Aus dem Amerikanischen von Claudia Rapp

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Guise of Another

erschien 2015 im Verlag Seventh Street Books.

Copyright © 2015 by Allen Eskens

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Adobe Stock – amixstudio

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-768-4

www.Festa-Verlag.de

Für Joely

Prolog

In jener Nacht gab es einige Dinge, die der Mann mit allergrößter Sicherheit wusste. Er wusste, dass er mit der Frau, die auf dem Beifahrersitz seines Lexus saß, gleich Sex haben würde. Er wusste, dass weder seine Ehefrau noch der Ehemann der Frau bisher Verdacht schöpften, was ihre Untreue anging. Und er wusste, dass jeder Anflug von Schuldgefühlen, der ihn heimsuchen mochte, schon bald vom Aufruhr ihres Tuns übertönt werden würde.

Andere Dinge wiederum wusste der Mann nicht. Er wusste nicht, wo oder wie sie heute Sex haben würden. Er wusste nicht, ob seine Gefühle für diese Frau über die sexuelle Anziehungskraft ihres Körpers hinausgingen. Und er wusste auch nicht, dass ihr gemeinsamer Leichtsinn in jener Nacht eine Kette von Ereignissen auslösen sollte, die weit über ihre selbstbezogene kleine Welt hinaus Kreise ziehen würde.

Seit sechs Monaten benahmen sie sich jetzt schon wie unbekümmerte Teenager, brachten sich gegenseitig dazu, Grenzen zu überschreiten, von denen beide nicht wussten, was dahinter lag. Sie wurden kühner mit jeder Woche, die verging. Bei ihren Stelldicheins ging es stets um Abwechslung und Risiko, sie suchten den Abgrund und trieben absichtlich auf die Katastrophe zu. Wenn sie das Altbewährte gewollt hätte, zum Deckenventilator hinaufstarren, bis es vorbei war, dann würde sie ihren Mann nicht betrügen. Wenn er aus drei Stellungen auswählen wollte, hätte er auch zu Hause bei seiner Frau bleiben können. Das Gewöhnliche war es, wovor sie davonliefen.

Während sie langsam durch die beinahe menschenleeren Straßen von Minneapolis rollten – in jenem Teil der Stadt, in dem die Glas- und Granitwände von Downtown in den getünchten Mörtel des Bezirks mit den Lagerhallen übergingen –, wurde die Frau unruhig. Rastlos.

Es war so weit.

Sie schnallte sich ab und beugte sich hinüber, um auch seinen Gurt zu lösen. Dann begann sie, mit geübten, anmutigen Händen den Verschluss seiner Hose zu öffnen. Offenbar verriet sein Blick Enttäuschung, denn sie hielt auf halbem Weg inne und raunte: »Das wird dir gefallen.« Er glaubte zu wissen, was ihr vorschwebte, also fuhr er in Richtung Third Street, einer verkehrsarmen Einbahnstraße, die sich zu einer vierspurigen Schnellstraße erweiterte und zu so später Stunde geradezu gottverlassen war.

Sie lehnte sich näher, ihr Mund dicht an seinem Ohr, und flüsterte: »Schieb deinen Sitz ganz nach hinten.« Der Kitzel ihres Parfüms, dessen Duft sich mit dem Geruch der neuen Ledersitze vermischte, nahm ihm beinahe den Atem. Der Sitzmotor summte, zog ihn zurück, bis seine Fingerspitzen kaum noch das Lenkrad berührten. Sie schob ihr Kleid hoch und glitt auf seinen Schoß, platzierte ihre Knie zu beiden Seiten seiner Oberschenkel. Er lächelte, als sie die Führung übernahm.

Keiner von beiden hatte Augen für die Kurve der Stadt, die immer schneller vorbeiflog, im schwindelerregenden Wechsel von Straßenlaternen und Schatten. An einer Stelle, wo die Gegenfahrbahn durch eine kaum kniehohe Mittelleitplanke aus Beton von ihrer Fahrspur getrennt war, gab sich die Frau ihrer Ekstase hin. Sie ritt ihn mit zusammengebissenen Zähnen, während die Lust ihren Körper flutete.

Hätte sie geahnt, dass diese Gefühle das Letzte waren, was sie jemals wieder von unterhalb ihres vierten Lendenwirbels spüren würde, dann hätte sie dem sicher mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Später, nachdem sie sich an ihren Rollstuhl und er sich an seinen Gehstock gewöhnt hatte, gaben sie sich gegenseitig die Schuld, und das mit einer so heftigen Feindseligkeit, wie sie sonst nur bei Blutfehden auftritt. Sie würde sagen, dass er vor lauter Leidenschaft die Kontrolle über den Wagen verloren und das Lenkrad hart nach links herumgerissen hatte. Er würde beschwören, dass sie das Lenkrad mit ihrer Hinterbacke erfasst und sie beide über den Mittelstreifen katapultiert hatte. Jeder, der ihre Geschichten hören oder die schlüpfrigen Details in der Zeitung lesen sollte, hasste sie beide.

Der Aufprall zerriss die Stille der Nacht. Und es dauerte nicht länger als ein einziges Aufstöhnen, den nach Norden rasenden Lexus über die Mittelleitplanke und auf die Gegenspur fliegen zu lassen, wo er mit der Schnauze voran in einen entgegenkommenden Porsche 911 krachte.

Der Fahrer des Porsche, ein Mann, den die Welt als James Erkel Putnam kannte, trat auf die Bremse, berührte aber kaum das Pedal, bevor der Kühlergrill seines Wagens auch schon in die Stahlkarosserie des Lexus eindrang. Die Kakofonie kreischenden Stahls war meilenweit zu hören, als die beiden Autos gegen den Uhrzeigersinn herumgeschleudert wurden, gefangen in einem grässlichen Tanz, bei dem der Lexus führte.

In jener Nacht hatte James Erkel Putnam – ein Mann, der zwar das Tageslicht nicht mied, aber dennoch im Schatten lebte, ein Mann, der geglaubt hatte, ihm bliebe alle Zeit der Welt, um nach Vergebung für seine vielen Sünden zu suchen – nicht die geringste Chance.

Teil 1

1

Detective Alexander Rupert stieg die ausgetretene Marmortreppe hinab in die Tiefen des Rathauses. Auf der untersten Stufe hielt er inne und wartete, bis die geballte Faust in seinen Eingeweiden sich ein wenig entspannte. Er atmete die schale Luft des Kellers ein, und als er ausatmete, trug sein Atem den Rest an Frustration mit sich fort. Mit jedem neuen Tag und jedem Abstieg in den Keller fiel es ihm schwerer, sich selbst davon zu überzeugen, dass ihm diese neue Tätigkeit nicht recht geschah, dass er diese Versetzung zur Betrugseinheit nicht verdient hatte. Er empfand den neuen Job wie einen Anzug, der eine Nummer zu klein für ihn war, einen Anzug, von dem er schwören würde, dass er ihm weder stand noch gehörte. Es war nur ein zeitweiliger Abstieg auf der Karriereleiter, nichts Permanentes. Aber aus Wochen waren bereits Monate geworden, und die Geschichten, die zu seinem Weggang aus dem Drogendezernat geführt hatten, waren inzwischen geronnen und hatten sich verfestigt. Er fing langsam an zu bezweifeln, dass er je wieder einen Weg aus diesem Keller finden würde.

