid«, sagte ich.

»Sie braucht aber was Wärmeres.«

Also ging ich an meinen Schrank und kramte das Weihnachtskleid hervor, das ich beim einzigen Mal, dass ich es tragen musste, gehasst hatte. Es war aus blauem Samt mit einem Spitzenkragen und war zu groß für Wavy, aber es stand ihr gut. Ihr Haar trocknete zu blonden Strähnen und sie sah aus, als wäre sie einem alten Foto entstiegen.

Beim Mittagessen saß Wavy mit am Tisch, aß aber nichts. Genauso beim Abendessen und beim Frühstück am nächsten Morgen.

»Bitte, Süße, probier doch einen Bissen.« Mom war gerade mal seit einem Tag Vollzeit-Tante, aber sie wirkte schon vollkommen erschöpft.

Ich liebe meine Mutter. Sie war eine gute Mutter. Sie bastelte mit uns, buk mit uns und ging mit uns in den Park. Bis wir schon fast Teenager waren, deckte Mom uns jeden Abend zu. Was auch immer Wavy brauchte, das war es nicht.

Am ersten Abend brachte Mom Wavy und mich ins Bett, mich mit meinem Winnie Puuh und Wavy mit der Babypuppe, die ihr nicht gehörte. Sobald Mom das Zimmer verlassen hatte, warf Wavy ihre Bettdecke von sich und ich hörte den Rums, mit dem die Puppe auf dem Boden aufkam. Wenn irgendetwas anderes das Zimmer verdunkelt hätte – ein Streich von Leslie oder eine durchgebrannte Glühbirne –, hätte ich nach Mom gerufen, aber als Wavy mein Nachtlicht ausmachte, zitterte ich nur unter meiner Decke, ängstlich, aber auch aufgeregt. Sie legte sich wieder hin und begann zu sprechen. Ihre Stimme war leise und ruhig, genau wie man es von einem winzigen, blonden Elfenkind erwarten würde.

»Kassiopeia. Kepheus. Kleiner Bär. Schwan. Perseus. Orion.«

Weil sie endlich redete, traute ich mich zu fragen: »Was bedeutet das?«

»Namen von Sternen.«

Bis dahin hatte ich nicht gewusst, dass die Sterne Namen hatten. Mit ausgestrecktem Finger malte Wavy Formen über ihren Kopf, als verfolgte sie die Bewegungen der Sterne. Ein Dirigent, der eine Sinfonie leitet.

Am nächsten Abend lächelte Wavy mich an, als Mom herumkroch und nach der unerwünschten Puppe suchte. Eine Minute nachdem wir eingekuschelt waren, lag das Baby wieder zwischen den Wollmäusen unterm Bett. Das gab der Puppe schließlich ihren Namen: Wollmaus. Wenn Mom zur Schlafenszeit vergaß, nach der Puppe zu suchen, brachte ich Wavy zum Lächeln, indem ich sagte: »O nein. Ich glaube, Wollmaus ist schon wieder weg.«

Während meine Freundschaft mit Wavy tiefer wurde, wuchs die Nervosität meiner Mutter.

Im ersten Monat ging Mom mit Wavy dreimal zum Arzt, weil sie nichts aß. Beim ersten Mal versuchte eine Schwester, Wavy ein Thermometer in den Mund zu stecken. Das ging nicht gut aus. Die anderen beiden Male stellte sich Wavy auf die Waage und der Arzt verkündete: »Sie ist untergewichtig, aber nicht im gefährlichen Bereich. Irgendetwas wird sie wohl essen.«

Dad behauptete dasselbe und er hatte Beweise. Eines Abends kam er von der Arbeit, als wir alle schon im Bett waren, und weckte uns mit seinen Schreien: »O verdammt! Was machst du da? Was machst du?«

Wavy lag nicht in ihrem Bett, also stürmte ich allein nach unten. Dad stand in der Küche, den Deckel des Mülleimers in der einen Hand und seinen Aktenkoffer in der anderen. So spät war ich noch nie in der Küche gewesen. Tagsüber war es ein warmer, sonniger Ort, aber jetzt stand die Kellertür offen, dunkel wie das Maul eines Monsters.

»Was ist los, Daddy?«

»Nichts. Geht wieder ins Bett.« Er legte den Deckel auf den Mülleimer und seine Aktentasche auf den Tisch.

»Was ist passiert, Bill?« Mom trat hinter mich und legte eine Hand auf meine Schulter.

»Sie hat aus dem Mülleimer gegessen.«

»Was? Amy, was hast du …«

»Nicht Amy. Deine Nichte.«

Mom brachte Wavy nicht wieder zum Arzt, weil sie nicht aß.

Nachdem sie dabei versagt hatte, diese Krise zu meistern, wurde es Moms Obsession, für Wavy zu nähen. Die Kleider von der Stange hingen wie Säcke an ihr und hatten zu viele Rüschen, die Wavy nicht leiden konnte. Als sie mein Weihnachtskleid trug, riss sie als Erstes den Spitzenkragen ab.

Also nähte Mom Dutzende Kleider, die Wavy immer wieder auftrennte, indem sie so lange an den Nähten zupfte, bis sich ein Faden löste. Von da an konnte sie ein Kleid in weniger als einer Woche komplett auflösen. Mom säumte die Kleider jedes Mal neu, wenn sie aus der Wäsche kamen. Was eine praktische Lösung war. Aber Mom wollte keine Lösung, sie wollte einen Grund.

Eine der Damen aus dem Buchklub fragte: »Hat sie Probleme mit der Toilette?«

Mom runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Nein, solche Probleme haben wir nicht. Sie wird im Juli sechs.«

Wavy und ich lauschten auf der anderen Seite der Küchentür. Ihre Spiele drehten sich alle darum, die Geheimnisse der Leute herauszufinden, wie etwa die Zigaretten, die mein Vater in einer alten Kaffeedose in der Garage versteckte.

»Vielleicht benimmt sie sich ja so, weil es einen unangemessenen Kontakt gab«, überlegte die Buchklub-Lady.

»Du meinst, sie könnte missbraucht worden sein?«, fragte eine andere Frau. Sie klang schockiert, aber auch erregt.

