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ELENA SCHULTE

FRÄULEIN

Wundervoll

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Durch Gottes Liebe werden,
wer ich bin

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ISBN 978-3-417-22889-2 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books, Leck

© 2017 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Gesamtgestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

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Für Madita und Smilla. Meine wunderbaren Töchter.
Voller Hoffnung, dass ihr Frauen nach dem Herzen Gottes werdet.
Für René und Linus. Meine großartigen Männer.
Voller Dankbarkeit, weil ihr uns auf diesem Weg begleitet.
Und für Knöpfchen. Voller Vorfreude.
Wir lernen uns im nächsten Leben kennen.

Inhalt

Über die Autorin

Vorwort

Intro

Kapitel 1
Bestandsaufnahme – Es muss sich etwas ändern!

Kapitel 2
Aufgaben, Rollen, Erwartungen – Und was davon bin eigentlich ich?

Kapitel 3
Alte Antreiber, neue Wahrheit – Veränderung für Kopf, Herz und Seele

Kapitel 4
Reinen Tisch machen – Vom Tun zum Sein

Kapitel 5
Angst vor dem, was (nicht) kommt – Gott ist zum Glück so anders

Kapitel 6
Werden, wer ich bin – Unterwegs ins neue Leben

Letzte Worte

Anmerkungen

Über die Autorin

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ELENA SCHULTE (Jg. 82) liebt ihren Mann René und ihre drei Kinder, lebt mit ihnen im südlichen Rheinland und arbeitet als Referentin, Moderatorin und Autorin. Neben ihrer Leidenschaft für gesprochene und geschriebene Worte schätzt sie gute Freundschaften, Ideen mit Mut und Herz, Zeit an der Nähmaschine und einen Milchkaffee im Sonnenschein.

Vorwort

Als Teenager hatte ich mir ein Poster mit Bonhoeffers berühmtem »Wer bin ich?«-Gedicht an die Wand gehängt. Natürlich war meine Lebenssituation überhaupt nicht vergleichbar mit der existenziellen Not, die Bonhoeffer im Gefängnis erlebte, als er das Gedicht schrieb. Aber seine grundlegenden Fragen rühren bis heute etwas in mir an: »Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen – oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?« Denn die Frage, wer ich bin und was mich definiert, ist letztlich heute noch genauso aktuell wie damals. Gerade in einem vollen Alltag, in dem man häufig eher reagiert als agiert, kommt man schon mal ins Grübeln und denkt: Was macht mich als Persönlichkeit eigentlich im Kern aus? Was kann ich denn besonders gut? Welchen Beitrag leiste ich eigentlich, um diese Welt besser, schöner und lebenswerter zu machen?

Diesen Fragen- und Identitätsdruck kennt Elena Schulte nur zu gut. Auch sie beschäftigte die Frage: »Was macht mich aus – mein Wesen, mein Herz, mein eigentliches Sein? Bin ich nicht mehr als Rollen, die dazugehörigen Erwartungen und ein paar unerfüllte Wünsche?« Statt nur kurz darüber zu grübeln und dann einfach im Hamsterrad des Alltags weiterzumachen, hat sie sich die Zeit genommen, ein Buch darüber zu schreiben, um diesen Fragen mal in Ruhe auf den Grund zu gehen.

Ich finde, es ist ein Privileg, uns anhand von Elenas eigener Reise, über die sie in diesem Buch sehr offen und ehrlich schreibt, auf den Weg zu unserer wahren Identität machen zu dürfen. Wir werden mit klugen Gedanken angeregt, uns selbst und unsere Antreiber besser kennenzulernen. Wir werden herausgefordert, Aufgaben unseres Lebens neu zu sortieren oder auch auszusortieren. Und wir werden inspiriert zu überlegen, wo der Platz sein und wie der Platz aussehen könnte, an dem wir genau richtig sind und unsere Seele ihre Bestimmung findet. Vor allem aber vermittelt Elena uns neu einen Zugang zu Gottes liebevollem Blick auf uns, der uns dabei hilft, wie Bonhoeffer damals, zu sagen: »Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott!«

Melanie Carstens
ist Chefredakteurin der Zeitschrift JOYCE
und lebt mit ihrer Familie in Hamburg

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Du wirst eine prachtvolle Krone
in der Hand des Herrn sein, ein kostbares Diadem
in der Hand deines Gottes.
JESAJA 62,3

Intro

Neulich ging ich in mich und war erstaunt – denn niemand war zu Hause.

