Aus dem Amerikanischen von Marc Tannous

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe State of Emergency

erschien 2013 im Verlag Pinnacle Books.

Copyright © 2013 by Marc Cameron

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit der Erlaubnis von

Kensington Publishing Corp., New York, NY, USA

Literarische Agentur: Thomas Schlück GmbH, 30872 Garbsen

Lektorat: Alexander Rösch

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-758-5

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Für Daniel –

ein wahrhaft guter Mensch

Ne puero gladium.

(Gib einem Jungen kein Schwert.)

Prolog

9. Dezember

22:30 Uhr

Bei Karakul, Usbekistan

Riley Cooper atmete langsam ein und ignorierte dabei den metallischen Gestank von gewaltsam herbeigeführtem Tod. Er lag flach auf dem Bauch und hielt Wache, 80 Zentimeter über dem Steinboden des Schlachthauses auf einem langen Holztisch. Die baufällige Karawanserei, einst eine gut gesicherte Raststätte für Mensch und Tier an der alten Seidenstraße, war heute ein ausgebesserter Steinbau mit zellenartigen Räumen. Durchgehangene Schafgatter, einsam und verlassen in der purpurnen Dunkelheit, erstreckten sich entlang der Westseite. Ein scharfer, stark nach Wolle riechender Wind fegte aus dem nördlichen Teil der Wüste durchs geöffnete Fenster. S-förmige Fleischerhaken aus Metall klimperten wie blutverkrustete Windspiele über seinem Kopf.

Cooper drückte ein Auge gegen das Nachtsichtmonokular und wünschte sich, es wäre an einem Gewehr befestigt. Inoffiziell nach Usbekistan zu kommen, war für einen Mann in seiner Position gefährlich genug. Der Besitz eines Scharfschützengewehrs konnte einen diplomatischen Konflikt auslösen. Trotzdem entsprach es nicht seiner Natur, völlig unvorbereitet zu sein. Kurz nach seiner Ankunft hatte er mit einem kleinen Waffenhändler in Taschkent um eine russische 9-Millimeter-Pistole vom Typ GSh-18 gefeilscht. Für die Handfeuerwaffe samt 18 panzerbrechenden Patronen hatte er seine 5000 Dollar teure Rolex Submariner hergeben müssen. Er liebte die Uhr, aber solche Wertgegenstände waren oft genug die gängige Landeswährung, und die Sicherheit, die ihm die Pistole an der Hüfte unter dem marineblauen Kapuzenpulli verschaffte, rechtfertigte den Preis allemal.

Cooper war schlank und knapp über 1,80 groß. Die schmale Hüfte und die kräftigen, straußenartigen Beine hatten in der High School geradezu um eine olympische Sprinterkarriere gebettelt, doch der Rat eines Freundes der Familie veranlasste ihn, einen anderen Weg einzuschlagen. Dieser Weg hatte ihn hierher geführt: in eine eisige usbekische Wüste, mit einem Nachtsichtgerät vor dem Auge.

Eine lockige blonde Haarsträhne kräuselte sich unter der schwarzen, eng über den Kopf gezogenen Rollmütze hervor. Seine Haut wirkte eher blass – wodurch man ihn in der Dunkelheit besonders gut wahrnahm. Bevor er im Versteck in Position geklettert war, hatte er sich die Zeit genommen, schwarze Farbe auf die hervorspringenden Partien der Nase und Wangenknochen zu schmieren, um die Gesichtsform im Mondlicht zu verfremden, sollte jemand zufällig in seine Richtung blicken.

Cooper, der sich zum Schutz vor dem eisigen Nachtwind ganz flach machte, spähte durchs grüne Fadenkreuz, um den keine zehn Meter entfernen Russen zu begutachten. Sie hatten sich vor zwei Jahren in einer Bar vor der Manas Air Base in Kirgisistan kennengelernt. Michail Iwanowitsch Polzin hatte ehrliche Augen und ein nüchternes Auftreten. Cooper mochte ihn so sehr, wie ein Mann in seiner Position einen kommunistischen Agenten mögen konnte. Sie hatten zahlreiche Flaschen kirgisischen Wodka gemeinsam geleert und sich Geschichten von daheim erzählt. Ein paar davon stimmten vielleicht sogar. Treffen wie dieses waren dennoch heikel. Hätte der Russe gewusst, dass er heimlich aus dem Schlachthaus heraus beobachtet wurde, hätte er Cooper womöglich schon aus Prinzip eine Kugel in den Schädel gejagt.

Polzin stand neben einem mondhellen Streifen Feldweg, den Blick auf die schwachen Doppelscheinwerfer eines näher kommenden Lkw gerichtet, der aus dem bedrohlichen schwarzen Schlund der Wüste auftauchte. Ein eisiger Wind schüttelte seinen Körper heftig durch. Cooper verfolgte, wie er sich den Wollkragen des Wintermantels über die Ohren zog. Der Amerikaner empfand es als ironisch, dass Polzin Mantel und Hut aus Astrachan trug, dem fein gelockten Fell tagealter Karakul-Lämmer. Zehntausende dieser Winzlinge wurden jeden Frühling hier, in exakt diesem Gebäude und an ähnlichen Orten im ganzen Land, getötet. Die Schlachtung musste wenige Stunden nach der Geburt der Lämmer erfolgen, bevor ihr Fell seine Lockigkeit verlor. Es wurde seit Jahrhunderten wertgeschätzt, weil es glatt war wie nasse Seide. Doch schon wenige Tage nach der Geburt wurde aus dem Goldenen Vlies nichts anderes als grobe Wolle.

Cooper versuchte, den alten Gestank des Todes aus dem Kopf zu vertreiben. Seine Gedanken wanderten für einen Moment zu Jill, seiner Verlobten in Richmond. Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Sie war zwar selbst Fleischesserin, hätte dem Russen allerdings die Augen ausgekratzt, sobald sie mitbekam, dass er einen Vliesmantel aus einem halben Dutzend tagealter Lämmer trug.

Der verrostete grüne Rumpf eines UAZ-Pritschenwagens ratterte aus der Dunkelheit heran und kam quietschend neben Michail Polzin zum Stehen. Eine Wolke aus feinem Staub blühte um den Truck auf, während sich die Fahrertür knarrend öffnete. Ein gebückter, knochiger Mann, der in den Sechzigern zu sein schien – aufgrund des beschwerlichen Lebens in diesem Erdteil mochten es auch die späten Vierziger sein –, kletterte aus dem abgerundeten, eiförmigen Cockpit. Die rechte Hand in einer traditionellen muslimischen Begrüßungsgeste aufs Herz gelegt, trat er an den russischen Agenten.

Eine großbusige Frau, der Körper wie ein Benzinfass geformt, schlenderte von der Beifahrerseite herum und schaukelte dabei im Watschelgang hin und her wie mit einer kaputten Hüfte. Die schmuddelige Bauchpartie und die ausgefransten Knie ihrer Uniform deuteten darauf hin, dass sie es gewöhnt war, in der Nähe von Schmutz zu leben. Ein schwarzes Kopftuch drückte einen permanent missmutigen Blick in ihr schlaffes Gesicht. Sie verschwendete keine Zeit mit Vorstellungsgeplänkel, sondern zeigte mit knorrigen Fingern auf zwei Kisten auf der Ladefläche des Trucks. Eine war so groß wie eine Militärtruhe. Die andere, aus demselben stumpfen olivfarbenen Material bestehend, wies die Größe eines Koffers für mehrwöchige Reisen auf.

