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Inhalt

Armin Nassehi

Editorial

Jens Bisky

Brief eines Lesers (1)

Birger P. Priddat

Die Leere der Fülle

Das Ende des Kapitalismus als Religion

Niels Pfläging

Kaputtoptimieren und Totverbessern

Eine kurze Geschichte des Managements als Scharlatanerie

Jörn Müller-Quade

Mitten ins geheim

Wie die Kryptografie mit geheimen Daten umgeht, ohne Geheimnisse preiszugeben

Lydia Rea Hartl

Menschenoptimierung im Netzzeitalter

Betrachtungen einer Baustelle

Peter Felixberger

Das Coca-Cola-Komplott

Re-Design als Optimierungsprogramm

Thorsten Baensch

The Coca Cola Collection

James Shikwati

Die Optimierungsfalle

Warum sich Afrika aus der westlichen und asiatischen Entwicklungshilfe befreien muss

Ingo Rechenberg

Die Optimierbarkeit optimieren

Vom Torkeln der Evolution als Spiel ohne Grenzen

Sabine Maasen

Gut ist nicht gut genug

Selbstmanagement und Selbstoptimierung als Zwang und Erlösung

Irmhild Saake

Sterben vor Publikum

Optimierungsstrategien einer Konsumgesellschaft

Christian Gansch, Armin Nassehi

Der perfekte Klang

Über die Leichtigkeit vollendeter Musik

Gert Heidenreich

Der Beste

Eine Erzählung



Anhang

Autoren

Impressum

Armin Nassehi

Editorial

Wo es mehrere Alternativen gibt, wird optimiert, denn es gibt stets eine bessere und eine schlechtere Möglichkeit. Insofern ist das Optimieren geradezu unvermeidlich. Alles, was geschieht, geschieht im Horizont anderer Möglichkeiten. Das gilt für die gesamte belebte Natur ebenso wie für die kulturelle Entfaltung von Möglichkeiten. Dass wir von natürlicher und kultureller Evolution sprechen, ist unmittelbarer Ausdruck dieser je gegenwartsbasierten Problemstellung, dass auch anderes möglich wäre und wir selektiv auf verschiedene Möglichkeiten zugreifen müssen. Dass wir dabei stets die bessere Lösung suchen, gilt als ausgemacht – und dort, wo die Lösung sich als eher nicht so gut herausstellt, wird sie im Falle der natürlichen Evolution als bloße Variation verschwinden und nicht weiterverfolgt. Im Falle der kulturellen Evolution und Auswahl von Möglichkeiten wird die zweitbeste Möglichkeit bisweilen nachträglich als die bessere ausgegeben – man hat es ja nicht besser wissen können.

Die Beiträge in diesem Kursbuch setzen an diesem Grundgedanken an: dass wir die Wahl haben und dass wir stets vor diese Wahl gestellt sind. In der Kybernetik nennt man Evolutionsprozesse zustandsdeterminierte Prozesse – sie können je nur die Möglichkeiten wahrnehmen, die sich ihnen auch stellen, das heißt die Möglichkeiten, für die entsprechende Gelegenheiten und Mittel auffindbar sind. So ist alles, was geschieht, auch als Problemlösung anzusehen, selbst wenn die Lösung das Problem ist – immer aber mit der Überzeugung, das zu tun, was getan werden muss, und damit das Gegenteil zu vermeiden. Insofern zeichnen sich komplexe Systeme stets durch eine merkwürdige Kombination aus innerer Ruhe und Unruhe aus. Sie sind stabil und lassen uns erwarten, was geschieht. Aber sie sind zugleich hinreichend instabil, um sich an sich selbst, an eine Umwelt, an geänderte Rahmenbedingungen, an Erwartungen, auch an Zufälle anzupassen. Anpassung und Abweichung, Stillstand und Fortschritt, Wirklichkeit und Möglichkeit sind stets aufeinander bezogen – und Zustände sind jenes Optimum, das sich aus je konkreten Gegenwarten ergibt.

