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  Daniel Schneider - Glaube, Hoffnung, Liebe - Das Liederschatz-Andachtsbuch– SCM R. Brockhaus

AUFATMEN

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© 2016 SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 58452 Witten

Die Bibelverse wurden, soweit nicht anders angegeben, folgender

Für Justus Ben Daniel

Inhalt

Belanglos?

Vorwort von Albert Frey

36 Lieder – ein großer Schatz

Gnade

Martin Luther: Aus tiefer Not schrei ich zu dir, 1524

„Ihre Route enthält Verkehrsstörungen“

Paul Gerhardt: Befiehl du deine Wege, 1653

Mit dem Herzen fotografieren

Paul Gerhardt: Die güldne Sonne voll Freud und Wonne, 1666

Öfter mal einen Baum umarmen

Carl Boberg: Du großer Gott, wenn ich die Welt betrachte, 1885

Weniger ist mehr

Paul Gerhardt: Du meine Seele, singe, 1653

Burg ist nicht gleich Burg

Martin Luther: Ein feste Burg ist unser Gott, 1529

Ein volksgeistliches Lied

Paul Gerhardt: Geh aus, mein Herz, und suche Freud, 1653

Die Kraft der Wiederholungen

August Dietrich Rische: Gott ist die Liebe, 1852

Mit Gott in der Bali-Therme

Gerhard Tersteegen: Gott ist gegenwärtig, 1729

Loben, loben, loben

Ignaz Franz: Großer Gott, wir loben dich, 1768

Teamwork

Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf: Herz und Herz vereint zusammen, 1725

Helm ab zum Gebet

Gerhard Tersteegen: Ich bete an die Macht der Liebe, 1757

Heimat

Eleonore Fürstin Reuß zu Köstritz: Ich bin durch die Welt gegangen, 1867

Ein Brief an Paul Gerhardt

Paul Gerhardt: Ich singe dir mit Herz und Mund, 1653

Amor und Jesus

Cyriakus Schneegaß: In dir ist Freude, 1598

Jesus, geh schon mal vor

Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf: Jesu, geh voran, 1725

Jesus … Gefällt mir!

Johann Franck: Jesu, meine Freude, 1653

Gegen die Norm

Philipp Friedrich Hiller: Jesus Christus herrscht als König, 1757

Jesus ist (will)kommen

Johann Ludwig Konrad Allendorf: Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude, 1736

Über Kopf betrachtet

Joachim Neander: Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren, 1680

Happy End

Paul Gerhardt: Lobet den Herren alle, die ihn ehren, 1653

Vielmals danke

Martin Rinckart: Nun danket alle Gott, 1636

Neuanfang

Johann Mentzer: O dass ich tausend Zungen hätte, 1704

Was stimmt denn nun?

Philipp Spitta: O komm, du Geist der Wahrheit, 1833

Zwischen den Zeilen

Unbekannt: Schönster Herr Jesu, 1677

Eine Künstlerin vor dem Herrn

Fanny Crosby: Seligstes Wissen: Jesus ist mein!, 1873

Von einer Stillen im Lande

Julie Katharina von Hausmann: So nimm denn meine Hände, 1862

Der Übersetzer

Anne Steele: Solang mein Jesus lebt, 1760

Alle für Einen

Christian Gottlob Barth (1827), Christian David (1741), Johann Christian Nehring (1704), Otto Riethmüller (1932): Sonne der Gerechtigkeit

Sterndeuten

Cornelius Friedrich Adolf Krummacher: Stern, auf den ich schaue, 1857

Freunde fürs Leben

Samuel Rodigast: Was Gott tut, das ist wohlgetan, 1675

Wegweiser „to go“

Hedwig von Redern: Weiß ich den Weg auch nicht, 1901

Wahre Freundschaft

Joseph M. Scriven: Welch ein Freund ist unser Jesus, 1855

Unerklärlicher Friede

Horatio Gates Spafford: Wenn Friede mit Gott, 1873

Wenn Gott ein Lied wäre …

Georg Neumark: Wer nur den lieben Gott lässt walten, 1657

In (halb)voller Länge

Cornelius Becker: Wohl denen, die da wandeln, 1602

Quellen

Über den Autor

DANIEL SCHNEIDER ist Journalist und Theologe. Er schreibt Drehbücher für Fernsehsendungen, spricht Texte im Radio und moderiert auf Bühnen. Außerdem ist er als Redner und Öffentlichkeitsreferent für eine Non-Profit-Sportorganisation tätig.