Sie schimpfte in einer schrillen Mischung aus Usbekisch und Russisch, die Worte wie eine überdrehte Uhr zusammengezogen. Ein Windstoß riss den Großteil ihres lebhaften Vortrags weg, doch der Teil, den Cooper aufschnappte, veranlasste ihn dazu, sich vorzubeugen und angestrengt zu versuchen, weitere Einzelheiten zu verstehen.

Ihr kleiner Bauernhof war mit krankem Vieh und verdorbenem Wasser gestraft. Sie spuckte verächtlich auf den Boden, fuchtelte wild mit den Händen und umklammerte theatralisch ihr Kopftuch. Rheumatische Augen leuchteten im grün verpixelten Bild des Nachtsichtgeräts.

Cooper verstand einige Wörter nur zu gut. Mit zusammengebissenen Zähnen rollte er sich etwas zur Seite, um die Pistole aus dem Hosenbund zu ziehen und auf den Tisch zu legen, wo er sie bei Bedarf schnell erreichte. Dann fischte er das Satellitentelefon aus der Tasche der Cargopants. Sein Beobachtungsposten lag einige Meter vom Fenster entfernt, wodurch es unmöglich war, ein Signal zu bekommen. Dennoch wählte er eine Nummer und gab einen codierten Text ein, bevor er auf Senden drückte. Das Telefon war so programmiert, dass es die Nachricht absetzte, sobald es einen Satelliten ortete – selbst dann, wenn es aus- und wieder eingeschaltet wurde.

Draußen fischte der Russe einen Umschlag aus der Brusttasche des Wollmantels und übergab ihn dem alten Mann. Der Usbeke reichte ihn an seine Frau weiter, die ihn sofort öffnete und damit begann, das dicke Bündel zu zählen, das nach amerikanischen Banknoten aussah.

Polzin folgte dem alten Mann zur Ladefläche des Trucks, zog etwas aus der Tasche, spazierte damit zwischen den Kartons hin und her und nickte dabei.

»Vielen Dank, mein Freund«, hörte Cooper den Russen sagen. »Es kommt noch eine weitere Zahlung, doppelt so hoch wie die in den Händen deiner Frau. Sobald ich die Sachen hier wieder sicher verstaut habe.«

»Was nützt Geld, wenn unsere Schafe tot sind?« Die alte Frau nahm sich die Zeit, den Umschlag in ihrer Jacke zu verstauen, bevor sie wieder die Hände theatralisch gen Himmel schickte. »Nimm unseren Truck, wir laufen nach …«

Plötzlich erstrahlte die Wüste in einem Schwarm greller Lichter. Vier Geländefahrzeuge näherten sich mit lautem Getöse, um Polzin und die Usbeken einzukreisen. Dunkle, einander überkreuzende Schatten wurden von den Scheinwerfern auf die Staubwolken geworfen, als sie zum Stillstand kamen. Ein großer, schlanker Mann im bauschigen limonengrünen Skiparka und Designer-Bluejeans stieg mit einer theatralischen Geste aus dem Allrad. Selbst in der Dunkelheit konnte Cooper den schwarzen Strich eines dünnen Schnurrbarts ausmachen. Gezielt schritt der Neuankömmling auf die schimpfende Usbekin zu, hob die Pistole und schoss ihr ins Gesicht.

Der Mann wirbelte herum und zuckte übertrieben mit den Schultern. »Was? Will mir keiner dafür danken, dass ich sie zum Schweigen gebracht habe?« Er sprach in akzentuiertem Russisch und nuschelte dabei so stark, als hätte er den Mund voller Murmeln. »Ich hätte gedacht, dass gerade du dankbar bist«, wandte er sich an den alten Mann. »Nein? Nun, dann kannst du ihr auch genauso gut Gesellschaft leisten.« Er drückte dem Usbeken den Schalldämpfer an die bebende Brust und drückte ab. Dann trat er zurück, damit der alte Mann zusammensacken und kopfüber neben seiner toten Frau in den Staub fallen konnte.

Eine untersetzte Frau im limonengrünen Parka und dazu passender dunkelgrüner Schottenmütze verließ ihren eigenen Geländewagen.

Sie schüttelte den Kopf. »Sind wir heute Abend nicht gut drauf?« Dann lachte sie, gleichgültig gegenüber den kaltblütigen Morden. Die Mütze hing ihr über die Augen und hielt Cooper davon ab, einen guten Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen. Eine hautenge schwarze Hose schmiegte sich um ihre breiten Hüften. Die weißen Laufschuhe schienen im Scheinwerferlicht zu leuchten. »Das langweilt mich. Ich gehe spazieren.« Einen Moment später war sie hinter dem Truck des toten Usbeken verschwunden.

Ein dritter Mann, dunkelhaarig, schmächtiger gebaut und nervös, wertete die Schüsse als Aufforderung, aus dem Geländewagen zu steigen, um auf die Ladefläche des Trucks zu klettern. Sein Gesicht glänzte selbst in der kalten Nachtluft vor Schweiß. In der Dunkelheit war es schwer zu erkennen, aber er trug dicke Handschuhe und offenbar eine Art schusssichere Weste unter dem offenen Mantel.

Er sprach Englisch, aber aufgrund seines Akzents vermutete Cooper, dass er Pakistani war. »Aaah!«, stieß er zufrieden aus, nachdem er den Inhalt beider Kisten mit behandschuhten Händen untersucht hatte.

»Genau wie du vermutet hast.«

»Bist du sicher?« Der Mann mit dem dünnen Schnurrbart kicherte staunend.

»Ziemlich«, antwortete der Pakistani. »Nein … kein Zweifel.«

»Oh, das sind sehr gute Neuigkeiten!« Der Mann im limonengrünen Parka klatschte in die Hände. Mit einer davon umklammerte er nach wie vor die Pistole. Sein Blick streifte den Russen. »Wie unhöflich von mir«, sagte er. »Ich bin Valentine Zamora.«

Er sprach es Walentiien aus.

Der vierte Fahrer, ein stiernackiger Grobian mit einem dunklen Gestrüpp lockiger Haare und einer breiten platt gedrückten Nase über dem Bart, bezog links neben Zamora Position – zwei Schritte hinter ihm. Er schien der Mann fürs Grobe zu sein.

»Polzin.« Der Russe zeigte auf sich, ohne dass ihn jemand angesprochen hatte.

Gut, dachte Cooper. Bleib Herr der Lage, Mischa. Das ist eine große Sache … immer einen Schritt vorausdenken.

