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»Denn sie sind unbehaust geworden. Auch irrten sie hier und dort umher. Man sagte unter den Völkern: ›Sie sollen nicht länger bei uns bleiben.‹«

Klagelieder 4,15

 

»Dann gab es all diese Weggänge und all diese Entsagungen: diejenigen, die gegangen und diejenigen, die geblieben sind. Diejenigen, die gegangen sind, weil sie nicht bleiben konnten, diejenigen, die geblieben sind, weil sie nicht gehen konnten, diejenigen, die gegangen sind, weil sie nicht zu bleiben wagten, aus Angst zu krepieren oder auf der Suche nach dem zerstreuten Brot und diejenigen, die einfach so gegangen sind: um zu gehen, um nicht mehr da zu sein ...«

Et le soleil se souvient

GRANNIES ERZÄHLUNG

I

Lange habe ich davon geträumt, den Ozean zu überqueren, so wie man mit einem Schritt über eine Pfütze steigt, um zu sehen, wo Himmel und Erde zusammenkommen, wo die Wurzeln des Horizonts sind. Ein alter, nunmehr unerreichbarer Jugendtraum ... Jonas dürfte mich nicht hören, sonst wäre wieder ein kräftiger Anschnauzer fällig: »Hör auf, Unsinn zu reden, Grannie.« Dabei hätte jeder andere es schon eingesehen. Das Rad hat sich weitergedreht. Nun wartet eher die andere Seite des Lebens auf mich, und ich nähere mich dem Ufer ohne Bedauern ...

Als Kinder wohnten wir in einem Viertel oben auf einem Hügel, einer Art Dach der Stadt und der Welt, von wo ich das geringste Kräuseln des Ozeans verfolgen konnte, bevor die Siedlungen aus Pappe, rostigem Blech und Schlamm den Blick auf die Landschaft versperrt haben. Den Hügel bis zu den Hafenkais herunterzurennen, nachdem ich über das elterliche Verbot hinweggehüpft war und mich zwischen den Kutschen und den ersten Autos hindurchgeschlängelt hatte, war ein Kinderspiel, gefährlich nur durch die allzu oft in Erfüllung gegangene Aussicht auf eine Abreibung nach der Rückkehr. Kaum hatte ich, noch ganz außer Atem vom Aufstieg, die Galerie betreten, als eine Hand mich packte und mich den Preis für meine Eskapade in bar entrichten ließ. Aber während Maman Lorvanna zuhaute, mehr aus Gewohnheit als in der Überzeugung, mir mein Laster austreiben zu können, und sich mein Körper zum Schein vor Schmerzen krümmte, damit sie aufhörte, mich für eine Trommel zu halten, flog mein Geist tausend Meilen weit weg, fortgetragen von einem Vers, den meine Klassenkameraden und ich uns auf dem Schulhof ausgedacht hatten, um die Verbote der Erwachsenen herauszufordern. Man musste ihn nur im Geiste, manchmal, aus Provokation, auch hörbar vor sich hinsingen, und man war unempfindlich gegen die Strafe und bereit, seine Missetat zu wiederholen:

 

Kale m, kale m, kale m

Kò m se zèb, la pouse.*

 

Und so war ich oft an den Kais, um beim Auslaufen und bei der Ankunft der Frachter zuzusehen. Gleichgültig gegen das Hin und Her der unter den Zucker-, Kaffee- und Kakaosäcken schwitzenden und stöhnenden Schauerleute. Allenfalls abgelenkt durch das Gedränge der Leute, die im Sonntagsstaat auf der Plattform versammelt waren, die einen, weil sie einen Verwandten erwarteten, die anderen, um unter Schluchzen oder mit unbeweglicher Miene, ihren Kummer verdrängend, einem Angehörigen gute Reise zu wünschen. Ich lauerte mit steigender Erregung auf die ersten ankommenden Reisenden – aber die Abreisenden interessierten mich ehrlich gesagt genauso. Ich hätte sie am liebsten angesprochen, sie gefragt, was sie von dort mitgebracht hatten. Von jenseits des Horizonts. Nicht die äußeren Zeichen der großen Überfahrt, die so mancher Angeber zur Schau stellte, um seine Nachbarn neidisch zu machen. Solcher Firlefanz hat mich nie interessiert. Ich hätte gern gehabt, dass sie mir von ihren Erfahrungen erzählten, mir sagten, welche Unterschiede sie vorgefunden hatten, das süße Nichtverstehen der neuen Sprachen, die Blumen, die Bäume, den Schnee ... alles, was Dortdrüben so schön machte.