Autor

Belanglos?

Vorwort von Albert Frey

Die „alten Kirchenlieder“ sind ein Schatz meiner Kindheit und Jugend. Ich wurde, auf dem Orgelbock neben meinem Vater sitzend, der ehrenamtlicher Kirchenmusiker war, von ihnen geprägt. Als Jugendlichen auf der Singfreizeit hat mich dann „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ tief bewegt. Natürlich habe ich auch vieles weder verstanden, noch nachvollziehen können, aber diese Lieder waren mir ein Wegweiser, mehr noch: ein Weg zu Gott.

Das sind sie aber für immer weniger Menschen. Viele stellen keinen Bezug mehr von den alten Texten zum eigenen Leben her. Andere kommen in Gottesdiensten überhaupt nicht mehr mit ihnen in Berührung, weil ausschließlich neuere Lieder gesungen werden, die man dann verengend „Lobpreis“ nennt – als ob die alten das nicht gewesen wären!

Neulich kamen wir mit einem unserer „Reitmädels“ bei uns auf dem Pferdehof auf Kirche zu sprechen. „Warum gehst du nicht mehr hin?“, haben wir sie gefragt. Sie hat mit einem Wort den Nagel auf den Kopf getroffen: Der Gottesdienst (bei dem diese Lieder noch gesungen werden!) sei für sie „belanglos“. Keine Verbindung, nicht von Belang – Kulturpflege und Nachdenklichkeit für Interessierte, die man sich auch schenken könne.

Damit dieser „Schatz“ an alten Liedern nicht belanglos bleibt, müssen wir ihn neu entdecken, heben! Zum einen musikalisch: Wir müssen musikalische Brücken bauen, damit das Singen dieser Lieder sich nicht wie ein Museumsbesuch anfühlt, sondern wie ein Abenteuer. Dafür haben Lothar Kosse und ich mit vielen Freunden aus der christlichen Musikwelt diese 36 Schätze neu bearbeitet. Auf den CDs „Glaube“, „Hoffnung“ und „Liebe“ sind sie zu hören.

Aber wir müssen die alten Texte auch inhaltlich heben. Die alte Sprache in ihrer lyrischen Schönheit erkennen, die Aussagen als zeitlos und für uns relevant begreifen. Genau hier setzt dieses Buch von Daniel Schneider an. Lebensnah, persönlich und doch allgemeingültig erschließt er Lied für Lied. Lassen Sie sich mitnehmen auf eine spannende Entdeckungsreise durch diese 36 Betrachtungen, durch vier Jahrhunderte! Es hat einen Grund, dass diese Lieder Epochen, Kriege und Systemwechsel überlebt haben. Sie sind – und das werden Sie bei der Lektüre dieses Buches vielfältig erfahren – alles andere als belanglos!

Albert Frey

Wenn Sie noch tiefer einsteigen und sich zum Beispiel mit Ihrer Gemeinde auf die Reise begeben wollen, finden Sie auf der Seite

www.das-liederschatzprojekt.de

viele weitere Informationen und Anregungen.

36 Lieder – ein großer Schatz

Es ist, als ob sich durch diese Liedtexte eine Tür öffnet. Hinter dieser Tür liegen 36 Räume aus längst vergangenen Welten. Räume aus einer anderen Zeit, einer anderen Kultur. Hinter dieser Tür verbirgt sich aber auch einiges von dem, was uns zu dem gemacht hat, wer wir sind. Und hinter dieser Tür wartet etwas, das zu Ihnen möchte, weil es auch heute noch wichtig und wertvoll sein kann.

In diesen Liederzimmern verbergen sich mutige Frauen, ängstliche Männer, trauernde Väter, schüchterne Künstlerinnen, Glückspilze und Pechvögel. Außerdem finden sich dort genauso Texte, die einem direkt ins Herz springen, wie Worte, die man erst einmal sacken lassen muss.