»Michail Iwanowitsch.« Die Finger von Polzins linker Hand zupften an etwas herum, als wäre er nervös. Der Ring!, dachte Cooper. Das war das Erste gewesen, was ihm beim Kennenlernen an dem Russen aufgefallen war. Ein goldener Ring mit doppelköpfigem Adler, der Mütterchen Russland symbolisierte. Es war ungewöhnlich für einen Spion, seine Herkunft so offen preiszugeben.

»Oh.« Zamora jaulte beinahe, während er sich das haarlose Kinn rieb. Beim Sprechen sprang er hin und her und sprudelte fast über vor Energie. »Ich weiß sehr wohl, wer Sie sind. Die Leute in meiner Branche erzählen sich schreckliche Geschichten über die Leute in Ihrer Branche. Die geheime Gruppe tief im Innern des FSB …«

»Also …« Der Russe zog leicht die Schultern hoch, als fröstelte er. »Wie geht’s jetzt weiter?«

Zamora musterte ihn kurz anerkennend von oben bis unten, ohne etwas zu sagen. Abrupt wirbelte er auf den Fersen herum und bewegte sich dabei so schwungvoll, dass es einem Tanz nahekam. Eine Weile schwang er die Arme vor und zurück, als liefe er auf der Stelle, dann begann er zu sprechen. Da er von ihm abgewandt war, bekam Cooper einen Großteil seiner Worte nicht mit.

»… musst schlau vorgehen … Wympel-Einheit … wählerisch. Ich nehme an … ebenfalls ein Wissenschaftler?«

Polzin zuckte mit den Achseln und ließ beim Sprechen die Hände ganz allmählich sinken, während die Finger weiterhin am Ring herumspielten. »Ich bin kein Wissenschaftler, lediglich ein Beamter. Sie ist sehr alt, müssen Sie wissen. Weit über ihrer natürlichen Lebenserwartung. Und dann sind da noch die Codes zu berücksichtigen. Nicht mal meine eigene Regierung kennt sie. Sie können mir also genauso gut erlauben, sie mit nach Hause zu nehmen.« Er nickte zu den Kisten auf der Ladefläche.

»Mit nach Hause nehmen?« Zamora wirbelte herum. Er hüpfte inzwischen regelrecht. »Oh, nein, nein, Michail Iwanowitsch, das ist nicht nötig. Ich selbst werde ihr ein fantastisches Zuhause bieten. Sie mag sehr alt sein, aber Dr. Sarpara ist ausgesprochen talentiert. Er hat mir versichert, dass er in der Lage sein wird, sie wieder voll funktionsfähig zu machen. Wissen Sie, es gibt Leute, die wollen, dass ich so etwas gegen Ihr Land einsetze.«

Er beugte sich vor, als würde er ihm ein Geheimnis anvertrauen. »Sie sollten aber auch wissen, dass meine Pläne etwas weiter gehen. … rot, weiß, blau …«

Die Hand des Russen zuckte zur Manteltasche. Er griff nach einer versteckt getragenen Pistole, um sie durch den Stoff abzufeuern. Mindestens eine der Kugeln erwischte den Pakistani auf dem Truck.

Cooper griff zur eigenen Waffe und verfluchte die Dunkelheit. Das Nachtsichtmonokular war nicht zum Zielen geeignet und die Scheinwerfer spendeten nicht genug Helligkeit, um es aus dieser Entfernung mit zwei bewaffneten Gegnern aufzunehmen.

Polzin konnte drei Schüsse absetzen, bevor Zamora und sein Schläger ihn niedermähten.

In einem Atemzug war es vorbei.

Der pakistanische Arzt griff sich an den Hals. Einen Moment lang geriet er auf der Ladefläche des Trucks ins Taumeln, bevor er nach vorne stürzte, den Arm um das hölzerne Geländer geschlungen.

Zamora wirbelte herum und rannte zum verwundeten Pakistani.

Am Handgelenk überprüfte er den Puls des Mannes, dann drehte er sich um. Eine Hand presste er sich auf den Mund, mit der anderen schwang er die Pistole. Er stieß eine Reihe spanischer Flüche aus, während er im unheimlichen roten Lichtkreis, den die staubigen Rückleuchten des UAZ erzeugten, hin und her schritt.

»Monagas.« Er drehte sich um und nickte dem stiernackigen Begleiter zu. »Genosse Polzin hat mir große Angst eingejagt.«

Von der Kette gelassen lächelte der Mann namens Monagas schief, dann ging er mit großen Schritten zum sich windenden Polzin und jagte ihm zwei Kugeln in den Hinterkopf.

Coopers Verstand raste in der relativen Sicherheit seines Versteckes. Er konzentrierte sich darauf, die Atmung zu verlangsamen. Die Hände so fest um den Griff der eigenen Pistole geklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten, zuckte er bei jedem Schuss zurück, den der Mann auf seinen Freund abfeuerte.

Zamoras Hand klebte nach wie vor am Mund, als ob ihm das beim Nachdenken half. Die Waffe hing locker an der Körperseite.

»Vielleicht einer Ihrer Kontakte im Iran?«, vermutete Monagas.

»Nein.« Zamora winkte ab. »Über ihnen kreisen die Amerikaner wie die Adler. Ich muss nachdenken …« Er beugte sich vor, die Hände auf die Knie gestützt. Einen Moment lang sah es aus, als würde ihm übel; dann schoss er ebenso schnell wieder in die Höhe. »Es gibt da jemanden, aber …« Er tippte sich mit dem Schlitten der Pistole an die Stirn, während er auf und ab tigerte, dabei immer wieder stehen blieb, um nach dem toten Russen zu treten und ihn atemlos auf Spanisch zu verfluchen. Im Licht der Scheinwerfer wirbelte Staub von seinen Füßen auf.

Endlich hielt er inne und starrte in die Dunkelheit der usbekischen Wüste.

»Ich muss nachdenken.« Er brabbelte etwas vor sich hin, das Cooper nicht verstand, während er durch den nachtschwarzen Vorhang schritt.

Jetzt, wo sein Boss weg war, beugte sich Monagas in den Staub, um die Hand des toten Russen anzuheben. Der Adlerring, dachte Cooper. Dieser schweinsäugige Hurensohn sammelte Trophäen.

Cooper ließ die Pistole sinken und griff zum Satellitentelefon. Bei Spionage ging es um Informationen, nicht um Rache. Wenn sich auf der Ladefläche des russischen Lastwagens befand, was er glaubte, musste er diesen wahnsinnigen Hurensohn da draußen davon abhalten, es in seinen Besitz zu bringen. Bis dahin musste er dafür sorgen, dass die Information höhere Stellen erreichte – und zwar um jeden Preis. Fasziniert vom Drama, das sich vor dem Fenster abspielte, hatte er es versäumt, weitere Textnachrichten mit den neu erlangten Erkenntnissen abzusetzen. Was für ein Anfängerfehler.

Während er mit beiden Daumen so schnell tippte, wie er nur konnte, überhörte er das Schleifen von Schuhen auf dem Asphalt – bis es zu spät war.

Er erstarrte und lauschte in die Dunkelheit. Das Geräusch war hinter ihm. Sehr nah.

Zu nah.