Dieses Gespräch führte zu Wavys erstem Besuch bei einem Therapeuten. Daraufhin hörte sie auf, ihre Kleider auseinanderzunehmen, und Mom triumphierte. Zu Dad sagte sie: »Ich glaube, wir hatten einen Durchbruch.«

Dann entdeckte sie die Vorhänge im Gästezimmer, die Wavy nun auftrennte, da sie es mit ihren Kleidern nicht mehr konnte.

Mom und Dad schrien sich eine Weile lang an, während Wavy einfach durch sie hindurchschaute.

»Warum glaubst du denn, dass mit ihr was nicht stimmt?«, fragte Dad. »Vielleicht ist sie nur merkwürdig. Herrgott, deine Schwester ist doch auch merkwürdig. Ich hab nicht die Nerven dafür, dass du bei allem, was sie tut, gleich hysterisch wirst. Wir müssen die Buchhaltung für den Jahresabschluss fertigkriegen.«

»Ich mache mir Sorgen um sie. Ist das so schlimm? Nie spricht sie. Was soll denn aus ihr werden?«

»Sie spricht sehr wohl«, sagte Leslie. »Ich höre, wie sie nachts mit Amy redet.«

Mom drehte sich langsam zu uns um und musterte mich. »Stimmt das? Redet sie mit dir?«

Ihr Blick war flehend. Ich nickte.

»Was erzählt sie denn so?«

»Das ist ein Geheimnis.«

»Keine Geheimnisse, Amy. Wenn sie dir was Wichtiges erzählt, dann musst du mir das sagen. Du willst Vonnie doch helfen, oder?« Mom ließ sich vor mir auf die Knie sinken und ich erkannte das Unausweichliche. Sie würde mich zwingen, mein Geheimnis zu verraten. Ich begann zu weinen, denn ich wusste, dass ich es verraten und es weder Mom noch Wavy helfen würde. Es würde mich einfach nur um etwas Wertvolles bringen.

Wavy rettete mich. Mit der Hand vor dem Mund sagte sie: »Ich will nicht darüber reden.«

Die Augen meiner Mutter wurden weit. »Ich … ich … ich.« Sie bekam kein Wort heraus und auch Dad wirkte verblüfft. Das stumme Geistermädchen konnte vollständige Sätze formen.

»Ich will, dass du wieder zu dem Therapeuten gehst«, sagte Mom.

»Nein.«

Danach hätte alles besser werden können, wenn da nicht das andere Geheimnis zwischen Wavy und mir gewesen wäre. Sie stahl sich nachts gern aus dem Haus, und ich ging mit ihr. Wir schlichen barfuß die Treppe runter, öffneten leise die Küchentür und liefen durch die Nachbarschaft.

Manchmal sahen wir uns nur um. Manchmal nahmen wir Sachen mit. In der Nacht nach Wavys sechstem Geburtstag, an dem sie ihren Kuchen nicht angerührt hatte, brach sie Mrs. NiBlacks Hintertür auf. Auf Zehenspitzen bewegten wir uns durch die Küche zum Kühlschrank und Wavy drückte ihren Daumen auf den Knopf, damit das Licht im Inneren nicht anging, als wir die Tür öffneten. Im untersten Fach stand ein halb gegessener Zitronenkuchen, den sie mitnahm. Unter die Trauerweide im Garten der Goerings gekauert, nahm sich Wavy mit bloßen Händen ein großes Stück von dem Kuchen und reichte mir den Teller. Dann verschwand sie um die Ecke hinter der Gartenhütte und als sie wiederkam, war ihr Stück Kuchen weg. Nein, sie würde nicht verhungern.

In manchen Nächten sammelten wir Dinge. Eine Weinflasche, die wir im Rinnstein fanden. Einen hochhackigen Frauenschuh vom Mittelstreifen des Highways, wo wir eigentlich nicht hindurften. Ein altes Handrührgerät, das neben der Hintertür der Methodistenkirche lag. Wir legten unsere Schätze in eine Metallkiste, die wir aus der Garage eines Nachbarn gestohlen hatten, und versteckten sie an unserem Gartenzaun hinter dem Fliederbusch.

Im Herbst verlor der Flieder seine Blätter und Dad fand die Schatzkiste inklusive Mrs. NiBlacks schwerer gläserner Kuchenplatte, auf deren Unterseite sich ein Stück Kreppband mit ihrem Namen befand. Mom brachte sie Mrs. NiBlack zurück, die ihr vermutlich erzählte, wie die Kuchenplatte verschwunden war: in einer heißen Julinacht aus ihrem Kühlschrank gestohlen, kleine, schmutzige Fußabdrücke auf dem Linoleum als einzige Spuren.

Vielleicht wurde Mom aber auch aus anderen Gründen misstrauisch.

Als es kälter wurde, wollte ich lieber zu Hause im Bett bleiben, aber Wavy stand auf und zog sich an, also tat ich es auch. Wenn ich nicht mitkäme, werde sie allein gehen. Halb hatte ich Angst, dass ihr etwas zustoßen könnte, halb fürchtete ich, sie könnte ohne mich ein Abenteuer erleben.

Also ging ich mit ihr, zitternd vor Kälte, mit vor Aufregung klopfendem Herzen. In der Bücherei stellte sich Wavy auf die Zehenspitzen, um mit ihrem dürren Arm durch den Schlitz für die Bücherrückgabe zu greifen. Mom würde uns sicherlich herfahren, um Bücher auszuleihen, aber sie zu stehlen war aufregender.

Wavy lächelte, zog ihren Arm zurück und präsentierte die Beute. Das Buch war schmal genug, um aus dem Rückgabeschlitz gezogen zu werden, aber es war kein Buch für Kinder. ›Salome‹ stand darauf. Wir lehnten die Köpfe aneinander und wunderten uns über dieses Buch für Erwachsene, das doch Bilder enthielt. Merkwürdige Bilder. Das Cover war abgegriffen und mit durchsichtiger Klebefolie geschützt, und die Seiten waren dick. Es fühlte sich nach etwas Besonderem an.