Optimierung ist Selbstanpassung – oder wie Birger Priddat es in seinem Beitrag ausdrückt: »Wir müssen die Rationalität neu definieren: ›Wähle die beste Möglichkeit‹ bezieht sich dann nicht auf das, was extern angeboten wird, sondern auch auf sich selbst: ›Wähle dich als deine Möglichkeit.‹« Damit spricht Priddat an, worum es uns in diesem Kursbuch geht. Nicht ums Optimieren, sondern ums Besseroptimieren. Das ist doppeldeutig – doppeldeutig deshalb, weil sich letztlich alles als Optimierungsstrategie ansehen lässt, nun aber das Optimieren selbst zum Thema wird. Noch einmal am Beispiel des Beitrags von Priddat: Der Kapitalismus hat einerseits die Güterproduktion und -distribution radikal optimiert, er hat überdies jene Identitäten hervorgebracht, nach denen sich Individuen selbst und den Markt optimieren – aber zugleich hat diese Art Optimierung jene Versprechungen nicht eingehalten, mit denen sie die Motive erst befeuert hat, die den Kapitalismus optimiert haben: dass die Menschen erfüllter und glücklicher werden.

Es gehört vielleicht paradoxerweise zu den Optimierungsgewinnen unserer Zeit, dass wir danach fragen, ob Optimierungen stets optimal sind – irgendwie kann man es sprachlich gar nicht korrekt ausdrücken. Jedenfalls werden Optimierungsfolgen und ihre Voraussetzungen reflexiv. Wenn wir also »Besser optimieren« als Titel wählen, spotten wir nicht übers Optimieren, wie Ingo Rechenberg vermutet hat, als wir ihn um einen Beitrag gebeten haben. Gerade sein aus der Perspektive eines Ingenieurs und Bionikers geschriebener Beitrag zeigt sehr eindrucksvoll, dass Optimierungen stets nur dann gelingen, wenn eine angemessene Selbst- und Fremdanpassung gegeben ist. »Optimale Eigenschaftskompromisse« seien die Lösung. Seine spannenden Ausführungen, wie sich im Falle von Mehrzieloptimierungen durch Differenzierung und Entkoppelung sowie durch wechselseitige Justierung eine Pareto-Optimierung in einem Punkt erreichen lasse, habe ich geradezu als Parabel auf die moderne Gesellschaft gelesen. Auch sie hat sich durch Differenzierung und Entkoppelung von Funktionen ständig optimiert und effizienter gemacht. Ihre Differenzierungsfolgen bestehen aber vor allem darin, dass die Teile je paradoxe Wirkungen aufeinander haben. Was ökonomisch optimal sein mag, ist es politisch nicht; und was wissenschaftlich geleistet werden kann, löst nicht immer die Probleme ihres Gegenstands. Ein Pareto-Optimum will sich nicht einstellen – vielleicht weil sie ihre Lösungen so gegenwartsbasiert finden muss und keinen Konstrukteur und Ingenieur hat, nicht einmal einen Regisseur, aber dafür viele Zuschauer und Kritiker.