Coopers Hand zuckte zur Pistole, bevor er überhaupt verstand, was es mit dem Geräusch auf sich hatte. Im selben Moment kam ein eigenartiges Rauschen, wie Flügelflattern, von oben. Etwas Schweres traf ihn seitlich am Hals, mit einer Wucht, durch die er halb auf die Seite geschleudert wurde. Übelkeit erregender Schmerz brandete wie eine Welle über das Rückgrat. Sein rechter Arm fiel nach unten und prallte schlaff und nutzlos gegen den Tisch. Seine Finger waren immer noch Zentimeter von der Pistole entfernt. Er keuchte, als sein Kopf wie bei einem tollwütigen Hund von einer unbekannten Kraft nach vorn und wieder zurückgerissen wurde. Unfähig, sich aus eigener Kraft zu bewegen, überkam Riley Cooper die nüchterne Erkenntnis, dass er gelähmt war.

Die schlaffe Wange hilflos auf den Tisch gedrückt, konnte er die breiten Hüften einer Frau ausmachen, die eine enge Stretchhose trug. Die Frau! Er hätte sie niemals aus den Augen verlieren dürfen. Sie knipste eine Taschenlampe an und klopfte mit der Spitze ihres weißen Sneakers auf den Betonboden, als wäre sie genervt, dass er so lange zum Sterben brauchte.

Cooper schaffte es nicht, zu atmen. Er strengte die Augen an und fand das Problem. Ein s-förmiger Fleischerhaken, der ihm knapp unterhalb des Kiefers im Hals steckte. Ein Wunder, dass er noch bei Bewusstsein war.

Eine winzige Hand mit manikürten schwarzen Fingernägeln packte den rostigen Haken und zog ungeduldig daran. Metall schabte über Knochen und Cooper stöhnte reflexartig auf, würgte am eigenen Blut. Mit flatternden Augen beobachtete er, wie sich die Frau das Satellitentelefon in die Jackentasche stopfte.

So ist es gut, dachte er. Nimm das Telefon mit nach draußen

Er zermarterte sich das vernebelte Gehirn, um sich zu erinnern, wie viel Text bereits übermittelt war. Er hatte in dem Moment auf Senden gedrückt, als er das Geräusch hörte. Kurz vor der Attacke der Frau. Er hoffte, dass alles Wichtige verschickt war.

Der Strahl der zweiten Taschenlampe wanderte über den Steinboden. Ein Paar schwarze Stiefel erschien klackend im Blickfeld.

»Ich habe es, mein Liebling«, verkündete Valentine Zamora. In Coopers Ohren klang es abgehackt und entfernt, wie durch ein langes Rohr. »Ist das zu fassen? Es gehört tatsächlich mir.«

»Heißt das, du bist reich?« Die Stimme der Frau klang heiser und rau, als hätte sie drei Stunden auf einem Rockkonzert geschrien.

»Reich bin ich bereits«, antwortete Zamora mit einem Kichern, das hoch, beinahe feminin klang. »Nein, nein, nein. Das wird der Welt zeigen, dass dein geschätzter Valentine keiner ist, den man wie ein kleines Kind herumschubst.«

Cooper bemühte sich, mehr zu verstehen. Unfähig, den Kopf zu drehen, konnte er das mörderische Paar durch den aufkommenden Nebel nur von der Hüfte abwärts erkennen. Sie standen beieinander, Arm in Arm, als ob sie einen Sonnenuntergang beobachteten und darauf warteten, dass er starb.

»Das ist fantastisch!« Zamora stampfte mit dem Fuß auf. »Baba Yaga gehört mir.«

Baba Yaga.

Die Worte trafen Cooper genauso heftig wie der rostige Haken. So etwas hatte er befürchtet, sogar in seiner Textnachricht davor gewarnt. Aber zu hören, wie es konkret ausgesprochen wurde, erfüllte ihn mit überwältigender Angst. Er kämpfte, um bei Bewusstsein zu bleiben, und plötzlich war ihm kälter als jemals zuvor. Die Ausbildungsjahre tobten durch seinen Kopf, herrschten ihn an, aufzustehen und etwas zu unternehmen.

In Geheimdienstkreisen war Baba Yaga ein schwarzes Loch, eine gefährliche Mischung aus Kalter-Kriegs-Theorie und flüsternd von grauhaarigen Sowjetspionen weitergegebenen Legenden.

Nicht länger in der Lage, sich zu konzentrieren, machten Coopers Gedanken wilde Sprünge, von der Mission bis hin zu seiner Familie in Virginia. In kleinen Schritten schmolz die knochenlähmende Kälte zu warmen, ihn umarmenden Wellen. Die Atemzüge wurden flacher, die Abstände größer. Er konnte nichts mehr tun; ganz egal wie groß die Gefahr sein mochte. Eine einzige Träne rann ihm aus den Augen, während sie sich zum letzten Mal flatternd schlossen.

Ein blutrotes Band sickerte aus der Wunde im Hals des jungen Amerikaners, tropfte hinunter auf den rissigen Steinboden und vermischte sich mit dem Blut unzähliger geschlachteter Lämmer.

Türkmenbaşy, Turkmenistan

Kaspisches Meer

Zwei abgerissene Kerle in hüftlangen Wollmänteln und zerlumpten Skimützen schleppten die Holzkisten über die verwitterten Planken auf das Deck des Frachters. Die Prawda, ein gedrungenes Schiff, war nicht ganz 22 Meter lang. Kaum groß genug, um als Schiff bezeichnet zu werden, doch Zamora zog es vor, nicht daran zu denken, dass seine kostbare Fracht mit einem simplen Kahn auf das größte Binnengewässer der Welt hinausschipperte.

Monagas hielt die dicken Arme hinter dem Rücken verschränkt und stieß wilde Drohungen aus, damit die faulen Kerle motiviert blieben.

Zamora saß neben der Frau mit den breiten Hüften am Heck auf Kisten, die laut Beschriftung Dosen mit Störkaviar enthielten. Er hielt sich ein Telefon ans Ohr. Ein verschmitztes Lächeln wanderte über sein Gesicht und brachte die Spitzen seines bleistiftdünnen Schnurrbarts zum Zucken. Die Frau stützte sich mit den Händen ab, hielt die Augen geschlossen und das Gesicht zur Sonne gerichtet.

»Hallo Mike«, sagte Zamora lauter als gewöhnlich, wie es seine Angewohnheit war, wenn er mit jemandem am anderen Ende der Welt telefonierte. Seine Stimme blieb ekelerregend süßlich. »Wie geht es Ihnen?«

»Mr. Valentine«, gab Mike Olson zurück. Sein hauchiger texanischer Zungenschlag klang beinahe übermütig. »Gut, Sir. Und Ihnen?« Er sprach Zamoras Namen wie den Festtag der Verliebten aus. Ein praktischer, leicht zu merkender Deckname.