Er nahm einen weiteren reinigenden Atemzug und bog um die Ecke, betrat den langen, stickigen Flur, der zum Dezernat für Fälschung und Betrug führte, jener Einheit des Minneapolis Police Department, bei der er gelandet war, nachdem er so schmählich in Ungnade gefallen war. Mit den moosgrünen Wänden und der Matte winziger weißer Fliesen unter den Sohlen erinnerte ihn der Flur an die Herrentoilette des alten Stadions, des eingestürzten Metrodome. Fehlten nur eine Pinkelrinne aus Edelstahl und ein paar Waschbecken, dann würde er sich fühlen, als wäre er wegen eines Spiels der Vikings hier.

Seine Versetzung vom Drogendezernat zur Betrugsabteilung hatten sie als temporäre Maßnahme bezeichnet, als einen angemessenen Aufenthaltsort, bis sich der Staub gelegt hatte. Aber Alexander wusste es besser. Er wusste, dass die da oben ihn auf diesem Posten versauern lassen wollten, bis die bundesstaatliche Untersuchung ihn entweder entlastete oder in den Knast schickte. Und er wusste auch, selbst wenn die Grand Jury zum Schluss kam, dass es keine Anklage geben würde – und er war sicher, dass sie zu diesem Schluss kommen würde –, diese Entlastung reichte nicht aus, ihn komplett aus dem Loch zu ziehen, in das er gefallen war.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch, einen grauen, standardisierten Metallschreibtisch, den man in eine Arbeitsnische geklemmt hatte, die identisch mit jener war, in der er vor acht Jahren angefangen hatte, frisch zum Detective befördert. Damals hatten sie ihn zum Dezernat für Sexualverbrechen geschickt, ein Job mit guten und schlechten Seiten. An den verdeckten Ermittlungen im Bereich Prostitution hatte er seine helle Freude, ganz besonders dann, wenn er die Fahndungs- und Verbrecherfotos der Freier im Internet postete. Aber die Fälle, in denen es um Kindesmissbrauch ging, widerten ihn an.

Eines Tages, beim Verhör eines Mannes, der den Missbrauch an einem geistig behinderten Mädchen auf Video aufgezeichnet hatte, beugte sich Alexander über den Tisch und flüsterte dem Kerl zu: »Du solltest hoffen, dass du im Gefängnis landest, denn wenn du hier als freier Mann rausgehst, dann werde ich dich finden und umbringen.«

Dieser Zwischenfall beendete Alexanders Arbeit beim Dezernat für Sexualverbrechen. Aber es war keine Degradierung oder Bestrafung, die ihn von dort wegbrachte; tatsächlich erfuhr seine Vorgesetzte nie etwas von dieser Bemerkung. In ihren Augen hatte Alexander erstklassige Arbeit geleistet und einen Sexualstraftäter aus dem Verkehr gezogen. Aber Alexander erzählte seinem Bruder Max die ganze Geschichte. Max war ebenfalls Detective, allerdings beim Morddezernat. Und Max war auch derjenige, der ihn drängte, um eine Versetzung zu bitten. Und so kam er nach drei Jahren bei den Sexualstraftaten zum Drogendezernat und wurde von dort aus der Joint Task Force zur Drogenbekämpfung zugewiesen.

Und dann kam der Sturz der Task Force.

Alexander setzte sich in seine Nische im Betrugsdezernat und starrte auf die Stapel von Berichten, die auf ihn warteten. Er fühlte sich, als hätte man ihn an den Kindertisch verbannt, von den Gesprächen der Erwachsenen ausgeschlossen, die um ihn herum flüsternd fortgesetzt wurden. Er konnte die eisigen Blicke der anderen Detectives im Raum spüren – Männer und Frauen, die wie ein Schwarm kleiner Fische vor einem Hai auswichen, wenn Alexander sich näherte. Sie schluckten die Gerüchte und hatten keinen Schimmer von der Hölle, durch die er während seiner Zeit im Drogendezernat gegangen war. Sie wussten nicht das Geringste über die Grauzonen, den schmalen Grat, auf dem ein Mann balancierte, wenn er undercover arbeitete. Sie machten sich keine Vorstellung von den Opfern, die man bringen musste, um der richtigen Gruppe schwerer Jungs nahe genug zu kommen. Sie kannten nicht mehr als das düstere Geflüster, das ihm wie trübes Kielwasser folgte, wenn er vorbeiging.

Während seiner Zeit bei der Task Force hatte Alexander Schulter an Schulter mit Männern gestanden, die eines Tages versuchen würden, ihn umzubringen. Er hatte eine der größten Operationen verdeckter Ermittlungen in der Geschichte Minnesotas orchestriert, eine Operation, die ihm unter anderem seine erste und bisher einzige Schusswunde eingebracht hatte – einen Schuss ins Becken, der ihm das Darmbein gebrochen hatte. Aber diese Festnahmen hatten ihm ebenso die Tapferkeitsmedaille eingebracht und eine wahre Parade an Gratulanten, vom Streifenpolizisten bis hin zum Senator, die ihn zu seiner hervorragenden Arbeit als Detective beglückwünschten.

Aber all das war vor dem Sturz der Task Force, vor den Zeitungsartikeln, vor der bundesstaatlichen Ermittlung und der Grand Jury. Vor dem Rückfall, der ihn bis in den Keller der Stadtverwaltung zum Betrugsdezernat abrutschen ließ. Wegen der Dummheit anderer war er zum Ausgestoßenen degradiert worden, verhasst genug, dass sich keiner seiner Kollegen dazu herablassen würde, ihm auch nur einen Kaffee anzubieten.

Heute schlurfte Alexander Rupert Tag für Tag zu seiner Nische im Betrugsdezernat, wo er dann saß und seinen Groll in sich hineinfraß. Er verfluchte jene Detectives, die Teil der Task Force gewesen waren und deren Unfähigkeit auf sie alle abgefärbt hatte. Diese Flecken ließen sich nicht herauswaschen. Ebenso verfluchte er die Detectives um ihn herum, die ihn verurteilt hatten, ohne ihm überhaupt eine Chance zu geben. Nach drei Monaten hier unten fiel es ihm nach wie vor schwer, sich durch den wirren Morast schlechter Gedanken zu kämpfen, der in seinen Kopf umherschwirrte.

Aber im Grunde war ihm der Aufruhr seines Grolls immer noch lieber als die Stille, die dahinter lauerte. Denn in den seltenen Momenten, wenn seine Bitterkeit verstummte, spürte er die Einsamkeit, das Stigma des Außenseiters. Dann spürte er die volle Wucht seiner Ächtung, mächtig und kalt wie der Winterwind. Er hatte noch nie etwas so Verzehrendes gefühlt.

