Dagny Juel

 

Flügel in Flammen
Gesammelte Werke

 

Aus dem Norwegischen
und mit einem Essay
von Lars Brandt

 

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2019

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

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Die Übersetzung folgt der Ausgabe Dagny Juel, Samlede Tekster, Kulturforlaget BRAK 1996

und wurde mit finanzieller Unterstützung von NORLA publiziert.

Printausgabe: © Weidle Verlag 2019

Übersetzung: Lars Brandt

Lektorat: Stefan Weidle

Korrektur: Kim Lüftner, Katharina Huhn

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: März 2019

ISBN 978-3-95988-139-5

Über das Buch

Dagny Juel schreibt über radikale Gefühle, Ausweglosigkeit und Schuld und über die unbändige Macht der Liebe. Dabei steht zumeist die Frau im Vordergrund, die, im Gegensatz zur vorherrschenden Darstellung der Zeit, nicht unschuldig und passiv ist, sondern einen starken eigenen Willen hat und durchaus zum Bösen fähig ist.

 

Aus dem Nachlaß Dagny Juels sind wenige Erzählungen, vier kurze Dramen und einige Gedichte erhalten. Bei allen steht das Gefühlsleben der Figuren im Vordergrund. Die Rückkehr des unvergessenen Liebhabers, das katastrophale Scheitern einer Ehe, die Wirrungen von Dreiecksbeziehungen – diesen Themen nähert sich Dagny Juel in ihrer lakonischen Sprache über die Gefühle der von Zweifel, Schuld und Eifersucht getriebenen Figuren. Dabei kreisen alle Texte um die Liebe, die als gleichzeitig schaffende und vernichtende Kraft die Schicksale bestimmt.

 

An das literarische Werk Dagny Juels schließt ein ausführlicher Essay von Lars Brandt an. Ausgehend von ihren Texten, zeichnet er das Bild einer Schriftstellerin, die von ihren Zeitgenossen auf ebenso hochfliegende wie widersprüchliche Weise beschrieben wurde. Stück für Stück fördert er die außergewöhnliche Persönlichkeit und die zerrissene Biographie Dagny Juels zutage – von ihrer behüteten Kindheit in Norwegen über ihre chaotische Zeit in Berlin (wo ein Großteil ihres literarischen Werks entstanden ist), bis zum 5. Juni 1901, dem Tag, an dem sie in einem Hotel im georgischen Tbilissi von einem wirren Anbeter erschossen wurde.

 

Über die Autorin

Dagny Juel (1867-1901) hat die K̈ünstlerszene des ausklingenden 19. Jahrhunderts in Norwegen und Deutschland maßgeblich beeinflußt – wenn auch mehr durch ihre Persönlichkeit als durch ihr Werk. Die Norwegerin unterhielt enge Beziehungen zu Künstlern wie August Strindberg, der ihretwegen eine psychiatrische Klinik aufsuchen mußte und sie mit gnadenlosem Haß verfolgte, und Edvard Munch (dem sie mehrfach Modell stand, etwa für seine »Madonna«); geheiratet hat sie schließlich den Schriftsteller, Trinker und Satanisten Stanisław Przybyszewski, der ihr Untergang wurde. Sie gilt als »Femme fatale«, doch hat man es sich mit dieser Charakterisierung zu leicht gemacht. Zu Lebzeiten noch relativ unbeachtet, gelangte der Großteil ihres Werks erst Jahre nach ihrem gewaltsamen Tod an die Öffentlichkeit. Erstmals erscheinen nun ihre gesammelten Texte in deutscher Sprache.

 

Über den Übersetzter

Lars Brandt wurde 1951 in Berlin geboren und lebt mit seiner Frau, der Fotografin Renate Brandt, in Bonn. Auf die Arbeit als Schriftsteller wirken sich seine Erfahrungen als Maler und Filmemacher aus. In Ergänzung seines Dokumentarfilms »Momente des Glücks« für WDR/Arte veröffentlichte er sein Buch »H. C. Artmann – Ein Gespräch über den österreichischen Dichter«. Es folgten der literarische Essay »Andenken« über seinen Vater Willy Brandt sowie die Romane »Gold und Silber« und »Alles Zirkus«. Texte von ihm werden immer wieder im Rundfunk, in Theatern, Literaturhäusern, Museen und Kunstvereinen präsentiert. In Beiträgen für Zeitschriften und Zeitungen nimmt er zu kulturellen und politischen Fragen Stellung.