»Gut, Mike, gut«, erwiderte Zamora. Sein Englisch hatte einen Akzent, war dank der Zeit, die er an amerikanischen Universitäten verbracht hatte, aber fließend. »Hören Sie, ich sprach von einer Spende für Ihr Programm, bin aber zu einer Art Geldsegen gekommen. Ich würde gerne etwas … keine Ahnung … Bedeutsameres tun.«

»Deanne und ich sind Ihnen so dankbar, Sir«, gab Olson zurück. »Sie waren bereits so großzügig.« Der Klang eines Kinderchors, der zur leisen Untermalung eines Klaviers sang, ertönte im Hintergrund. »Und die Kinder wissen Ihre Unterstützung zu schätzen. Bis jetzt haben sich über 300 bei uns gemeldet. Sie fliegen aus den gesamten Vereinigten Staaten für dieses Event ein – aus allen Religionen und Kulturen. Christen, Juden, Muslime, Hindus, eine Gruppe Bahai-Kinder aus Illinois. Stellen Sie sich das vor: so viele Ethnien und Religionen, die ihre Stimmen für den Frieden vereinen, mitten hier im Bibelgürtel.«

Bahai, dachte Zamora. Daran hätte seine iranische Mutter Gefallen gefunden. »Sehr schön.« Er ließ die Finger wie eine Spinne den Schenkel der Frau neben ihm hinaufkrabbeln. »Mir schwebt etwas ganz Besonderes vor. Einer meiner Kollegen wird sich in Kürze mit Ihnen in Verbindung setzen.«

»Vielen, vielen Dank, Mr. Valentine«, platzte Olson heraus. »Wir können hier wirklich etwas verändern.«

»Ja. Ich denke, das werden wir auch.« Damit beendete Zamora das Telefonat.

Laut kichernd stampfte er mit den Füßen auf das Schiffdeck, als würde er auf der Stelle laufen, ehe er sich schließlich neben der Frau mit den breiten Hüften zurücklehnte.

»Was ist?« Sie öffnete die Augen und blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht an. Ganz schwach konnte er die winzigen schwarzen Haare auf ihrer Oberlippe erkennen. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sie sich einen besseren Schnurrbart stehen lassen könnte als er, wenn sie denn wollte.

»Nichts weiter.« Die Spitzen seines bleistiftdünnen Schnäuzers zuckten. »Ich habe nur überlegt, wie ich unsere jemenitischen Freunde dazu bewegen kann, dem Bibelgürtel die Schnalle wegzublasen.«

»Du kitzelst mich, Darling.« Die Frau legte ihre Hand auf seine und drückte sie fest gegen die Innenseite ihrer Schenkel. »Du weißt, dass ich lieber Haue kriege, als gekitzelt zu werden.«

»Wie du möchtest.« Zamora drückte grob in das weiche Fleisch.

Die Frau gähnte. »Bevor du jemanden wegblasen kannst, müssen wir unsere kostbare Fracht erst mal am Zoll und den ganzen Strahlendetektoren vorbeibringen.«

»Wir verfrachten Baba Yaga ganz normal, verstecken sie quasi für alle sichtbar. Solange die Behälter nicht gezielt mit Sensoren inspiziert werden, ist alles in Ordnung.« Er grinste und schlug wiederholt mit der Faust gegen sein Knie, als könnte er sich vor Begeisterung kaum einkriegen. »Während wir nach Süden fahren, reist Monagas mit den losen Teilen weiter nach Finnland. Weißt du, wie man sie nennt?«

Sie schüttelte den Kopf, wobei ihr schwarzer Pony in der kühlen Brise schimmerte. »Wie denn, mein Schatz?«

»UVP.« Er kicherte erneut und legte sich die Hand auf den Mund. »Ist das nicht ein lustiges Wort? Es erinnert mich an das Geräusch, das du machst, wenn du … du weißt schon …«

»UVP?«

Er zwinkerte mit einem seiner dunklen Augen.

»Unerklärlicherweise verschwundenes Plutonium.«

Harborview Hospital, Seattle

15. Dezember

Unfallärztin Eileen Clayton beugte sich neben Birdie, der Stationsschwester, über deren Schreibtisch, um stolz Fotos ihres neuen Enkelkindes zu präsentieren, als herzzerreißendes Geschrei aus dem Wartezimmer drang. Birdie erschauerte bei dem Geräusch, während sie mit dem Zeh ihres bestrumpften Fußes unter dem Schreibtisch nach ihren Crocs tastete.

»Was zum Teufel war das?«

Clayton setzte ihre Schildpatt-Lesebrille ab und steckte sie in die Tasche ihres Arztkittels. Sie war eine große afroamerikanische Frau. Die extrem kurzen Haare betonten die hohen Wangenknochen und den langen Hals zusätzlich.

Genau wie Birdie trug auch sie einen pinkfarbenen Krankenhauskittel. Ihr natürliches Lächeln verschwand, als im Wartezimmer ein weiteres, wehklagendes Stöhnen erklang.

Mit 51 war Clayton lang genug Ärztin, um an schmerzerfüllte Hilfeschreie gewöhnt zu sein, doch dieser erschütterte sie bis ins Mark. Sie beugte sich an der Wand vorbei, die das Büro vom Wartezimmer abtrennte. Eine attraktive junge Frau in modisch brauner Lederjacke hielt sich direkt vor dem Empfangsfenster den Bauch. Grausig schwarze Wimperntusche verschmierte ihre Augen, verlieh ihr das Aussehen eines tollwütigen Waschbären und rann in langen Bahnen über ein rundes Gesicht in der Farbe gebleichter Knochen.

»Holen Sie es aus mir raus!« Ihre Stimme klang wie ein heiseres Zischen. Wie der zerfetzte Schrei einer verfluchten Seele.

Gefolgt von Birdie rannte Dr. Clayton aus dem Empfangsbüro in die Lobby. Sie erwischten das Mädchen gerade noch, bevor es zusammenbrach.

»Haben Sie Drogen genommen, Schätzchen?«, erkundigte sich Birdie.

Das Mädchen hob blinzelnd den Blick, wie um herauszufinden, wo es gerade war. »Ich weiß … Ich meine …« Sie übergab sich und verfehlte Birdie dabei um Zentimeter. »Oooohhh, lassen Sie mich bitte sterben …«

Sie warf den Kopf in den Nacken und heulte vor Schmerz, während sie den Inhalt ihres Darms entleerte. Dann stieß sie eine Reihe heftiger Flüche aus und kreischte dabei, als hätte sie eine Flasche mit Säure ausgetrunken.

Birdie führte das benommene Mädchen um die Schweinerei auf dem Boden zum nächstgelegenen Behandlungszimmer. Sie bedachte Clayton mit einem Seitenblick. »Wenn ihr Kopf anfängt, sich um die eigene Achse zu drehen, überlasse ich sie Ihnen.«

Bei all dem Geschrei verwandelte sich die Notaufnahme sofort in einen betriebsam schwirrenden Bienenstock. Clayton und Birdie befreiten das Mädchen von seiner verschmutzten Kleidung.

»Achten Sie auf den Nabelschmuck. Der muss raus, wenn wir ein MRT machen«, sagte die Ärztin und berührte den kitschigen Edelstahlschmetterling, der über dem Bauchnabel des Mädchens schwebte. »Sieht aus, als könnte er schwer zu entfernen sein.«

Ein männlicher Labortechniker mit hoher Stirn bemühte sich, eine Infusion vorzubereiten, während eine schwergewichtige Krankenschwester die Vitalwerte überprüfte.

