Gunter Pirntke (Herausgeber)

 

Frances Hodgson Burnett

 

Der geheime Garten

 

Impressum

Covergestaltung: Alexandra Paul

Digitalisierung: Gunter Pirntke

2013 andersseitig.de

ISBN: 9783955010706




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1

Als Mary Lennox zu ihrem Onkel nach Schloss Misselthwaite gebracht wurde, fand ein jeder, sie sei ein besonders unangenehmes, abweisendes Kind, und sie hatte auch wirklich nichts Anziehendes an sich. Gesicht und Gestalt waren klein und mager, das dünne Haar farblos, und sie schaute mürrisch drein. Ihre Haut hatte einen gelben Stich, denn sie war in Indien geboren und seit der Geburt immer kränklich. Ihr Vater nahm eine hohe Stellung in der englischen Kolonialregierung ein, war immer sehr beschäftigt und selbst leidend, die Mutter eine bekannte Schönheit, die nichts im Kopf hatte als Gesellschaften und amüsante Leute, die sie bewunderten. Sie hatte nie ein Kind haben wollen, und als sie ein Töchterchen bekam, übergab sie die Kleine sofort der Obhut einer Ayah, einer Kinderfrau, und machte ihr klar, das Kind dürfe ihr, der Memsahib, so wenig wie möglich vor Augen kommen. Die indische Kinderfrau hielt sich daran, und so merkte die Mutter kaum, wie aus dem kränklichen, hässlichen, winzigen Schreihals ein kränkliches, hässliches, mürrisches Kleinkind wurde.

Kein anderes Gesicht als das dunkle der Ayah wurde Mary vertraut, sie sah fast nur sie und die anderen eingeborenen Dienstboten, und die gehorchten der kleinen Herrentochter immer und gaben ihr in allem nach, damit sie nur ja nicht schrie und die Mutter aufbrachte. Ganz selbstverständlich war sie mit sechs Jahren ein so tyrannisches und eigensüchtiges Balg wie nur möglich. Die junge englische Gouvernante, die ihr Lesen und Schreiben beibringen sollte, fand das Kind so unerträglich, dass sie die Stellung schon nach drei Monaten aufgab, und alle ihre Nachfolgerinnen räumten das Feld sogar noch schneller. Mary hätte so wahrscheinlich nie Lesen und Schreiben gelernt, doch sie wollte es selbst lernen und brachte sich allein das Alphabet bei.

An einem schrecklich heißen Morgen - Mary war damals neun Jahre alt - erwachte sie in besonders übler Laune, und die wurde noch schlimmer, als sie erkannte, dass die Dienerin neben ihrem Bett nicht die Ayah war.

»Was hast du hier zu suchen? «, fuhr sie die dunkle Frau an. »Ich will dich nicht hier. Schick mir sofort meine Ayah!«

Die Frau verzog erschrocken das Gesicht und stammelte, die Ayah könne nicht kommen. Mary bekam einen Wutanfall, schlug sie und trat sie mit Füßen, worauf die Frau nur noch ängstlicher dreinschaute und wiederholte, der Ayah sei es nicht möglich, zu Missie Sahib zu kommen.

Etwas lag an diesem seltsamen Morgen in der Luft. Nichts war wie sonst. Man sah kaum Boys - die eingeborenen Diener - und die wenigen schlichen oder eilten aschgrau und verschreckt an Mary vorbei. Von niemandem erfuhr sie etwas und die Ayah kam und kam nicht. Mary blieb den ganzen Vormittag allein. Schließlich ging sie in den Garten und spielte für sich allein unter einem Baum neben der Veranda. Sie tat, als legte sie ein Blumenbeet an, machte kleine Erdhäufchen und steckte feuerrote Hibiskusblüten hinein.

Dann hörte sie die Mutter mit jemandem auf die Veranda kommen. Dieser Jemand war ein blonder junger Mann, und die beiden sprachen gedämpft und bedrückt miteinander.