Dieses halb heimliche Verkehren an den Hafenkais war wie eine Sparbüchse, in die ich den ganzen Schatz meiner Phantasie warf. Ein mit dem fieberhaften Eifer und der Ausdauer des Sammlers hier und dort zusammengelesener Schatz. Meiner Neugier entging keine Information. Außer alten, halb zerrissenen Illustrierten, die mir unter ich weiß nicht mehr welchen Umständen in die Hände fielen und die ich mit dem langsamen Appetit des zum Tode Verurteilten verschlang, versäumte ich nicht eine Geographiestunde. Ich war so zum Liebling der Lehrer geworden, die mir manches Mal beim Aufsagen der Lektionen das Ruder überließen.

Heute könnte ich nur schwer sagen, wie diese andere Seite der Welt aussah, von der ich träumte. Es gab so viele davon, so, so, so viele. Eine immer verschiedener als die andere. Das hing von meinen momentanen Launen ab. Davon, wie das Wetter gerade war: Mal trotzten die Schiffe dem wildesten Orkan, mal glitten sie wie Schwäne über einen ölglatten Ozean. Von dem, was ich von den Unterhaltungen in meiner Umgebung mitbekam: Ein aufgeschnapptes Wort, und meine Phantasie begann auf vollen Touren zu arbeiten und die fernen Länder mit all den verrückten Einfällen meiner Kleinmädchenträumereien zu bevölkern. Woraus bestand der Amazonasregenwald meiner Kindheit? Welche fantastischen Wesen bevölkerten ihn? Die Wanderdünen der Sahara, das Gelobte Land, das große Australien, in dem Heerscharen von Kängurus umherhüpften ...

 

»Eines Tages wirst auch du in deinen Wachträumen verschwinden, ohne dass du darauf gefasst bist.«

Dieser Satz war von Hermanos, einem meiner vier Brüder, Zwillingsbruder von Jacques-Antoine, jünger als Diogène und Pétion. Er war eifersüchtig darauf, dass er meinen geheimen Garten nicht betreten konnte. Es ärgerte ihn, dass ich beide Torflügel verschloss und wegging, einfach so, ohne zu wissen, bis wohin ich trieb. Aber ich machte mir nichts daraus, zumal ich Hermanos mochte, sehr sogar. Und da das Verbot, in meine Träume einzudringen, nicht nur ihn traf, schiffte ich mich weiter zu noch ferneren Ufern ein, über die ich mich als Allererste wunderte.

Komisch, ich empfinde dasselbe seltsame Gefühl, wenn ich all diese Erinnerungen tief unten in meinem Gedächtnis zurückverfolge. Ein Gefühl, verstehe, wer will, das erschreckend und lustvoll zugleich ist. So, wie wenn ich hörte, wie vom Schiff das Ablegesignal aufstieg, die Luft zerriss und dem Pöbel Schweigen gebot. Alles schien zu erstarren: die Hufschläge der Pferde auf dem Pflaster, das Treiben der Hafenarbeiter, der krakeelende Flug der Möwen, die unentschlossenen Arabesken der Wolken, das Lachen und das Weinen, und ließ den ohrenbetäubenden Schall die ganze Welt der Dinge in Besitz nehmen. Nur das schnarchende Geräusch, das das Leben der Zuckerarbeiter regelte und aus dem rauchenden Maul des riesigen Fabrikschornsteins zu kommen schien, hatte eine ebenso lähmende Kraft. Und während weiße Taschentücher an den Armen flatterten und das rege Leben nach der ersten Betäubung schüchtern wiedereinzusetzen versuchte, sah ich auf meinen Wolken, wie sich das Schiff in ohrenbetäubendem Gurgeln von der Landungsbrücke losriss, sich entfernte, mit dem Sandkorn am Horizont verschmolz und dann meinen Augen entschwand, welche so bestürzt dreinblickten, als hätte es die Liebe meines Lebens mit sich genommen.