»Schade«, dachte ich, und wollte schon wieder gehen. Doch dann dachte ich noch: »Zu schade eigentlich. Wo ich wohl bin?«

Und dann machte ich mich auf die Suche – nach mir.

Aber wo sucht man nach sich?

Vielleicht in alten Fotoalben. Da sieht man auf jeden Fall immer jünger aus. Hier ein Bild von mir, verkleidet als Prinzessin, die voller Stolz an ihre eigene Schönheit glaubt und sie fröhlich und frei der Welt zur Schau stellt. Oder jenes Bild, ich mit einer letzten Träne im Auge über ein aufgeschlagenes Knie, die aber durch eine warme Umarmung von Mama und ein kaltes Eis weggetröstet werden konnte. Ein Bild von mir bei der Einschulung – die Schultüte fast größer als ich. Ein Bild von mir beim Abitur, in meinem ersten langen Abendkleid am Körper und mit meinem ersten Freund an der Hand. Ein Bild von mir mit meinem Führerschein – ich weiß noch, wie ich die Straße entlanglief und bei jedem Auto, das ich sah, dachte: »… und das dürfte ich auch fahren. Und das auch. Und das auch.« Und jedes Foto erzählt etwas von meinen Träumen – mutig und groß und irgendwie naiv, aber ehrlich. Doch beim Blättern muss ich zugeben, dass ich anders geworden bin und die Suche nach mir in der Vergangenheit in der Gegenwart nicht zum Ziel führen wird.

Vielleicht finde ich mich ja in meinem Briefkasten. Da sind auf jeden Fall noch eine Menge anderer Leute auf der Suche nach mir. Die Fernuniversität, die ich mal angeschrieben habe, weil ich dachte, dass sich vielleicht noch ein Studium nebenbei unterbringen ließe – ha! – und die seitdem nicht aufgibt, aus mir doch noch eine Online-Marketing-Managerin in nur vier Semestern machen zu wollen. Das Finanzamt, das mich mittlerweile zum zweiten Mal an die Abgabefrist meiner Steuererklärung erinnert und mich sehr unbarmherzig über den Verspätungszuschlag informiert. Die Schule, die in bunten Worten und fröhlichen Farben das Sommerfest ankündigt. Die Tageszeitung, die mich mit Informationen beglücken, befüllen, bedrücken möchte. Der Drogeriemarkt meines Vertrauens, »Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein«, der endlich auch die »true black false lash effect«-Mascara im Sortiment hat, mit der mein Blick auf dieses Leben völlig new und absolut fascinating sein soll! Doch auch, wenn alles in meinem Briefkasten irgendwie auf der Suche nach mir, nach meiner Aufmerksamkeit und den Sehnsuchtslöchern in mir ist, so bin ich selbst in all dem doch nicht zu finden.

Vielleicht finde ich mich ja in meinem Kalender. Auf jeden Fall lässt sich da eine ganze Menge finden. Und es ist schwer ersichtlich, ob hier eine Mutter, eine Unternehmerin, eine Lebenskünstlerin oder eine Verrückte ihre Termine eingetragen hat. Vielleicht alle vier. Die Fülle der Aktivitäten ließe sich jedenfalls auf mindestens vier Leben verteilen.