Ihre Augen verengten sich besorgt. »41 Grad«, raunte sie und entsorgte die Verpackung des Plastikthermometers in den Abfalleimer.

»Mal sehen, ob wir ihre Temperatur runterkriegen«, sagte Clayton, bevor sie die Wange des Mädchens mit einer behandschuhten Hand tätschelte. »Wie heißen Sie, Liebes?«

»Taylor Bancroft«, flüsterte sie mit rissigen Lippen. Von einem weiteren Krampf erfasst, griff sie überraschend geschickt und kräftig nach der Vorderseite von Claytons Kittel. »Es sollte doch nur dies eine Mal sein …« Zu erschöpft, um auch nur den Kopf zu drehen, übergab sie sich auf ihre Brust. Mit verzerrtem Gesicht fiel sie zurück auf die Liege.

Birdie zog den schmutzigen Kittel aus und schleuderte ihn auf eine Ablage, um die Körperflüssigkeit später im Labor untersuchen zu lassen.

»Was war nur einmal?«, fragte Clayton und half der Schwester, Taylor ein feuchtes Tuch auf die Brust zu legen. Das arme Ding glühte förmlich.

Sie signalisierte den Schwestern, die Infusion fortzusetzen.

»Das war alles … in Kondomen«, wimmerte das Mädchen zwischen keuchenden Atemzügen. Tränen liefen ihr über das Gesicht. »2000 Dollar, um sie runterzuschlucken, damit ins Land zu fliegen und sie dort auszukacken.« Ihre blutunterlaufenen Augen flehten um Verständnis.

»Leicht verdientes Geld.« Clayton seufzte.

»Ja, nicht wahr?« Das Mädchen nickte, da es Claytons Kommentar als Zustimmung missverstand. Der Körper spannte sich an, als eine weitere Schmerzwelle über sie rollte. »Ich hab alle diesem Typen übergeben … Aber eins muss undicht gewesen sein.«

Clayton biss sich auf die Unterlippe. Dieses Mädchen war kaum jünger als ihre eigene Tochter. Ihre Kleidung wirkte neu und modern. Wahrscheinlich kam sie aus einer wohlhabenden Familie. »Wissen Sie, was für eine Art von Drogen Sie geschluckt haben, Liebes?«

»Ich glaube, Kokain, aber er wollte es mir nicht verraten.« Sie starrte an die Decke und schniefte zwischen hektisch keuchenden Atemzügen. Mit geballten Fäusten schlug sie auf die Matratze ein. »Ich kann nicht fassen, dass es ausgelaufen ist. Es war doppelt umhüllt, ein Kondom über dem anderen. Ich bin vom Flughafen direkt zu der Adresse gegangen, wie es der Typ mir gesagt hat.«

»Dieser Typ«, sagte Dr. Clayton. »Können Sie ihn anrufen und rausfinden, welche Art Droge es gewesen ist?« Bancroft schob den Kiefer vor und zurück und sah dabei so ausgezehrt aus, als würde ihr schon wieder schlecht werden. »Nein, ich meine … Ich habe ihn nur in einem Club in Helsinki getroffen.« Sie leckte sich die Lippen, während die Übelkeit abflaute. »Er ist Spanier, glaube ich … Etwas war mit seiner Lippe. Er hat versucht, sie unter einem Bart zu verstecken.«

»Wohin sind Sie vom Flughafen aus gegangen?«, drängte Clayton; mehr um das Mädchen am Reden zu halten, als um eine verwertbare Information zu bekommen. Lange bevor sie den Schmuggler kontaktieren konnten, der sie dazu angestiftet hatte, würde eine Blutuntersuchung zeigen, welche Droge sie verschluckt hatte.

Bancroft schluckte hart und kniff beim Schmerz in ihrem Kopf die Augen zusammen. »Zu einer Lagerhalle unten am Pier. Dort wurden jede Menge Geldautomaten gelagert. Sie wissen schon, die Teile, an denen man mit Geheimzahl was abheben kann.« Ihr Körper fing unter ihrem Schluchzen zu zittern an. »Er hat behauptet, es sei sicher. Ich meine, ich wollte doch nur ein wenig extra …«

Die Augen des Mädchens schlossen sich mitten im Satz und der Herzmonitor zeigte die Nulllinie.

Mitarbeiter der Notaufnahme schwärmten mit dem Notfallwagen herein, verabreichten Medikamente und versuchten, ihren Herzschlag zu stabilisieren. Nichts funktionierte.

»Festgestellter Todeszeitpunkt: 18:05 Uhr«, gab Dr. Clayton mit einem Seufzen zu Protokoll. Keine 15 Minuten, nachdem sie das Krankenhaus betreten hatte, war Taylor Bancroft tot. In 26 Jahren, in denen sie den Arztberuf praktizierte, hatte sie noch nie erlebt, dass jemand ohne offene Wunde so schnell einen Herzstillstand erlitt.

»Armes Kind.« Die Stationsschwester schürzte die Lippen.

»Was sie wohl in Helsinki getrieben hat?«

»Wer weiß?« Clayton machte sich daran, das Gesicht des Mädchens mit dem Laken zuzudecken. Sie erschrak beim Anblick der blonden Haarbüschel, die auf das Kissen gefallen waren.

Die Stationsschwester beugte sich helfend über die Leiche. Ihr Klinikausweis baumelte vom pinkfarbenen Kitteloberteil. Eine Reihe schwarzer Punkte prangte auf der Plakette daneben.

»Alle sofort weg!«, blaffte Clayton und entfernte die Dosimeterplakette vom eigenen Laborkittel.

»Shit!« Ohne nachzudenken trat sie einen weiteren Schritt zurück. Das war keine übliche Reaktion auf Drogen, die aus einem verschluckten Kondom liefen. In den wenigen Minuten, die sie sich in der Nähe von Taylor Bancroft aufgehalten hatte, waren vier der kleinen Kreise dunkler geworden als ihre jeweiligen Hintergründe, was auf eine Strahlendosis von 250 Millisievert hindeutete.

Clayton eilte zur Tür des Notfallraums und suchte mit hektischen Blicken den Wartebereich ab, wo ein Pflegerkollege sich um die Sauerei kümmerte, die Taylor Bancroft auf dem Boden hinterlassen hatte.

»Jeremy«, blaffte sie. »Lass das!«

Den Wischmopp in der Hand blickte der Pfleger auf. Er trug Schutzhandschuhe, Schlappen und eine Gesichtsmaske – unwahrscheinlich, dass ihn das vor der wahren Gefahr schützte. Ein verständnisloser Blick legte sich auf sein Gesicht.

»Nicht aufwischen!«, mahnte Clayton. Entsetzen schlich sich in ihre sonst so ruhige Stimme.

Ein älteres Ehepaar und eine hagere Mutter mit ihrem schlafenden Kleinkind saßen an der hinteren Wand des Wartezimmers. Zwei Typen mit Wollpullovern und Gummistiefeln – Angler? – besetzten die mittleren Stühle und starrten auf den an der Wand befestigten Flachbildschirm über dem Kopf des Kindes.