2

Alexander warf einen Blick auf die Uhr. Die erste Enttäuschung des heutigen Tages, ein Fachanwalt für Körperverletzungsdelikte namens Reginald Dogget, kam zu spät. Alexander erschien die Unpünktlichkeit des Mannes bewusst respektlos, daher machte sich Geringschätzung in ihm breit. Als Dogget dann endlich erschien, sah Alexander ihn in den Verhörraum marschieren. Er besaß den Gang eines Mannes, der sich jeden Zentimeter Grund zu eigen machte, den er betrat. Alexander erkannte in Dogget den Mann aus den Fernsehspots wieder, der auf Versicherungsfirmen schimpfte, mit dem Finger in die Kamera zeigte und schwor, er werde dafür sorgen, dass sie bezahlen mussten.

Die Rezeptionistin klingelte bei ihm an, um ihn wissen zu lassen, dass sein Termin im Verhörraum Nummer zwei auf ihn wartete. Alexander schnappte sich Block und Bleistift und wollte sich erheben, hielt dann aber inne, setzte sich wieder hin und spitzte den Bleistift an. Ließ den Spitzer einmal, zweimal, dreimal rotieren, bis ganze zwei Zentimeter Holz und Grafit in dem Kästchen verschwunden waren, während Dogget auf ihn wartete. Als er der Meinung war, der Mann habe nun lange genug gewartet, ging er zum Verhörraum hinüber, mit seinem Block, dem frisch angespitzten Stift in der Hand und einer Laune, die von Verärgerung getrübt wurde.

»Mr. Dogget?«, wollte er wissen.

»Der bin ich«, erklärte Dogget mit lauter Stimme, während er sich aus dem Stuhl erhob und die Hand ausstreckte. Alexander schüttelte sie und setzte sich.

Alexander nahm sich die Zeit, einige unnötige Notizen auf das oberste Blatt zu kritzeln, bevor er sich vorstellte: »Ich bin Detective Alexander Rupert. Was kann ich für Sie tun?«

Dogget legte den Kopf schief, als hätte ihn etwas aus der Fassung gebracht. »Alexander Rupert. Wieso kommt mir Ihr Name denn so bekannt vor?«

»Das weiß ich nicht.« Alexander tippte mit dem Bleistift auf den Block.

»Sind Sie der Detective, der diesen Killer niedergeschossen hat … diesen Kerl bei der alten Scheune?«

Alexander schloss die Augen und schüttelte den Kopf, bevor er antwortete. »Nein, der bin ich nicht. Das war Max Rupert. Mein Name ist Alexander Rupert.«

»Sind Sie verwandt?«

»Kann man so sagen«, gab Alexander zurück. »Reden wir über Ihren …«

»Nein, das ist es nicht. Ich habe Ihren Namen schon einmal gehört. Für Namen hab ich ein wirklich gutes Gedächtnis.« Er kratzte sich am Kinn. »Alexander Rupert …« Dann erhellte sich sein Gesicht und er schnippte mit den Fingern. »Jetzt hab ich’s. Sie waren vor ein paar Monaten in den Nachrichten. Sie waren einer der Cops in der Task Force, die sie dichtgemacht haben.«

Und da war es wieder, wie ein Fuß, der ihm auf die Fingerspitzen trat, die Erinnerung daran, wie tief er die Leiter hinabgerutscht war. Alexander biss die Zähne zusammen, starrte Dogget an und fragte sich, wie groß der Abdruck auf der Wange des anderen wäre, wenn er die Hand ausstreckte und ihm eine verpasste.

»Ich dachte, euch Jungs hätten sie allesamt suspendiert oder gefeuert, weil ihr Drogengeld gestohlen habt.«

Es wäre ein ziemlich großer Handabdruck, dachte Alexander. Er hatte immer wieder zu hören bekommen, dass er riesige Pranken habe.

»Mr. Dogget, ich habe wirklich viel zu tun. Wenn Sie eine Straftat melden wollen, nehme ich Ihre Anzeige auf. Aber wenn Sie nur hier sitzen und mich mit Dreck bewerfen wollen, nun, dann verschwenden Sie meine Zeit.«

Alexander war bereits im Begriff aufzustehen, da hob Dogget mit beschwichtigender Geste die Hände. »Warten Sie, Detective. Ich will eine Straftat melden. Zumindest bin ich ziemlich sicher, dass es sich um eine handelt.«

Alexander setzte sich wieder. »Ziemlich sicher?«

»Ja.« Dogget nickte, während er darüber nachdachte. »Folgendes: Ich besitze eine gut gehende Anwaltskanzlei und verdiene mein Geld damit, Leute zu verklagen, die Verkehrsunfälle und dergleichen verschuldet haben.«

»Ich habe Ihre Werbespots gesehen.«

»Oh, danke sehr.«

»Das war kein Kompliment.«

Dogget räusperte sich und fuhr fort. »Ich habe Quellen, die mich mit Hinweisen auf passende Fälle versorgen.«

»Leute, die für Sie den Krankenwagen hinterherrennen und Unfallmandate auftreiben?«

»Wenn Sie es so ausdrücken wollen.« Offenbar war ihm der Einwurf unangenehm, denn er rutschte auf dem Stuhl hin und her. Aber dann nahm er den Faden wieder auf. »Ich bekomme also diesen Anruf von einem meiner Informanten, wegen eines Unfalls in Minneapolis – dieser Lexus ist frontal in einen Porsche reingerauscht. So was ist normalerweise vielversprechend. Ein teurer Wagen bedeutet tiefe Taschen, auch über die Versicherung hinaus. Hinter dem Steuer des Lexus saß der Besitzer einer Juwelierladenkette. Wir reden also von richtig Kohle. Und das Sahnehäubchen in diesem Fall ist, dass außer Frage steht, wer schuld war. Der Juwelierfritze wurde von einer Frau beglückt, die nicht seine Ehefrau war, und dann sind sie von der Spur abgekommen. Die Frau hat ihn tatsächlich gerade gevögelt, als sie die Mittelleitplanke übersprungen haben und direkt in den entgegenkommenden Verkehr gerast sind. In der Strafanzeige wurde das als ›grob fahrlässig‹ bezeichnet.« Dogget fletschte die Zähne zu einem Grinsen, als hätte er gerade einen Witz gemacht.

»Ich habe von diesem Unfall gehört«, erklärte Alexander. »Ein Mann ist dabei gestorben.«

»Ja, der Kerl in dem Porsche auf der Gegenfahrbahn. Der Kerl, der da ahnungslos unterwegs war und nichts falsch gemacht hat.«

»Die Highway Patrol hat den Unfall abgewickelt«, sagte Alexander. »Die waren dann auch für die Rekonstruktion zuständig. Wir haben damit nichts zu tun.«

»Ich brauche keine Rekonstruktion des Unfallhergangs. Die habe ich längst.« Dogget tippte mit dem Finger auf einen Aktendeckel, der vor ihm auf dem Tisch lag. Die Mappe hatte er zum Gespräch mitgebracht.