Montag: Kinder in die Schule (Fotograf ist da!) – einkaufen (Sellerie und Streichhölzer nicht vergessen!) – Telefontermin mit Verlag wegen Artikelabgabe – kochen – Kinder abholen – 14:45 Elterngespräch in der Schule – danach Zwischenstopp bei Franziska – Auto in die Werkstatt bringen – meinen Mann von der Arbeit abholen – joggen mit Tine – Kids ins Bett – 20 Uhr Mitarbeiterbesprechung Kidstreff (Sommerfest planen).

Dienstag: Nicht vergessen: Schulfrei! – Kinder zu Oma bringen – 9 Uhr Vorbereitungssitzung für ein Event im Herbst – 12 Uhr Zahnarzttermin – Mittagessen unterwegs – ab 14 Uhr zu Hause sein und auf Elektriker warten – …

Ich höre lieber auf zu lesen, denn ich bekomme Angst. Angst davor, mich am Ende tatsächlich hier zu finden, was bedeuten würde, dass ich nicht mehr bin als eine lange Liste von Anforderungen, Terminen und To-dos. Und das würde ich nicht ertragen. Da muss doch noch mehr sein … Ich muss doch noch mehr sein …

Mein Blick fällt auf die glänzende Oberfläche einer Obstschale. Mein Spiegelbild darin sieht lustig aus, denn die gewölbte Schale verzerrt mein Gesicht. Die Augen erscheinen wie Schlitze, dafür die Nase überdimensional groß. Und wenn ich den Mund öffne, könnte dieser auch dem Krümelmonster gehören, das versucht, 17 Kekse auf einmal zu essen. Wie gut, dass dieses Spiegelbild nicht meinem wahren Ich entspricht. Dass ich eigentlich ganz anders aussehe. Dass sich hier nur eine Karikatur der Wirklichkeit abzeichnet.

Um mich so zu sehen, wie ich in Wahrheit aussehe, muss der Spiegel kristallklar sein, rein, glatt, glänzend und ehrlich.

Und ich beginne zu ahnen, dass hierin auch das Ziel meiner Suche nach mir selbst liegt. Was mir begegnet ist – in meinem Album, meinem Briefkasten, meinem Kalender – waren verzerrte Abbildungen der Wirklichkeit. Momentaufnahmen, Teilabschnitte, überdimensionierte Details. Ich habe Träume gesehen, Grenzen, Anforderungen, Enttäuschungen, Pläne. Enge und Weite, Höhen und Tiefen, Seifenblasen und Stahlbetonmauern, den Himmel und die Erde. Aber nichts davon hat mich in meiner Ganzheit gezeigt. Nichts hat die Suche nach mir zum Ziel geführt. Um mich zu sehen, wie ich wirklich bin, muss ich den anschauen, der kristallklar, rein, glatt, glänzend und ehrlich ist. Der mich besser kennt als ich mich selbst. Bei dem ich sein darf – weit weg von Rollen und Ansprüchen wie »so solltest du besser sein«. Der mich nicht verzerren möchte, weil er nicht an mir zerrt, sondern weil er mich liebt. Mit weit geöffneten Armen. Mich einlädt, alles bei ihm abzuladen – auch meine eigenen Bilder von mir, die ebenfalls nur selten der Wahrheit entsprechen, weil auch ich mich im Vergleich mit anderen entstellt sehe. Als Begrenzte, Verirrte, Heimatlose, Suchende, die weit weg ist von zu Hause.

Doch hier darf ich ankommen. Bei meinem Heimatgeber, meinem Glücklichmacher, meinem Schuldvergeber und Liebesspender. Bei meinem Schöpfer. Bei meinem Vater. Bei meinem Gott.

Zurück zu mir finde ich nur bei ihm.

Und so kehrt langsam wieder Leben in mir ein, weil ich – je mehr ich mir seiner Nähe bewusst werde – Schritt für Schritt wieder zu mir komme.

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Kapitel 1 Bestandsaufnahme – Es muss sich etwas ändern!