 

PROSA

 

In questa tomba oscura …

 

Gebeugten Hauptes eilte sie die Straße hinauf und die Straße hinab.

Es war dunkel, und zwischen den hohen, düsteren Häusern pfiff der Wind. Wie ein Schiff unter vollen Segeln trieb er sie voran. Sie wußte, es hatte keinen Zweck, dagegen anzukämpfen, sie wußte, sie mußte voran, voran, bis sie ihr Ziel erreichte.

Was suchte sie? Wohin wollte sie in dieser schrecklichen Nacht? Sie wußte es selbst nicht. Sie schloß die Augen und ließ sich willenlos treiben.

Sie kannte den Weg nicht. Sie kannte diese verschwiegenen, dunklen Zeugen von Kummer und Freuden des Menschen nicht. Sie sah mit Furcht in diese einsamen Lichter, die fieberhaft in die Nacht hinaus leuchteten und von Krankheit erzählten – von Liebe.

Diese geheimen Lichter hinter den dunklen hohen Mauern zwischen dem wispernden Grün der Gärten erinnerten sie an etwas in ihrem eigenen Leben, an das Fieber, das sie diese Nacht hinausgetrieben hatte.

Was wollte sie? Was wartete auf sie?

Sie wußte nur, daß sich in dieser Nacht das Rätsel ihres Lebens lösen sollte, daß sie in dieser Nacht ihrem Lebensglück von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde, oder – ging es um ein Verbrechen, das sie begangen hatte?

Sie erschauderte. Sie hatte das vor so vielen Jahren vergessen. Sie hatte es vergessen und versteckt geglaubt, doch nun, in dieser schwarzen Nacht, während der Sturm sie pfeifend dem unbekannten Ziel entgegentrieb, nun fühlte sie mit jeder Sekunde in Angst stärker und schmerzvoller, daß dieses Eine in ihrer Seele gelebt hatte, sein eigenes unterirdisches Leben gelebt hatte, sich zu einem flammenden, blutroten Fragezeichen ausgewachsen hatte, das nach Antwort schrie, nach Erlösung.

Und in dieser Nacht sollte sie vor dem einen Auge des Schicksals stehen und die Antwort bekommen, die Antwort.

Auf einmal blieb sie stehen. Ängstlich lauschte sie. Um sie herum war es so ruhig und so dunkel geworden, so bodenlos dunkel wie in ihrer eigenen Seele. Wo war sie? Sie befand sich nicht mehr auf der Straße. Sie bebte vor Erwartung, sie fühlte, sie war an ihr Ziel gelangt, daß der Abgrund sich vor ihr öffnete. Und sie zitterte vor Begehren, in diesen Abgrund zu sehen, der sie verschlingen würde, wie sie wußte.

Ein schwaches Leuchten, und sie sah, daß sie sich in einer riesengroßen Halle befand. Die Decke war hoch wie der Himmelsbogen, und vor der Tür, woher das Licht kam, ruhte eine schlafende Sphinx aus Stein.

Langsam ging sie auf die offene Tür zu, hinter der, wie sie wußte, ihr Schicksal auf sie lauerte, um sie in seine Arme zu ziehen und ihr das Blut auszusaugen, Tropfen für Tropfen.

Sie stand vor einem Korridor, der von so hellem Licht erfüllt war, daß es sie im ersten Augenblick blendete und verwirrte. Und als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, daß beide Wände des Korridors mit hohen dunklen Bildern von Menschen bedeckt waren, Männer und Frauen, und alle richteten sie ihre drohenden, spöttischen und traurigen Augen auf sie, und sie las in diesen grabesfahlen Gesichtern ein fürchterliches Willkommen. Sie sah sie gemessen nicken mit ihren bleichen Köpfen, und sie las in diesen vielen unergründ­lichen Augen: Komm, komm näher! Noch bist du nicht da. Wir überbringen nur einen Gruß vom Ziel, das dir zuwinkt.