Ich wollte gerade umblättern, als ein Scheinwerferlicht auf uns fiel, wie wir da neben der Buchrückgabe kauerten. Wavy war augenblicklich verschwunden, aber ich erstarrte nur, als ich meinen Vater »Amy!« brüllen hörte. Wie im Märchen, in dem die Kenntnis des Namens Macht verleiht, hatte mein Vater mich eingefangen.

Meine Mutter sprang aus dem Auto und rannte über den Parkplatz der Bibliothek. Sie raste in ihrem Nachthemd und dem Mantel auf mich zu und sah so wütend aus, dass ich fest mit einer Ohrfeige rechnete. Strafe. Stattdessen riss sie mich in ihre Arme und drückte mich an ihre Brust.

Danach musste ich alles erzählen. Über die nächtlichen Streifzüge. Nicht über die Sterne. Das blieb mein Geheimnis. Mom weinte und Dad schimpfte.

»Ich weiß, dass du es gut meinst, Brenda. Du willst ihr helfen, das verstehe ich. Aber wenn ihr Benehmen unsere Kinder in Gefahr bringt, müssen wir eine Wahl treffen. Wir können sie nicht behalten. Sie ist außer Kontrolle.«

Die Polizei traf ein, bekam ein Foto und nahm eine Vermisstenanzeige auf. Die Nachbarn halfen bei der Suche nach Wavy, aber in der Morgendämmerung kam sie von allein zurück. Ich erwachte von mehr Geschrei und Weinen. An diesem Nachmittag kam Grandma, um Wavy abzuholen.

»Das ist eine schreckliche Idee. Eine dumme Idee«, sagte Mom. Ich war erstaunt, dass sie so mit Grandma redete. Es schien mir unmöglich, so etwas ungestraft zur eigenen Mutter zu sagen. »Du kannst sie nicht ständig im Auge behalten. Du kannst nicht die ganze Nacht wach bleiben.«

»Wozu auch? Dann wandert sie eben ein bisschen herum. Soweit ich mich erinnere, seid du und Val auch herumgestreunert, als ihr klein wart.«

»Das war was anderes. Wir waren Teenager und es waren sicherere Zeiten.«

»Pff«, machte Grandma.

»Denk an deine Gesundheit, Helen«, sagte Dad.

»Seit der Chemo bist du nicht mehr so kräftig, Mom.«

Grandma stieß den Atem aus wie früher den Zigarettenrauch und schüttelte den Kopf. »Und was ist eure Lösung? Eine Pflegefamilie? Soll sie etwa bei Fremden leben?«

»Sie kann hierbleiben.«

»Nein, kann sie nicht.« Dad stand auf und verdeckte mir die Sicht, also werde ich wohl niemals erfahren, was für einen Blick er und Mom austauschten, aber als er zur Anrichte ging, um sich noch einen Kaffee einzugießen, nickte Mom.

»Dann kann sie genauso gut jetzt gleich mit zu mir kommen«, sagte Grandma.

Ich saß auf Wavys Bett, als Grandma ihren Koffer packte. Es gab nicht viel einzupacken. Ein Dutzend Kleider hatte das große Auftrennen überlebt. Ein paar Socken und etwas Unterwäsche. Die Haarbürste, mit der ich manchmal ihr seidiges, feines Haar bürsten durfte. Als Letztes wanderte Wollmaus, die Babypuppe, in den Koffer. Grandma packte sie ein, Wavy packte sie aus. Mom packte sie ein. Wavy packte sie aus. Es war das einzige Spielzeug, das sie besaß. »Nichts gehört dir«, hatte Wavy mir mal erklärt, als Leslie und ich wegen einer Lieblingsbarbie stritten, die später auf mysteriöse Weise verschwand.

Wavy nahm Wollmaus aus dem Koffer und gab sie mir. Ein Geschenk? Dann war es Zeit für den Aufbruch. Grandma drückte uns alle und Wavy wartete neben der Tür. Mom wollte auch sie in den Arm nehmen, aber sie schlüpfte weg und an meiner Mutter vorbei, um mich zu umarmen. Mit genug Abstand, sodass unsere Körper sich nicht berührten, legte sie ihre Hände auf meine Schultern und roch an meinem Haar. Dann ließ sie mich los und rannte zur Vordertür hinaus.

»Da siehst du, wie sie ist«, sagte Mom.

»Sie ist eigenwillig. Das warst du auch.« Grandma lächelte und hob Wavys Tasche auf.

Nach Thanksgiving fand ich das echte Geschenk, das Wavy mir in dem Schrank unter der Treppe hinterlassen hatte. Als Mom die Kisten mit der Weihnachtsdekoration herausgezogen hatte, kroch ich hinein, um Lametta und eine zerbrochene Christbaumkugel zusammenzufegen. Ganz hinten lag das gestohlene Buch: Salome.

2

Grandma

Oktober 1975

Irv und ich haben eine Tochter großgezogen, die gut geraten ist. Brenda hat einen netten Mann geheiratet und hübsche Kinder bekommen, führt einen ordentlichen Haushalt und arbeitet hart. Was bei Valerie, unserer Jüngeren, schiefgegangen ist, weiß ich nicht.

Heutzutage würde man bei ihr vermutlich irgendwas diagnostizieren, aber damals lebten wir einfach mit ihrem Benehmen. Zum Beispiel mit ihrem Keimproblem. Eine Zeit lang wusch sie ihre Hände an die hundert Mal am Tag, bis die Haut rissig war und blutete. Ich besorgte ihr Handschuhe, damit sie sich sauberer fühlte. Zwei Dutzend Paar weiße Handschuhe, die ich jeden Tag wusch und bügelte.

In der Unterstufe der High School wurde sie schwanger und brannte mit Liam Quinn durch. Wir mochten ihn nicht, aber wir haben auch nie versucht, sie von ihm fernzuhalten. Er bedeutete Ärger und ich fand, dass er Valerie nicht gut behandelte. Er war die Sorte Junge, die glaubt, der Mittelpunkt des Universums zu sein.