Ich bin inspiriert worden und habe das Gefühl, den Dichtern nähergekommen zu sein. Ich habe mich über manches geärgert, über einiges gelacht und war bei vielem tief beeindruckt. Ich habe eigene Gedanken entwickelt und trotzdem genug Platz für Ihre Interpretationen gelassen.

Ich lade Sie ein, gemeinsam mit mir auf Schatzsuche zu gehen. Ich bin schon einmal etwas vorgegangen, habe die Tür einen Spaltbreit geöffnet, um Sie mit diesen Texten vertraut zu machen. Und mit den Menschen, die diese Räume bewohnt haben. Menschen, die in Form von Versen ihre Freude, ihre Ängste, ihr Vertrauen und ihre Zweifel zum Ausdruck gebracht haben. Ihre Biografien bieten Stoff für unzählige Bestseller und Hollywoodfilme, und sie zeigen, wie tief und vertrauensvoll ihr Glaube an den war, für den sie alle diese Lieder geschrieben haben.

Der dreieinige Gott war der Lebensmittelpunkt aller Menschen, deren Texte Sie in diesem Buch finden. Und gleichzeitig standen sie alle mitten im Leben. Anhand der Lektüre wird deutlich, wie diese Personen versucht haben, ihren festen Glauben an einen Gott des Himmels und der Erde in ihrem Alltag zu verankern.

Egal, ob Sie sich das Lied von Martin Luther aus dem Jahr 1524 genauer anschauen oder die Verse von Hedwig von Redern aus dem Jahr 1901 auf sich wirken lassen, es geht immer um einen der folgenden Glaubensgrundsätze: Glaube, Liebe, Hoffnung. Und das verbindet uns mit der damaligen Zeit. Ich wünsche Ihnen, dass sich bei der Lektüre dieses Buches die Tür nicht nur öffnet und Sie einen besonderen Zugang zu den alten Schätzen bekommen, sondern dass sich die Tür aus den Angeln heben lässt und Sie eine gehörige Portion Glaube, Hoffnung und Liebe für Ihr Leben mitnehmen können.

Daniel Schneider, im Herbst 2015

Gnade
Martin Luther: Aus tiefer Not schrei ich zu dir, 1524

Auch wenn sich diese Verse wunderbar eignen, um die Biografie seines Dichters Martin Luther nachzuerzählen: Ich habe mich für eine andere Variante entschieden. Aus zwei Gründen: Erstens finden sich schon genug Texte, die Lied und Verfasser in Verbindung bringen, und zweitens gibt es unendlich viele aktuelle Anlässe, die dieses Lied auch für die heutige Zeit gültig erscheinen lassen. Darauf will ich mich hier konzentrieren.

1. Aus tiefer Not schrei ich zu dir,

Herr Gott, erhör mein Rufen.

Dein gnädig’ Ohren kehr zu mir

und meiner Bitt sie öffne;

denn so du willst das sehen an,

was Sünd und Unrecht ist getan,

wer kann, Herr, vor dir bleiben?

2. Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst,

die Sünde zu vergeben;

es ist doch unser Tun umsonst

auch in dem besten Leben.

Vor dir niemand sich rühmen kann,

des muss dich fürchten jedermann

und deiner Gnade leben.

3. Darum auf Gott will hoffen ich,

auf mein Verdienst nicht bauen;

auf ihn mein Herz soll lassen sich

und seiner Güte trauen,

die mir zusagt sein wertes Wort;

das ist mein Trost und treuer Hort,

des will ich allzeit harren.

4. Und ob es währt bis in die Nacht

und wieder an den Morgen,

doch soll mein Herz an Gottes Macht

verzweifeln nicht noch sorgen.

So tu Israel rechter Art,

der aus dem Geist erzeuget ward,

und seines Gotts erharre.

5. Ob bei uns ist der Sünden viel,

bei Gott ist viel mehr Gnade;

sein Hand zu helfen hat kein Ziel,

wie groß auch sei der Schade.

Er ist allein der gute Hirt,

der Israel erlösen wird

aus seinen Sünden allen.