Rechenbergs Problemstellung der Mehrzieloptimierung findet sich in verschiedenen Problemstellungen unserer Beiträge. In dem Interview, das wir mit dem Geiger, Dirigenten und Produzenten Christian Gansch führen durften, wird deutlich, wie sich der perfekte Klang nur durch ebensolche »optimale Eigenschaftskompromisse« erzeugen lässt. Jörn Müller-Quade versucht mithilfe der Kryptografie, den optimalen Kompromiss zwischen steigender Datentransparenz und persönlichem Datenschutz zu finden. Anders gesagt: Wie kann man Datenströme in der offenen Netzwelt überhaupt noch geheim halten? Die Soziologin Irmhild Saake macht darauf aufmerksam, dass die Optimierung des Sterbens praktisch eine Optimierung der Kommunikationsbedingungen derjenigen ist, die (noch) nicht sterben. Wir schauen dem Sterbenden länger zu, zögern sein Sterben gewissermaßen hinaus, um uns unseres Nicht-Todes und Überlebens zu vergewissern. Wie ambivalent Optimierung in der körperlichen Perfektionierung hinsichtlich von Schönheit, Gesundheit und Effizienz ist, zeigt die Ärztin, Psychologin und Kulturwissenschaftlerin Lydia Rea Hartl: von der Wohlfühlchirurgie bis hin zur digitalen Haut der Cyborgs. Der kenianische Ökonom James Shikwati wiederum macht darauf aufmerksam, dass in der Entwicklungshilfe die optimierenden Wirkungen eher die Optimierer optimieren als die Optimierten. Besonders sein Hinweis auf die ganz unterschiedliche Grundhaltung im Westen und in China, Afrika zu optimieren, ist neu. Niels Pfläging beschäftigt sich seinerseits mit den Optimierungsstrategien im westlichen Management und dessen ewiger Effizienzsemantik, mit der sich Unternehmen bis heute kaputtoptimieren. Und nicht zuletzt erörtert Sabine Maasen, warum Selbstmanagement als Selbstoptimierung das Perfektionsmantra moderner Menschen geworden ist.

Aber lesen Sie lieber selbst – jedenfalls verfolgen wir mit dieser Kombination aus volkswirtschaftlichen, ingenieurwissenschaftlichen, mathematischen, bionischen, soziologischen und ästhetischen Perspektiven das konsequent weiter, was wir in Kursbuch 170 angekündigt hatten: die Perspektivendifferenz der modernen Gesellschaft wirklich ernst zu nehmen und sie gelassen – wohlgemerkt: gelassen, nicht indifferent – aufeinander zu beziehen.

Ganz eigene Perspektiven stehen auch in Kursbuch 171 wieder der Kunst und der Literatur zur Verfügung: zum einen die von Thorsten Baensch in eine optimale Form gebrachten Cola-Dosen und ihre Kommentierung durch Peter Felixberger. Dessen Interview mit einer solchen Cola-Dose, geführt im April 2012 in Brüssel, gehört zu den am besten optimierten Interviews des Jahres. Auf die Spitze treibt es dann, zum anderen, Gert Heidenreich, in dessen Erzählung »Der Beste« eine Inversion von Kafkas Verwandlung geschieht – eine dialektische Geschichte von optimierter Fehloptimierung.

Dies ist das zweite Kursbuch nach seiner Wiederbelebung im Murmann Verlag. Dass das Kursbuch wieder da ist, hat zu vielfältigen öffentlichen und persönlichen Reaktionen geführt. Die Reaktionen sind selbstverständlich unterschiedlich ausgefallen – von geradezu begeisterten Einschätzungen bis zu eher verhaltenen und skeptischen Urteilen. Schön die Reaktion der taz – auf eine ausführliche, freundliche und sympathisierende Besprechung folgte einen Tag später eine kurze Notiz, die Redaktion sei gespalten – so soll es sein.

Jedenfalls können wir nur wiederholen, was Peter Felixberger und ich im ersten Editorial offensiv vertreten haben: Uns kommt es auf die gelassene Debatte an, in der es wirklich um etwas geht und in der die Perspektivendifferenz der modernen Gesellschaft nicht nur zum Ausdruck kommt, sondern sich als solche wahrnimmt. Es kommt uns darauf an, dass sich in den Köpfen und in den gesprochenen und geschriebenen Sätzen etwas ändert, weil die Perspektiven sich als solche wahrnehmen können. Ich hoffe, nicht zu parteiisch zu sein, wenn ich betone, dass dies bereits unserer ersten Ausgabe gelungen ist und dass diese, die Sie nun in Händen halten, auf diesem Weg weitergeht. Fast hätte ich von Optimierung gesprochen, wenn es nicht gerade darum gehen würde. Lesen Sie, halten Sie die Unterschiedlichkeiten und Vorläufigkeiten aus, suchen Sie nach Mustern, praktizieren Sie, was Sie gelernt haben.

Kursbuch 172, das am 10. Oktober 2012 pünktlich zur Frankfurter Buchmesse erscheinen wird, heißt übrigens »Gut leben«.

