Aus dem Englischen von Christian Jentzsch

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Hunted (Trackers #2)

erschien 2017 im Verlag CreateSpace Independent Publishing.

Copyright © 2017 by Nicholas Sansbury Smith

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Lektorat: Katrin Holle

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-744-8

www.Festa-Verlag.de

Für meinen Vater, unermüdlich in seinem Streben nach einer besseren Welt und seinem Kampf für sie.

Die Menschheit hat das Netz des Lebens nicht gesponnen. Wir sind nur ein Faden darin. Was wir dem Netz antun, das tun wir uns selbst an. Alle Dinge sind miteinander verbunden. Alles ist vernetzt.

Chief Seattle, 1854

PROLOG

Dr. Martha Kohler taumelte irgendwo südlich im Rocky-Mountain-Nationalpark in einem aus Müllsäcken selbst gebastelten Strahlenschutzanzug den Highway 7 entlang. Eine Skibrille und ein Halstuch schützten ihr Gesicht, doch ihr war nur allzu bewusst, dass dies nicht reichen würde, um sie vor der Strahlung zu schützen, die vom Himmel nieselte.

Vor drei Nächten hatte die atomare Explosion die umliegenden Wälder in Brand gesetzt und sie selbst beinahe erblinden lassen. Überall boten sich Bilder einer Apokalypse. Im Nordosten schwankten geschwärzte Nadelbäume im Wind und verbreiteten den Geruch von verbrannten Piniennadeln. Im Südwesten stand ein Wald in Flammen, die aufsteigende schwarze Rauchwolke verhüllte die Sonne.

Als ihr Wagen auf der Straße den Geist aufgegeben hatte, war sie aufgeschmissen. Die Soldaten der Nationalgarde hatten ihr geraten, an Ort und Stelle zu bleiben und auf Hilfe zu warten. Nach zwei Tagen hatte sie beschlossen, etwas zu unternehmen. Warten war gleichbedeutend damit zu sterben. Die Flucht gab ihr zumindest eine Chance, Hilfe zu erreichen, bevor es zu spät war.

Martha hatte Herzrhythmusstörungen, seit sie ihren Wagen verlassen hatte. Als Ärztin wusste sie, was radioaktive Strahlung mit dem menschlichen Körper anstellte. Sie hatte getan, was sie konnte, um das radioaktive Material von ihrer Haut fernzuhalten, aber es ließ sich nicht vermeiden, es einzuatmen. Ein fadenscheiniges Baumwollhalstuch war kein Ersatz für einen ABC-Schutzanzug.

Das tiefe Rasseln eines Hustens begann in ihrer Kehle. Das Geräusch schien durch die stille, nachmittägliche Landschaft zu hallen. Sie sehnte sich nach einem Schluck Wasser und leckte sich die aufgesprungenen Lippen. Ein Bach schlängelte sich auf der linken Seite die Straße entlang, doch das Wasser zu trinken käme einem Todesurteil gleich.

Sie schleppte sich dahin auf der Suche nach Nahrung oder Menschen, die ihr helfen konnten. Seit drei Stunden hatte sie niemanden mehr zu Gesicht bekommen. Zuvor war ein Mann vor ihr geflohen und hatte dabei irgendwelchen Unsinn über eine Invasion von Aliens gebrüllt. Delirium war ein weiteres Anzeichen für die Strahlenkrankheit. Bis jetzt schien Marthas Verstand noch in Ordnung zu sein – doch wenn er es nicht war, würde sie das überhaupt registrieren?

In den letzten Tagen hatte sie reichlich Tote auf der Straße gesehen. Einem weiteren Opfer näherte sie sich jetzt, einem älteren Mann, der auf dem Rücken lag und die Hände verdreht hatte wie eine Gottesanbeterin. Neben ihm lag ein zweiter Leichnam, bei dem die Leichenstarre bereits eingesetzt hatte. Die grauhaarige Frau war ihm zugewandt und hatte sich wie ein Embryo zusammengekrümmt. Sie hatten sich zum Sterben nebeneinandergelegt.