Es ist Sonntag, 10.43 Uhr. Wir befinden uns in irgendeiner deutschen Kleinstadt, in irgendeinem Gottesdienst. Der engagierte Gemeindepastor Peter F. hält die Predigt und beendet sie mit einem folgenschweren Satz: „Und wie es schon in dem alten Lied von Martin Luther heißt: ‚Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen‘, so dürfen auch wir Gott in unseren dunklen Stunden anrufen, und ich bin mir sicher, er wird sich bei uns melden. Er hat es versprochen. Amen …“

In diesem Moment fahren die Gedanken von drei Gottesdienstbesuchern Achterbahn. Lisa M. sitzt in der letzten Reihe. Sie ist 29 Jahre alt, kommt seit zwei Jahren in die Gemeinde und fühlt sich hier pudelwohl. Die Leute sind nett, der Kaffee schmeckt wunderbar, und auch das Evangelium spricht sie an. Sie nimmt den Glauben ernst. Ebenso die Worte, die sie gerade gehört hat. Sie denkt: „Aber – das mache ich doch schon. Seit Tagen, Wochen, ach was, eigentlich schon seit Jahren bete ich um ein Zeichen von Gott. Irgendein Zeichen muss er mir doch endlich einmal zukommen lassen. Denn sonst bin ich bald weg hier. Mal ehrlich, wieso soll ich an einen Gott glauben, der sich nie zeigt? Ich erwarte ja nichts Großes. Keinen Feuerball, der vom Himmel kommt, und auch keinen säuselnden Wind. Ich will doch einfach nur Frieden in meinem Herzen haben. Einen Frieden, den ich schon so lange suche. Und wenn das stimmt, was der Herr Pfarrer da jede Woche von der Kanzel predigt, dann bekomme ich diesen Frieden von Gott. Aber ich spüre seit Jahren gar nichts! Und das macht mich fertig. Ich kann nicht mehr. Heute ist mein letzter Versuch. Okay, Gott, wenn du dich heute nicht meldest, dann war es das mit uns. Wie ging der Liedvers noch gleich? ‚Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen.‘ Das ist deine allerletzte Chance.“

Friedhelm K. sitzt in der dritten Reihe – wie immer. Der 53-Jährige ist Gemeindeältester, Kirchenchorleiter und kann an einer Hand abzählen, wie oft er im Gottesdienst gefehlt hat. Seit zwanzig Jahren gehört er mit seiner Familie zu dieser Gemeinde. Seine Kinder haben hier von der Krabbelgruppe bis zum Jugendkreis alles durchlaufen. Jetzt sind seine beiden Töchter schon seit zwei Jahren nicht mehr zu Hause. Sie wohnen in der nahe gelegenen Großstadt und studieren dort.

Er hat Verkündiger oder Pastoren kommen und gehen sehen. Sein Wort hat Gewicht in der Gemeinde. Als Unternehmensberater ist er es gewohnt, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. Normalerweise hätte er dem jungen und beliebten Pastor nach so einem Schlusssatz aufmunternd zugelächelt und wohlwollend genickt. Normalerweise. Diesmal blickt er starr an ihm vorbei auf das große Kreuz, das hinter der Kanzel an der Wand hängt. Denn seit einigen Wochen ist alles anders. Sein Leben und das seiner Familie hat sich dramatisch verändert. Die Krebsdiagnose seiner Frau hat alle wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht getroffen. Und das Schlusszitat der Predigt fühlt sich genau so an. „Leichter gesagt als getan“, denkt sich Friedhelm K. „Ich habe schon seit einigen Tagen keine Worte mehr. Wie soll ich da denn bitte schön schreien? Ich bin fassungslos. Über Gott und über mich selbst. Wie oft habe ich anderen ein vermeintlich tröstliches Wort zugesprochen, wenn es ihnen schlecht ging. Das kam mir leicht von den Lippen, mir ging es ja auch gut. Und jetzt bin ich selbst betroffen und merke, dass mein Glauben überhaupt keine Substanz hat. Ich bin stinksauer auf Gott, und dabei ist es mir völlig egal, wie schlecht es anderen Menschen geht. Meine Frau ist krank! Sterbenskrank! Ich bin handlungsunfähig und einfach nur verzweifelt.“

