Über das Buch:
Die frühere Bibelschmugglerin Bobbie kehrt erstmals seit Jahren in die »Oase« zurück, eine christliche Einrichtung, in der sie einst gearbeitet hat. Doch ihre Rückkehr nach Wien weckt schmerzliche Erinnerungen – an ihre verlorene Liebe Amir und ein Geheimnis, das sie seit Langem hütet.

In der »Oase« begegnet Bobbie nicht nur Amir wieder, sondern wird auch mitten hineingezogen in das dramatische Schicksal des Iraners Hamid, der aus seinem Heimatland fliehen muss, weil er von der Religionspolizei verfolgt wird. Und auch seine Familie schwebt in größter Gefahr!

Was Bobbie als einen Ausflug in die Vergangenheit und einen endgültigen Abschied geplant hatte, entwickelt mit einem Mal eine ganz eigene Dynamik und verändert nicht nur ihr Leben für immer.

Hier können Sie mehr über die Arbeit der »Oase« erfahren: oasis.iteams.org/deutsch.html

Über die Autorin:
Elizabeth Musser wuchs in Atlanta auf. Seit dem Abschluss ihres Studiums englischer und französischer Literatur an der Vanderbilt Universität in Tennessee ist sie als Missionarin tätig. Heute lebt sie mit ihrem Mann Paul in der Nähe von Lyon in Frankreich. Die beiden haben zwei Söhne.

Kapitel 6

Alaleh

Alaleh dachte mit Schaudern an ihre Flucht durch die Nacht. Den kleinen Omid hatte sie fest an sich gedrückt, Rasa ging an Myriams Hand. Die Stille, die Angst, die Dunkelheit. Die Erleichterung, als sie nach einer Stunde Zickzacklauf durch die Straßen endlich in ihr neues Versteck stolperten. Hier, in dem kleinen Haus in einem abgelegenen Viertel von Teheran, waren sie zumindest für ein paar Tage sicher. Alaleh seufzte, drückte das Baby an sich und betrachtete sein schlafendes Gesicht. Sie war sich sicher, ein winziges Lächeln auf seinen Lippen zu sehen. Was der Morgen bringen würde, wusste sie nicht, aber diesen Augenblick mit Omid wollte sie festhalten. Sie wünschte sich, Hamid könnte seinen Sohn sehen oder zumindest erfahren, dass er einen Sohn hatte.

Hamid! Sie machte sich unendlich viele Sorgen um ihn. Hamid, der Philosoph, der Linguist, der sich immer im Hintergrund hielt und alles beobachtete. Was hatte er nur für Ideen! Immerzu hatte er etwas Neues im Sinn. Und Sprachen! Er sprach nicht nur Farsi, sondern auch Türkisch, Englisch und Arabisch. Und dann die Erschöpfung, wenn er nach Hause kam. Er brauchte seine Ruhe, aber das verstand man in ihrer Kultur nicht. Wie oft war er in Gedanken verloren. Aber sie hatte Verständnis dafür. Ihr Mann war sehr intelligent, aber er brauchte seine Routine, feste Strukturen, Ruhe und Prinzipien.

„Warum ist mein Hamid nur so kompliziert“, beklagte sich seine Mutter andauernd. „Wieso muss er erst alles dreimal durchdenken?“ Wenn die beiden Frauen allein waren, lachten sie manchmal darüber. Hamid, der kleine Philosoph, Hamid, der nur seine Bücher im Kopf hatte.

Alaleh wurde rot. Er hatte nicht nur seine Bücher im Kopf. Seine Liebe zu ihr war leidenschaftlich. Er liebte sie von ganzem Herzen. Aber er hatte das System so satt, das System mit seinen Regeln, die keinen Sinn ergaben. „Wie man uns zwingt, unseren Glauben auszuleben, das ist doch völlig unlogisch!“, hatte er sich schon unzählige Male beklagt.