»Was brauchen Sie dann?«, wollte Alexander wissen. Er versuchte gar nicht, seine wachsende Ungeduld zu verbergen. »Das hier ist die Betrugsabteilung. Wir beschäftigen uns weder mit Unfällen noch mit Todesfällen.«

»Ich komme ja gleich zum Punkt. Als ich auf den Fall hingewiesen wurde, habe ich meinen Ermittler darauf angesetzt, einen Verwandten aufzuspüren. Jemanden, dem ich einen Brief schicken kann.«

»Einen Verwandten?«

»Es handelt sich um eine widerrechtliche Tötung. Die Erben des Toten können den Verursacher verklagen, weil der für den Tod verantwortlich ist.«

»Sie suchen also nach dem Verwandten dieses Porschefahrers, weil Sie hoffen, einen Prozentsatz dessen einzuheimsen, was seinen Erben für seinen Tod zusteht.«

»Hey, meine Dienste sind überaus wertvoll«, behauptete Dogget und zeigte mit dem Finger auf Alexander. Der musste sich beherrschen, nicht die Hand auszustrecken, um den Finger zu brechen. Das würde ganz schnell gehen und wäre ganz leicht. »Ich schnappe mir den Kerl mit den tiefen Taschen, nachdem die Versicherung ihre mageren Entschädigungsgrenzen ausgereizt hat.«

»Also haben Sie einen Verwandten gefunden?«

»Gewissermaßen.« Dogget zuckte die Achseln.

»Gewissermaßen?«

»Der Typ mit dem Porsche hat mit einer Frau namens Ianna Markova zusammengelebt. Der habe ich noch am selben Tag einen Brief zukommen lassen. Normalerweise warte ich, bis ich sicher bin, dass die Lebensgefährtin eine Ehepartnerin ist, denn eine bloße Freundin nützt mir gar nichts. Die Erben müssen blutsverwandt sein oder angeheiratet. Freundinnen gehen leer aus.«

»Da hatten Sie aber Pech«, stellte Alexander fest.

»Fettes Pech, allerdings.« Sein Sarkasmus prallte an Dogget ab. »Diese Ianna Markova ruft mich also an. Will mir einen Besuch abstatten. Ich verschiebe ein paar Termine, um sie direkt zu empfangen. Sie wissen schon, das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Und Junge, Junge, war die heiß! Ende 20, vielleicht Anfang 30, blonde Haare, Titten …« Dogget warf einen Blick in Richtung der Kamera, die in der Ecke an der Decke befestigt war, räusperte sich und fuhr dann in professionellerem Tonfall fort. »Sie gibt sich also wie die leidtragende Hinterbliebene und ich gehe ganz behutsam vor. Dann frage ich sie, ob sie und James verheiratet waren.«

»James?«

»Der Porschefahrer. Er hieß James Erkel Putnam. Sie hatte sich gerade erst um das Begräbnis gekümmert. Und dann sagt sie mir, dass sie und Putnam diesen Schritt nicht getan haben. Ich hätte selbst fast zu weinen begonnen, Mann. Dann frage ich sie, ob es Geschwister gibt oder seine Eltern noch leben. Ich sage ihr, dass wir die Namen aller lebenden Verwandten brauchen. Zuerst kommt sie mir damit, dass James keine lebenden Verwandten hat.«

»Also gibt es keinen Prozess. Das muss Ihnen das Herz gebrochen haben.«

»So schnell gebe ich nicht auf. Mir ist noch nie ein Mann ohne irgendwelche Verwandten untergekommen. Wenn man den Stammbaum nur feste genug schüttelt, fällt immer jemand raus. Also habe ich Klartext geredet. Ich sagte ihr, dass es ohne Blutsverwandten keinen Prozess gibt. Und damit auch kein Geld.«

»Warum sollte sie das kümmern? Die Freundin bekommt doch sowieso nichts, sagten Sie.«

Dogget grinste ihn hinterlistig an, wie ein Mann, der gleich einen schmutzigen Witz erzählen wird. »Ich habe ihr quasi verklickert, dass sie dennoch ihren Anteil am Ausgleich bekommt. Ich sagte, wenn wir erst den Blutsverwandten haben, dann kann auch sie Ansprüche gegen den Juweliermogul anmelden.«

»Also haben Sie eine Frau belogen, die gerade ihren Lebensgefährten verloren hat.« Alexander lehnte sich über den Tisch und starrte Dogget direkt an. »Ist das die Straftat, die Sie hier melden wollten?«

»Sie sind mir ein Witzbold, Detective.« Dogget klopfte sich mit den Fingerknöcheln gegen die Brust, so als müsste er einen Rülpser freisetzen. »Ich tauche hier auf, um das Richtige zu tun, und Sie wollen mir den Arsch aufreißen.«

»Inzwischen haben Sie aber begriffen, dass Sie hier beim Betrugsdezernat sitzen, ja? Dass Sie Miss Markova angelogen haben, ist das Erste, was ich aus Ihrem Mund gehört habe, das man als Betrug bezeichnen kann.«

»Ich komme zum Punkt«, wiederholte Dogget.

Alexander sah die feinen Schweißperlen, die sich an den Schläfen des Anwalts formten, und der Anblick gefiel ihm.

»Sie kommt also am nächsten Tag mit einer Schachtel voller Unterlagen wieder: Geburtsurkunde, Sozialversicherungsausweis und einige Briefe.«

»Briefe?«

»Ja, Briefe, die James Jahre zuvor von seinem Bruder bekam, aus dem Gefängnis in New York. Ich habe meinen Ermittler darauf angesetzt, und der fand schnell raus, dass Putnam tatsächlich einen älteren Bruder hat, der in der Justizvollzugsanstalt Clinton sitzt, wegen Drogen. Und zwar lebenslänglich, also kaum wegen Kleinkram.«

»Warum hat sie Ihnen dann erzählt, James habe keine Verwandten?«

»Sie hat behauptet, dass sie das Zeug in einer versteckten Kiste gefunden hat, zusammen mit lauter persönlichen Gegenständen von James. Sagte, dass sie seine Privatsphäre respektieren wolle. Ich nehme ja eher an, dass sie bloß nicht mit dem Knastbruder teilen wollte. Aber wer weiß das schon?«

»Wie heißt der Bruder?«

»William Bartók Putnam. Wir haben die Informationen verfolgt, die Geburtsurkunden mit den Unterlagen beim Standesamt verglichen. Putnams Eltern sind tot, sind 1998 bei einem Autounfall gestorben, und der ältere Bruder ist echt.«

»Dann haben Sie ja Ihren Erben. Sie können den Juwelierkönig nach Herzenslust ausnehmen.«