Mischa ist 19 und sitzt heute ganz hinten. Sein Erscheinen hat ihm einige erstaunte, aber sehr freundliche Blicke eingebracht. Er geht eigentlich gar nicht mehr in diese Gemeinde. Seitdem die Wochenendgestaltung nicht mehr von den eigenen Eltern festgelegt wird, nutzt er den Sonntag lieber zum Ausschlafen. Die Sache mit Gott war ja noch nie so sein Ding. Klar, die Jungscharspiele waren toll und die Jugendgruppe war auch spaßig. Aber eigentlich ist er da auch nur wegen Tine hingegangen. So nach und nach hat er sich entfernt. Doch aus einem bestimmten Grund sitzt er heute wieder in seiner alten Gemeinde. Er weiß einfach nicht, wohin er sich sonst in dieser Angelegenheit wenden soll: Gestern hat Mischa die 45. Bewerbung in den Briefkasten geworfen. Und kurze Zeit später hat ihm seine Mutter die 44. Absage in sein Zimmer gebracht …

Mischa hat nur stumm genickt, den Brief mit seinen zurückgeschickten Bewerbungsunterlagen entgegengenommen und gewartet, bis seine Mutter die Treppe hinuntergegangen war. Dann hat er seine Schreibtischschublade aufgemacht und den Brief hineingelegt. Er hat resigniert. In diesem Moment fiel sein Blick auf einen alten Kinderaufkleber, den er vor zehn Jahren mal an den Fensterrahmen geklebt hatte. „Rufe mich an in der N…“, stand da. Der Rest des Aufklebers war nicht mehr lesbar. Mischa hatte schon mehrmals versucht, den Sticker abzupulen. Aber er kannte den Spruch in- und auswendig. Sollte er es etwa noch einmal versuchen?

Und so sitzt Mischa im Gottesdienst und hört den letzten Satz der Predigt. „Der hat ja ein Vertrauen zu Gott“, denkt er beim Schlusslied des Gottesdienstes. „Irgendwie beeindruckend. Das hatte ich als Kind auch mal. Aber das Leben hat mich dermaßen desillusioniert. Und das mit gerade einmal 19 Jahren. Das darf nicht sein. Nach meinem Termin morgen beim Arbeitsamt gehe ich mal beim Pastor vorbei und frage nach, wie er das gemeint hat mit dem Melden von Gott.“

Am Montagmittag sitzt Peter F. an seinem Schreibtisch. Sein Rechner ist zwar an, aber er hat schon seit einer halben Stunde nichts mehr geschrieben. Er starrt ins Leere und denkt an den gestrigen Gottesdienst. „War das eigentlich richtig, was ich da am Ende gesagt habe? Dass Gott sich bei denen meldet, die ihn anrufen? Ich meine, ich glaube es, aber was ist, wenn das jemand wirklich ausprobiert und Gott sozusagen die Pistole auf die Brust setzt? Was passiert dann? O Gott, ich predige etwas und habe Angst davor, dass das jemand ernst nimmt. Was bin ich nur für ein Pastor? Gott, bitte kümmere dich um meine Gemeinde. Zeig dich ihnen! Und mir!“

Im selben Moment klingelt es an der Tür des Pfarrhauses. Peter F. öffnet die Tür und sagt erstaunt: „Mensch Mischa, dich habe ich aber lange nicht gesehen. Wie schön! Komm rein. Willst du etwas trinken?“

„Ihre Route enthält Verkehrsstörungen“
Paul Gerhardt: Befiehl du deine Wege, 1653

Der Text des Liedes „Befiehl du deine Wege“ von Paul Gerhardt steckt voller Überraschungen. Dass die Anfangswörter der einzelnen Strophen zusammengenommen den Bibelvers aus Psalm 37,5: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohlmachen“ (LUT), ergeben, ist einigen schon bekannt. Dass das Lied viele Strophen hat, auch. Dass der Text allerdings einige Lebensnavigationstipps parat hält, ist, mir zumindest, neu:

1. Befiehl du deine Wege

und was dein Herze kränkt

der allertreusten Pflege

des, der den Himmel lenkt.

Der Wolken, Luft und Winden

gibt Wege, Lauf und Bahn,

der wird auch Wege finden,

da dein Fuß gehen kann.

2. Dem Herren musst du trauen,

wenn dir’s soll wohlergehn;

auf sein Werk musst du schauen,

wenn dein Werk soll bestehn.