Sie schauderte zurück vor dieser Reihe lebender Toter. Der Gang war so schmal, daß sie ihr hätten ins Gesicht schlagen können mit ihren leichenkalten Händen, hätten sie sie ausgestreckt. Nun hätte sie ihr Leben darum gegeben, zurückzukehren in Nacht und Sturm, doch das, was sie voranzwang, war stärker als ihre zitternde Todesangst.

Weiter mußte sie durch das dunkle Feuer dieser leeren Augen, weiter mußte sie zu neuen, ungeahnten Schrecken.

Auf einmal stand sie am anderen Ende des Ganges. Sie stand vor einem tiefen grabesfinsteren Gewölbe. Nur von der Decke strömte matt ein grünspanfarbenes Licht, das fahl und unheilspeiend um einen Katafalk auf hohen schwarzen Säulen wogte.

Und nun sah sie, daß dort auf der Bahre, reglos und wartend, eine Leiche lag, ein Mann.

Und nun stand sie an der Bahre und betrachtete sein Gesicht, das Gesicht, dessen Mund ihr die Antwort geben sollte, der einzige, einzige, der sie kannte.

Und der war tot und stumm für ewig, und die Augen, für die sie allen Schrecken des Grabes getrotzt hätte, um einmal in ihnen lesen zu können, ein einziges Mal, waren geschlossen, geschlossen für immer und ewig.

Und während sie dort lag, zu Boden geworfen, und ihre Hände in ohnmächtiger Angst rang, hörte sie hinter sich Schritte, Schritte, die sie kannte, Schritte, die sie geliebt hatte. Und als sie jetzt aufsprang und sich umdrehte, stand er vor ihr, er, der auf der Bahre gelegen hatte, er, der die Antwort besaß. Und er sah sie mit großen, lebendigen, glühenden Augen an.

Und sie legte ihre Hände in seine und sah ihm gierig in die offenen Augen. Und zitternd flüsterte sie, entgeistert: Die Antwort, die Antwort, gib mir jetzt die Antwort!

Da spürte sie seine Hände neu erkalten, in Todesblässe versteifte sich sein Gesicht, und seine Augen schlossen sich schwer unter ihrem verzweifelten Blick.

Lediglich seine Hände drückten ihre Hände fest und unerbittlich, und sie fühlte, wie sie unter seinem Griff verwelkte, unter seinem toten Blick, wie sie verwelkte wie ein Baum im Herbst, während der Sturm wieder seine wilden Todes­psalmen sang um sie herum und die Schwärze der Nacht sie auf ewig umhüllte.

 

LYRIK & DRAMA

Rediviva

Ich will die wundersame Geschichte meines Lebens erzählen. Vielleicht werden nicht alle sie so wundersam finden – vielleicht ist auch noch anderen dasselbe widerfahren, aber davon habe ich nie gehört, und darum glaube ich, daß ich die einzige bin, die auf dieses entsetzlich tragische, mystische Schicksal zu starren hat.

Zuerst ein unendliches Lebensglück.

Ich sah ihn und wußte im selben Augenblick, daß ich ihn besitzen müßte und daß dies meines Lebens großer, tiefer Inhalt sein sollte. Beide wußten wir, daß wir zusammenleben müßten, sollte es sich lohnen zu leben.

Und so wurde ich sein, er wurde mein, und sie, die zwischen uns stand – brachten wir um. Wir schlichen uns nicht an und stachen ihr einen Dolch ins Herz, nein – und schossen wir ihr auch keine Kugel durch den Kopf. Nein – nein – nein – wir wußten nur mit lächelnder Sicherheit, daß sie sterben sollte und mußte – sie stand uns im Weg – das muß doch nun jeder begreifen können – wir brauchten sie nicht – niemand brauchte sie, also ließen wir sie dahinsiechen und sterben. Das ist doch wohl hinreichend klar – natürlich mußte sie sterben – und wir zwei hatten soviel Macht in unserer unendlichen Liebe – wir konnten alles, alles beugte sich uns.

Dann war sie also tot, und wir waren frei!

Und das Glück kam wirklich, es schreckte nicht zurück vor unserer rücksichtslosen Liebe, es folgte uns, umarmte uns und lachte uns an, und ich glaubte, es wäre unser geborener Freund, unsere Mutter – inzwischen habe ich verstanden, welch grausames Spiel es mit uns trieb.