Zum Schluss noch dies: Ab dieser Ausgabe führen wir die Rubrik »Brief eines Lesers« ein. Wir bitten einen Leser, auf die vorherige Ausgabe Bezug zu nehmen, das Heft oder das Thema zu kommentieren, vielleicht auch einen Ausblick auf das neue Heftthema zu wagen. Für diese Ausgabe haben wir Jens Bisky gebeten, Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung. Bisky ist nicht nur ein scharfer Beobachter der Kulturszene. Er war auch der schärfste Kritiker des Kursbuchs 170. Umso mehr danken wir ihm, dass er diese Rubrik eröffnet.

Noch ein kurzer Hinweis auf unsere Website Kursbuch-online.de. Hier finden Sie vielfältige Informationen über das Kursbuch, Veranstaltungshinweise sowie die Möglichkeit, das Kursbuch auch als E-Book oder einzelne Beiträge als E-Single zu erwerben. Außerdem können Sie über diese Website Kontakt mit uns aufnehmen – wir freuen uns auf Ihren Besuch.

München, im Mai 2012

Armin Nassehi

Jens Bisky

Brief eines Lesers (1)

»The global economic crisis of 2008 cost tens of millions of people their savings, their jobs, and their homes.« Mit diesem Satz beginnt der Dokumentarfilm Inside Job, für den Charles H. Ferguson im vergangenen Jahr den Oscar erhielt. Der Satz fasst zusammen, was lesende Zeitgenossen heute unter Krise verstehen: eine Erschütterung der westlichen Wirtschafts- und Lebensweise, ein Erdbeben, von dem keiner weiß, ob es schon überstanden ist, von dem die meisten jedoch glauben, dass die Folgen uns noch einige Jahre beschäftigen werden.

Auch das Kursbuch 170 beginnt – nach längeren Positionsbestimmungen und Selbstvergewisserungen – mit einem Erdbeben, mit dem des Jahres 1755, dem Lissabon und die leibnizsche Theodizee zum Opfer fielen. Das »außerordentliche Weltereignis«, erinnerte Johann Wolfgang Goethe später, habe »die Gemütsruhe des Knaben zum ersten Mal im Tiefsten erschüttert«: »Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen« (Dichtung und Wahrheit, 1. Buch). Dem Erdbeben verdanken wir auch einen ersten, bis heute prominenten Krisenliebhaber der europäischen Literatur: den Philosophen Pangloß, der sich durch keinen Schicksalsschlag von dem herrlichen Gedanken einer »vorherbestimmten Harmonie« abbringen lässt.

Armin Nassehi hat gute Gründe dafür, seine Deutung der Moderne als »ein Kind der Krisenerfahrung« mit dem Allerheiligentag des Jahres 1755 zu beginnen. Leider folgt daraus nicht viel. Und das nicht allein aufgrund der trivialen Tatsache, dass in der Moderne gelernt wurde, zwischen Natur und Geschichte, zwischen einem Tsunami und dem Konkurs einer Bank zu unterscheiden. Die entscheidenden Fragen werden nicht gestellt, sondern im Rückgriff auf die Entstehungszeit aufgeklärten Bewusstseins umgangen. Hier wird geschickt ausgewichen. Wer wollte bestreiten, dass die Moderne letztlich unregierbar sei. Allerdings gehört es ebenso zur Moderne, dass ständig regiert wird. Es mag ja sein, dass neoliberale Paradigmen ebenso lächerlich sind wie »der Glaube an die prinzipielle Lösbarkeit aller Probleme durch Partizipation oder die vollständige Ethisierung von Entscheidungsalgorithmen«. Nassehi gibt bereitwillig zu, dass dies die praktische Wirksamkeit diverser Programme keineswegs behindert. Statt den Paradoxien der regierten Unregierbarkeit, der Bedeutsamkeit von lächerlichen Paradigmen, der praktischen Folgen von Illusionen und Heilsversprechen, der Normalität des Anomalen jedoch weiter nachzugehen, wird der Rückzug in Gelassenheit empfohlen. Aufrufe zur Gelassenheit sind nie falsch. Auch sie haben Tradition, gehören zur Moderne, die nach Odo Marquards kluger Beobachtung das Theodizee-Problem nie losgeworden ist und das Geschäft einer »Entübelung der Übel« munter betreibt.