Mit Sorgen und mit Grämen

und mit selbsteigner Pein

lässt Gott sich gar nichts nehmen,

es muss erbeten sein.

3. Dein …

4. Weg hast du allerwegen,

an Mitteln fehlt dir’s nicht;

dein Tun ist lauter Segen,

dein Gang ist lauter Licht;

dein Werk kann niemand hindern,

dein Arbeit darf nicht ruhn,

wenn du, was deinen Kindern

ersprießlich ist, willst tun.

5. Und …

6. Hoff, o du arme Seele,

hoff und sei unverzagt!

Gott wird dich aus der Höhle,

da dich der Kummer plagt,

mit großen Gnaden rücken;

erwarte nur die Zeit,

so wirst du schon erblicken

die Sonn der schönsten Freud.

7. Auf …

8. IHN, ihn lass tun und walten!

Er ist ein weiser Fürst

und wird sich so verhalten,

dass du dich wundern wirst,

wenn er, wie ihm gebühret,

mit wunderbarem Rat

das Werk hinausgeführet,

das dich bekümmert hat.

9. Er …

10. Wird’s …

11. Wohl …

12. Mach End, o Herr, mach Ende

mit aller unsrer Not;

stärk unsre Füß und Hände

und lass bis in den Tod

uns allzeit deiner Pflege

und Treu empfohlen sein,

so gehen unsre Wege

gewiss zum Himmel ein.

Die Stimme des Navigationsgeräts bringt meine Tagesplanung völlig aus dem Konzept. Stau voraus und der Termin findet ohne mich statt. Moment mal: Da wird schon eine neue Route berechnet. Wenn ich richtig Gas gebe, könnte ich es noch schaffen. Pustekuchen, die Idee hatten einige Hundert andere Autofahrer auch. Mist! Immer dann, wenn man es am wenigsten braucht. Stillstand! Ich stelle den Motor ab und sinke in den Fahrersitz. Ich öffne das Fenster und schaue in den Himmel. Ich lasse die Gedanken kreisen: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.“

Ja, so ein himmlisches Navi mit den besten Ausweichstrecken wäre schon nicht schlecht. Ich meine jetzt nicht für meine Autofahrten, sondern für meinen persönlichen Lebensweg. Wenn es ein Gerät geben würde, das mich warnt, bevor es zu spät ist, bevor ich scheitere oder einen Fehler mache, das wäre es doch. Ein Gerät, das mir sagt: „Daniel, du rast gerade mit voller Geschwindigkeit auf eine Sackgasse zu. Bitte wenden! Aber schnell!“ Bestimmt wäre mein Leben dann etwas geradliniger verlaufen und ich hätte so manche scheinbar unnütze Wegstrecke vermeiden können.

Da wäre Gott doch eigentlich der perfekte Navigator. Er hat die Welt, nach eigenen Aussagen, recht ordentlich im Blick, kennt uns als Schöpfer und möchte, dass es uns gut geht. Also würde eine Standleitung zu jedem von uns gut in sein Konzept passen.

Dann hätte ich mir viele Unannehmlichkeiten erspart. Nach der Schule hätte mir eine kleine Info vom Navigationsgerät zum Thema Berufsberatung richtig geholfen: „Daniel, bewirb dich beim Radio, du weißt zwar noch nicht, warum, aber glaube mir, das wird dir Spaß machen.“ Die mehrjährige berufliche Findungsphase wäre mir erspart geblieben. Wer weiß, wo ich jetzt schon wäre, ohne diese ganzen Umwege oder Zickzackkurse. Gleich die richtige Entscheidung treffen, alles Unnütze vorab aussortieren und Wartezeiten vermeiden.

Auch im Alltag der Kommunikation wäre das nützlich. Ein Mechanismus, der mich warnt, bevor eine Diskussion mit meiner Frau zu einem Streit ausartet oder bevor ich mir hinterher auf die Zunge beiße und denke: „Mann, den Spruch hättest du dir aber auch wirklich sparen können.“ Das wär’s! Oder?

Ich beobachte die Insassen des Wagens vor mir. Eine Familie. Die Mutter nutzt die Zeit des Stillstandes und ist nach hinten zu ihren Kindern gekrabbelt. Soweit ich das beurteilen kann, liest sie ihnen etwas vor. Im Rückspiegel beobachte ich ein Pärchen, dass die Zeit des Wartens mit Knutschen verbringt.