»Das sollte man annehmen, aber leider hat die Sache kein so glückliches Ende.« Dogget legte die Finger aneinander, um seinen Worten dramatisches Gewicht zu verleihen. »Ich habe William Bartók Putnam einen Vertrag zur Unterschrift geschickt, der mir erlaubt hätte, in seinem Namen zu klagen. Ich habe ihm auch eine Kopie der Todesanzeige seines Bruders mitgeschickt. Eine Woche später kriege ich den ganzen Mist zurück, mit einer kurzen Notiz von ihm. Da stand nur: Das ist nicht mein Bruder. Das ist nicht James Erkel Putnam.«

3

Nachdem Dogget gegangen war, nahm Alexander Ermittlungen bezüglich des Identitätsdiebstahls an einem Mann namens James Erkel Putnam auf. Zuerst rief er bei der Highway Patrol an und bat um eine Kopie des Unfallberichts. Der Polizist, mit dem er sprach, bot an, mit einem Ausdruck des Berichts zu ihm rüberzufahren, und Alexander nahm das Angebot dankend an. Bevor der Morgen vorbei war, hatte Alexander den Bericht neben Doggets Akte auf dem Schreibtisch liegen. Er gab die Führerscheinnummer des Toten ein, um ein Foto von ihm zu sehen. Der Mann, der sich als Putnam ausgegeben hatte, schien etwa Mitte 30 zu sein, sah gut aus und besaß ein Lächeln, das ihm einen leicht hämischen Zug um die Augen verlieh.

Er vergaß das Foto vorerst und zog den Bericht mit der Rekonstruktion des Unfallhergangs aus den Akten. Beide Fahrzeuge waren mit Sensoren ausgestattet gewesen, die ihre jeweilige Geschwindigkeit, Fahrtrichtung und die Reaktionszeit zwischen Bremsen, Aufprall und Auslösung der Airbags anzeigten. Der Unfallbericht las sich wie eine technische Betriebsanleitung – Zahlen und Berechnungen und Formeln. Aber er bot keine Tiefe, transportierte kein Gefühl für den lebenden, atmenden Menschen, der hier sein Leben verloren hatte. Um mehr über diesen Menschen zu erfahren, wandte Alexander sich den ausführlichen Berichten der Beamten zu, die am Unfallort gewesen waren.

Officer Kevin Tiegs und Officer Sandra Percell waren ganz kurz hintereinander eingetroffen. Tiegs eilte sofort zu dem Lexus, wo er einen Mann und eine Frau vorfand, beide etwa Mitte 30, beide im Bereich des Fahrersitzes. Der Mann richtig herum im Sitz, so als hätte er den Wagen gesteuert. Die Frau halb auf seinem Schoß, ihr Oberkörper auf die Mittelkonsole gesunken. Hose und Unterhose des Mannes waren ein Stück heruntergezogen, das rote Kleid der Frau bis über die Hüften hochgerutscht. Der Mann war bei Bewusstsein und murmelte unverständliches Zeug, während die Frau bewusstlos war.

Officer Sandra Percells Bericht handelte von dem Mann im Porsche, den sie später anhand seines Führerscheins als James Erkel Putnam identifizierte, geboren am 22. Februar 1980. Die Wucht des Zusammenstoßes schob den Motor des Porsches durch die Spritzwand und direkt in seinen Schoß. Die Lenksäule war ihm nur knapp unterhalb des Schlüsselbeins in die Brust gedrungen und hatte seine rechte Schulter aus dem Gelenk gerissen. Blut und Haare des Mannes waren über die geborstene Windschutzscheibe verschmiert, die sich in seinem Kopf verklemmt hatte. Selbst mit solch massiven Verletzungen lebte der Mann aber noch, verlor allerdings immer wieder das Bewusstsein.

Percell stellte fest, dass es unmöglich war, den Mann ohne Zuhilfenahme der Jaws of Life genannten Rettungsschere aus den Überresten seines Wagens zu holen, aber selbst dann sah sie keine Chance, dass er überleben würde. In ihrem Bericht stand, dass sie glaubte, er würde jeden Augenblick sterben, aber sie befolgte dennoch, was sie in der Ausbildung gelernt hatte, kippte seinen Kopf nach hinten, weit genug, damit die Luftzufuhr nicht unterbrochen wurde.

Im Flüsterton und unter gurgelnden Schluckbeschwerden fragte der Mann Percell, ob er sterben werde. Sie gab ihm keine Antwort, versuchte aber weiterhin, ihm beizustehen, so gut sie konnte. Der Mann versuchte zu sprechen, aber seine Worte versanken in einem zusammenhanglosen Sumpf. Zwischen verstümmelten Teilsätzen schrieb Percell auf, was Putnam flüsterte: »Finden Sie ihn … bevor … die … sie finden.« Diese Worte sprach er aus, bevor sein Körper dichtmachte und erschlaffte. Binnen weniger Minuten verlor der Mann das Bewusstsein und starb.

Alexander ließ sich die letzten Worte des Mannes einen Moment lang durch den Kopf gehen und fragte sich, ob es sich um die mit letzter Kraft vorgebrachte letzte Botschaft eines Sterbenden handelte, der wusste, dass es zu Ende ging, oder doch nur um das verwirrte Gestammel eines Mannes mit einer schweren Kopfverletzung. Dann schob er den Gedanken beiseite und machte weiter, kehrte zur Datenbank der Behörde für öffentliche Sicherheit zurück. Offenbar hatte Putnam im November 2001 den Führerschein in Minnesota beantragt, also mit 21 Jahren. Alexander fand keinen Eintrag für einen früheren Führerschein, weder in Minnesota noch in einem anderen Staat. Das Foto auf diesem ersten Führerschein passte ebenso wie das des aktuellen zu den Bildern vom Unfallort und aus dem Leichenschauhaus. Es gab keine Einträge im Register für Verkehrsdelikte, und eine Suche in den Kriminaldatenbanken des Staates und des gesamten Landes brachte keinerlei Anklagen oder Verurteilungen zutage.

Dann gab er den Namen des Bruders ein. William Bartók Putnam. In der Datenbank des National Crime Information Center des FBI wurde er fündig: eine Verurteilung im Staat New York. Rauschgift, Schwerverbrechen. Er schrieb sich die Informationen auf, dazu die Kontaktangaben für William Putnams gegenwärtigen Aufenthaltsort – die Strafvollzugsanstalt Clinton in Dannemora, New York.

Dann tippte er den Namen James Erkel Putnam in die Google-Suchmaske ein und bekam eine Handvoll Treffer, die sich auf den Betrüger und sein ruhiges Leben in Minnesota bezogen, aber er hatte auch einen Treffer, der älter als November 2001 war, eine alte MySpace-Seite. Das Foto des Mannes auf der MySpace-Seite war nicht identisch mit dem Foto von Putnam auf dessen Führerschein. Sie sahen sich zwar ein bisschen ähnlich, aber es stand außer Frage, dass es sich nicht um dieselbe Person handelte.