Wenigstens waren sie zusammen, dachte Martha. Ihr Mann war schon vor zehn Jahren an Herzversagen gestorben. Reue und Bedauern stiegen in ihr auf. Diese Gefühle brachen immer gern aus ihr heraus, wenn es einen Schicksalsschlag zu verkraften gab, und meistens ging es dabei um Dinge, die sie in ihrer Ehe gesagt oder nicht gesagt und getan oder nicht getan hatte.

Sie seufzte und setzte ihren Weg fort, obwohl sie buchstäblich Sterne sah. Die Anstrengung des Marsches forderte ihren Tribut und sie hatte erst den halben Weg nach Denver geschafft. Die Soldaten hatten zu dieser Richtung geraten, um der Strahlung aus dem Weg zu gehen, aber die Leichen verrieten ihr, dass sie sich immer noch mitten in der Todeszone befand.

Sie erreichte einen Minivan und stützte sich dagegen, um sich kurz auszuruhen. Neben dem Heulen des Windes hörte sie ein leises Kratzgeräusch, als versuchte sich jemand zu räuspern. In dem Van bewegte sich etwas. Martha warf einen Blick durch das Rückfenster. Zwei kleine Gestalten saßen eng beieinander auf dem Rücksitz, halb unter einer Plane verborgen. Auf dem Fahrersitz war jemand über dem Lenkrad zusammengebrochen und den blassen, mit Blasen übersäten nackten Armen nach zu urteilen, waren die beiden Kinder vermutlich Waisen.

Bisher hatte sie sehr darauf geachtet, anderen Leuten auf der Straße aus dem Weg zu gehen. Falls jemand herausfand, dass sie Jodtabletten besaß, die sie in ihrer Arzttasche aufbewahrte, würde man sie ihr gewiss abnehmen und ihr dabei vielleicht sogar etwas antun. Aber diese Kinder würden niemandem etwas antun und sie konnte sie nicht einfach hier zurück- und sterben lassen.

Sie sah sich den weiteren Verlauf der Straße genauer an. Ein Stück weiter, direkt unter einer Brücke, bewegte sich etwas. In ihrem Schutz saßen mehrere Menschengruppen, doch die Bewegung stammte von loser Kleidung, die im Wind flatterte. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass in dieser Richtung noch etwas oder jemand am Leben war. Zufrieden mit dem Ergebnis öffnete sie die Tür des Vans. Die beiden Kinder schreckten vor ihr zurück. Ihre braunen Locken waren ein zerzauster Urwald.

»Tun Sie uns nichts«, schniefte der Junge.

Martha zog ihr Halstuch herunter und schob die Brille hoch, sodass die Kinder ihr Gesicht sehen konnten. Sie konnte nur vermuten, wie beängstigend sie in den Müllsäcken aussah, die den größten Teil ihres Körpers bedeckten. In den Augen eines Kindes sah sie wahrscheinlich wie ein Alien aus.

Sie bemühte sich um den gleichen ruhigen Tonfall, den sie als Kinderärztin ihren Patienten gegenüber anschlug. »Ich will euch nichts tun. Ich bin hier, um zu helfen.«

»Können Sie unserem Papa helfen?«, fragte das Mädchen.

»Euer Vater schläft«, log Martha. Sie löste einen Streifen Klebeband von ihrer Taille, griff in den entstandenen Spalt und zog das Fläschchen mit Jodtabletten aus der Tasche.

»Ich bin Doktor Martha Kohler und werde euch helfen, dass ihr euch wieder besser fühlt, okay?« Sie starrten sie nur an.

»Wie heißt ihr zwei?«, fragte Martha.

Das Mädchen fing an zu schluchzen, die Tränen liefen ihm über die gerötete Haut. Der Junge kratzte sich an einer wunden Stelle auf der Wange.

Martha schraubte den Deckel ab und schüttelte zwei Tabletten auf die Innenseite ihres Handschuhs. Ihre trockenen, aufgesprungenen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich möchte, dass ihr die nehmt. Okay? Danach fühlt ihr euch besser.«

»Papa hat gesagt, wir sollen keine Süßigkeiten von Fremden annehmen«, wandte der Junge ein. Er rieb sich die blutunterlaufenen Augen und blinzelte sie dann an, als würde er in die Sonne schauen.