Inzwischen hatten Schaulustige und Begleiter die Kais verlassen. Es waren nur noch einige Schauerleute übrig, die sich mit einem Gummischlauch duschten, und, frisch eingetroffen, Garköchinnen, die ihren Krimskrams auspackten, die Auslage für ihre frittierten Speisen aufbauten und ihrerseits ihren Arbeitstag begannen. Bald würden die paar Straßenlaternen, die die Stadt als Ersatz für die Öllampen angeschafft hatte, angehen und die Straße einer Fauna überlassen, die meinem jugendlichen Alter unbekannt war. Diese Manöver, ausgeführt mit dem Abstand der Gewohnheit, brachten mich unvermittelt auf die Erde zurück: Es war Zeit, die Beine in die Hand zu nehmen und mich wieder auf den Heimweg zu machen.

Bei der Rückkehr brachte ich in meinem Blick all das Jenseitige mit, das das Auslaufen des Schiffes suggerierte. Dann sah Hermanos mich erzürnt an:

»Du wirst schon sehen, am Ende wirst du in deinen Träumen verschwinden, du Dummchen, und niemand wird dich zurückholen können.«

Nur Diogène hatte die Gabe, mich zum Narren zu halten, wenn ihm danach war. Er brauchte nur zu sagen: »Ein neues Schiff ist im Hafen angekommen, eins, das du noch nie gesehen hast«, und ohne Rücksicht darauf, ob Maman Lorvanna da war oder nicht, schoss ich davon und war sogar schneller als der Wind. Für gewöhnlich bemerkte ich, wenn ich erst einmal dort war, dass es sich um einen alten Frachter handelte, den ich mit einem Blick vom Hügel hinunter hätte identifizieren können. Und während ich heimlich zurückkehrte, ganz außer Atem von dem eiligen Hin- und Rückweg, lachte er los: »Hast du das new boat gesehen?« Auch wenn ich mir schwor, dass ich mich von ihm nicht mehr hereinlegen lassen würde, seine Tücke und die Neugier siegten jedes Mal über meinen Vorsatz. Das einzige Mal, dass es mir gelang, nicht nachzugeben, goss es in Strömen, so dass ich einen guten Vorwand hatte, nicht rauszurennen und dann klatschnass zurückzukehren, für nichts und wieder nichts obendrein. Prompt verpasste ich die Gelegenheit, einen exakten Nachbau der Titanic zu sehen. Das Schiff, das in der Bucht vor Anker lag, gehörte einem deutschen Milliardär, der von Hafen zu Hafen rund um die Welt reiste. Seither geriet ich jedes Mal außer Fassung, wenn Diogène sein new boat ausgesprochen hatte. So kam ich zu dem Spitznamen, aus dem die Leute hier »Noubòt« machten. Im Laufe der Zeit löste mein Enkel Jonas meine beiden Brüder ab, er ist es nun, der mich mit einem »Wovon träumst du wieder, ti-Grannie?« aus meinen Grübeleien reißt. Ein Glück, dass Gott mir den gegeben hat.

*

das große schiff ist da und wartet auf sie die herde zieht ihm entgegen hunderte von tieren durchqueren eines nach dem anderen mit ausdruckslosem gesicht den engen korridor der hineinführt ohne zu verstehen wie ihnen geschieht der durchgang verengt sich an der verzweigung zwischen dem landungssteg und dem rumpf er ist nicht breiter als die schultern des kleinsten von ihnen die kräftigsten müssen schräg vorwärts gehen ein fußtritt oder ein kolbenhieb an die schulterblätter hilft bei denen nach die sich verängstigt aufbäumen

im leib des großen schiffes öffnet sich ein kleines tor das direkt in den laderaum führt dort wird das vieh auf zwei oder drei decks verteilt eng wie in einer sardinenbüchse in salamitechnik kein röcheln dringt aus ihrem maul das tor schließt sich höllischer lärm die dunkelheit hat sie verschlungen

das große schiff legt ab sie sind bleich die leinen sind los die segel gehisst ins unbekannte wohin fahren sie millionen andere haben vor ihnen dieselbe endlose reise angetreten heute sind sie an der reihe in der nacht des laderaumes berühren die körper sich bis es wehtut können tiere weinen das große schiff läuft nach nirgendwohin aus nach ihnen werden millionen andere kommen