Später erfuhr ich, dass dieser selbstsüchtige Junge noch weitaus mehr war. Durch ihn kam sie mit Dingen in Kontakt, die sie schließlich ins Gefängnis brachten. Diese ganze Misere bekümmerte mich zutiefst. Ich hoffte, dass Brenda es mir nicht übel nahm, wenn sie erfuhr, wie viel von Irvs Erbe ich für Valeries Anwälte ausgab. Es hätte das College-Geld für Amy und Leslie sein sollen, aber am Ende blieb dafür nichts mehr übrig.

Am Tag, an dem Wavonna mit zu mir kam, sprach sie kein Wort. Tatsächlich sprach sie wochenlang nicht. Mit einer Person in einem Raum zu sein, die nicht redet, ist anstrengender, als man meinen würde. Es machte aus mir ein richtiges Plappermaul. Ich kommentierte alles, was ich tat. Wie damals bei Irv, als es auf das Ende zuging.

Am ersten Abend rührte Wavonna ihr Essen nicht an. Wie das Frühstück am Morgen darauf. Zur Mittagszeit des nächsten Tages schwante mir, warum Brenda so fertig aussah. Drei Tage lang sorgte ich mich, ehe ich auf die Idee kam, die Vorräte im Kühl- und Vorratsschrank zu zählen, um herauszufinden, wie viel sie aß. Zur Schlafenszeit hatten wir sechs Scheiben Käse in Zellophan, neun Aprikosen im Gemüsefach, 13 Cracker in der offenen Tüte. Am Morgen waren nur noch fünf Scheiben Käse, sieben Aprikosen und zehn Cracker da. Was fehlte, war kaum genug, um eine Maus zu ernähren, aber ihr reichte es offenbar.

Am zweiten Tag verteilte ich ein paar neue Spielsachen auf dem Couchtisch im Wohnzimmer. Als Irv noch lebte, war der Raum mit seiner altmodischen Kiefernvertäfelung und dem abgetretenen Teppich immer unser Familienzimmer gewesen, also war es voller glücklicher Erinnerungen. An diesem Tag saß ich vor dem Fernseher und nähte einen Quilt für einen Wohltätigkeitsbasar der Kirche. Wavonna saß auf dem Sofa und starrte die Wand oder den Fernseher oder gar nichts an. Das Mädchen hatte denselben abwesenden Blick wie Irv, nachdem er aus dem Krieg zurückgekommen war. Irgendwann stand sie auf und ich dachte: Endlich, sie langweilt sich. Jetzt wird sie etwas machen. Sie wird mit den Sachen spielen.

Stattdessen ging sie ins Bad. Ich hörte die Toilettenspülung und laufendes Wasser. Dann kam sie zurück auf die Couch. Die Barbie, der Plüschelefant und die Holzklötze blieben in ihren Verpackungen und verschwanden irgendwann.

Nach zwei Wochen tat ich das, was ich gleich hätte tun sollen. Ich kaufte ein paar Lernkarten – Buchstaben, Farben, Formen, Zahlen –, wie man sie in der Vorschule benutzt. Am nächsten Morgen machte ich ihr eine schöne Schüssel Haferbrei und verschwand für gute 15 Minuten aus der Küche, während ich meine Freundinnen vom Bridge-Klub anrief, um ihnen zu sagen, dass ich am Nachmittag nicht kommen würde. Als ich zurückkam, war da tatsächlich weniger Haferbrei. Ich räumte den Tisch ab und holte die Alphabetkarten hervor.

»A wie Apfel.« Ich wusste, dass sie nicht wiederholen würde, was ich sagte, aber zumindest würde sie die Buchstaben sehen und hören.

Auf diese Art las ich das ganze Deck vor. Als ich fertig war, ging Wavonna zur Anrichte und nahm den Einkaufszettelblock, ein albernes Ding, das Irv mal gemacht hatte, in das man eine kleine Rolle Papier einhängen konnte und das ein Loch für einen Stift hatte. Wavonna rollte ein wenig Papier ab und schrieb darauf das Alphabet. In dem Moment hätte mich ein Windhauch umwerfen können.

Ich deutete mit dem Finger auf das A. »Weißt du, wie man das ausspricht?«

Wavonna betrachtete meinen Finger nachdenklich und sagte: »A.«

»Was ist mit diesem?«

»B.«

»Und dieser?«

Sie seufzte und sagte: »Abcdefghijklmnopqrstuvwxyz.« Dumme Grandma.

Am nächsten Montag meldete ich sie in der Schule an.

Nachdem ich sie zum ersten Mal dorthin gefahren hatte, machte ich ein zweistündiges Nickerchen. Am zweiten Tag gönnte ich mir eine überfällige Schönheitskur. Alte Frauen müssen ab und zu ein wenig aufgehübscht werden, und meine Haare sahen langsam ungepflegt aus. Was ich am dritten Tag gemacht habe, weiß ich nicht mehr, aber am vierten Tag ging ich zum Bridge. Ich trank einen Martini und hatte eine wunderbar wilde Zeit mit meinen Freundinnen. Sie wollten, dass ich ihnen alles über Wavonna erzählte, und ich mimte die stolze Großmutter. Oh, sie hat so herrlich feines blondes Haar. Sie kann schon das Alphabet. Nichts davon verriet etwas über sie.

Leslie hielt ich kurz nach ihrer Geburt im Arm. Amy genauso. Sie waren meine Enkelinnen, meine Babys. Ich zeigte ihre Fotos herum und gab mit jedem kleinen Erfolg an.

Wavonna sah ich zum ersten Mal, als Brenda das Sorgerecht bekam. Ich weiß, die Schwierigen sollte man noch mehr lieben, aber was ich vor allem empfand, war Mitleid. Ihr dünnes Haar und die dürren Schultern wirkten so traurig. Und dann dieser leere Blick. Aber nach dem Bridge-Nachmittag glaubte ich, dass ich es schaffen konnte. Ich würde lernen, Wavonna so zu lieben, wie ich Leslie und Amy liebte. Sie würde lernen, mich zu lieben.