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Du musst dein Ändern leben.
RAINER MARIA RILKE

Da sitzen wir. Am Tisch. Mitten in London in einer kleinen Dachgeschoss-WG bei sehr netten Leuten. Die Kurzversion der Geschichte, wie mein Mann und ich dort hingekommen sind, lautet: Freunde von Freunden haben Freunde, die diese WG kennen und sie an uns vermittelt haben, damit wir ein paar kostengünstige Nächte in London verbringen können.

Und wenn man sich mit noch unbekannten Leuten unterhält, ist die Frage »Was machst du so, wenn du nicht grade in London bist?« ja durchaus legitim und zu erwarten. Allerdings haut sie mich heute geradezu fast um.

Zuerst schießen mir – wie jedes Mal, wenn mir diese Frage gestellt wird – im Bruchteil einer Sekunde 37 Fragen durch den Kopf, wie z. B.:

Was ist bei einem solchen Kennenlerngespräch wirklich wichtig zu sagen?

Was beschreibt mich gut?

Was von dem, was ich tue, macht mich und meine Identität wirklich aus?

Was klingt gut, was lasse ich lieber weg?

Wer oder was bin ich wirklich und wer oder was wäre ich nur gerne?

Was beeindruckt mich und andere?

Was bin ich vielleicht, traue ich mich aber kaum zu sagen, obwohl ich so gerne würde? (Beispielsweise habe ich bereits drei Bücher geschrieben, aber von mir zu sagen, ich sei Autorin, kommt mir nur schwer über die Lippen. Das klingt viel zu groß und ich fühle mich dem nicht gewachsen oder nicht wert, dies von mir zu behaupten …).

Es ist ja nun durchaus nicht so, dass mir diese Frage zum ersten Mal gestellt würde, aber ihre Beantwortung fordert mich jedes Mal absolut heraus. Soll sie doch realistisch, demütig, fromm, attraktiv und beeindruckend zugleich sein.

Vielleicht liegt es daran, dass ich eine Frau bin und dazu auch noch perfektionistisch veranlagt. Wenn mein Mann diese Frage beantwortet, ist er in fünf Sekunden fertig und hat maximal zwei Sätze gesagt. Das reicht ihm. Sollen die anderen doch denken, was sie wollen – kann ihm doch egal sein. Wenn ich mich dieser Frage gegenüber sehe, fange ich jedes Mal an zu schwimmen, ringe nach Worten, bin hinterher unzufrieden mit meiner Antwort und frage mich noch lange, was der Fragesteller wohl über mich denkt und ob er nun ein gutes Bild von mir hat. Regelmäßig nehme ich mir dann vor, dass ich mir in einem ruhigen Moment mal eine wohlformulierte Antwort zurechtlegen muss, die ich dann bei Bedarf abrufen kann. Aber dazu kam es noch nie …

So beginne ich also einmal mehr, unvorbereitet zu erzählen. Und während ich das tue, erscheint es mir, als würde ich mir aus einer Zimmerecke als unbeteiligte Person selbst zuhören. Zuhören und dabei ziemlich große Ohren und Augen machen. Weil sich über meine Antwort eine neue Frage schiebt: »Echt? Das bin ich und das mache ich?«

Um verstehbar zu bleiben, sollte ich vielleicht erst mal etwas zu meiner ursprünglichen Antwort sagen. Da sprudelten nämlich die harten Fakten meines Lebens nur so aus meinem Mund:

Ich bin verheiratet (seit zehn Jahren – deshalb und anlässlich dieses Jubiläums auch diese Londonreise!). Ich bin Mutter. Wir haben zwei Kinder (kleine Anmerkung: zu dem Zeitpunkt in London sind es noch zwei Kinder. Beim Schreiben dieses Buches sind es dann schon drei. Nur, damit Sie beim Lesen nicht verwirrt sind!). Wir leben in einem kleinen Dorf im Westerwald. Dort haben wir vor einigen Jahren ein Haus gebaut. Außerdem bin ich beim Missions- und Bildungswerk Neues Leben angestellt. Mit einem Minijob. Als Evangelistin und Moderatorin. Als solche bin ich viel bei Veranstaltungen wie Frühstückstreffen oder Frauenabenden unterwegs und halte Referate zu Lebensthemen, die Frauen im mittleren (und tendenziell reiferen) Alter beschäftigen. Auf diesen Veranstaltungen bin ich oft mit Abstand die Jüngste. Mit großem Abstand, um genau zu sein. Ist nicht optimal, aber ist halt so. Desweiteren schreibe ich noch gerne, wenn ich dazu komme. Und ein paar Hobbys habe ich auch. Nähen. Sonstige kreative Ergüsse. Sport machen. Zeit mit Freunden verbringen. Lesen.