»Alle nach draußen«, schrie Clayton und nahm all ihren Mut zusammen. »Die Notaufnahme ist geschlossen.«

Taylor Bancrofts Innereien waren durch eine Strahlenvergiftung verbrutzelt worden – und jeder Tropfen Flüssigkeit, der ihrem Körper entwich, verwandelte die Notaufnahme in eine Quarantänezone. Nachdem die tödliche Substanz nicht länger in ihr war, musste sie irgendwo da draußen sein – in den Händen von jemandem, der krank genug war, sie im Magen einer Collegestudentin in die Vereinigten Staaten schmuggeln zu lassen.

SCHMUTZIG

In Ermangelung von Befehlen zieh los,

finde etwas und töte es.

– Erwin Rommel

1

Arlington, Virginia

16. Dezember, 11:10 Uhr

Jericho Quinn drehte am Gashebel der stahlgrauen BMW R 1200 GS Adventure und genoss die zusätzlichen Pferdestärken, die nötig waren, um mit dem hektischen Puls des Stadtverkehrs von D. C. mitzuhalten. Sechs Wagen weiter setzte der Mann, den er töten wollte, den Blinker und wechselte mit seinem waldgrünen Ford Taurus auf die linke Spur.

Die BMW war ein wuchtiges Motorrad, ähnlich aggressiv wie ein mechanisches Raubtier aus einem Science-Fiction-Film. Groß genug, um mit vorbeiziehenden Autos auf Augenhöhe zu bleiben. Dabei beschleunigte sie enorm schnell für etwas, das manche als Motorrad-Version eines zweistöckigen Gebäudes betrachteten.

Selbst voll auf sein Ziel fixiert blieb Quinn wachsam. Das Fahren auf einem Bike verlangte ständige Aufmerksamkeit. Sein Vater ermahnte ihn andauernd: Tu so, als wären alle anderen auf Crack und darauf aus, dich umzubringen. Obwohl er schon als kleiner Junge in Alaska Motorrad gefahren war, wurde in Wahrheit jedes Mal, wenn er die Straßen eroberte, eine intensive Hyperwahrnehmung in ihm aktiviert. Wie früher, als er zum ersten Mal einen verwundeten Braunbären aufgestöbert, im Irak außerhalb des Basislagers operiert oder ein Mädchen geküsst hatte.

Es erforderte Konzentration, den Taurus im starken Nachmittagsverkehr zu verfolgen, aber von jeder Auffahrt, jeder Kreuzung und jedem Auto in seiner Nähe ging die Gefahr einer Kollision aus. Die Briten bezeichneten so etwas als SKIHDNG-Unfälle – Sorry, Kumpel, ich hab dich nicht gesehen. In seiner Kindheit war kaum ein Sommer vergangen, in dem er und sein Bruder Bo nicht aufgrund einer solchen Begegnung mit einem geistesabwesenden Fahrer in einer Art Gipsverband gelandet waren.

Und trotzdem fuhren sie weiter, weil sich das Risiko lohnte. In seiner Jugend stellten er und sein kleiner Bruder fest, dass die Meilen, die man auf dem Sitz eines Motorrades verbrachte, wie Hundejahre zählten – irgendwie kostbarer als eine gewöhnliche Meile.

Quinn verfolgte den Kleinwagen von Ford jetzt wie eine Rakete, wechselte am Autobahnkreuz Pentagon/Crystal City von der 395 auf die linke Spur, nahm dann die Auffahrt zum Jeff Davis Highway. Er ließ sich dabei ein gutes Stück zurückfallen und behielt drei Fahrzeuge als Puffer zwischen sich und dem Zielobjekt, gab abwechselnd Gas und trat auf die Bremse, ähnlich flexibel wie eine Slinky-Spirale. Der Taurus wechselte auf den rechten Fahrstreifen. Quinn warf einen Blick über die Schulter und nahm, indem er seinen Körper leicht neigte, die Verfolgung auf.

Zum Schutz vor der feuchten Kälte des Washingtoner Dezembers trug er eine schwarze Transit-Motorradjacke aus schwerem, mikroperforiertem Leder mit dazu passender Hose. Der Aerostich-Anzug war wasserdicht und verfügte über einen abnehmbaren Aufprallschutz, der ihn vor jeglicher Kollision mit dem Asphalt schützte. Quinns Boss hatte dafür gesorgt, dass der Shop, eine Unterabteilung von DARPA – der Defense Advanced Research Projects Agency –, die beeindruckende Vielseitigkeit des Anzugs um eine schusssichere Weste der Klasse IIIA für herkömmlichen ballistischen Schutz sowie um ein paar weitere Modifikationen, etwa ein hauchdünnes Kühl- und Heizsystem, ergänzte. Seine Kimber 10-Millimeter-Pistole, eine kompakte Beretta Kaliber 22 mit XCaliber Schalldämpfer sowie ein japanischer Morddolch aus dem 13. Jahrhundert, liebevoll Yawaraka-Te – oder Sanfte Hand – genannt, waren gut unter der schwarzen Jacke versteckt. Ein grauer Arai-Helm verbarg Quinns kupferfarbenen Teint und den dunklen Zweitagebart.

Sie waren von Downtown gekommen, auf der Constitution Avenue vorbei am Capitol, durch den Tunnel auf der Third Street und auf die 395. Trotz der Mittagszeit schien die Rushhour in D. C. im Lauf des Werktags nur leicht abzuebben und die tief stehende Wintersonne wurde von einem Strom aus Fahrzeugen reflektiert. Der Taurus sah bemerkenswerterweise so aus wie 80 Prozent der anderen Limousinen auf der Straße, deshalb musste Quinn sich beim Spurwechsel konzentrieren, um inmitten des Verkehrsstroms nicht den Überblick zu verlieren.

Beim Gedanken daran, wer in dem Auto saß, sträubten sich Quinns Nackenhaare. Nachdem er ein Jahr lang kaum etwas anderes getan hatte, als sich zurückzulehnen und zu observieren, juckte es ihn in den Fingern, etwas zu unternehmen. Es schien, als hätte ihm Hartman Drake die Chance dazu gegeben. Leute, die es gewohnt waren, sich von Kobe-Steak und Champagner zu ernähren, wechselten nicht urplötzlich zu Hamburgern und Leitungswasser. Der Sprecher des Repräsentantenhauses war sicherlich ein stilvolleres Fortbewegungsmittel als die schlichte vanillefarbene Limousine gewohnt. Es hatte einen Grund, weshalb seine Wahl auf den unauffälligen Taurus gefallen war.

Agenten des Air Force Office of Special Investigations waren in den Reihen der Strafverfolgungsbehörden als Experten im Umgang mit vertraulichen Quellen bekannt. Fahrzeugüberwachung ging mit dieser speziellen Kompetenz Hand in Hand. Als OSI-Agent und Veteran zahlreicher Einsätze in den ›sandi-stans‹ dieser Welt verfügte Quinn über eine umfassende Ausbildung in beiden Disziplinen. Jetzt, als Agent der Other Government Agency, kurz OGA, der unmittelbar für den nationalen Sicherheitsberater des Präsidenten arbeitete, hatte er reichlich Gelegenheiten, diese und andere Fähigkeiten, die eher seiner Persönlichkeit entsprachen, regelmäßig zum Einsatz zu bringen.