Als ich am Schulgebäude ankam, war Wavonna nirgends zu sehen. Ich wartete ein paar Minuten und ging dann ins Sekretariat, wo ich auf den Schuldirektor und Mrs. Berry traf, Wavonnas Lehrerin. Ihr hatte ich das Mädchen am ersten Tag im Sekretariat übergeben. Sie war eine freundliche Frau, die viel lächelte. Aber an diesem Tag war sie ein hysterisch schluchzendes Wrack.

Wavonna war aus der Schule weggelaufen.

Ich weiß noch, wie ich weinte, doch deutlicher ist die Erinnerung an das, was ich dachte: So hat es bei Valerie auch angefangen. Nur hatte Valerie erst in der High School begonnen, die Schule zu schwänzen. Ich fühlte mich wie eine Versagerin.

Um 20 Uhr ging ich nach Hause, um auf den Anruf der Polizei zu warten. Das Telefon lag auf meinem Schoß, während ich meine Füße badete. Wer weiß wie lange war ich unzählige Blocks abgelaufen und hatte überall um die Schule herum an die Haustüren geklopft. Ich musste Brenda anrufen, aber ich ertrug den Gedanken nicht, ihr zu sagen: Du hattest recht, ich komme nicht mit ihr klar.

Als es an der Tür klingelte, wusste ich nicht, was ich empfinden sollte. Hoffnung. Panik. Mit nassen Füßen ging ich zur Tür. Wavonna stand allein auf der Veranda, zitternd. Als sie im Haus war, schloss ich die Tür ab. Als könnte sie das an der Flucht hindern.

»Du hast mir solche Angst eingejagt! Was, wenn dir etwas passiert wäre?« Schreien war nicht der beste Weg, mit ihr zu kommunizieren, aber ich konnte nicht anders. »Mach das nie, nie wieder! Verstehst du mich?«

Sie nickte, aber ich kannte dieses Nicken von Valerie. Es bedeutete: »Ich verstehe dich, aber das heißt nicht, dass ich tun werde, was du sagst.«

Nachdem ich die Polizei informiert hatte, dass Wavonna wieder zu Hause war, kochte ich ihr eine Suppe und zählte einen Stapel Cracker ab. Während ich im Badezimmer weinte, aß sie ein paar Löffel und zwei Cracker. Ich konnte nicht so weitermachen, aber ich konnte sie auch nicht zu einer Pflegefamilie schicken. Wer sonst würde den Stand der Suppe in ihrem Teller so sorgfältig überwachen, wie ich es tat? Würde eine Fremde die Cracker abzählen, um sicherzugehen, dass meine Enkelin aß?

Ich räumte den Tisch ab und brühte koffeinfreien Kaffee auf. Als ich mich ausreichend beruhigt hatte, sagte ich: »Wavonna, kommst du bitte in die Küche und sprichst mit Grandma?«

Sie setzte sich nicht, aber sie wartete im Stehen, bis ich anfing.

»Wenn du aus der Schule wegläufst, dann nehmen sie dich mir weg und zwingen dich, bei Fremden zu wohnen. Ich will nicht, dass das passiert. Ich will, dass du hier bei deiner Grandma bleibst.«

Sie reagierte nicht, aber davon war ich ausgegangen. Selbst wenn auf meinem Kopf ein Pudel und ein Affe Tango getanzt hätten, hätte sie nicht reagiert.

»Erzählst du mir, was in der Schule passiert ist? Warum bist du weggelaufen? Wenn du es mir sagst, dann versuche ich, dafür zu sorgen, dass es nicht wieder passiert.«

Es war wie mit dem Alphabet. Sie musste sich erst sammeln. Nach einer Weile sagte sie: »Die laute Lady hat mich angefasst.«

Mein Magen wollte den Kaffee, den ich getrunken hatte, wieder von sich geben. Diese freundliche Frau? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie einem Kind so etwas antat. Ich dachte sofort an einen Übergriff.

»Sie hat dich angefasst?«

Sie hob die Arme in meine Richtung, die Hände zu bedrohlichen Klauen geformt, und schlang sie dann fest um ihre Brust.

»Hat sie dich umarmt?«

Ein Nicken.

»Und das wolltest du nicht?«

Mit ernster Miene schüttelte sie den Kopf. Jetzt kam meine Übelkeit von der Erleichterung und dem Gedanken, wie bedrohlich die Welt auf Wavonna wirken musste. Mich umarmte sie nie und wenn ich sie berühren wollte, tauchte sie unter meiner Hand weg.

Am nächsten Tag gingen wir in die Schule und ich tat, was ich am ersten Tag hätte tun sollen. Ich ging mit ihr bis zum Klassenzimmer und wollte Mrs. Berry alles erklären.

Dieser Plan löste sich in Luft auf, als ich am Klassenzimmer ankam.

In der Mitte des Raums saßen drei Kinder in Rollstühlen. Ich will nicht grausam sein, aber sie waren sabberndes Gemüse. In einer Ecke tollte ein Kind auf blauen Turnmatten herum. Da konnte die Schule ihre Wände in noch so fröhlichem Gelb streichen und alle hübschen Mobiles der Welt aufhängen, sie war und blieb ein grauenhafter Ort. Ich konnte mir Wavonna hier keine fünf Minuten lang vorstellen, ganz zu schweigen von den vier Tagen, an denen ich sie hiergelassen hatte.

Mrs. Berry eilte mit einem breiten Lächeln auf mich zu und rief: »Oh, Mrs. Morrison, was für eine Erleichterung! Wavonna, Liebes, wir haben uns solche Sorgen gemacht.«

An diesem Tag verdiente ich mir Wavonnas Vertrauen. Mrs. Berry schoss auf uns zu, eindeutig mit der Absicht, uns eine feste, erstickende Umarmung aufzuzwingen. Ich stellte mich breit hin und streckte den Arm aus, um sie zu stoppen.

»Mrs. Berry, wir müssen über einen Klassenwechsel sprechen.« Sie wirkte verletzt, als wir einen Schritt von ihr zurückwichen. Ich hatte kein Problem mit der Frau, aber ich bin zu alt, um lange um den heißen Brei herumzureden.