»Ist es so schlimm? Wirklich so schlimm?«, fragte die Mutter leise.

»Es ist entsetzlich«, erwiderte der Mann mit zitternder Stimme. »Ganz entsetzlich, Mrs Lennox. Sie hätten schon vor vierzehn Tagen in die Berge fahren sollen.«

Die schöne junge Frau rang die Hände. »Ja, es ist meine Schuld«, rief sie gepresst. »Ich war eine Närrin. Und nur wegen dieser dummen Dinnergesellschaft!«

Da erhob sich in den Dienerunterkünften ein lautes Jammern und Wehklagen. Die Memsahib umklammerte den Arm des jungen Mannes, und Mary begann, am ganzen Körper zu zittern. Das schrille Wehklagen wurde lauter und lauter. »Was ist das? Was bedeutet das?«, keuchte Mrs Lennox. »Jemand ist gestorben. Mrs Lennox, Sie haben mir nicht gesagt, dass die Krankheit schon unter Ihren Dienern wütet!«

»Ich wusste es nicht! Kommen Sie mit mir.« Sie wandte sich um und lief ins Haus.

Nun spielte sich Entsetzliches ab, und Mary verstand plötzlich, warum der Vormittag so seltsam und anders gewesen war. Die Cholera war ausgebrochen, sie wütete in ihrer schlimmsten Form und die Menschen starben wie die Fliegen. In der Nacht war die Ayah erkrankt, und nun wehklagten die Dienstleute, weil sie gestorben war. Drei weitere Diener starben am selben Tag und die anderen liefen in Panik davon.

Der Tag verging in Wirrwarr und Durcheinander. Mary hielt sich im Kinderzimmer versteckt und niemand kümmerte sich um sie. Niemand dachte an sie, niemand wollte etwas von ihr, und sie erfuhr nichts von den schrecklichen Dingen, die sich ereigneten. Sie schlief die meiste Zeit, und wenn sie erwachte, weinte sie stundenlang, bis sie wieder einschlief.

Sie wusste nur, dass das Haus voll von Kranken war, und die Geräusche, die zu ihr drangen, waren unheimlich, unverständlich und erregten ihre Angst. Einmal schlich sie ins Speisezimmer und fand es leer. Auf dem Tisch standen Reste einer Mahlzeit, und Tisch und Sessel und Teller sahen aus, als wären die Essenden plötzlich aufgesprungen und hätten alles liegen und stehen lassen. Das Kind aß Obst und ein paar Kekse, und weil es durstig war, trank es ein fast volles Glas Wein aus. Der Wein war süß und schmeckte gut, und die Kleine merkte nicht, wie stark er war. Er machte sie sehr schläfrig, sie ging zurück ins Kinderzimmer, legte sich aufs Bett und wusste lange Zeit nichts von sich.

Als sie erwachte, blieb sie ruhig liegen und starrte zur Wand. Das Haus lag völlig still da. So still war es noch nie gewesen. Weder Schritte noch Stimmen waren zu hören, und Mary dachte, nun seien alle wieder gesund und das Leben im Lot. Nur, wer würde sich jetzt, da ihre Ayah tot war, um sie selbst kümmern? Wahrscheinlich bekam sie eine neue Ayah, und die würde neue Geschichten wissen, und das war gut, denn die alten waren Mary schon langweilig geworden. Sie weinte nicht um ihre tote Ayah. Sie hatte ja nicht gelernt, für jemanden Liebe zu empfinden.

Niemand kam, und je länger Mary so dalag, umso stiller schien ihr das Haus zu werden. Nun raschelte etwas auf dem Fußboden, und sie sah eine kleine Schlange, die sie mit juwelenfunkelnden Augen anstarrte. Mary erschrak nicht, sie wusste, diese Schlange war harmlos, sie würde ihr nichts zuleide tun. Die Schlange kroch zur Tür und war auch schon durch die Ritze verschwunden.