Für das neue Kursbuch hat die programmatische Gelassenheit, so sympathisch sie ist, Folgen, die mir problematisch scheinen. Es verweigert Zeitgenossenschaft. Gegenwärtiges kommt zwar immer wieder vor, wird aber rasch eingeordnet. So wie Pangloß die Vorstellung einer »vorherbestimmten Harmonie« sich nicht nehmen lässt, so das Kursbuch nicht die Gemütsruhe. Die Krisen, die Entscheidungssituationen und -zwänge der Gegenwart werden überführt in den gehegten Raum des akademischen Diskurses und dort stillgestellt, statt aus dem akademischen Raum heraus Stimmungen, Lagen, Argumente zu analysieren und an ihnen das herauszuarbeiten, was öffentlich von Interesse ist. Diese Selbstbescheidung, die Scheu vor dem Handgemenge bringt es mit sich, dass jeder in seinem Metier bleibt.

Man mag bestreiten, dass die Krise von 2008 für unsere Weltwahrnehmung ähnliche Folgen hat wie das Erdbeben von Lissabon für die Aufklärer des 18. Jahrhunderts, wird aber kaum umhinkommen, die ungeheure Bedeutung des Krisennarrativs zuzugeben. Entscheidend, politisch, mental und auch ökonomisch, wird sein, welche Krisenerzählung sich durchsetzt. Geht es wirklich nur um einen weiteren, notwendig vergeblichen Versuch, die Wirtschaft politisch zu zähmen? Oder handelt es sich um ein Kapitel in der langen Auseinandersetzung zwischen kapitalistischen Märkten und demokratischer Politik, wie der Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck in einem fulminanten Aufsatz darlegt1. An der Berliner Schaubühne hat Streeck vor Kurzem Recherchen des Magazins Rolling Stone und Informationen aus dem Film Inside Job zusammengefasst und das Bild einer Verschwörung der »Kapitalversteher« gezeichnet, die dazu übergegangen seien, demokratische Staaten in Inkassoagenturen zu verwandeln. Im Zentrum der Intrigen steht für ihn das Bankhaus Goldman Sachs, das der eifrigen Mithilfe von Politikern, Wirtschaftswissenschaftlern und Journalisten gewiss sein kann, die den Regierten erklären, was die Märkte wollen. Die »geballte Präsenz« von »Goldmännern« in der Politik zwingt dazu, so Streeck, wieder über Verschwörungen und Intrigen zu reden, auch wenn dies akademisch als unfein gelte. Von Clintons Finanzminister Robert Rubin bis hin zum Präsidenten der Europäischen Zentralbank Mario Draghi und dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti reicht die illustre Reihe derer, die bei oder für Goldman Sachs gearbeitet haben und später bestenfalls mäßig bezahlte öffentliche Ämter übernahmen. Monti verzichtet sogar auf sein Gehalt.

Wolfgang Streecks Krisenerzählung scheint weniger elegant, weniger reflektiert als die Gelassenheit des Kursbuches, aber auch Voltaires Candide war ja deutlich weniger subtil als der Essais de Théodicée des Gottfried Wilhelm Leibniz. Immerhin spricht Streeck von Interessen, Herrschaft, Macht und Konflikten und entwirft ein plausibles Szenario gegenwärtiger Auseinandersetzungen. Man kann ihm widersprechen, man kann andere Deutungen dagegensetzen. Wer lediglich auf Komplexität und Kompliziertheit, auf Krisenhaftigkeit und Unregierbarkeit verweist, bezahlt dies mit einem Verlust an Relevanz.