Alexander lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und fuhr sich durch die sandfarbenen Haare, verschränkte die Finger hinter dem Kopf. Er starrte auf das Führerscheinfoto des Betrügers und flüsterte dem Mann auf dem Bild zu: »Wer bist du … und was hast du mit dem echten James Putnam gemacht?«

Alexander überflog die Kommentare auf der MySpace-Seite, als ihm auffiel, dass der letzte Kommentar von Putnam selbst stammte und am 30. August 2001 verfasst worden war, also drei Monate bevor der neue James Erkel Putnam in Minnesota aus dem Staub hervorgekrochen war. Da stand lediglich: Das Leben kann unglaublich seltsam sein … demnächst mehr. Aber danach kam nichts mehr, nicht auf dieser Seite noch irgendwo sonst im Netz.

Alexander durchsuchte kurz die New Yorker Todesanzeigen und blieb dran, als die Zahl der Toten am 11. September jenes Jahres plötzlich wasserfallartig anstieg. Er spürte, wie seine Handflächen auf der Tastatur warm wurden, als er sich mehrfach durch die verschiedenen Datenbanken klickte, denn er war sicher, dass er seinen Mann hier irgendwo finden würde.

Aber er fand keinen James Putnam, weder auf den offiziellen Listen noch auf den inoffiziellen. Kein James Putnam war als tot oder vermisst gemeldet, weder in den Wochen vor dem Einsturz der Türme noch danach. Einbahnstraße.

Um elf Uhr vormittags rief Alexander beim Gefängnis in Dannemora an, sprach zuerst mit dem Sachbearbeiter und dann – nach einer Ewigkeit in der Warteschleife, während sie William ins Büro des Sachbearbeiters brachten – mit dem Insassen selbst, mit William Putnam.

»William, hier spricht Detective Alexander Rupert vom Minneapolis Police Department. Ich rufe wegen einiger Unklarheiten im Zusammenhang mit dem Tod eines Mannes namens James Erkel Putnam an. Darf ich Sie zunächst fragen, ob Sie einen Bruder dieses Namens haben?«

»Ja, habe ich … oder hatte ich. Dieser Typ in der Todesanzeige, das ist nicht mein Bruder. Was ist mit meinem Bruder geschehen?«

»Genau das versuchen wir herauszufinden. Vielleicht handelt es sich auch nur um einen merkwürdigen Zufall. Zwei Männer, die James Putnam heißen.«

»Wie viele James Putnams haben Erkel als zweiten Vornamen?«, hielt William dagegen. »Unsere Mutter war Ungarin und Musikerin und gab uns die Vornamen ungarischer Komponisten. Ich heiße Bartók, nach Béla Bartók. James wurde nach Ferenc Erkel benannt.«

»Wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt gesehen?«

»An dem Tag, als ich geschnappt wurde. Er hat mich niemals besucht, das wollte ich so. Ich wollte nicht, dass er mich so sieht, also sagte ich ihm, er soll mich nicht besuchen.«

Alexander bat William, den Sachbearbeiter James Putnams MySpace-Seite auf seinem Computer aufrufen zu lassen. Als die Seite auf dem Bildschirm erschien, sagte William: »Das ist James. Das ist mein Bruder. Sehen Sie? Das ist nicht der Typ, der in Minnesota gestorben ist.«

»Man hat mir gesagt, er habe Ihnen geschrieben.«

»Ja, früher, ungefähr einmal im Monat. Aber dann …«

»Dann was, William?«

»Dann bekam ich diesen Brief, in dem er schrieb, dass er die Stadt verlassen wollte. Dass der Terroranschlag zu viel für ihn gewesen war und er sich auf die Suche nach einem sichereren Zuhause machen wollte. Er schrieb auch, dass er neu anfangen werde und mit mir nichts mehr zu tun haben wolle.«

»Erschien Ihnen das seltsam, dass er sich so verhielt? Dass er nichts mehr mit Ihnen zu tun haben wollte? Die Stadt verlassen?«

»Ja, kam mir spanisch vor. Er war im letzten Jahr vom College oder knapp davor. Hatte hart gearbeitet, um so weit zu kommen. Es ergab keinen Sinn, dass er das alles hinter sich lassen wollte. Und klar war es nicht leicht zu akzeptieren, dass er mit mir keinen Kontakt mehr wollte.«

»Welches Datum trägt dieser letzte Brief?«

»12. Oktober 2001.« William zögerte keine Sekunde. Wahrscheinlich hatte er sich jedes Wort aus dem letzten Brief seines Bruders eingeprägt.

»Und seither haben Sie nie wieder von ihm gehört?«

Schweigen am anderen Ende der Leitung, und Alexander vermutete, dass sich ein beunruhigender Gedanke in William breitmachte. »Kein einziges Wort. Nichts, nachdem ich den Abschiedsbrief bekommen hatte.«

»Können Sie mir Kopien all seiner Briefe faxen?«

»Detective, wer war der Kerl in der Todesanzeige?«

Alexander war nicht sicher, ob er die Frage beantworten sollte. Aber William hatte ein Recht darauf, zumindest das zu erfahren. »Der Mann scheint unter dem Namen Ihres Bruders gelebt zu haben. Seit November 2001 ist er James Erkel Putnam gewesen.«

»Wie kann so was passieren? Wie können zwei Männer mit demselben …?« Williams Stimme erstarb und Alexander konnte beinahe hören, wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehten, bis er zum unübersehbaren Schluss kam. Als er wieder etwas sagte, drang seine Stimme kaum bis an Alexanders Ohr. »Detective Rupert, ist mein Bruder tot?«

Alexander glaubte, die Antwort auf diese Frage zu wissen, aber er log William dennoch an und sagte: »Ich weiß es nicht.«

4

Max Rupert kniff die Augen zusammen, um die dünne Angelschnur besser zu sehen, während er sie ans Stahlvorfach band, das an seinem Dardevle-Köder befestigt war. Er blinzelte, um die angestrengten Augen zu entlasten, und stellte dann fest, dass sein Bruder Alexander, der vorn im Boot saß, einen Wobbler-Köder verzurrte.

»Du benutzt einen Wobbler?«, fragte Max, obwohl er die Antwort bereits kannte.

»Ich will heute Abend schließlich Fische fangen«, gab Alexander zurück.

»Wir angeln vertikal.« Max betrachtete die ruhige Oberfläche des Sees. »Klarer Tag, keine Wolken, keine Wellen, da kommst du niemals tief genug runter, um einen Zander zu fangen.« Max warf seine Angel etwa sieben Meter weit aus und schaltete den 50 PS starken Motor in den Rückwärtsgang.

»Das ist der Unterschied zwischen uns beiden, Maximilian. Ich gebe mich zwar mit einem Hecht zufrieden, aber mein Ziel ist definitiv ein fetter Zander.«

Max lächelte beim Seitenhieb seines Bruders. Er hatte ihn Maximilian genannt. Max hatte sich nie mit seinem vollen Namen angefreundet, jedes Jahr den ersten Schultag gefürchtet, wenn der Lehrer alle nacheinander aufrief, um die Anwesenheit der gemeldeten Schüler zu prüfen. In seinen Augen gehörte der Name Maximilian zu jemandem mit viel schöneren Schuhen, als er sie jemals tragen würde.