Als ich mit der Schulberaterin zusammensaß, entschied ich mich für dasselbe Vorgehen. Ich sah sie direkt an und sagte: »Meine Enkelin ist nicht zurückgeblieben.«

»Mrs. Morrison, solche Ausdrücke benutzen wir nicht mehr. Unsere Sorge ist, dass ihre Sprachprobleme eine verzögerte Entwicklung anzeigen.«

»Ich will niemandem zu nahe treten, aber sie ist nicht dumm. Schauen Sie. Wavonna.«

Sie sah mich nicht an, aber ich wusste, dass sie zuhörte.

»Geben Sie mir einen Zettel und einen Stift.«

Die Beraterin schob ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber über den Schreibtisch. Ich schob Wavonnas Stuhl näher an den Tisch und sagte: »Los, zeig es ihr. Sonst musst du in der Klasse mit der lauten Lady bleiben.«

Sobald ich die Sonderschullehrerin erwähnte, nahm Wavonna den Stift und schrieb. Zuerst schrieb sie ihren Namen, sehr hübsch und ordentlich. Darunter schrieb sie das Alphabet: ›Aa Bb Cc‹ und so weiter. Darunter schrieb sie Zahlen. Dann tat sie etwas, von dem nicht mal ich wusste, dass sie es konnte. Sie drehte das Blatt um und schrieb ›Kassiopeia‹. Daneben malte sie fünf Punkte und verband sie. Dann noch sieben Punkte, die sie mit ›Kepheus‹ beschriftete. So füllte sie das ganze Blatt. Ich erkannte davon nur den Großen und den Kleinen Wagen.

Der Kiefer der Beraterin fiel runter und ich musste kichern. Ich lachte dieser armen Frau mitten ins Gesicht. Lachte, bis mir die Tränen kamen. Vor Wavonna war es mir ziemlich gut gegangen. Mein Krebs war in Remission und ich hatte ein nettes Altersdomizil angepeilt, ehe sie bei mir einzog. Nach allem, was ich im letzten Monat durchgemacht hatte, konnte ich einen guten Lacher gebrauchen.

Sie versetzten meine Enkelin in eine normale Klasse und ich warnte sie vor: »Geben Sie ihr keine übernette Lehrerin.« Ich schrieb es ihnen auf. Niemand durfte sie berühren. Sie sollten nicht erwarten, dass sie etwas sagte, aber sie sollten auch nicht annehmen, dass sie nicht zuhörte und nicht lernte. Ich stellte keine Forderungen und ich bat auch nicht um Entschuldigung.

Danach liefen die Dinge zwar nicht perfekt, aber es wurde besser.

Sie lebte fast zwei Jahre bei mir und fasste mich in der ganzen Zeit zweimal an. An Irvs und meinem 40. Hochzeitstag trank ich ein bisschen Wein und wurde rührselig. Wavonna berührte meine Hand, meinen Ehering. Um mich zu trösten, glaube ich. Das zweite Mal war kurz vor Valeries vorzeitiger Entlassung, als ich einen Anwalt anheuerte, um ihr zu helfen, das Sorgerecht für Wavonna und das Baby zu kriegen, das sie während ihrer Haft bekommen hatte.

Wir fuhren runter nach Tulsa, um Leslies Geburtstag zu feiern, und hatten eine schöne Zeit: Wir sangen, setzten uns alberne Hüte auf und jubelten, als Leslie die Geschenke auspackte. Nach dem ganzen Hurra spielten die drei Mädchen im Wohnzimmer, während Brenda und ich aufräumten.

Ich konnte es nicht länger aufschieben, also setzte ich mich an den Küchentisch und sagte: »Ich habe mich mit Valeries Anwalt über dieses Wiedereingliederungsprogramm unterhalten, bei dem sie mitmachen kann.«

»Ich wusste gar nicht, dass sie noch einen Anwalt hat. Bezahlst du den etwa?«

Ich antwortete nicht, denn im Grunde wünschte ich mir, dass sie das nichts anging. Aber vermutlich tat es das doch.

»Okay. Also, Vals Anwalt sagt, sie kann bei irgendeinem Programm mitmachen?« Brenda schnitt ein zweites Stück vom Geburtstagskuchen ab. Sie hatte seit Jahren Probleme mit ihrem Gewicht, weil sie aß, wenn sie unglücklich war.

»Es ist für Frauen mit Kindern. Damit sie wieder auf eigenen Füßen stehen und sich um Donal und Wavonna kümmern kann.« Mir war klar, dass es Ärger geben würde, und so war es auch.

»Im Ernst, Mom? Glaubst du wirklich, dass Val sich um sie kümmern kann? Du hast Vonnie doch erlebt. Sie ist ein gutes Beispiel für Vals Fähigkeiten als Mutter. Eine Tochter, die nicht spricht, nicht isst und nachts aus dem Haus schleicht.«

»Es wird besser.«

»Ich weiß. Du machst das toll mit ihr. Ich …« Brenda legte eine Hand auf meinen Arm und ich spürte, dass es ihr wirklich leidtat, die Fassung verloren zu haben.

»Ich will, dass Wavonna bei ihrer Mutter ist.« Ich wollte das wollen. Ich wollte, dass die Dinge einfach waren, aber das waren sie nie.

»Glaubst du wirklich, das ist das Beste für sie?«

»Val ist in Behandlung. Und durch dieses Programm bekommt sie eine Wohnung, wo es auch einen Berater gibt. Sie kümmern sich darum, dass sie ihre Medikamente nimmt, und helfen ihr mit den Kindern.«

»Okay. Und was musst du jetzt machen? Papierkram?«

»Ich bitte dich, zu ihrer Bewährungsanhörung und der Sorgerechtsverhandlung zu gehen. Du musst das tun, Brenda.«

»Warum?«

»Metastasen.« Wavonna hatte sich so leise angeschlichen, dass keine von uns sie bemerkt hatte, ehe sie sprach.