»Ich bin Ärztin und das hier sind keine Süßigkeiten«, erwiderte Martha. »Haben euch eure Eltern denn nicht beigebracht, dass man darauf hören muss, was Ärzte sagen?«

Das Mädchen zog die Nase hoch und wischte mit dem Ärmel darüber, während der Junge zögernd nickte.

»Es ist okay, ich verspreche es«, fuhr Martha fort, indem sie ihnen die Tabletten hinhielt. »Die bewirken, dass ihr euch besser fühlt.«

»Haben Sie Wasser?«, fragte das Mädchen. »Ich hab solchen Durst.«

Martha schüttelte den Kopf. Es war offensichtlich, dass diese Kinder der Strahlung bereits eine gewisse Zeit ausgesetzt waren. Die Tabletten halfen, die Aufnahme von radioaktivem Jod über die Schilddrüse zu verhindern, aber sie konnten nicht rückgängig machen, was bereits geschehen – und aufgenommen worden – war. Sie brauchten Wasser und Schutz vor der Strahlung. Vielleicht konnte sie die Plane zerschneiden und sie darin einwickeln, auch wenn es keine ideale Lösung wäre.

Zuerst einmal musste sie die Kinder dazu bringen, ihr zu vertrauen. Sie lehnte sich in den Wagen und zauberte ein warmes Lächeln auf ihre Lippen.

»Wie wär’s mit einem Spiel?«, schlug sie vor. »Wollt ihr etwas spielen?«

Der Junge neigte den Kopf zur Seite und seine blauen Augen strahlten ein wenig heller.

»Würde ich gern«, gestand das Mädchen.

»Nein, Emma. Papa hat gesagt, wir sollen hierbleiben, bis Hilfe kommt.«

»Ich bin die Hilfe, die dein Vater gemeint hat. Also, ich weiß jetzt, dass du Emma heißt. Und wie heißt du?« Martha sah den Jungen fragend an.

»Micah«, antwortete er schüchtern. Sein Blick huschte zum Fahrersitz. »Papa schläft gar nicht, oder?«

»Ihr müsst diese Tabletten nehmen«, ging sie nicht darauf ein, »dann können wir etwas spielen.«

Junge und Mädchen streckten beide eine Hand aus und nahmen eine Tablette von ihrem Handschuh. Sie betrachteten die Tabletten skeptisch, steckten sie trotzdem in den Mund und schluckten sie unter Schwierigkeiten.

»Kann ich mal die Plane sehen?«, fragte Martha. »Ich muss euch beiden daraus einen Anzug so wie meinen machen, um eure Haut zu schützen.«

Micah zögerte, dann zog er die Plane weg. Ein widerlicher Gestank drang darunter hervor und bestätigte ihre Befürchtungen. Die Kinder waren bereits krank. Die ersten Symptome einer Strahlenvergiftung waren Erbrechen und Durchfall. Die zusätzliche Dehydrierung machte es nicht gerade besser. Sie musste diesen Kindern schleunigst sauberes Wasser und medizinische Hilfe beschaffen.

»Kommt her.« Sie streckte beide Hände nach ihnen aus.

Emma und Micah rutschten über die Rückbank und Martha half ihnen auf die Straße. Es dauerte ein paar Minuten, die Plane mit ihrem Multifunktionswerkzeug zurechtzuschneiden, aber als sie fertig war, hatte sie genügend Stücke, um die Kinder in provisorische Anzüge zu hüllen.

»Hebt die Arme«, befahl Martha.

Die Kinder gehorchten. Martha wickelte sie in die Plastikplane ein und klebte die losen Enden zusammen. Emma zitterte im Wind und bekam eine Gänsehaut auf den Armen.

»Seid ihr bereit?«, fragte Martha die Kinder.

Beide nickten. Sie nahm sie an die Hand und führte sie zu den nächsten abgestellten Autos.

»Wiedersehen, Papa«, verabschiedete sich Emma.