Alexander dagegen trug seinen Namen mit selbstverständlichem Stolz. Ihre Mutter hatte diesen Namen in die Geburtsurkunde eingetragen. Das war eine ihrer letzten Handlungen gewesen, bevor sie das Bewusstsein verlor. Sie starb an jenem Tag an einer inneren Blutung. Aber Max fand, dass auch ein Name wie Alexander nach einem Spitznamen verlangte. Als er zwölf und sein Bruder zehn Jahre alt war, fing Max an, Alexander ›Festus‹ zu nennen. Auf diesen Namen war er beim Anschauen der Wiederholungen von Rauchende Colts gestoßen.

»Festus«, sagte er daher jetzt mit einem Grinsen, »du kannst natürlich auch auf einen Grizzly zielen, aber wenn du nur Vogelschrot in der Flinte hast, wirst du trotzdem mit leeren Händen nach Hause gehen.«

In den ersten Jahren spielte der Name Festus bei jedem Streit der beiden Jungen eine Rolle, entweder als Auslöser der Prügelei oder als letzte Verhöhnung, bevor sie sich wieder beruhigten. Aber als sie älter wurden, änderte sich etwas zwischen ihnen und der Name wurde zur geheimen Tür, die den älteren Bruder mit dem jüngeren Klotz am Bein verband. Max nannte seinen Bruder zum Beispiel dann Festus, als er ihn beim Diebstahl eines Playboy-Hefts erwischte, oder an dem Tag, als Alexander sich nach seinem ersten Versuch, Whiskey zu trinken, übergab. Nun waren sie älter, und Max nannte seinen Bruder nur noch Festus, wenn sie sich allein auf ein Bier trafen.

»Zigarre?«, schlug Max vor.

»Ist das so eine eklige Gestopfte von der Tankstelle?«

»Was denn sonst?«

»Perfekt.«

»Ich tausche gegen ein Bier«, sagte Max, griff in einen Folienbeutel und holte ein paar Zigarren hervor, die wie Zedernstöckchen aussahen. Sie öffneten ihre Biere, zündeten die Zigarren an und pafften kleine Wölkchen weißen Rauchs in die Luft. Der See und der Oktoberhimmel ließen den Rauch blau erscheinen.

Ihr Boot tuckerte langsam über den Torch Lake, einen See, den sie mit niemandem teilen mussten. Einer ihrer Vorfahren, ein Holzfäller, hatte die Hütte am Torch Lake erbaut, als dieser Teil Minnesotas noch Wisconsin Territory genannt wurde. 1902 vereinnahmte der Staat Minnesota das Gebiet rund um den See, um ein Waldschutzgebiet einzurichten. Dabei wurde jede weitere Bebauung untersagt. Den Ruperts wurde das Recht zugesprochen, ihre Hütte zu behalten, vorausgesetzt sie pachteten den Grund, auf dem sie stand, mit einem kleinen Geldbetrag.

Max saß am Heck des kleinen Bootes, die Linke an der Ruderpinne, während er mit der Rechten die Angelschnur straff hielt. Alexander saß mit dem Rücken zu Max vorne, die Füße am Bug aufgestellt, die Angelrute quer über die Oberschenkel gelegt. Sie saßen nur drei Meter voneinander entfernt, aber der Abstand zwischen ihnen wog schwer; drei Monate Schweigen, drei Monate, in denen beide vermieden hatten, über die Task Force, die Grand Jury oder Alexanders Abstieg zu reden. Ihre jüngsten Gespräche hüpften wie flache Steine auf der Oberfläche ihres Lebens entlang, gingen niemals tiefer, gingen mit keinem Wort auf den Ärger ein, der über Alexander hereingebrochen war. Und genau darum hatte Max das Wochenende am See vorgeschlagen.

Alexanders Schultern glätteten sich, als er es sich auf seinem Platz gemütlich machte und Ringe in die leichte Abendbrise blies. Max zögerte, das Thema anzuschneiden, aber einen besseren Zeitpunkt dafür würde es nie geben.

»Hab gehört, dass sie dich unter Strafandrohung vorladen«, begann Max.

Alexander versteifte sich, als die scheinbare Kälte dieser Worte sich um seinen Nacken legte. »Gute Nachrichten verbreiten sich schnell«, erwiderte er, während seine Finger am Korkgriff seiner Angelrute zupften.

»Tja, und miese Nachrichten verbreiten sich sogar mit Lichtgeschwindigkeit«, ergänzte Max. »Aber mal ehrlich, musste ich aus der Gerüchteküche davon erfahren?«

»Ich habe schon früher vor einer Grand Jury ausgesagt, Max. Das ist keine große Sache.«

»Wenn du das Ziel der Untersuchung bist, würde ich das schon als große Sache bezeichnen.«

»Vielleicht bin ich ja nicht mehr das Ziel, wenn ich’s hinter mir habe. Vielleicht ist die Grand Jury der ideale Weg, meinen Namen reinzuwaschen und diese Scheiße hinter mir zu lassen.«

»Vielleicht«, stimmte Max zu, klang aber alles andere als überzeugt. »Aber für alle Fälle … hast du denn mal dran gedacht … dich mit einem Anwalt hinzusetzen?«

Alexander, der bisher immer noch mit dem Rücken zu Max gesessen hatte, drehte sich jetzt zu seinem Bruder um. »Mir einen Anwalt suchen? Machst du Witze?«

»Nein, ich …«

»Max, wie lautet dein erster Gedanke, wenn irgendein Idiot, den du hochgenommen hast, sich einen Anwalt nimmt?«

»Ich weiß, aber …«

»Beantworte meine Frage. Was denkst du dann?«

Max verdrehte die Augen und seufzte. »Ich denke, dass er was zu verbergen hat.«

»Genau. Ich werde das nicht machen, Max. Ich höre die Leute doch jetzt schon flüstern. Die behandeln mich wie einen Aussätzigen. Glauben, ich hätte Drogengeld geklaut wie der Rest der verdammten Bagage. Die glauben, ich wäre ein schlechter Bulle. Ich. Ich werde denen doch nicht noch mehr liefern, worüber sie sich das Maul zerreißen können. Ich nehme mir keinen Anwalt.«

»Es geht doch nicht um die Leute, Alexander. Scheiß auf die. Aber vor einer Grand Jury verquatscht man sich schon mal. Ich hab gesehen, wie das passiert. Du vertauschst ein paar Fakten und die hängen dir eine Straftat an, nur weil du gelogen hast.«

Alexanders Stimme klang plötzlich rau. »Dann glaubst du also, ich hätte es nötig, die Grand Jury zu belügen?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Hältst du mich für schuldig?« Alexanders Knöchel traten weiß hervor, weil er die Angel viel zu fest in der Hand hielt. »Glaubst du, ich hätte mich aus der Kasse bedient?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Hast du nicht?«