»Wie seltsam und still es ist«, murmelte Mary. »Mir scheint, außer der kleinen Schlange und mir ist niemand im Bungalow.«

Im selben Augenblick hörte sie Schritte, erst im Hof, dann auf der Veranda. Männerschritte. Die Männer betraten den Bungalow und sprachen unterdrückt miteinander. Niemand kam den Eintretenden entgegen und begrüßte sie. Nun schien es Mary, dass sie verschiedene Türen öffneten. Schauten sie in alle Zimmer?

»Welches Elend«, rief eine Stimme voll Entsetzen. »Diese schöne junge Frau! Das Kind vermutlich auch. Es soll ja ein Kind da sein, obwohl man es nie zu Gesicht bekommen hat.«

Als die Männer bald darauf die Tür zum Kinderzimmer öffneten, stand Mary mitten im Raum. Sie sah hässlich und verdrossen aus, und sie runzelte die Stirn, weil sie hungrig war und sich vernachlässigt vorkam. Der erste Mann, der ins Zimmer trat, war ein englischer Offizier, den sie einmal im Gespräch mit dem Vater gesehen hatte. Er wirkte müde und kummervoll. Als er Mary sah, war er so verblüfft, dass er zurückprallte.

»Barney!«, schrie er über die Schulter. »Hier ist ein Kind! Ein Kind, ganz allein! An einem solchen Ort! Der Herr erbarme sich, was ist das für ein Kind?«

»Ich heiße Mary Lennox«, sagte die Kleine steif und richtete sich gerade auf. »Ich bin eingeschlafen, als alle die Cholera bekamen, und jetzt bin ich wieder aufgewacht. Warum kommt niemand zu mir und bedient mich?«

»Das ist das Kind, das man nie zu Gesicht bekam«, rief der Mann aus. »Man hat es vergessen!«

»Warum hat man mich vergessen?«, sagte Mary zornig und stampfte mit dem Fuß auf. »Warum kümmert sich niemand um mich?«

Der junge Mann, der Barney hieß, betrachtete sie bedrückt und traurig. »Arme Kleine«, sagte er leise. »Es ist niemand mehr da, der sich um dich kümmern könnte.«

Auf diese ungewöhnliche und überraschende Weise erfuhr Mary, dass sie weder Vater noch Mutter mehr hatte. Sie waren gestorben und noch in der Nacht weggebracht worden, und die wenigen eingeborenen Dienstleute, die nicht gleichfalls sterben mussten, waren aus dem Haus geflohen. Niemand erinnerte sich an das Kind, niemand dachte daran, dass es noch eine Missie Sahib gab. Deshalb war es im Hause so still. Mary hatte richtig empfunden: Der Bungalow war leer bis auf sie und die kleine Schlange.

2

Mary hatte die Mutter gern aus der Entfernung betrachtet und sehr hübsch gefunden, doch sie kannte sie kaum, also ließ sich auch nicht erwarten, dass sie sie liebte und nun, da sie nicht mehr da war, sonderlich vermisste. Ehrlich gesagt, sie vermisste die Mutter überhaupt nicht. Sie war von klein auf gewöhnt, immer nur an sich selbst zu denken, und das tat sie auch jetzt. Immer hatte jemand sie bedient und sich um sie gekümmert, und sie nahm als selbstverständlich an, das würde in aller Zukunft so bleiben.

Man brachte sie zuerst ins Haus des englischen Geistlichen, doch sie wusste, das war nicht von Dauer. Gut so, dachte sie. Der englische Geistliche war arm, und er hatte fünf Kinder wie die Orgelpfeifen, alle schäbig gekleidet. Sie stritten ständig und rauften um das wenige Spielzeug. Mary verabscheute den unordentlichen Bungalow und war so unfreundlich zu den Kindern, dass schon nach zwei Tagen keines mehr mit ihr spielen wollte. Gleich am nächsten Tag erhielt sie einen Spitznamen, über den sie wütend war.