»Was soll das heißen?«, fragte Brenda. »Mom?«

»Sie muss gehört haben, wie ich mit dem Arzt telefoniert habe. Der Krebs ist zurück. In meiner Lunge und meiner Leber. Sie sagen, drei Monate, vielleicht weniger.«

Jetzt, wo wir über die ernsten Themen sprachen, hörten Leslie und Amy auf, mit ihren Barbies zu spielen, und stellten sich neben Wavonna in die Tür. Ich hoffte, Brenda würde stark sein, aber sie begann zu zittern und zu weinen. Amy und Leslie weinten auch. Alle weinten, außer Wavonna. Sie kam durch die Küche und streckte die Hände nach mir aus. Einen Moment lang legte sie ihre Hand auf meine Brust und berührte den falschen Schaumstoffbusen in meinem BH.

Von da an liebte ich sie. Als ich mich bereit machte, sie zu verlassen.

3

Wavy

Juni 1977

Tante Brenda wollte nicht, dass ich bei Grandma blieb, als es zu Ende ging.

»Bill soll sie mit nach Tulsa nehmen. Meine Freundin Sheila ist bei uns und kümmert sich um die Mädchen, solange ich hier bin«, sagte Tante Brenda.

»Sie geht früh genug mit euch mit. Lass sie bei mir bleiben«, lehnte Grandma ab. Sie streckte die Hand aus und ich ging zu ihr, traute mich aber nicht, sie zu berühren, solange Tante Brenda es sehen konnte.

»Ich liebe dich, mein Schatz. Ich liebe dich. Sehr bald gehe ich zu deinem Grandpa Irv, aber so Gott will, sehen wir uns wieder, Wavonna. Nicht sehr bald, aber eines Tages«, sagte sie.

Dann schlief Grandma, und Tante Brenda ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Sie setzte sich an den Tisch, legte den Kopf auf die Arme und weinte. Eigentlich sollte in dem Moment die große Uhr dreimal schlagen, aber niemand hatte daran gedacht, sie aufzuziehen. Tante Brenda war eingeschlafen.

»Ich will keine Angst haben. Es kommt mir so albern vor, dass ich mich fürchte, aber ich fühle mich, als müsste ich in eine fremde Gegend fahren und weiß den Weg nicht«, sagte Grandma, als sie aufwachte. Wir waren allein, also hielt ich ihre Hand.

Ich dachte an Mr. Arsenikos, unseren alten Nachbarn, da, wo wir lebten, bevor Mama verhaftet wurde. Wenn Mama und Onkel Sean sich stritten, durfte ich mich auf der hinteren Veranda von Mr. Arsenikos verstecken. Er nannte mich »seinen Streuner« und gab mir Schinkensandwiches. Manchmal war es nur der Fettrand auf weichem Weißbrot, aber manchmal waren auch echte Schinkenscheiben drauf. Nachdem ich gegessen hatte, setzte er sich immer auf die Verandaschaukel und erklärte mir die Namen der Sterne. Er benutzte seinen Gehstock, um sie in den Staub zu malen, damit ich sie lernen konnte. Er war Seemann auf einem Schiff namens USS San Diego gewesen, wie die Stadt in Kalifornien. Sein Schiff sank im Ersten Weltkrieg und er wusste, wohin er mit dem Rettungsboot rudern musste, weil er die Sterne kannte.

Ich malte mit dem Finger den Kleinen Wagen auf die Chenille-Decke über Grandmas Bauch, die Deichsel nach unten gerichtet.

»Der Kleine Wagen steht heute Nacht im Norden. Der Kleine Bär«, sagte ich, denn so nannte ihn Grandma. Ich malte ihn in ihre Handfläche, damit sie ihn sich merken konnte. Sie nickte. Als die Sonne aufging, schlief sie wieder und wachte nicht mehr auf.

Mr. Arsenikos sagte, wenn man die Sternbilder kenne, könne man sich nicht verirren. Dann finde man immer wieder nach Hause.

Das einzig Echte bei Grandmas Beerdigung war Grandma in ihrer teuer aussehenden Kiste. Alles andere war gespielt. Tante Brenda tat so, als wäre sie nicht sauer auf Mama.

»O Val, es freut mich so, dich zu sehen«, sagte sie.

Onkel Bill tat auch nur so. Bevor Mama ankam, sagte er: »Lass es uns einfach hinter uns bringen und dann mit unserem Leben weitermachen.« Aber später umarmte er Mama und sagte: »Du siehst toll aus, Val. Du musst uns unbedingt häufiger besuchen.«

»Ich will, dass wir Weihnachten zusammen feiern. Wir können uns doch nicht nur bei Beerdigungen treffen«, sagte Tante Brenda.

»Finde ich auch! Wir müssen in Kontakt bleiben. Unglaublich, dass wir uns so lange nicht gesehen haben. Ich hab euch so vermisst«, sagte Mama.

Dann zeigte sie mir das neue Baby.

»Das ist dein kleiner Bruder, Vonnie. Er heißt Donal. Gib ihm einen Kuss.«

Ich verstand nicht, warum Mama wollte, dass ich ihn küsse, wo sie doch immer sagte, dass der Mund schmutzig ist. Für den Fall, dass das ein Trick war, tat ich nur so, als würde ich ihn küssen.

Nach der Beerdigung kamen Mama und Donal und ich in das Wiedereingliederungsprogramm.

»Dieses Mal wird alles anders«, sagte sie.

In den ersten zwei Wochen war es auch anders. Sie war die Gute Mama und hielt sich an die Regeln. Sie wusch unsere Sachen und räumte sie in die Kommoden in unserer neuen Wohnung. Sie kochte Abendessen. Sie verkroch sich nicht in ihrem Schlafzimmer, um die Pfeife zu rauchen, wie sie es getan hatte, bevor sie verhaftet wurde.

Aber eines Tages wachte sie auf und war die Unheimliche Mama statt der Guten Mama. Und da wusste ich, dass es nicht anders werden würde. Man konnte nie wissen, welche Mama sie war, wenn sie aufwachte.

Ich las die Bücher, die sie von dem Programm bekam. Sie sollte DIE VERBINDUNG MIT DER FAMILIE WIEDERHERSTELLEN! Das hieß, wir sollten ALS FAMILIE ZU ABEND ESSEN. Aber jeden Abend setzte sich die Unheimliche Mama, nachdem sie Essen gekocht hatte, auf die hintere Veranda, rauchte Zigaretten und schrie mich durch die Fliegengittertür an, ich solle gefälligst essen. Ich fiel nicht darauf rein. Mir war klar, was passieren würde, wenn sie mich beim Essen erwischte.