Und wir zogen durch alle Reiche und Länder des Glücks. Wo wir waren, schien die Sonne, und der Wind wehte freundlicher und ganz verträumt durch Blumen und Blätter.

Und nie wurden wir dieser Liebe müde, nie kamen Haß und Leid und setzten sich zwischen uns und hetzten uns aufeinander – nein, das wäre doch ziemlich gewöhnlich gewesen, nicht grausam, nicht raffiniert grausam genug. Sie, die Tote, war vergessen, wir erinnerten uns kaum ihres Namens – sie spielte keine Rolle mehr in unserem Leben.

Und doch – und doch – irgend etwas spukte mit der Zeit in meinem Hirn umher, etwas Rätselhaftes, eine Angst schrie mit der Zeit nach Erlösung – etwas aus meiner Vergangenheit sah mich an mit bleichen, rätselhaften Augen, und mit der Zeit konnte ich in den Gewitterwolken am Himmel, im Schrei der Möwen draußen überm Meer einen seltsam furchterregenden, schneidenden Hohn lesen.

Und dann – dann kam jene große, schwarze Nacht, als ich erwachte und sah, und gelähmt vor Angst sah – sie auf der Kante meines Bettes sitzen. Und inmitten der Dunkelheit, inmitten der Nacht sah ich nur zu deutlich – mit eisiger, starrer Gewißheit, daß sie es war. Sie war auferstanden von den Toten! Nun wollte sie sich rächen – nun wollte sie ihren Haß befriedigen, den wir mit ihr tot geglaubt hatten.

Doch nicht Haß, nicht den Wunsch nach Rache las ich in ihren bleichen Zügen. Unbeweglich, ausdruckslos starrte sie ins Zimmer mit hohlen, leeren Augen – wie das Schicksal selbst.

Und nie mehr seitdem verließ sie mich – jede Nacht, jede schlaflose Schreckensnacht saß sie an meinem Bett, und nie sah ich einen anderen Ausdruck in dem vom Tod gestempelten Gesicht als diese steife Ruhe – diese todeskalte, unbarmherzige Unheimlichkeit.

Und ich hätte meine Arme zu ihr heben können und flehen und daliegen und drohen: »O geh! O geh! Was willst du hier? Was kannst du erreichen? Was hättest du davon, selbst wenn ich ihn dir zurückgäbe? Zerstöre nicht mein Leben – oder zerstöre es, zerstöre es – aber geh!«

Doch jetzt ließ sie sich ernstlich nieder bei mir zu Hause, Tag und Nacht saß sie bei mir, und wenn er und ich uns umarmten, war sie auch mit in unserer Umarmung, und ich sah und fühlte ihre kalten, todeskalten Arme um ihn – um mich.

Aber er sah nichts, fühlte nichts, und ich beschloß, ihr zu trotzen – sie sollte nicht mit Füßen auf meinem Glück herumtrampeln dürfen – niemals, niemals würde ich mich damit abfinden.

Und ich höhnte und spottete ihrer: »Ja, ja, meine Freundin, am schlimmsten muß es im Grunde für dich selber sein, deinen Geliebten in den Armen einer anderen zu sehen! Meine Liebe, beobachte uns nur, wenn es dir Spaß macht!« Und ich warf ihr höhnische, triumphierende, lachende Blicke zu, indem ich meine Arme um seinen Hals schlang und ihn küßte – doch mein Kuß wurde zu Eis unter diesem entsetzlichen leeren Blick, unter dieser entsetzlichen schicksalsträchtigen Gleichgültigkeit des Todes.

Und ich weiß, daß sie mir nie Ruhe lassen wird – nie wird sie von meiner Seite weichen und ich fühle, daß sie an meiner Seite bleiben muß, bis auch mein Puls zu schlagen aufhört, bis auch mein Blut kalt geworden und mein Blick gebrochen ist, denn sie ist meines Lebens großes, unbarmherziges, unabänderliches Schicksal.

 

Berlin, Dezember 1893

 

Sing mir das Lied vom
Leben und vom Tode …*

 

Jetzt war er tot.