Micah blieb stumm, sah sich aber ein paarmal um, als sie sich von dem Minivan entfernten. Martha musste sanft an seiner Hand ziehen, damit er in Bewegung blieb.

»Das mit eurem Vater tut mir leid, aber er würde wollen, dass ihr euch in Sicherheit bringt.« Hinter ihr schniefte jemand. Sie wusste nicht, ob es Micah oder Emma war.

Wenn sie anfingen zu weinen, würden sie noch mehr dehydrieren. Wasser war jedoch nicht ihre einzige Sorge. Sie musste noch eine Möglichkeit finden, die Gesichter der Kinder zu bedecken. Ein Toyota Prius ein Stück weiter erregte ihre Aufmerksamkeit und sie ging mit den Kindern im Schlepptau zu ihm. Einige ihrer Freunde fuhren einen Prius und sie alle gehörten zu der Sorte, die allzeit bereit war.

»Bleibt hier«, sagte sie.

Micah und Emma blieben hinter dem Wagen stehen, während Martha ihn umrundete und sich davon überzeugte, dass niemand darin saß. Sie öffnete die Tür und durchsuchte den vorderen Teil und das Handschuhfach. Im Getränkehalter in der Tür steckte eine leere Flasche Brombeertee. Sie wechselte auf die Rückbank und zog eine Decke beiseite, unter der sich ein Paar Tennisschuhe und ein Sweatshirt verbargen. Auf dem Boden stand eine Sporttasche. Sie ging den Inhalt durch und fand eine beinahe volle Wasserflasche.

Einen Moment lang starrte sie die Wasserflasche nur an. Dann verzogen sich ihre Lippen seit Tagen zum ersten Mal wieder zu einem natürlichen Lächeln. Sie öffnete die hintere Seitentür, um ihren Fund den Kindern zu zeigen. Im Westen trieb Rauch über die Straße. Sie drückte die Flasche an die Brust. Der Waldbrand breitete sich aus, doch sie machte sich nicht der Flammen wegen Sorgen – es war der Rauch. Durch die schwarze Wolke, die sich ihnen langsam näherte, konnte sie nichts mehr sehen.

Emma und Micah griffen nach der Flasche.

»Trinkt nicht zu viel auf einmal«, mahnte Martha.

Emma stürzte das Wasser dennoch gierig herunter. Ein dünnes Rinnsal tropfte von ihrem Kinn.

»Nicht alles auf einmal«, wiederholte Martha.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Emma. Sie gab die Flasche an ihren Bruder weiter, der ein paar Schlucke trank und sie dann Martha gab. Sie setzte die Flasche an, trank langsam, leckte sich die Lippen und schraubte die Flasche zu. Dann verstaute sie sie unter ihrem Anzug und schob sie sich in den Hosenbund.

Martha nahm Emma und Micah wieder an die Hand und führte sie weiter durch die wechselnden Winde. Auf der anderen Seite der Brücke, der sie sich näherten, lagen noch mehr zusammengekrümmte Leichen. Es gab keine Möglichkeit, den Kindern ihren Anblick zu ersparen, doch nichts konnte schlimmer sein als mit anzusehen, wie der eigene Vater an Strahlenvergiftung starb.

Ein leises Pfeifen war unter dem Rauschen des Windes zu hören, das an- und abzuschwellen schien. Sie lauschte bewusst auf das Geräusch und hörte es einen Moment später wieder. Martha sah sich nach der Ursache um, doch alles war in Rauch gehüllt. Sie konzentrierte sich wieder auf die Fahrzeuge vor ihr. Vor der Brücke standen sogar noch zwei mitten auf der Straße – ein schwarzer Sportwagen und ein Kleinbus.

Auf halbem Weg dorthin hörte sie plötzlich das rostige Klappern eines Fahrzeugs und blieb wie angewurzelt stehen. Das Geräusch wurde lauter, ein Scheppern und Rattern, dann gesellte sich das Tuckern eines Motors hinzu. Sie drehte sich wieder zu der Rauchwolke um. Im Nordosten ragte eine Armee von Baumskeletten aus der hügeligen Landschaft wie Kerzen auf einer Geburtstagstorte. Die sich durch das Gelände schlängelnde, nicht asphaltierte Nebenstraße war frei und auf ihr war keine Spur von Bewegung auszumachen.