Aber dann lachte er verbittert und zitierte das persische Sprichwort: „Wenn überall Ungerechtigkeit herrscht, ist es gerecht.“

Die Arbeit an der Universität war wie für ihn gemacht und die Studenten liebten ihren Dozenten, den weisen Mann, der den persischen Dichter und Mystiker Rumi zitierte. Er arbeitete hart und hatte immer ein offenes Ohr für seine Studenten. Aber Alaleh hatte stets Angst. Würde er etwas gegen die Regierung sagen? Würde er jemandem sein Herz ausschütten?

Jahrelang hatten sie schon über eine mögliche Flucht gesprochen. Hamid hatte es offen ausgesprochen. Flucht. Sie wollten nach Österreich, wo Hamids Cousin Jalil lebte. Er hatte Asyl beantragt und lebte ganz legal in seiner neuen Heimat.

Legal. Alaleh schloss die Augen und ließ das Wort auf sich wirken. In ihrem Leben war gerade überhaupt nichts legal. Würde Hamid es überhaupt bis nach Österreich schaffen? Würde er die Berge überwinden? Hamid war doch überhaupt nicht für Abenteuer und Risiko gemacht. Aber für sie, für Rasa, für seine Familie hatte er alles auf sich genommen und war mitten durch die Hölle gelaufen, um einer noch größeren Hölle zu entkommen.

Omid weinte im Schlaf und Alaleh küsste ihn sanft auf die Stirn. Eine Träne lief ihr die Wange herunter. Rasa durfte nicht sehen, dass sie weinte. Myriam durfte nicht merken, wie viele Sorgen sie sich machte. Es war das Beste, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Sie musste sich um diese Menschen kümmern und ihnen helfen, die Freiheit zu erreichen. Nur mit der Nacht durfte sie ihre Angst um Hamid teilen. Mit der Nacht und einem Gott, der wahrscheinlich sowieso nicht zuhörte.

Hamid

„Erfrierungen zweiten Grades und schwere Mangelernährung.“ Hamid hörte die englischen Worte wie durch dichten Nebel hindurch. Wo war er? Wer waren diese Leute? Er versuchte, die Augen zu öffnen, aber alles drehte sich. Aus Angst vor dem Schwindelgefühl brach er den Versuch ab. Die Stimme fuhr fort. „Immer wieder tauchen hier welche in diesem Zustand auf. Halbtot, halb verhungert, halb erfroren. Sie glauben, endlich in Freiheit zu sein, aber sie wissen gar nicht, dass es hier auch nicht sicher ist.“

Nicht sicher! Bilder der letzten Wochen jagten durch seinen Kopf – die Flucht, die Hunde, die Polizei, die Kälte. Rasheed! Er musste Rasheed Bescheid geben, wo er war.

„Können Sie ihn ein, zwei Tage hierbehalten? Er wohnt ohne Zweifel in der schlimmsten Absteige. Ich kenne diese Leute, glauben Sie mir. Sie rufen mich immer erst, wenn es zu spät ist ...“

Hamid wollte wach bleiben, wollte zuhören, wollte Fragen stellen, aber er driftete ab, immer weiter, sank immer tiefer ...

Als er wieder erwachte, zwang er seine Augenlider nach oben. Dieses Mal drehte sich der Raum nicht. Er lag auf einem Bett in einem kleinen Zimmer mit weißen Wänden. Hamid kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was auf den zwei Bildern an der Wand zu sehen war. Weiße Häuser, manche mit Flachdächern, andere mit Runddächern, das türkisblaue Meer. Da fiel es ihm wieder ein. Er war in der Türkei! Er spürte wieder die große Erleichterung, die er empfunden hatte, als er dem Schleuser hinterherlief. Sie waren über die Grenze gelangt, waren den Hunden und der Polizei davongelaufen. Dann der schier unendliche Marsch, bis ihm die Füße abfallen wollten. Und dann das Hotel. Der argwöhnische Blick des Hotelmanagers, die mit geheimen Losungsworten gespickte Erklärung des Schleusers. Hamid hatte das Geld über den Tresen geschoben und war mit Rasheed in ein Zimmer im Keller geführt worden, wo das Fenster kaputt war und die Farbe sich von den Wänden schälte. Verdreckt, aber sicher.