Er fasste hoch und öffnete das Visier seines grauen Arai einen Spaltbreit, um einen Hauch der kalten Winterluft einzulassen. Ein Airbrush-Gemälde aus gekreuzten Streitäxten, von denen sirupartiges Blut tropfte, verzierte die Seiten des Helms. Zusammen mit dem schwarzen Leder und der aggressiv vorspringenden Spitze der BMW 1200 GS erinnerte er an den Death Dealer, Frank Frazettas grüblerischen Reiterkrieger. Quinn hatte nichts gegen diesen Vergleich einzuwenden. Seine Ex-Frau hätte behauptet, dass er ihm sogar schmeichelte.

Die übersichtlich angeordneten Bäume, die sich in Crystal City unter die Hotels, Wohnhäuser und Stechpalmen mischten, hatten ihr Laub längst abgeworfen. Aus Nordosten blies eine steife Brise, drückte wie mit einer unsichtbaren Faust gegen Quinns Motorrad und kündete drohend noch deutlich kälteres Wetter an. Zum Glück gab es keinen Schnee.

»Was führst du im Schilde, Drake?«, flüsterte Quinn wie zu sich selbst und blies dabei eine Dampfwolke gegen das Visier seines Helms. Er musste dem Drang widerstehen, seitlich an den Taurus heranzufahren und dem Fahrer ins Gesicht zu schießen. Der Sprecher des Repräsentantenhauses war seinem Sicherheitsdienst aus einem ganz konkreten Grund ausgebüchst. Nach allem, was Quinn über ihn wusste, bedeutete es, dass er etwas Tödliches im Schilde führte.

Einen halben Block weiter schwenkte der grüne Taurus nach rechts, wo sich der Jeff Davis Highway in die North Patrick und die Henry Street teilte. Die Henry führte dabei in südliche Richtung weiter. Quinn ließ sich hinter zwei weitere Autos zurückfallen, um sich vor einem schwarzen Mercedes Coupé in den trägeren Rhythmus der engen Einbahnstraße einzufädeln, die in die historische Altstadt von Alexandria führte.

Das amerikanische Volk mochte glauben, dass Hartman Drake nach wie vor den Tod seiner aufopferungsvollen Ehefrau vor einem Jahr betrauerte, doch Quinn wusste es besser. Ihm fehlten zwar die Beweise, um einen derart mächtigen Mann anzuklagen, doch Quinn ging fest davon aus, dass der Sprecher selbst für den Tod der armen Frau verantwortlich war. Der Verlust seiner Ehefrau hatte ihm Sympathien eingebracht und eine Ausrede verschafft, nicht an der Veranstaltung teilzunehmen, bei der sowohl der Präsident als auch der Vizepräsident getötet werden sollten – womit Drake als Sprecher des Repräsentantenhauses an die oberste Stelle der Nachfolgerliste aufrückte.

Weiter vorn stoppte der Taurus an einer Kreuzung vor einer grünen Ampel und wartete auf eine Schar gut gekleideter Lobbyisten, die zu Hank’s Oyster Bar zum Freitagslunch gingen. Quinn stoppte das Bike, stellte den linken Fuß auf den Boden und spürte das vertraute horizontale Drehmoment des Motors. Die Gruppe überquerte unterdessen die Straße, als ob sie ihr gehörte. Sobald sie den Zebrastreifen frei gemacht hatten, bog der Taurus nach links in die King Street ab. Quinn ließ sich zurückfallen, sodass nun drei Fahrzeuge vor ihm waren, und wartete ab.

Restaurants, Souvenirläden, Eisdielen und Anwaltskanzleien vereinnahmten die bunten, dicht gedrängten Backsteingebäude auf beiden Seiten der schattigen Straße. Einige waren sogar älter als die Vereinigten Staaten.

Hartman Drake bog rasch in die letzte Einmündung vor dem Potomac River und raste auf einen eingezäunten Parkplatz hinter einer Hecke und einer Reihe blattloser Bäume.

Der Sprecher, der selten ohne die charakteristischen französischen Manschetten und eine farbenfrohe Fliege anzutreffen war, trug heute eine ausgewaschene Bluejeans und eine Bomberjacke aus braunem Leder. Basecap und Pilotenbrille rundeten die Maskerade ab.

Auf dem Capitol Hill war allgemein bekannt, dass Drake stolz auf seinen sportlich-schlanken Körper und die trainierte Brust war. Mit Mitte 40 suchte er jeden Tag den Fitnessraum des Repräsentantenhauses auf.

Er blieb einen Moment lang vor dem Wagenfenster stehen, um Kappe und Brille zurechtzurücken. Zunächst unterstellte Quinn, dass er nach einem Verfolger Ausschau hielt, doch dann wurde ihm klar, dass der narzisstische Pfau nur sein eigenes umwerfendes Spiegelbild bewunderte. Nachdem er mit der Selbstbewunderung fertig war, holte der Sprecher einen Aluminiumkoffer vom Rücksitz, bevor er über den parkähnlichen Rasen trottete, der wegen des ungewöhnlich milden Winters unverändert grün war.

Quinn biss sich auf die Unterlippe. Drake steuerte den Fluss an.

Bōsōzokubrutal laufender StammMutter, ich muss sterben!Geschwindigkeit und Tod sind mein Leben!

Das Bandenmitglied pflanzte seine Füße entschlossen in die Mitte des Weges, blockierte auf diese Weise den Durchgang und verschränkte die Arme vor der stämmigen Brust. In der rechten Faust blitzte eine 15 Zentimeter lange Messerklinge.

Japanische Jugendgangs waren in den Vereinigten Staaten relativ selten. Umso mehr überraschte es Quinn, einen von ihnen im nördlichen Virginia anzutreffen.

Er verlangsamte seinen Vorstoß ein wenig, ohne stehen zu bleiben. Quinn zog es vor, den Vorteil der Bewegung und der psychologischen Stärke zu nutzen.

Wohl wissend, dass der Tokko-Fuku-Träger nicht allein sein konnte, flüsterte er sich beim Gehen das vertraute Mantra zu: »Siehst du einen, rechne mit zweien.«

Wie auf ein Stichwort traten zwei weitere Bōsōzoku durch die Lücke hinter ihrem offensichtlichen Anführer. Beide Neuankömmlinge hielten hölzerne Baseballschläger in der Hand und waren mit Jeans und weißen T-Shirts bekleidet, als hätten sie noch nicht das Recht erworben, einen besonderen Angriffsmantel zu tragen. Der Letzte in der Reihe baute sich zaghaft rechts neben Quinn auf. Die Augen des Jungen zuckten hin und her. Die Bewegung reichte gerade aus, um zu verraten, dass er nicht vollends zum Angriff entschlossen war.

Mit ihm würde Quinn anfangen.