Hatte sie akustische Halluzinationen? War das der Anfang des Deliriums? Sie wandte sich an die Kinder und fragte: »Hört ihr auch dieses Geräusch?« Beide nickten. »Hört sich wie ein Auto an«, bestätigte Micah.

Martha drehte sich gerade in dem Augenblick um, als ein Pick-up die Rauchwand durchbrach. Mehrere Männer in grünen ABC-Schutzanzügen standen auf der Ladefläche des Wagens. Die Anzüge waren von der Sorte, die auch die Männer der Nationalgarde trugen.

Ihr Instinkt verriet ihr, dass etwas nicht stimmte. Die Männer fuhren nicht in einem Humvee wie die anderen Soldaten.

Martha zog die Kinder zu dem schwarzen Sportwagen und duckte sich dahinter. Der Pick-up fuhr mit quietschenden Reifen Slalom um die abgestellten Wagen. Wer diese Männer auch waren, sie hatten es eilig.

»Werden die uns helfen?«, fragte Micah. Er erhob sich und lugte hinter dem Wagen hervor.

Martha zog sanft an seinem Arm. »Sei still«, flüsterte sie.

Der Pick-up wurde langsamer und Martha lauschte angestrengt, um über den Motorenlärm hinweg etwas von der Unterhaltung der Männer mitzubekommen.

»Wo hattest du diese Leute gesehen?«, fragte einer von ihnen. Durch die Maske klang seine Stimme verzerrt.

»Ungefähr hier.«

Martha lugte um die Stoßstange. Der Pick-up fuhr jetzt Schritttempo. Sie zog den Kopf ein und wies die Kinder leise an: »Kriecht unter den Wagen und kommt erst raus, wenn ich es euch sage. Okay?«

Die Kinder starrten sie an.

»Na los«, flüsterte Martha. »Ärztliche Anordnung.«

Sie half ihnen dabei, unter den Wagen zu kriechen, und als sie gut darunter versteckt waren, rannte sie vom Sportwagen zum Kleinbus.

»Da!«, rief eine Stimme.

Martha blieb stehen und drehte sich zu dem Pick-up um, während sie ein Stoßgebet zum Himmel sandte, ihr Instinkt möge sich in Bezug auf diese Männer irren. Sie hob die Hände, als der Pick-up vor ihr anhielt. Die Beifahrertür öffnete sich und ein Soldat sprang heraus. Die Männer auf der Ladefläche richteten ihre Sturmgewehre auf Martha, wodurch ihr das Herz plötzlich bis zum Hals schlug. Sie versuchte, ihre Gesichter zu erkennen, doch die Helme verbargen zu viel.

»Bleiben Sie, wo Sie sind«, befahl ihr einer der Bewaffneten.

Der Beifahrer sah sich gründlich in der Umgebung um, während er sich ihr mit einer Hand am Griff einer gehalfterten Pistole näherte. Sie konnte seine Augen hinter dem Visier erkennen. Sie waren kristallblau und auf sie gerichtet.

»Sie sind die erste Person, die wir seit einer ganzen Weile auf der Straße sehen«, erklärte er ruhig. »Das bedeutet, Sie sind entweder wirklich dumm oder wirklich gescheit, weil Sie hier draußen überlebt haben.«

Martha hielt die Hände oben und antwortete nicht.

»Sie sind wohl nicht sehr redselig, was?« Er kam ein paar Schritte näher – so nah, dass sie eine S-förmige Narbe auf seiner Stirn erkennen konnte. Es sah aus, als wäre das Muster absichtlich eingeritzt worden.

Er wandte den Kopf zu seinen Männern und bedeutete ihnen, die Gewehre herunterzunehmen. Auf der Ladefläche des Pick-ups hustete jemand und mehrere kleine, mit Gasmasken bedeckte Gesichter lugten über den Rand der Ladefläche. Die Kinder trugen aschebedeckte Schutzanzüge.