Wenige Sätze, die den Anspruch haben, mein Leben und mein Wesen zu verbalisieren. Das Wichtigste zusammenzufassen. Das bin ich. Aber, wie gesagt: Die unbeteiligte Person in der Zimmerecke alias ich im Selbstbeobachtungsmodus bekommt ein großes Fragezeichen im Gesicht und mir ist so, als würde in großen roten Blink-Lettern die Frage »Das bist du? Wirklich?!« an die Wand geschrieben stehen.

Interessanterweise hat auch meine Zuhörerin – die nette WGMitbewohnerin – freundliche und gleichzeitig fragende Augen. »Interessant, dass du das machst …!«, sagt sie. Damit meint sie vor allem meinen Job, glaube ich. Und mit »interessant« meint sie wohl eher etwas in Richtung »seltsam«, »hätte ich nicht gedacht« oder »passt gar nicht so zu dir«. Tja …

Den eigenen Puls fühlen

Identität. Großes Wort. Wer bin ich? Gute Frage.

Vor ein paar Jahren erschien das Buch »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?« von Richard David Precht. So wenig ich diesen Titel je verstanden habe, so sehr spricht er mir doch aus der Seele. Denn ich habe den Eindruck, dass ich, wenn es um Identität geht, nicht mal die Frage wirklich verstanden habe – geschweige denn, die Antwort weiß.

Wer bin ich? Was definiert mich? Wozu bin ich hier?

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Denn ich habe den Eindruck, dass ich, wenn es um Identität geht, nicht mal die Frage wirklich verstanden habe – geschweige denn, die Antwort weiß.

Natürlich gibt eine Selbstbeschreibung – vor allen Dingen in so einer Kennenlern-Situation wie der in London – immer nur einen Teil, einen winzigen Ausschnitt wieder. Doch ich komme sehr ins Nachdenken. Zugegebenermaßen mal wieder. Denn würde ich sagen, dass ich mir nicht öfter meine Gedanken darüber mache, wer ich bin und was mich wirklich existentiell ausmacht und was vielleicht eigentlich besser ganz anders in meinem Leben wäre, würde ich lügen.

Ich bin mir sicher, dass diese Fragen einerseits gesund sind. Denn wenn wir uns nicht hinterfragen, stellen wir die Dinge nicht auf den Prüfstand und dann wird sich nie etwas ändern. Auch das nicht, was sich dringend ändern sollte. Eben weil ja keiner danach fragt.

Andererseits merke ich, dass mir viele klare Antworten fehlen. Bei manchem bin ich mir relativ sicher, aber vieles fällt mir unglaublich schwer zu benennen, zu definieren, zu entscheiden.

»Wie ist es so, ein Haus zu haben?« Ja, wie ist das? Schön eigentlich. Aber auch mit viel Verantwortung verbunden. Wir sind da durch ein paar Umstände so »reingeraten«. Es war auf jeden Fall nicht von langer Hand geplant. Aber jetzt ist es Teil unseres Lebens. Guter Teil. Ich bin überaus dankbar dafür. Aber es bindet auch. Schließlich sind wir jetzt sesshaft. Und auch spießig? Ein bisschen vielleicht. Ich weiß es nicht …