Sie saß unbeweglich und sah neugierig hinab auf das bleiche Gesicht mit den geschlossenen Augen.

Wie er sie geliebt hatte! Seine Liebe hatte sie in die Robe einer Königin gehüllt, hatte ihr eine unsichtbare Königskrone auf den Kopf gesetzt, eine Krone, die alle spürten, vor der sich alle verbeugten. Seiner Augen leuchtende Strahlen hatten ein Diadem um ihre Stirn gespannt, stolzer als irgendeine königliche Herrscherin es je getragen hatte. Sie war Königin im Reich der Liebe gewesen, denn nie hatte irgendein Mann eine Frau mehr geliebt als er sie.

Und jetzt war er tot.

Nie mehr sollte sie in seinen Augen lesen, daß sie die Sonne war, um die sich die Erde drehte. Nie mehr sollte sie den Duft der Blumen spüren, die seine Liebe um sie herum züchtete. Die Blumen waren nun verwelkt, und die Knochenhand des Todes hatte die Königskrone von ihrem Kopf gerissen.

Sie saß und schaute ins stille Gesicht des Todes und dachte an alles, was er ihr gegeben hatte und – wie wenig sie ihm zurückgegeben hatte.

Er war tot, und sie saß tränenlos und sah auf sein erstarrtes Gesicht, das früher ihretwegen vor Glück gestrahlt hatte. Sie fühlte sich langsam erleichtert, fast froh. Sie streckte die Arme aus und seufzte tief, wie befreit von einem schmerzlichen Gedanken.

Ach, die Blumen seiner Liebe waren zu üppig um sie herum gewachsen, der Duft hatte ihr das Atmen schwergemacht, die Blumenranken hatten sich um ihr Leben geschlungen, bis sie sich an Händen und Füßen gefesselt fühlte.

In seinen Augen lagen stets Tausende Fragen: Liebst du mich? Liebst du mich jetzt? Liebst du mich so … Sie hatte sich wie ein Schuldner gefühlt, der seine Schuld nicht begleichen kann. Sie hatte sich erniedrigt gefühlt, beschämt durch die große, unergründliche Leidenschaft, die selbst zu empfinden ihr die Gabe fehlte.

Und jetzt war er tot, und sie streckte die Arme aus in Wohlbefinden, wie jemand, der aus einem Alptraum erwacht.

Er hatte ihr eine efeuberankte Mauer vors Leben gesetzt, um sie zu zwingen, bloß ihn zu sehen, ihn, ihn. Die würde sie nun niederreißen und sich allen Lüften öffnen.

 

Und die Zeit verging.

Sie dachte selten an ihn, der tot war, und sehnte ihn nicht zurück. Sie war jung, und ihre Schönheit war von der mannigfaltigen und wechselvollen Art, die die Phantasie fesselt und gefangennimmt. Ihr Lächeln war voller Rätsel, und viele waren es, die sie zu deuten wünschten.

Doch ihre Sehnsüchte gingen weite Wege, und ihr Lächeln galt dem Echo ihrer eigenen Gedanken. Sie begnügte sich mit der bindungslosen Unentschlossenheit ihrer Gefühle, ihrer Gedanken ewigem Ebbe und Flut.

Sie wünschte sich keinen Adler, dessen stolze Schwingen sie zu den Wolken tragen könnten, auch keine Nachtigall, die singend ihre Schönheit priese. Sie wollte ihr Leben mit dem regebogenfarbenen Spinnennetz ihrer eigenen Träume füllen.

 

Und die Zeit verging.

Und es kam ein Tag, an dem ihre Sehnsucht ein Ziel zu suchen begann, einen Abgrund, in dem sie versinken konnte. Ein Tag kam, da ihr Herz sich nach dem starken Schlag eines anderen Herzens zu sehnen begann. Und sie begann mit sehnsuchtsvoller Furcht in die Augen zu sehen, die suchend ihre trafen.

Da traf sie eines Tages ein Blick. Er verbrannte sie wie eine Flamme. Sie schloß die Augen verwirrt, geblendet.

Sie kannte diesen Blick, der sie in die Knie zwang mit seiner mächtigen Zärtlichkeit. Früher schon hatte sie diese Flamme um ihr Herz herum lodern gefühlt.

Aber wo? Wann?