*

Warum, wird man mich fragen, diese geradezu krankhafte Lust, den Ozean zu überqueren? Schwierig, jemandem all das zu erklären. Mein Leben lang hat er mich unablässig verhöhnt, den Horizont herangeholt und dann, wenn ich endlich glaubte, ihn berühren zu können, wieder weggerückt. Noch heute schafft er es, mir das Blut in den Adern kochen zu lassen, wo doch der Arzt mir im Hinblick auf mein Herz geraten hat, jede Aufregung zu meiden. Und mein kleiner Jonas kommt und sagt: »Hör auf, dich zu ärgern, Grannie.« Aber wie sollte man sich nicht ärgern, wenn man ihn so sieht, abgeschottet in seiner Überheblichkeit? Mal ist er ölig und silbern und lässt sich wie ein Gecko von der Sonne den Wanst goldbraun brennen. Er geruht nicht einmal, dir einen Blick zuzuwerfen. Und dann ist er wieder grau und grimmig, hat weder sein ausuferndes Gebaren noch sein Geheule im Griff und streckt dir die Zunge heraus, als wollte er sagen: »Mich kann niemand bändigen.« Unnahbar. Und plötzlich die Lust, dich zu nehmen, bis ins Innerste deines Leides zu schlüpfen. Wie oft hat er nicht diese Stadt umgelegt, nachdem er über die Kaimauer gesprungen und in die Straßen und Häuser eingedrungen ist, ohne zu irgendjemandem »Ehre«* zu sagen. Um sich dann mit derselben Nonchalance zurückzuziehen. Man sollte meinen, er ist unüberquerbar und man kann nicht über ihn hinwegsteigen wie über ein einfaches Rinnsal.

Ich wusste schon, dass das möglich war. Christoph Kolumbus war ja von dort gekommen, redete ich mir oft ein. Auch die Weißen, deren Verbündeter er war und die er eines Nachmittags, als die ganze Stadt mit ihrer Siesta beschäftigt war, an unsere Ufer warf. Ich saß draußen und ließ ihn nicht aus den Augen, als ich eine ungewöhnliche Geschäftigkeit im Hafen bemerkte. Im Nu war ich über die Balustrade gesprungen und den Hügel hinunter bis zu den Kais gelaufen, von wo aus ich sah, wie sie die Zone Pflasterstein für Pflasterstein in Besitz nahmen. Sie waren mit großen, olivgrünen Autos aus Stahl gekommen, die tausend Füße hatten wie Raupen und die ich nie zuvor gesehen hatte. Sie drehten den Kopf in alle Richtungen und richteten auf die Häuser ihre langen, furchterregenden Mäuler, die den Tod kilometerweit spiehen.

Ich war so verschreckt von ihrem harten Blick, dass ich denselben Weg zurücklief, ohne wie sonst an der steilsten Stelle des Hügels eine Pause zu machen, und mit heraushängender Zunge zu Hause ankam. Ich weckte Papa und das ganze Haus mit ihm: »Papa, weiße Gendarmen sind im Hafen. Weiße Gendarmen sind im Hafen. Weiße ...« Ohne mich auch nur zu fragen, woher ich eine solche Information hatte, schoss er in die Höhe, rannte auf die Galerie und begriff augenblicklich, was vor sich ging. Er kehrte eilig ins Wohnzimmer zurück und nahm eine alte Machete von der Wand, von der niemand mit Sicherheit behaupten konnte, dass er sie schon einmal benutzt hatte, und er wäre den ausländischen Gendarmen entgegengegangen, wenn Mama ihn nicht mit der doppelten Überzeugungskraft ihrer Hände und ihrer Tränen zurückgehalten hätte. Aber er war entfesselt: »Die Weißen sind in der Stadt, ich kann doch nicht untätig hier bleiben.« Er kam zwar schließlich zur Vernunft, veränderte aber von heute auf morgen seinen Charakter und verwelkte im Laufe der Woche wie ein ausgedürsteter Strauch.

Was die Weißen betrifft, so sollten sie eine ganze Generation in der Stadt bleiben. Sie hatten ein verschlossenes Gesicht, waren arrogant, verstießen gegen unsere Gebräuche, ohne sich zu entschuldigen, und zwangen allen den militärischen Rhythmus ihrer Sprache auf (Diogènes new boat hatte mich leider nicht an die gutturalen Laute gewöhnt, die beim Sprechen ohne jede Anmut aneinanderstießen). Sie hatten sie schon in den ersten Grundschuljahren zur Pflicht gemacht, während sie vor ihrer Landung erst in der weiterführenden Schule gelernt worden war. Ich verdächtigte sie, sie an die Stelle des Französischen setzen zu wollen, der schönen Fabeln von La Fontaine und sonstigen Corneille-Verse, die wir unter den aufmerksamen Augen und Ohren der Lehrerin so gern deklamierten. Zu Beginn der ersten Stunde hatten wir den Text ihrer Nationalhymne gelernt, was mich noch mehr gegen sie aufbrachte. Ich weigerte mich, sie zu lernen, und zog die Ohrfeigen der Lehrerin vor (ich hatte kaum eine Wahl). Manchmal verstellte ich mich und gab vor, dem Unterricht aufmerksam zu folgen, während ich in Wahrheit weit weg von der Klasse und ihrem stupiden Nachplappern dahintrieb. Wie konnte man die Sprache von jemand mögen, der sich in anderer Leute Haus als oberster Chef aufführte?