Ich schließe die Augen.

Moment mal, fällt es mir ein. Wenn ich diese Orientierungslosigkeit nach dem Zivildienst nicht durchlebt hätte, dann wäre ich auch nicht mit einer Musikgruppe durch Deutschland und die Schweiz getourt und dann hätte ich auch meine jetzige Frau nicht kennengelernt. Und wenn ich mich nicht mit diesen vielen Jobs als Postbote, Klamottenverkäufer oder Animateur über Wasser gehalten hätte, dann würde mir ein ganz schönes Stückchen Lebenserfahrung fehlen. Und wenn ich damals als kleiner Junge nicht die Scheiben der Gärtnerei meines Großvaters mit meinem Fußball kaputt gemacht hätte … Nein, das kann ich mir nicht schönreden. Da fällt mir nichts ein.

Also, Umleitungen, Sackgassen und Umwege scheinen doch nicht immer schlecht zu sein. Auch wenn das erst im Rückblick ersichtlich ist. Und wenn ich ganz ehrlich bin: So manche dummen Dinge hätte ich mir in meinem Leben auch ohne ein solches Navi ersparen können. Meine Eltern hatten mir des Öfteren gesagt, dass Hausaufgaben sinnvoll sind. Ich habe es gehört, aber nicht ernst genommen. Und musste dafür mit einer Ehrenrunde in Klasse 5 die Konsequenzen tragen. Und mit ein bisschen gesundem Menschenverstand und etwas mehr Einfühlungsvermögen meinerseits würden auch ein paar Beziehungskonflikte nicht so hochkochen. Nur so nebenbei: Ich liebe meine Frau!

Beim genaueren Betrachten empfinde ich sogar so etwas wie eine Standleitung zu Gott. Er gibt mir Hinweise. Durch andere Menschen zum Beispiel (siehe meine Eltern), durch das menschliche Gehirn (siehe gesunder Menschenverstand) und durch Gefühle und Empfindungen, die ich als gottgegeben definiere und die andere vielleicht mit einem siebten Sinn übersetzen würden. Ich weiß, was mir und meinen Mitmenschen guttut, und auch, was mir und ihnen schadet. Zum größten Teil zumindest. Ethik, Respekt und Nächstenliebe funktionieren als Navigatoren schon ganz gut. Mit einem gesunden Gottvertrauen kann ich die Dinge besser verarbeiten, die meinen Horizont übersteigen. Und die gute alte Bibel ist als Orientierung auch nicht zu verachten. Ich glaube, dass Gott uns eine gehörige Portion Verantwortung und Freiheit mit auf den Lebensweg gegeben hat. Und er will uns begleiten. So interpretiere ich Paul Gerhardts erste Verse. Das bedeutet jedoch nicht, dass auf Umwege, Sackgassen und manchmal auch Abkürzungen verzichtet werden kann.

„Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.“

Huuup. Ich schrecke auf. Das darf doch nicht wahr sein. Der Stau auf der Umgehungsstraße ist vorbei und das Pärchen hinter mir knutscht nicht mehr, sondern bedeutet mir mit einer unmissverständlichen Handbewegung, dass ich doch bitte weiterfahren soll. Das tue ich, und als mein Navi mir meldet: „Ich habe eine Alternativroute berechnet, die drei Minuten kürzer ist“, schalte ich das Ding kurzerhand ab und aktiviere meinen guten alten Orientierungssinn. Ein bisschen Training für mein Gehirn kann ja nicht schaden.

Mit dem Herzen fotografieren
Paul Gerhardt: Die güldne Sonne voll Freud und Wonne, 1666

Klick – große Momente werden gerne mit der Kamera festgehalten. Sonnenaufgänge zum Beispiel. Klick – schnell noch auf Facebook gepostet. Damit auch die anderen etwas davon haben. Doch so unterhaltsam und schön geteilte Videos und Fotos auch sind: An den Originalmoment kommen sie nie heran. Und trotzdem macht es Sinn, solche Erfahrungen zu teilen. Warum? Eine Antwort darauf bietet folgendes Lied:

1. Die güldne Sonne

voll Freud und Wonne

bringt unsern Grenzen

mit ihrem Glänzen

ein herzerquickendes, liebliches Licht.