Und Tage und Nächte ging sie umher über dieses Rätsel grübelnd, über diese Augen, die sie mit Grauen erfüllten, doch zugleich mit einer krankhaften Sehnsucht, die sie nie zuvor gekannt hatte.

Und mit einem Mal wußte sie es … Es waren seine Augen! Seine! Die des Toten! Es waren die Augen des Mannes, der sie so inbrünstig geliebt hatte, daß seiner Liebe Flügelschlag selbst nach seinem Tod ihrem Leben folgte.

Kam er, um zu fragen, ob sie ihn wirklich fallengelassen hatte wie ein welkes Blatt, ob sie mit seinem steifen Körper die Erinnerung begraben hatte an ihn und seine Liebe?

Nein, sie wollte diese fordernden Augen nicht sehen, sie wollte jetzt nicht erinnert werden an ihre Schuld. Und sie wich allen Blicken aus, nur um nicht diesem einen zu begegnen mit seiner Flammenfrage, auf die sie keine Antwort suchen wollte.

 

Und die Zeit verging.

Die fragenden Augen waren wieder aus ihrem Leben verschwunden. Sie hatten sich wieder geschlossen vor Kummer und Zorn des Lebens. Sie suchte die in diesen Augen liegende traurige Anklage nicht mehr zu ergründen.

Da hörte sie eines Tages seine Stimme.

Sie erblaßte vor Entsetzen. Woher kam diese Stimme? Seine Stimme? Nein, nein, das war nicht wahr. Es war der dunkle Gesang des Meeres, der eine Erinnerung in ihrer Seele zum Leben erweckt hatte. Sie war so oft mit ihm den Strand entlang gegangen, sie hatte seine Stimme so oft über seine Liebe sprechen hören im Rhythmus der steigenden und fallenden Wellen … Doch nein, jetzt hörte sie sie noch einmal … es war nicht das Meer, er war es, er, der ihr ins Ohr flüsterte, daß er nicht tot sei, daß er niemals sterben könne, da seine Liebe stärker sei als Leben und Tod, da seine Liebe unsterblich sei.

Sie flüchtete aus Angst vor dieser Stimme aus dem Reich der Toten. Sie reiste über Meer und Land, um sich nicht an ihn zu erinnern, an seinen Blick, an seine Liebe, die stärker war als Leben und Tod.

Sie verhärtete ihr Herz, und eines Tages warf sie lachend seinen Ring ins Meer.

Da hörte sie sein Herz schlagen. Sie lauschte. Sie kannte diesen fiebernden Herzschlag. Sie zitterte.

Wie es schlug, dieses große, unergründliche Herz, das nur für sie gepocht hatte! Sie hörte es im Meer, in der Erde unter ihren Füßen, in den großen schwarzen Bergen. Und nun hörte sie sein krankes Herz, angefüllt mit Liebe, klopfen im Innern ihres eigenen. Und sie fühlte, wie er seine Arme um sie legte und sie an dies Herz drückte, das nicht sterben konnte, da es so voller Liebe war.

Und nun hörte sie nur noch ihn, sah nur ihn, ihn überall. Sie fühlte seine Hand die ihre umklammern, sie hörte seine Stimme flüstern immer und immer wieder, wie er sie liebe, daß sie alles für ihn sei, daß kein Tod, kein Grab ihn daran hindern könne, ihr stets zu folgen, in Zeit und Ewigkeit.

Sie hatte in diese Augen gesehen, die in ihr stets eine Glut gesucht hatten, eine Hingabe, die sie nie gefunden hatten. Sie hatte seinen fiebernden Pulsschlag in ihren eigenen Adern gefühlt, sein wild klopfendes Herz in ihrer eigenen Brust – und wurde nun von derselben kranken, hoffnungslosen Sehnsucht nach ihm ergriffen, nach seiner körperlichen Nähe, seiner Leidenschaft, sie wurde von derselben unstillbaren Sehnsucht ergriffen, die sein ganzes Leben vergiftet hatte.