Einen Verbündeten fand ich sehr bald in Papa, der immer galliger wurde. Es genügte, dass er unterwegs einem der ausländischen Gendarmen begegnete, damit er vor Wut schier erstickte, auch nachdem er die Straßenseite gewechselt hatte. Er kam dann nach Hause und erklärte Mama unvermittelt: »Ich gehe weg von hier. Seit diese tomatengesichtigen Kerle in der Stadt sind, kommt sie mir wie ein Gefängnis vor.« Wir Kinder lachten, denn er wiederholte dieses Sprüchlein unaufhörlich, ohne sich einen Augenblick anmerken zu lassen, dass er seine Drohung wahrmachen würde.

 

In Wahrheit ist diese Stadt mir immer wie ein Gefängnis vorgekommen. Wer würde sich nicht als Gefangener fühlen, wenn er zusehen muss, wie der Ozean den lieben langen Tag an dem Platz knabbert, den die Christenmenschen brauchen würden, um nicht aufeinander zu kleben wie die jungen Ziegen. Jetzt, wo ich den Konventionen den Rücken gekehrt und mich dem Wesentlichen genähert habe, würden meine Beine mir gar nicht mehr erlauben, auf die Gipfel der umliegenden Berge zu fliehen und sie zu ersteigen wie ein junger Mann. Und wenn ich dann oben wäre, was würde ich sehen außer Wasser, so weit das Auge reicht? Wasser, das mein Land kleiner und die Distanz zwischen ihm und der Welt größer macht. Ich sag’s Ihnen, der Ozean ist wie die Gitterstäbe, durch die man einen kurzen Blick auf die Flügel der Freiheit werfen kann, ohne auch nur einen Moment den Horizont überblicken zu können.

Wenn man sich auch an ihnen festklammert und versucht, sie zu zerstören, es ist nur vergeblicher Schweiß. Alles, was man davon hat, sind blutende Hände und kaputte Fingerglieder. Als kleines Mädchen und übrigens auch noch als Heranwachsende fuhr ich oft aus dem Schlaf auf und riss meinen Geist aus einem grässlichen Albtraum. Ein riesiger Deich bricht und entlässt Tausende Kubikmeter Wasser in die Stadt. Rette sich, wer kann. Die flüssige Masse ist schnell wie der Blitz, sie pulverisiert alles, was ihr in den Weg kommt. Da sie aus dem Osten kommt, rennt die ganze Stadt nach Westen, auf den Ozean zu. Ich mische meine Schritte unter die der Menge. Aber nach einer gewissen Zeit merke ich, dass ich allein laufe. Trotz der Panik laufe ich weiter, sie spornt mich sogar noch an. Ich laufe, laufe, laufe. Ich bin noch ein paar Schritte von der Anlegestelle entfernt, als sich der Ozean vor mir auftürmt. Eine imposantere Mauer als die Mauer von Jericho. Hinter mir kommt es mit ohrenbetäubendem Grollen näher. Gleich werde ich zerquetscht, platt wie ein Maniokfladen. Ohne einen Zeugen, der den Meinen die Nachricht von meinem Tod überbringen, der zumindest die gleichgültigen Wellen mit Blumen schmücken könnte. Und in dem Moment, in dem die ersten Wellen mir die Füße lecken, wache ich unvermittelt auf, gerufen von einer Stimme, die von hinter der Mauer zu kommen scheint – es sind meine eigenen Schreie. Am nächsten Tag pflegte sich meine ältere Schwester Luciana, mit der ich das Zimmer teilte, für das schlaflose Drittel der Nacht zu rächen, indem sie mich auf dem Schulweg traben ließ wie ein Maultier.