Sie wissen gar nicht, dass es hier auch nicht sicher ist.

Hamid versuchte sich gerade aufzusetzen, als eine junge Frau in der Tür erschien. „Ah, Sie sind wach! Ich dachte schon, das wird gar nicht mehr.“ Sie sprach Englisch, hatte einen amerikanischen Akzent. „Verstehen Sie mich?“

Hamid nickte nur.

Sie war hübsch, hatte wellige braune Haare, trug westliche Kleidung und hatte ein Baby auf dem Arm.

Sie kam ins Zimmer und blieb mit gebührendem Abstand vor seinem Bett stehen. „Ich habe Ihnen Suppe gekocht. Meinen Sie, Sie können etwas essen?“

„Danke, ja. Essen“, murmelte er. „Wo bin ich?“

Sie legte sich das Kind an die Schulter und klopfte ihm leicht auf den Rücken. „Sie sind in Van. In der Türkei. Sie sind in der Medina zusammengebrochen. Mein Mann hat Sie zu uns ins Haus gebracht. Der Arzt war da und hat uns Medikamente gegeben. Wenn Sie sich ausruhen, wird es Ihnen sicher bald besser gehen.“

Sie lächelte. Hamid hatte Argwohn und Angst in ihrem Blick erwartet, aber sie strahlte Gelassenheit aus. „Mein Mann ist gerade unterwegs. Er heißt Jim. Ich bin Anna. Wie heißen Sie?“

„Hamid. Hamid.“ Er griff nach seiner Jackentasche, aber er trug fremde Sachen. Panik überkam ihn. Die Tasche, die Papiere, das Geld!

„Der Arzt hat Ihnen saubere Kleidung angezogen. Ihre Sachen sind dort drüben.“ Anna zeigte auf einen Stuhl in der Ecke, wo seine abgewetzten Sachen hingen. „Ich kann sie waschen, wenn Sie möchten. Ich habe noch nichts damit gemacht.“

So wie sie ihn ansah, wusste Hamid, dass sie das Geld gefunden und nicht angerührt hatten. Sein Herzschlag beruhigte sich. Ihm wurde wieder schwindlig.

„Ich hole Ihnen die Suppe. Ich will nur noch schnell das Kind hinlegen.“

„Danke“, sagte Hamid und merkte, wie der Raum sich wieder zu drehen begann. Er sank zurück ins Bett und schlief ein.

Hamid saß im Bett, den Rücken an der Wand. Langsam führte er Löffel für Löffel zum Mund. Die Suppe schmeckte so gut! Er biss vom Brot ab und kaute gemächlich, schluckte. Die junge Frau hatte ihm den Stuhl mit seinen Sachen neben das Bett geschoben. Noch bevor er den ersten Löffel Suppe gekostet hatte, hatte er die Taschen untersucht und das eingenähte Geld gefunden. Die Papiere waren alle da. Das kleine Radio steckte hinten im Rucksack. Er aß schweigend.

Anna kam herein. „Na sehen Sie, Hamid. Sie essen ja schon! Bald sind Sie wieder bei Kräften, Sie werden schon sehen.“

Hamid versuchte zu lächeln, aber seine Lippen waren gesprungen. Auch der Löffel fühlte sich so eigenartig an.

„Sie haben Erfrierungen. Der Arzt sagt, das kann noch ein bisschen dauern, bis Sie Ihre Hände und Füße wieder spüren. Aber es kommt bestimmt.“

Hamid stellte die leere Suppenschüssel aufs Tablett. „Sehr gut. Danke.“

„Ich hole Ihnen noch ein bisschen.“

Hamid verstand die Frau nicht. Sie fragte nicht nach Geld, schimpfte nicht. Da fiel es ihm wieder ein. Ja, die Medina! Den schlafenden Rasheed hatte er im Kellerzimmer gelassen und war auf den Markt gegangen, um etwas zu Essen zu kaufen. Aber er war so schwach. Und dann hatte er das Wort gehört! Isa! Der bärtige Mann am Stand. Er war tatsächlich im Haus von Christen. Er sollte eigentlich Angst verspüren wie damals, als er ins Haus seiner armenischen Nachbarn gegangen war, aber er war zu müde dazu.