»Wollt ihr noch ein drittes Kind oder seid ihr ›fertig‹?« Ja, wollen wir? Sind wir eher so die Vollbluteltern, die Bauernhof-Urlaub machen und bei denen sich die Gummistiefel im Flur und die bunten Plastikbecher im Schrank stapeln, ohne dass es ihnen was ausmacht? Oder sind wir doch mehr die »Wir haben zwar Kinder, führen aber auch noch unser eigenes Leben«-Eltern, die auch mal ein Wochenende nach London fliegen oder ein Hobby haben, das sie regelmäßig ausüben, weil ihnen Zeit für sich selbst wichtig ist? Denkbar ist beides. Irgendwie. Ich weiß es nicht …

»Entspricht dein Job wirklich deinen Gaben?« Ja, tut er das? Vieles, was ich mache, mache ich, weil ich dafür angefragt werde. So läuft das in meinem Job. Ein Veranstalter lädt mich ein, ich fahre hin, halte den gewünschten Vortrag, fahre wieder nach Hause. Ob ich erfüllt nach Hause fahre? Mal mehr und mal weniger. Andere Dinge tue ich, weil ich wirklich dafür brenne und dort meinen Platz sehe. Arbeit unter jungen Familien zum Beispiel. Wieder andere Dinge tue ich, weil niemand anders sie tut, aber irgendjemand sie ja tun muss. Oder weil es bei meinem Arbeitgeber so üblich ist. Oder weil ich sie schon oft getan habe und alle erwarten, dass ich sie auch weiterhin tue. Wie viel davon immer ehrliche, eigene Entscheidung ist, innere Überzeugung, Ausüben meiner Gaben? Ich weiß es nicht …

Und obendrauf: Kind Gottes

Ach ja, und dann kommen ja noch die sogenannten geistlichen Fragen dazu. Ich bin Christ, das heißt, ich glaube daran, dass es einen Schöpfer gibt, der mich in eine persönliche Beziehung zu ihm einlädt. Die Bibel ist für mich sein Liebesbrief, in dem er mir ein Bild davon malt, wie er ist, was er für mich bereithält und wie er sich das Leben mit mir vorstellt. Und so höre ich weitere Fragen (wahlweise laut oder leise gestellt von meinem Gewissen, anderen Christen, Büchern oder Predigten), wie: »Bist du ein guter Christ?«, »Lebst du so, wie Gott es von dir will?«, »Was wird man am Grab über dich und dein Leben sagen, und ist es das, was du von deinem Leben erwartet hast oder das, was Gott von dir und deinem Leben erwartet hat?« Hier wird die Luft dann so richtig dünn. Denn hier kommt neben der Suche nach den richtigen und klaren Antworten noch der Anspruch, demütig, bibelkonform, veränderungswillig und annähernd heilig zu sein.

Der Fragen- und Identitätsdruck wird an dieser Stelle also einerseits noch gesteigert, andererseits gibt es aber auch eine Art ungeschriebenes Hab-die-Antwort-Gesetz. Denn unter Christen ist es weitverbreitete Überzeugung, dass wir eigentlich die richtigen Antworten auf diese existentiellen Lebensfragen wüssten. Im Groben stimmt das vielleicht auch. Diese lauten in etwa so: Ich bin von Gott geschaffen. Von ihm geliebt. Ich darf ihn meinen Vater nennen, weil ich mein Leben ganz bewusst in seine Hand gelegt habe. Weil ich anerkannt habe, dass in meinem Leben Schuld ist, die nur Jesus mir vergeben kann und dass er mir durch diese Vergebung neues Leben schenkt. Diese Tatsache definiert mich neu, macht mich zu einem neuen Menschen. Sie stellt mich in eine neue Freiheit, verheißt mir Leben in Ewigkeit mit und bei Gott und gibt mir zugleich auch eine Bestimmung und einen Auftrag in dieser Welt: nämlich diese gute Nachricht von einem möglichen Leben mit Gott an andere weiterzugeben und sie zu diesem Leben einzuladen. (Deshalb auch meine Berufsbezeichnung »Evangelistin« – also Verkündigerin der Guten Nachricht, die ich bei meinen Vorträgen auf den Frauenveranstaltungen mal mehr und mal weniger vollmundig proklamiere). Nicht weniger große Antworten auf diese großen Fragen.