Mein Haupt und Glieder,

die lagen darnieder;

aber nun steh ich,

bin munter und fröhlich,

schaue den Himmel mit meinem Gesicht.

2. Mein Auge schauet,

was Gott gebauet

zu seinen Ehren

und uns zu lehren,

wie sein Vermögen sei mächtig und groß

und wo die Frommen

dann sollen hinkommen,

wann sie mit Frieden

von hinnen geschieden

aus dieser Erden vergänglichem Schoß.

3. Lasset uns singen,

dem Schöpfer bringen

Güter und Gaben;

was wir nur haben,

alles sei Gotte zum Opfer gesetzt!

Die besten Güter

sind unsre Gemüter;

dankbare Lieder

sind Weihrauch und Widder,

an welchen er sich am meisten ergötzt.

4. Abend und Morgen

sind seine Sorgen;

segnen und mehren,

Unglück verwehren

sind seine Werke und Taten allein.

Wenn wir uns legen,

so ist er zugegen;

wenn wir aufstehen,

so lässt er aufgehen

über uns seiner Barmherzigkeit Schein.

7. Willst du mir geben,

womit mein Leben

ich kann ernähren,

so lass mich hören

allzeit im Herzen dies heilige Wort:

Gott ist das Größte,

das Schönste und Beste,

Gott ist das Süßte

und Allergewisste,

aus allen Schätzen der edelste Hort.

8. Kreuz und Elende,

das nimmt ein Ende;

nach Meeresbrausen

und Windessausen

leuchtet der Sonne gewünschtes Gesicht.

Freude die Fülle

und selige Stille

wird mich erwarten

im himmlischen Garten;

dahin sind meine Gedanken gericht‘.

Ich habe es schon gefühlte 1000 Mal probiert. Geklappt hat es noch nie. Einen Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang so zu fotografieren, wie ich ihn in dem Moment erlebe, ist mir noch nie gelungen. Es ist auch unmöglich. Klar, es gibt tolle Sonnenfotos. Massenweise. Aber wenn man einmal einen Auf- oder Untergang der Sonne in echt gefühlt und gesehen hat, dann wird es schwer, eine Kopie auf einem Foto oder in einem Film zu akzeptieren. Die güldne Sonne ist in echt einfach am besten zu genießen. Spüren kann ich sie auch nur, wenn ich mein Gesicht wirklich in ihre Richtung drehe und nicht auf ein Foto starre. Klingt logisch. Es gibt noch andere Vorzüge: Die Laune bessert sich erwiesenermaßen, wenn die Sonne im Spiel ist, und wichtiges Vitamin D wird durch ihr Licht gebildet. In Maßen tut uns die Sonneneinstrahlung richtig gut. Zusammengefasst: Die schönsten Bilder werden mit dem Herzen fotografiert.

Das ging vermutlich auch Paul Gerhardt so. Der musste diese Sonnenmomente übrigens besonders gut konservieren. Denn wenn man sich die Texte, die über sein Leben berichten, durchliest, dann waren es in der Mehrzahl eher die Gewitterwolken, die sich über Paul Gerhardt und seiner Familie festgesetzt hatten. Als er dieses Lied schrieb, waren bereits vier seiner fünf Kinder gestorben und die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges noch sehr präsent.

Ich stelle mir vor, wie Paul Gerhardt nach einer schlaflosen Nacht, in der ihn die Ängste seines Lebens wieder einmal umgetrieben haben, schon kurz vor Sonnenaufgang das Bett verlassen hat und nach draußen gegangen ist. Dort hat er sich auf eine Bank gesetzt und mit angeschaut, wie die ersten Sonnenstrahlen gegen die Nacht kämpften. Und je mehr das Licht durch die Dämmerung brach, umso deutlicher spürte der Berliner Pfarrer, wie sich auch in seinem Herzen die dunklen Gedanken und Ängste zurückzogen. Die Zuversicht wuchs mit dem morgendlichen Licht. Die Bilder der Vergangenheit verblassten und er bekam frische Kraft und neuen Mut. Zumindest für den aktuellen Tag.