Martha entspannte sich ein wenig, aber sie behielt die Hände oben. Der alte Pick-up war kein Militärfahrzeug. Vielleicht hatten diese Männer ja gar keine bösen Absichten, wenn sie versuchten, diesen Kindern zu helfen.

»Sie haben sich ja einen richtig schicken Anzug gebastelt«, fuhr der Mann mit einem leisen Lachen fort, nachdem er sie und ihre Müllsack-Schutzkleidung von oben bis unten betrachtet hatte. »Ich vermute mal, dass Sie das eine oder andere über radioaktiven Fallout wissen. Habe ich recht?«

Martha beschloss, das Risiko einzugehen und ihm zu antworten. »Ich bin Ärztin und wir haben es an und für sich gar nicht mit Fallout zu tun. Die Strahlung durch eine Atombombenexplosion in der Höhe ist kurzfristig gefährlicher als der Fallout.«

Der Mann drehte sich zu den anderen Soldaten um. »Sie kann also doch reden – und klug ist sie auch noch!«

»Zu welcher Einheit gehören Sie?«, fragte sie.

Der Mann hob eine buschige graue Augenbraue. »Einheit?«

»Ich habe angenommen, Sie sind ein Soldat. Der ABC-Schutzanzug stammt aus Militärbeständen, oder nicht?«

»Sie sind sogar eine sehr kluge Frau.« Er drehte sich zum Pick-up um und rief: »Jungens, zu welcher Einheit gehören wir?«

Die Männer auf der Ladefläche brüllten im Chor: »Sons of Liberty!«

Martha hatte noch nie von so einer Einheit gehört, aber sie wusste auch nicht viel über das Militär. Vermutlich war es ein gemeinsames Rufzeichen oder so etwas.

»Sind Sie ganz allein hier draußen unterwegs?«, fragte der Mann.

»Ja«, erwiderte sie etwas zu hastig.

»Carson, hast du nicht gesagt, du hättest drei Personen vor der Brücke gesehen?« Einer der Männer hinten auf dem Pick-up nickte. »Sie und zwei andere, die wie Kinder aussahen.«

Der Mann vor Martha kam noch näher. Und da bemerkte sie die mit Klebeband abgedichteten Löcher in der Brust seines Anzugs. Der Bereich um die Löcher war dunkel verfärbt mit etwas – das stark nach Blut aussah. Ein kalter Schauder überlief ihren verschwitzten Körper.

»Warum würden Sie mich anlügen wollen? Sehe ich für Sie wie jemand aus, der einem Kind etwas antun würde?«, fragte er sie. Martha blieb stumm und wich einen Schritt zurück. Waren das Einschusslöcher auf der Vorderseite seines Anzugs?

Sein ganzes Verhalten änderte sich schlagartig. »Jetzt machen Sie mich wütend«, grollte er. Er machte zwei, drei schnelle Schritte und blieb direkt vor ihr stehen. Heißer Atem beschlug die Innenseite seines Visiers.

»Ich wollte Sie eigentlich mitnehmen und von hier wegbringen, aber Sie stellen meine Geduld auf eine harte Probe und wir haben bereits einen Arzt in unserer Basis.«

»Es tut mir leid.« Marthas Gedanken überschlugen sich. »Ich bin unterwegs schon ein paar ganz üblen Leuten begegnet. Man weiß nie, wem man trauen kann, richtig?«

Der Mann grinste wieder. »Verdammt richtig.«

»Sie bringen uns also irgendwohin, wo es sicher ist?«, fragte sie.

»Sicher. Sie und die Kinder. Sagen Sie mir nur, wo sie sind.«

Martha bewegte sich ein wenig zur Seite, um einen besseren Blick auf die Kinder und die Männer mit den Gewehren hinten auf der Ladefläche des Pick-ups werfen zu können. Wegen der Masken und Visiere konnte sie die Gesichter nicht deutlich sehen, aber aus diesem Winkel fielen ihr andere Details an dem Wagen auf: eine auf die Beifahrertür gestempelte 88, der Doppelblitz des SS-Symbols aus Klebestreifen, eine Armbinde mit einem gezeichneten Adler und einem Hakenkreuz in seinen Klauen. Diese Männer waren keine Soldaten – sie waren irgendeine Bande von rassistischen Rechtsextremen.