„Kinder?“, fragte er leise. Anna lächelte.

„Ja. Wir haben drei Kinder. William ist acht. Jacob ist sechs. Und die kleine Lilly haben Sie ja schon gesehen. Unsere Kleine wird bald ein halbes Jahr.“

„Kleine“, wiederholte Hamid. „Kleine.“

„Haben Sie Familie?“

Er nickte und griff nach seinem Mantel. Aus den Taschen fischte er das zerknitterte Foto. „Meine Frau – Alaleh. Meine Tochter – Rasa.“ Er zeigte auf die lächelnden Gesichter.

„Sie sind sehr hübsch.“

„Und Baby. Vielleicht ein Baby. Jetzt.“

„Ihre Frau war schwanger, als Sie ... fort sind?“

Hamid nickte.

„Und der Geburtstermin stand kurz bevor?“

Er nickte wieder.

„Dann sollten Sie sie anrufen. Rufen Sie sie an und fragen, ob es ihr gut geht.“

Hamid schüttelte traurig den Kopf. „Kein Telefon.“

„Dann nehmen Sie unseres.“

Was für eine seltsame Frau! „Nein, danke.“ Er wollte ihre Familie nicht in Gefahr bringen, auch wenn er sich nach Alalehs Stimme sehnte und hören wollte, ob sie und Rasa in Sicherheit waren, ob das Baby schon da war. Oder hatte er schlicht zu viel Angst, um anzurufen? War die Geheimpolizei gekommen, hatte sie gefunden, das Undenkbare getan?

Anna kam und nahm die leere Schüssel. „Ruhen Sie sich aus, Hamid. Wenn Jim zurück ist, wird er Ihnen alles erklären. Sie sind nicht der Erste, der von hier aus zu Hause anruft. Wir sind das gewohnt. Alles wird gut.“ Sie ging und schloss leise hinter sich die Tür.

Hamid sank in die Kissen. Alles wird gut, klangen Annas Worte in ihm nach.

Alaleh

Irgendwo im Flur klingelte ein Handy. Ihr Handy! Alalehs Herz setzte kurz aus. Ihr Telefon hatte nicht mehr geklingelt, seit Myriam, Rasa, Omid und sie mit den armenischen Christen geflohen waren.

Wer konnte das sein? War es eine Falle?

Trotzdem eilte sie hin und nahm das Gespräch mit zitternden Fingern an. „Hallo?“

Es knisterte. „Alaleh!“ Es war Hamids Stimme.

Alaleh schossen Tränen in die Augen. „Du lebst. Oh, mein Hamid.“ Ihre Hände zitterten so stark, dass sie befürchtete, das Telefon fallen zu lassen. „Wo bist du?“, flüsterte sie, als könnten die Wände selbst sie an die Geheimpolizei verraten.

„Ich bin in der Türkei. Ich bin in Sicherheit.“ Er klang so schwach, so müde. „Und du? Wie geht es dir? Wo bist du?“

„Wir verstecken uns. Die Polizei kam in der Nacht, als dein Sohn geboren wurde.“

Es knisterte in der Leitung. Alaleh rechnete jeden Augenblick damit, dass die Verbindung abbrach.

Was?

Sie grinste. „Ja, dein Sohn wurde in der geheimen Speisekammer geboren, während die Polizei das Haus durchsuchte. Deine Mutter hat Omid auf die Welt geholt und deine Tochter hat mir das Leben gerettet.“ Alaleh wollte am liebsten gleich alles auf einmal erzählen. Hamid lebte! Er war in der Türkei. Er war frei!

Einige Augenblicke weinten beide still am Telefon.