Wenn ich aber ganz ehrlich bin, komme ich mit diesen durchaus richtigen und wichtigen und guten Antworten dennoch an meine Grenzen. Nämlich dann, wenn ich sie in kleine Stückchen schneide, um sie in mein Leben und in meinen Alltag einzupassen. Was bedeutet es denn, dass ich ein errettetes Gotteskind bin, wenn mich die Frage plagt, ob ich in meinem Job etwas verändern soll? Welchen Einfluss hat Gottes Vergebung meiner Schuld auf die Tatsache, dass ich unzufrieden mit meinem Gewicht, meiner Figur oder meinem Fernsehkonsum bin? Und kann die Tatsache, dass ich Gottes Botschafterin in dieser Welt bin, etwas daran ändern, dass ich oft ungeduldig auf meine Kinder reagiere? Vielleicht ist es unfair, zu beklagen, dass sich zwischen diesen Themenblöcken keine Zusammenhänge herstellen lassen, aber ich möchte damit nur zum Ausdruck bringen: Die richtigen theoretischen Antworten und Fakten scheinen die zugegeben oftmals sicher kleinkarierten, aber dennoch realen Fragen meines Alltags einfach zu sprengen. Da scheint nichts ineinanderzugreifen. Es kommt mir vor, als suche ich nach praktischen Hausmittelchen und bekomme stattdessen eine Enzyklopädie auf Chinesisch angeboten (wobei durchaus möglich ist, dass mir die Hausmittelchen kein bisschen weiterhelfen würden und in der chinesischen Enzyklopädie die wahre Weisheit verborgen liegt – aber eben leider so verborgen, dass es mir schier unmöglich erscheint, sie für mein Leben nutzbar zu machen).

Fakt ist: Um wirklich zufrieden sein oder Ruhe finden oder sinnvoll leben zu können oder wie auch immer man es nennen möchte, sollten mehr Fragen geklärt als offen sein. Denn hierbei geht’s ja nicht um die Lieblingsmarmelade oder den neusten Sommertrend …

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Auch wenn Sie das Buch erst vor wenigen Minuten zu lesen begonnen haben, möchte ich Sie kurz unterbrechen. Weil es bei einem Buch über Identität ja sinnvollerweise mehr um Sie als um mich gehen soll, werde ich Sie immer wieder herausfordern, Gedanken bewusst auf sich selbst zu beziehen, an der äußeren Hülle zu kratzen, ständig Gelebtes einmal in Worte zu fassen und zu hinterfragen und eventuell erste Schritte in Richtung Veränderung einzuleiten. Stellen Sie sich deshalb doch an dieser Stelle einmal vor, wir – also Sie und ich – würden uns begegnen. Aus irgendeinem Grund trinken wir einen Kaffee zusammen und haben ein bisschen Zeit. Nun stelle ich Ihnen diese einfach und zugleich schwere Frage: »Und was machen Sie so, wenn Sie nicht grade mit mir einen Kaffee trinken?« Was antworten Sie? Fällt es Ihnen leicht, das, was Ihr Leben ausmacht, in wenige Worte zu fassen?

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Anders als bisher

Kommen wir noch mal zurück an den kleinen Tisch unterm Dach in London. Nicht ganz greifbar und dennoch real formiert sich ein Gedanke in meinem Kopf: Hier stimmt doch was nicht! Es muss sich etwas ändern …

Wie gerne hätte ich eine allzeit wundervolle Familie, einen durchweg wundervollen Job, ausschließlich wundervolle Hobbys. Dann wäre jede Vorstellungsrunde ein Fest und mein Leben ein Genuss. Aber das ist nur die Oberfläche. Der Wunsch, wundervoll zu sein, geht in Wahrheit viel tiefer. Was wäre wirklich wundervoll? Eine so hübsche und adrette Familie abzugeben, dass man uns im Katalog abbilden könnte? Einen Job zu haben, dessen Titel sowohl die Stufe auf der Karriereleiter als auch das Gehalt erahnen lässt? Und ein Hobby, für das man mich beneidet, weil es Sportlichkeit, Kreativität und Genialität miteinander kombiniert?