»Was denn nun? Holen Sie jetzt die Kinder oder nicht?«, fragte sie der Mann vor ihr.

»Okay«, gab sie scheinbar nach. »Ich hole sie und bin gleich wieder zurück.«

»Auf keinen Fall. Einer meiner Männer wird Sie begleiten.« Er drehte sich um und winkte. »Carson, schaff deinen Arsch hierher.«

Kaum hatte sich der Mann von ihr abgewandt, rannte Martha los.

Wenn diese Männer für diese Anzüge Soldaten getötet hatten, ließ sich unmöglich sagen, was sie mit den Kindern machen würden. Den Kindern, die bereits in dem Pick-up waren, konnte Martha nicht mehr helfen, aber vielleicht konnte sie die Männer von Micah und Emma weglocken.

»Halt!«, rief der Anführer mit zorniger Stimme.

Sie sprang in den Straßengraben und rannte zu der Ansammlung geschwärzter Bäume am Fuße eines Hügels in der Nähe. Ein Schuss zerschmetterte die Stille des Nachmittags. Kindliche Schreie folgten. Martha warf einen Blick zurück und sah einen Jungen im Rollstuhl auf der Ladefläche des Pick-ups. Er rief den sogenannten Sons of Liberty zu, sie sollten aufhören, doch die Männer achteten nicht auf ihn.

Mündungsfeuer blitzte und Kugeln bohrten sich neben ihr in den Boden. Die Bäume waren immer noch 30 Meter entfernt. Sie würde es nicht schaffen.

Martha wollte die Hände heben, um sich zu ergeben, als sie von einer Kugel in die Schulter getroffen und so heftig zu Boden geschleudert wurde, dass ihr der Aufprall den Atem raubte.

Sie schnappte nach Luft und wälzte sich langsam auf die linke Seite. Die aus ihrer Brust zischende Luft bedeutete, dass sie wahrscheinlich einen Lungendurchschuss hatte.

Da wusste sie, dass sie die Wunde nicht überleben würde.

Falls die Kugel eine Arterie getroffen hatte, würde sie in wenigen Minuten tot sein. Und selbst wenn nicht, würde sie längst tot sein, bevor irgendwelche Hilfe eintraf.

»Warum mussten Sie das unbedingt tun?«

Martha blinzelte die Tränen weg, die ihr in die Augen stiegen, und funkelte den Anführer an, der nun vor ihr zum Stehen kam.

»Ich habe ihnen befohlen, dass sie Sie nicht erschießen sollen, aber einer von ihnen hat wohl falsch gezielt. Im Vertrauen gesagt glaube ich langsam, dass meinen Männern diese ganze Ende-der-Welt-Sache Spaß macht.«

Der kühle Wind trug ihre dünnen, hohen Stimmen zu ihr, als Micah und Emma zu schreien anfingen.

»Was …«, keuchte Martha. »Was werden Sie mit ihnen machen?«

»Keine Sorge, ich tue ihnen nichts. Sie sind viel zu wertvoll. Die Regierung zahlt ein hübsches Sümmchen für diese Kinder. Ein paar von ihnen sind Krüppel, aber selbst die Beschädigten sind wahrscheinlich noch etwas wert.«

Er schnalzte mit der Zunge, als belehrte er ein Kind. »Wir verschwinden von hier, bevor uns das Feuer einholt. Wollen Sie eine Kugel in den Kopf? Mehr kann ich jetzt nicht für Sie tun.«

»Nein«, ächzte sie, indem sie den Kopf einmal hin und her bewegte. »Bitte nicht.« Er zuckte die Achseln. »Ihre Entscheidung.«

Sie sah dem Mann hinterher, wie er ohne Eile zur Straßenböschung ging und sie allein zum Sterben zurückließ, während die Flammen im Westen langsam auf sie zukrochen.