Selbst die Gute Mama konnte plötzlich sagen: »Iss das nicht! Das ist schmutzig!«, und steckte dann ihre Finger in meinen Mund, um das Essen herauszuholen. Selbst die Gute Mama goss manchmal brennende Mundspülung auf meine Zunge, um sie sauber zu machen. Sie sagte immer: »So können sie in dich eindringen.« Schlimme Dinge konnten durch den Mund in den Körper gelangen und einen krank machen. Genauso wie meine Keime auf Gegenstände gelangen und sie schmutzig machen konnten.

Als die Sozialarbeiterin Megan kam, um nach uns zu sehen, lächelte Mama so angestrengt, dass sich mir der Magen zusammenzog. Das war nicht die Gute Mama.

»Na, was gibt’s denn heute zum Abendessen?«, fragte Megan.

»Oh, es gibt Spaghetti.« Das kochte Mama immer. Ich hatte Grandmas Kochbuch geerbt, aber sie erlaubte mir nicht zu kochen. Sie wollte nicht, dass ich Dreck machte.

»Und wie läuft es sonst so?«, erkundigte sich Megan. »Sie haben diese Woche eine unserer Gruppensitzungen verpasst.«

»Oh, alles ist toll. Ich hatte nur ein wenig Kopfschmerzen, das ist alles. Danke, dass Sie nach uns sehen.« Mama lächelte und lächelte, aber sobald Megan weg war, sagte sie: »Verfickte Wichtigtuerin! Das alles hier ist wie in einer Sitcom, in der immer der nervige Nachbar vorbeikommt. Außer dass man seinen Nachbarn umbringen würde, wenn er so reinschneien würde, wie sie das im Fernsehen immer machen. Man würde sie umbringen! Scheiße, ich will nicht mehr in dieser bescheuerten Fernsehsendung sein!«

Während Mama schimpfte, holte Donal ihre Haarbürste aus ihrer Handtasche und steckte sie sich in den Mund. Mama sah es, bevor ich sie ihm wegnehmen konnte.

Als ich noch klein gewesen war, hatte ich mal ihre Pfeife in den Mund genommen, einfach um zu sehen, wie das war, weil sie sie doch so gerne mochte. Auskochen und Bleichen konnten die meisten Dinge wieder sauber kriegen, aber nicht die Pfeife. Nachdem ich sie im Mund gehabt hatte, war sie so schmutzig, dass man sie nur noch wegwerfen konnte.

Mama nahm mir die Haarbürste aus der Hand und trug sie in die Küche. Sie würde mit Mundwasser oder Bleiche zurückkommen, also hob ich Donal hoch und brachte ihn ins Schlafzimmer. Die Unheimliche Mama zerrte mich aus meinem Versteck im Schrank und schlug mich mit der Haarbürste, bis auf meinen Beinen blutige Striemen waren, aber immerhin hielt sie das davon ab, Donal Mundwasser zu geben.

Anschließend kümmerte ich mich um meinen kleinen Bruder. Ich fütterte und badete ihn, denn die Unheimliche Mama machte das Badewasser immer so heiß, dass man Blasen bekam.

Im Buch des Programms stand auch NEHMEN SIE REGELMÄSSIG IHRE MEDIKAMENTE, aber das machte Mama nicht.

»Wie zum Teufel soll ich die ganzen Pillen auseinanderhalten?«, fragte sie, aber wenn ich lesen wollte, was auf den Flaschen stand, schlug sie mich. Dann hörte sie auf, die Pillen zu nehmen, und kaufte wieder Whiskey und war die ganze Zeit die Unheimliche Mama. Eines Abends, als der Whiskey leer war und Donal und ich schlafen sollten, hörte ich Mamas Schlüssel klappern. Die Wohnungstür öffnete und schloss sich.

Ich hatte keine Angst davor, allein zu sein, aber Donal war noch zu klein, um auf sich selbst aufzupassen. Er stand in seinem Bettchen und weinte. Wir hatten beide Hunger, weil Mama das Abendessen in den Müll geworfen hatte. Sie hatte gesagt, die Spaghetti seien schmutzig und die Milch sauer. Auch die Gute Mama schmiss manchmal Essen weg, aber die Unheimliche Mama machte es, um gemein zu sein.

Die Spaghetti klebten zusammen und waren in der Mitte noch warm. Es war sicherer, sie aus dem Mülleimer zu essen, damit Mama nichts merkte. Als ich satt war, nahm ich den Milchkanister aus dem Müll und füllte ein Fläschchen. Donal trank es ganz aus und als es leer war, machte ich es sauber und stellte es weg.

Ich wusste nicht, was schmutziger war: mein Mund oder das, was ich in den Mund steckte.

Glückliche Mama

Dann brachte Liam uns zu dem Farmhaus am Feld.

»Butch und ich müssen ein paar Geschäfte erledigen«, sagte er.

»Mit dem Motorrad rumfahren und mich betrügen, solche Geschäfte? Ich hasse dich. Und ich hasse diese verdammte Müllkippe«, sagte Mama. Sie hasste die verzogenen Böden, die Rostflecken in der Badewanne und dass die Fenster klapperten, wenn es windig war.

»Baby, sei doch nicht so.« Liams Stimme war ganz ruhig, und das hieß, dass etwas Schlimmes passieren würde.

»Glaubst du etwa, dass ich hier auf dich warte? Dann denk noch mal scharf nach, denn …«

Mama wirkte überrascht, als Liam ihr ins Gesicht schlug, obwohl das doch dauernd passierte. Sie weinte und er zog sie an sich, eine Hand in ihrem Nacken, und flüsterte beruhigend.

Dann ging er, und Mama zog ihr hübsches Kleid aus und legte sich für den Rest des Tages ins Bett. Die Traurige Mama kümmerte sich nicht darum, wenn Donal weinte. Und er weinte viel.

»Ich bin so einsam«, sagte sie.

Donal und ich zählten nicht.