Da beugte sie das Knie vor der Erinnerung an ihn, vor der Erinnerung an seine große Liebe. Sie baute einen Tempel für ihn in ihrem Herzen, und alle ihre Träume, ihre Schmerzen und ihre Sehnsucht ließ sie wie Wellen der Lobpreisung um sein Bild schwappen, das Bild des Mannes, dessen Liebe nach dem Tod ihr Herz besiegt hatte, dessen Liebe nach dem Tod ihr die schicksalsschwangere Gabe ihrer eigenen Sehnsucht geschenkt hatte.

 

Et la tristesse de tout cela,
oh, mon âme …

 

Sie steht am Flügel und singt.

Bequem zurückgelehnt sitzt er und lauscht.

Sie steht und singt, in sich gekehrt, versunken in dieses eine, einzige Gefühl, das ihre Seele in die Wolken hebt, in die Sonne. Zeit und Raum schwinden hin in einem leuchtenden Nebel, Vergangenheit und Zukunft treffen sich auf den blauschimmernden Zinnen der Ewigkeit.

Und der Ton lüftet seine nassen Schwingen und flattert träumend hinaus in den Raum, er sucht, sucht, und kehrt mit einem Seufzen zurück.

Erneut hebt er seine weißen Schwingen, und leicht wie Sonnenstaub fliegt er hoch zu den Sternen und setzt sich zwischen sie, selbst ein Stern.

Und nun hebt der Ton seine breiten Schwingen, und majestätisch segelt er hinaus übers weite, weite Meer, über Berge und Zinnen, höher, höher, schwindelnd, alles vergessend, alles – jetzt flog er in die Sonne!

Der Gesang ist verstummt, sie steht bleich und sieht ihn an mit ängstlichen Augen. Sie fühlt, sie weiß, sie hat sich verraten, sie hat sich nackt gesungen. Ihren Schmerz, ihre Sehnsüchte, die ihre Pfeile so weit verschießen, weit über ihn hinaus.

Doch er ist nicht bleich. »Du hast brillant gesungen«, sagt er zufrieden, »so gut hast du das H noch nie erwischt.«

 

In der Dämmerung

 

Diese Blume, diese sonderbare Blume … Sie setzte sich dicht zu ihr und ließ ihren feinen, langen Stengel ihre Knie streicheln.

Der Duft erfüllte sie mit heimlichem Glück. Sie las ihre eigene Sehnsucht in den großen feuchten Augen der Blume. Sie hatte etwas in ihr wiedergefunden, etwas, das ihr verlorengegangen war, ein Klang, ein Ton in ihrer Seele. Er sang eine Hymne, die sie vergessen hatte. Oh, es schmerzte wie eine Verletzung, als eines der großen weißen Augen verwelkte und abfiel!

Und sie dachte an all die verschiedenen duftenden Blumen ihres Lebens. Sie fühlte sie umherflattern um sich wie tausendflügelige, tausendfarbige Vögel. Alle Melodien hatten sie gesungen, alle Farben hatten sie ausgeschüttet über ihre Nächte und Tage.

Doch diese eine einzige Blume, die sie nie zuvor gesehen hatte, die eines Morgens unnahbar und nachdenklich in ihrem Zimmer stand, mit einem Kranz aus leuchtenden Sternen um ihren Kopf, sang ihrer Seele Farbe und Sehnsucht. Und als eine Welle ihres Atems sie traf, fühlte sie, daß sie zitterte und ihr vor Glück heiß wurde.

Viele Sterne waren in ihrem Leben umhergetanzt, glitzernd wie Rauhreif in einem Fichtenhain, tanzend wie die Sterne am Grund eines Sees. Doch dieser eine einsame Stern war der einzige heilige Stern ihres Lebens, der Stern über ihrem Bethlehem …

Wie jung sie damals war und wie fernab des Lebens! So fern, daß selbst ihre Sehnsucht ihm kaum nahekam. Sie sah sich selbst, den Arm voller Blumen, Kornblumen, blau wie ihr eigenes Gemüt, blau wie ihre leichtsinnige Frühlingsseele. Und sie warf und streute die Blumen um sich, streute und pflückte sie … gelbe im Haar, rote um die Arme, blaue und weiße … Tulpen, Veilchen, Flieder … Und der Duft erfüllte ihre Sinne, doch die Seele schlief.

Dann kamen die Tage der Rosen. Nichts als Rosen, volle, schwere, flammende Rosen …