„Wir müssen hier weg.“

„Ich schaffe es bis nach Österreich. Dann hole ich euch nach. Könnt ihr euch noch verstecken?“

„Im Augenblick ja. Diese Christen sind gute Menschen. Bete für uns, Hamid.“

„Ich bete jeden Tag. Den ganzen Tag. Immerzu. Ich liebe dich, Alaleh. Ich liebe dich. Bitte, sag Rasa und meiner Mutter und meinem Sohn, dass ich sie liebe.“

„Er heißt Omid.“

„Omid. Ich rufe wieder an, sobald ich kann.“

„Ich liebe dich, Hamid.“

Hamid

Die Gefühle übermannten ihn. Erleichterung, Freude, Tatendrang, Angst. Alles in einer verwirrenden Mischung. Er hatte einen Sohn. Omid war gesund. Aber sie alle waren in Gefahr. Seine Familie konnte nicht auf demselben Weg aus dem Iran fliehen wie er, auf dem Pferderücken, auf der Flucht vor Hunden. Aber sie mussten fliehen.

Er gab sich der Freude über Alalehs Stimme noch einmal hin. Wie gerne wollte er an diesem warmen Ort noch verweilen, aber Rasheed war sicher verängstigt und inzwischen davon überzeugt, dass die Geheimpolizei Hamid doch noch geschnappt und zurück über die Berge in den Iran geschickt hatte.

Das Stechen in seinen Zehen war unerträglich. Seine Finger wurden allmählich beweglicher. Er musste los. Da klopfte es und der große, schlaksige Mann namens Jim trat ein.

„Hallo, Hamid. Schön, dass es Ihnen besser geht.“

„Danke, dass Sie geholfen. Danke für Essen, für Anruf. Ich muss jetzt gehen. Mein Freund macht sich Sorgen.“

„Ihr Freund?“

„Ich bin mit Freund hergekommen, heißt Rasheed. Wir wohnen in Zimmer.“ Wie viel konnte er diesem Fremden anvertrauen?

„Sagen Sie mir doch, wo ich Rasheed finde. Ich werde ihn benachrichtigen, dass es Ihnen gut geht.“

„Es ist besser, ich gehe selbst. Er sonst kriegt Angst, wenn er Sie sieht.“

Jim zog sich den Stuhl heran und setzte sich. „In der Medina haben Sie gesagt, Sie sind wegen des Injil aus Ihrer Heimat geflohen. Kennen Sie Isa al-Masih?“

Hamid überlegte. Kannte er Jesus? Jedes Mal, wenn er im Radio die Geschichten gehört hatte, brannte ihm das Herz. Seine Tochter glaubte an ihn. Er selbst war in einem Traum gewarnt worden zu fliehen und irgendetwas sagte ihm, dass er von Isa kam. Aber kannte er ihn? Der Mensch konnte Gott nicht kennen. Er schüttelte den Kopf.

„Möchten Sie mir Ihre Geschichte erzählen, Hamid?“ Die Freundlichkeit in Jims Stimme ließ seine Angst abflauen. „Der Gott, dem wir dienen, interessiert sich für jeden Menschen, wissen Sie. Ihre Geschichte ist ein Teil von Gottes Geschichte für diese Welt. Und sie hat ihre Berechtigung, ganz egal, wie schwer und mühsam es bisher war.“

Seine Geschichte? Was sollte er erzählen? Konnte er Jim wirklich vertrauen? Hamid beschloss, lieber selbst zu fragen. „Wo kommen Sie her? Warum Sie sind hier?“

„Wir kommen aus den Vereinigten Staaten, aus dem Süden. Ich bin Ingenieur und arbeite hier in Van. Anna und ich sind hierhergezogen, nachdem wir fünf Jahre in Österreich gelebt haben.“ Er sah Hamid dabei so durchdringend an, dass er beschämt zu Boden blickte. Österreich! Das Land seiner Träume. Hier wollte er Asyl beantragen.