Nein.

Nichts davon ist an sich schlecht, aber meine Vorstellung von einem erfüllten und wertvollen Leben beschreibt etwas völlig anderes. Ich sehne mich danach, im Frieden mit mir selbst zu sein, mit meinen Stärken und Schwächen, mit meinen Grenzen, mit meinen Eigenarten, mit meinem Wesen, mit meinem unverwechselbaren Ich.

Ich sehne mich danach, einen Glauben zu leben, der echt und ehrlich ist, leidenschaftlich und lebendig, großzügig und gut, ansteckend und außergewöhnlich. Ich sehne mich danach, in guten Beziehungen anzukommen, wo ich geliebt werde und bedingungslos angenommen bin – und dasselbe auch verschenken kann. Ich sehne mich danach, Tätigkeiten auszuüben, die mich erfüllen und mein Potenzial entfalten. Ich sehne mich danach, dass meine Gemeinschaft anderen Raum gibt, um sich auszuruhen, inspiriert zu werden, Kraft und Mut zu schöpfen und zum Positiven verändert weiterzugehen. Das wäre wirklich wundervoll.

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Ich sehne mich danach, im Frieden mit mir selbst zu sein, mit meinen Stärken und Schwächen, mit meinen Grenzen, mit meinen Eigenarten, mit meinem Wesen, mit meinem unverwechselbaren Ich.

Halten Sie doch noch einmal kurz inne:

image Was ist in Ihren Augen wundervoll?

image Welche Eigenschaften, Errungenschaften, Lebensträume, Betätigungsfelder und Ziele sind es wirklich wert, dass Sie Ihre Kraft, Ihre Zeit und vielleicht auch Ihr Geld für ihr Erreichen investieren?

image Was davon ist bereits in Ihrem Leben vorhanden? Und warum anderes nicht?

Wir sind nicht ohne Grund nach London gekommen. An den folgenden drei Tagen wollen wir an einer internationalen christlichen Konferenz teilnehmen, weil wir uns neue Inspiration, gute Gedanken, eine Begegnung mit Gott wünschen. Gleich bei der Eröffnungsveranstaltung werde ich voll erwischt. Zwar etwas leiser, aber nach wie vor sehr real, ist der Satz »Es muss sich etwas ändern« in meinen Gedanken. Hinzugesellt haben sich mutige Ideen, wie: »Du musst deinen Job – für eine Weile – aufgeben, vielleicht ein Sabbatjahr einlegen.« und »Tue nur noch, wozu Gott dich berufen hat. Nur dann wirst du deine wahre Identität finden und deine Bestimmung leben!«. Des Weiteren haben sich aber auch arge Zweifel breitgemacht, wie »Wer bin ich, dass ich meine, mein Leben müsste mir in allen Bereichen Spaß machen? Unsere Verantwortungen sind zu groß, als dass ich mich einfach auf die Suche nach meiner eigenen Identität und ihrer Entfaltung machen könnte. Das Leben ist kein fröhliches Experimentieren. Halte an dem fest, was du hast und was dir sicher ist. Neue Wege sind immer unsicher und risikoreich – warum solltest du Gott versuchen?«

Dann betritt der Redner die Bühne. Seine Predigt schließt sich an ein Lied an, in dem es heißt:

Du rufst mich raus aufs weite Wasser,
wo Füße nicht mehr sicher stehn.
Dort finde ich Dich im Verborgnen,
mein Glaube trägt im tiefen Meer. (…)
Führ mich dorthin, wo ich unbegrenzt vertraue
Lass mich auf dem Wasser laufen
Wo immer Du mich hinführst.1