»Verdammt, Alexander, du weißt genau, dass ich das nie behauptet habe.«

»Komisch, weil ich es eben erst herausgehört habe.«

»Ich versuche doch nur, dir zu helfen …«

»Ich brauche deine Hilfe nicht. Ich bin kein Kind mehr, Max. Lass gut sein.«

Max nahm einen tiefen Atemzug. Herbstluft, die vom Duft der Kiefernnadeln gesättigt war und nach Erde und Zigarrenrauch roch. Er dachte darüber nach, das Thema wieder fallen zu lassen, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass er während der vergangenen drei Monate zugesehen hatte, wie sein Bruder langsam ertrank. Es war, als könnte er unter die Oberfläche des Wassers sehen, wo Alexander sich in irgendwelchen Pflanzen verheddert hatte. Er wollte die Hand ausstrecken, um ihn zu retten, aber Alexander weigerte sich, seine Hand zu ergreifen. Alexander war der Typ, der lieber jede mögliche Folge trug als zuzugeben, dass er einen Fehler gemacht hatte. Je mehr Max versuchte, ihm zu helfen, desto weiter zog Alexander sich zurück – und sank dabei immer tiefer hinab zwischen die Wasserpflanzen.

Sie tuckerten eine Weile weiter rückwärts, während Max seinem Bruder die Zeit gab, sich zu beruhigen. Keiner von beiden sagte ein Wort, bis sie den See einmal komplett überquert hatten, ohne dass ein Fisch anbiss. Nachdem Alexander sein zweites Bier geöffnet hatte, schlich sich Max erneut an das Thema heran.

»Wie geht Desi mit der ganzen Sache um?«

In Alexanders Antwort schwang ein abwehrender Unterton mit. »Was erwartest du denn, wie Desi damit umgeht?«

»Na, ich will mal hoffen, dass deine Frau hinter dir steht.«

»So wie du? Immerhin bezichtigt sie mich nicht des Diebstahls.«

»Ich habe dich niemals einen Dieb genannt. Hör auf, mir die Worte im Mund umzudrehen.«

Alexander starrte aufs Wasser, wo seine Schnur das wirbelnde Kielwasser ihres Bootes durchschnitt. Max wartete geduldig, bis Alexander bereit war, ihm zu antworten. Der sagte schließlich: »Ist schwer für sie … den Namen ihres Mannes in der Zeitung zu lesen, in Verbindung mit einem fetten Korruptionsskandal. So eine Sache geht niemals spurlos an den Angehörigen vorüber, aber im Großen und Ganzen geht es ihr gut.«

»Desiree ist ja auch hart im Nehmen«, erwiderte Max und bemühte sich, überzeugend zu klingen. Er kannte Desiree Rupert gut genug, um zu wissen, dass Alexander log. An guten Tagen vermochte Desi zu glänzen und zu strahlen wie ein Bleikristall. Dem oberflächlichen Betrachter mochte sie wie ein besonders guter Fang erscheinen, eine Frau von Schönheit und Rang, mit Wurzeln im alten Geldadel. Aber Max kannte sie näher. Er hatte erlebt, wie sie unter Druck spröde und nachlässig wurde. Er erinnerte sich daran, wie sie während der Zeremonie geglänzt hatte, als Alexander seine Tapferkeitsmedaille verliehen wurde. Jeden Würdenträger im Raum hatte sie bezirzt und sich danach umgedreht und Alexander dazu gebracht, mit seiner verletzten Hüfte durch den Regen zu humpeln, um den Wagen zu holen und sie an der Tür einzusammeln, damit ihr Haar nicht nass wurde. Max fragte sich häufig, ob Desi nicht bloß ein weiterer Fehler war, den Alexander sich weigerte zuzugeben.

»Klar«, sagte Alexander. »In ein paar Wochen wird Gras über die Sache wachsen und dann wird alles wieder in geregelten Bahnen laufen.«

»Absolut«, stimmte Max zu. »Aber in der Zwischenzeit will ich, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin. Weißt du doch, oder? Ich meine, wer sich mit einem Rupert anlegt, legt sich mit beiden an … richtig, Festus?«

Alexander sah ihn über die Schulter hinweg an und hob sein Bier, um seinem Bruder zuzuprosten.

Max sagte nichts mehr. Er kippte den letzten Schluck seines Biers hinunter und ließ die Anspannung langsam ins Wasser hinabsinken. Er hatte getan, was er vorgehabt hatte. Er hatte Alexander klargemacht: Wenn es hart auf hart kommen sollte, waren sie beide immer noch die Rupert-Jungs. Er machte sich ebenfalls ein neues Bier auf und schob das Thema beiseite. Für das restliche Wochenende sollte die anstrengendste Frage die sein, welcher der Brüder den größeren Fisch fangen würde.

5

In letzter Zeit hatte Desiree Rupert häufig Überstunden gemacht, und auch am Montagmorgen war sie bereits fort, als Alexander aufwachte. Mit einer Tasse Kaffee in der einen Hand und einem Müsliriegel in der anderen verließ er das Haus. Als er durch die Garage zu seinem Wagen ging, blitzte etwas auf dem Betonboden auf. Er entdeckte seine silberne Krawattenklammer auf dem Boden. Ohne weiter darüber nachzudenken, hob er sie auf und steckte sie in die Hosentasche.

Auf der Fahrt zur Arbeit wanderten seine Gedanken von einem Thema zum nächsten: Seine Fälle, das Wochenende am See, der Schleier aus Schwermut, der sich beim Betreten des Rathauses aufs Neue über ihn legen würde, aber dann kehrten seine Gedanken wieder zu der silbernen Klammer zurück. Wie konnte sie auf den Garagenboden fallen? Er hatte diese Klammer, einen schmalen silbernen Balken, in den seine Initialen eingraviert waren, vor Jahren von Desi zum Hochzeitstag bekommen. Er versuchte sich daran zu erinnern, wann er das Ding zum letzten Mal getragen hatte.

Er hatte es ungefähr an der Stelle auf dem Betonboden ihrer Garage gefunden, wo sich die Beifahrertür von Desis Auto befand, wenn es dort stand. Hatte er die Klammer in ihrem Wagen gelassen und war sie dann herausgefallen? Nein, denn er war sicher, sie erst vor Kurzem in seiner Sockenschublade gesehen zu haben. Er trug das Ding nie zur Arbeit, bewahrte es lieber für besondere Anlässe auf. Als er seinen Wagen beim Rathaus parkte, brannte sich die Klammer in seiner Hosentasche praktisch in die Haut seines Oberschenkels ein. Er stieg aus dem Wagen und zog sie heraus. Die silberne Oberseite der Klammer trug keine Inschrift. Da waren keine Initialen. Stattdessen war mittig ein winziger Diamant in die Klammer eingelassen. Es war nicht seine Krawattenklammer.