„Wir haben in einem Flüchtlingszentrum außerhalb von Wien gearbeitet. Und immer wieder hörten wir Geschichten über die Strapazen der Flucht und über die Schwierigkeiten, die Flüchtlinge auch noch in der Türkei erwarten. Also kamen wir her, um zu helfen. Wo wir können. Wann wir können. Samstags habe ich meinen kleinen Stand in der Medina. Ich habe mich sehr gefreut, Sie dort zu treffen.“

„Helfen? Was helfen?“

„Wir bieten ein kostenloses Mittagessen in der Woche im Kulturzentrum an. Wir geben Englischkurse. Wir helfen mit dem ganzen Papierkram und bei Interesse lesen wir gemeinsam das Injil. Ich versuche dann, Fragen zu beantworten.“

Hamid spürte, wie Hoffnung in ihm aufflammte. Er beschloss, diesem seltsamen Mann zu vertrauen. „Österreich. Das ist mein Ziel, dort ich will Asyl für meine Frau und meine Kinder. Hoffe ich sehr.“ Hamid senkte seine Stimme. „Als ich auf Flucht war, habe ich gehört im Radio von Jesus. Ich bin geflohen, weil Frau meiner Tochter ein Injil geschenkt. Injil habe ich gehasst, aber ich bin geflohen, zu beschützen meine Familie. Immer wieder ich hörte von Isa im Radio. Kann das alles stimmen, frage ich?“ Bevor Jim etwas sagen konnte, kam ihm Hamid zuvor. „Ich möchte Injil lesen, aber ich habe Angst. Und mein Freund Rasheed macht Sorgen.“

„Dann lassen Sie mich Rasheed Bescheid geben, dass es Ihnen gut geht und Sie bald wieder zu ihm kommen. Morgen Abend. Dann könnten wir heute Abend im Injil lesen, wenn Sie wollen.“

Hamid zögerte und zuckte dann mit den Achseln. „Er wohnt Hotel ‚Neumond‘. Kennen Sie?“

„Ich finde es. Keine Sorge.“

Als Jim am Abend zurückkehrte, sagte er nur: „Ich habe Rasheed gesagt, dass Sie noch sehr schwach sind, sich aber langsam erholen. Ich habe ihm etwas zu essen gebracht. Er war sehr erleichtert, dass Sie noch leben. Und ich habe ihm gesagt, dass Sie morgen Abend zurück sind.“

Hamid sprach mit Jim bis spät in die Nacht, bis die Erschöpfung seine Neugier überwand und der Schlaf ihn übermannte. Sie sprachen über das Injil, über Isa, Österreich und Asyl. So viele Worte. Und Jim hatte Hamid erklärt, wie er in Van an Papiere kommen konnte. Jim war freundlich und sah die Dinge realistisch. Er kannte sich aus, wusste, wo man Hilfe bekam, aber auch, dass Hamids beschwerliche Reise noch nicht vorüber war.

„Und was ist mit Frau, Kindern, Mutter? Wie lange dauert, bis ich habe in Österreich Asyl?“

Darauf hatte Jim keine Antwort. „Es ist jedes Mal anders. Zuerst müssen Sie zu Kräften kommen. Dann können Sie mit Rasheed durch Bulgarien nach Österreich.“

Hamid träumte von Österreich, mit seinen schneebedeckten Bergen, der frischen Luft und den Blumen, die die Holzbalkone schmückten. Er hatte Fotos von seinem Cousin Jalil im Internet gesehen und gehört, wie schön und friedlich es in diesem Land war. Auf einmal tauchte Jim im Traum auf. Sein Gesichtsausdruck war überhaupt nicht friedlich und wohlwollend. Lauf, Hamid! Lauf! Hier bist du nicht sicher!

Hamid schreckte schweißgebadet auf, fühlte sein Herz wie wild pochen und griff nach dem Glas Wasser an seinem Bett. Er konnte Träume nicht deuten, aber so viel war klar: Seine Flucht war noch nicht vorbei und es würde noch eine lange Zeit dauern, bis er seinen Sohn zum ersten Mal in den Armen halten konnte.