Das Beharren auf der Gemütsruhe und der Nicht-Adressierbarkeit von Unwillen erzeugt nicht nur eine gewisse Langeweile, es übergeht Fragen, die zu beantworten im Augenblick weder Zeitungen noch Blogs in der Lage sind und die daher in einer Zeitschrift, die entschlossen ist, das lastende Erbe des enzensbergerschen Kursbuchs anzutreten, gut aufgehoben wären. Die erste Frage wäre die nach dem Ort der eigenen Gelassenheit, oder wenigstens die nach der erstaunlichen ökonomischen und sozialen Stabilität in Deutschland. Obwohl die Welt, wie seit 2008 unermüdlich versichert wird, die größte Krise nach der »Großen Depression« des Jahres 1929 erlebt, konnte man diese hier beinahe für ein Spiegel online-Phänomen halten. Die Auswirkungen, in den USA wie in Spanien oder Griechenland nicht zu übersehen, waren in der Bundesrepublik im Alltag kaum spürbar. Der Ernst der Lage wurde nie bestritten, aber dem Land geht es, wie nicht nur Angela Merkel weiß, gut. Blamiert haben sich alle, die im Herbst 2008 ihren apokalyptischen Impulsen nachgaben und glaubten, jetzt offenbare sich Wahrheit, jetzt sehe man, dass Marx recht gehabt habe oder die Zeit für Revolution gekommen sei. Was aber heißt es, wenn heftige, jahrelange Krisenbeschwörungen – gerne verbunden mit dem Hinweis, dass es so nicht weitergehen könne – auf die Alltagserfahrung von Stabilität und Prosperität treffen? Wächst die Lust, ein rasches Ende herbeiführen zu wollen, oder verliert öffentliche Rede überhaupt an Autorität? Auf jeden Fall mehren sich die Anzeichen für eine neue Sehnsucht nach kollektiven politischen Leidenschaften, man denke nur an die Wutbürger, an Occupy oder die Piraten. Das hätte in einem Heft unter dem Titel »Krisen lieben« Platz finden können und sollen.

Ein erschütterbares Gemüt kann sehr gut mit Bewusstsein für die grundsätzliche Krisenhaftigkeit der Moderne einhergehen. Der Schriftsteller Rainald Goetz hat gezeigt, wie es geht. Er hat seinen Luhmann gelesen und radikale Schlussfolgerungen gezogen: »Es gibt in Luhmanns Welt nichts selbstverständlich Gegebenes«, notiert er in Abfall für alle. »ALLES könnte auch ANDERS sein. Jedes letzte kleine Detail lebt von der Möglichkeit her, so unwahrscheinlich zu sein, daß es auch NICHT sein könnte. Deshalb lese ich in Luhmanns Darstellungen des Bestehenden ein ganz schweres Aufatmen mit, daß die Welt eben NICHT nicht ist, wie es ja viel wahrscheinlicher wäre, sondern eben genau so ist, wie sie ist.«

Das ist die Voraussetzung, aus der man keine große Nummer, keinen großen Auftritt machen sollte. Sie hindert nicht daran, die akute Krise aufmerksam zu registrieren, statt sie unter »bekannt« abzubuchen, sich mitreißen zu lassen. In Loslabern schreibt Goetz: »Es war der Herbst der stürzenden Kurse an der Börse, (…) die Kernschmelze des globalen Finanzsystems fühlte sich gut an, die Katastrophennachrichten aus der Welt der zusammenbrechenden Banken hatten einen extremen Gegenwärtigkeitsflash, der um jede von ihnen herum im Erstmoment ihres Erscheinens grellstens und eisig kalt leuchtete, man war schon ganz süchtig danach …« So klingen Krisenliebhaber auf der Höhe der Zeit, sie sind süchtig nach Spuren eines Neuen, auch wenn sie davon keine Erlösung, keine Harmonie erwarten. Entdramatisierung ist unfruchtbar geworden, Gelassenheit spätestens seit 1755 in der Krise.

Anmerkung

1 Streeck, Wolfgang: »Die Krisen des demokratischen Kapitalismus. Inflation, staatliche Defizite, privater Verschuldung, faule Kredite«. In: Lettre International, 95, Winter 2011.