Den Namen hatte Basil geprägt. Basil war ein kleiner Junge mit frechen Augen und Stupsnase, und Mary hasste ihn. Genau wie an dem Tag, als die Cholera ausgebrochen war, spielte sie allein unter einem Baum, legte winzige Blumenbeete und Gartenwege an, und Basil stellte sich daneben und sah ihr zu. Schließlich machte er einen Vorschlag:

»Hol doch ein paar Kiesel und mach einen Alpengarten!«

»Geh weg«, rief Mary zornig. »Ich mag Jungen nicht. Geh weg!«

Basil machte zuerst ein finsteres Gesicht, dann begann er, sie zu necken, wie er auch seine Schwestern gern neckte. Er tanzte um Mary herum, schnitt Grimassen, lachte laut und sang: »Miss Mary-ich-mag-nicht, Dem Garten ist nicht schön. Die Blumen stehn ganz schief und krumm, Und wer soll auf solchen Wegen gehn?« Er sang das so oft, bis die anderen Kinder es hörten und mitlachten und mitsangen. Je wütender Mary wurde, desto lauter sangen sie: »Miss Mary-ich-mag-nicht...«, und solange Mary im Pfarrhaus blieb, haftete der Spitzname ihr an.

»Jetzt wirst du nach Haus geschickt«, teilte Basil ihr eines Tages mit. »Ende der Woche kommst du weg. Gott, sind wir froh!«

»Ich bin auch froh«, sagte Mary steif. »Wo ist nach Haus?« »Ha, sie weiß nicht, wo ihr Zuhause ist«, sagte Basil mit der ganzen Verachtung seiner sieben Jahre. »Zuhause ist natürlich immer in England. Dort wohnt unsere Großmutter, und meine Schwester Mabel ist voriges Jahr auch zu ihr geschickt worden. Aber zu unserer Großmutter fährst du nicht und auch nicht zu deiner eigenen. Du hast ja keine. Du fährst zu deinem Onkel. Er heißt Mr Archibald Craven.«

»Von dem weiß ich nichts«, sagte Mary hoheitsvoll. »Klar nicht. Du weißt überhaupt nichts. Mädchen wissen nie was. Ich habe gehört, wie die Eltern von ihm sprachen. Er wohnt in einem riesengroßen, halb kaputten alten Haus mitten auf dem Land, und er ist so bös, dass sich niemand in seine Nähe traut. Er lässt auch niemanden zu sich. So bös ist er. Er hat einen Buckel und ist ein richtiges Scheusal.«

»Du lügst«, sagte Mary und drückte sich die Finger in die Ohren, um nichts mehr zu hören.

Doch es half nichts, hinterher musste sie lang darüber nachdenken. Und als Mrs Crawford ihr am selben Abend sagte, sie würde in ein paar Tagen per Schiff nach England zu ihrem Onkel fahren, der in Schloss Misselthwaite lebte, da wurde ihr Gesicht so uninteressiert, so trotzig und wie versteinert, dass die Pfarrersleute nicht wussten, was sie von dem Mädchen halten sollten. Sie wollten gern nett zu ihr sein, doch als Mrs Crawford ihr einen Kuss geben wollte, drehte sie das Gesicht zur Seite, und als Mr Crawford ihr die Schulter tätschelte, stand sie da wie ein Stock.

»So ein reizloses Kind«, meinte Mrs Crawford hinterher voll Mitleid zu ihrem Mann. »Dabei war die Mutter das entzückendste Geschöpf und hatte eine liebenswürdige, gewinnende Art. Und die Kleine ist nichts wie zurückweisend und verschlossen. So ein Kind habe ich noch nie erlebt.«

»Vielleicht hätte Mary etwas von der Mutter gelernt, wenn die ihre liebenswürdige, gewinnende Art mehr im Kinderzimmer hätte sehen lassen«, meinte der Pfarrer grimmig.

»Ja, man sagt, sie hätte die Kleine kaum angesehen.« Mrs Crawford seufzte. »Und seit die Ayah tot ist, kümmert sich überhaupt niemand mehr um sie.«

Die lange Seereise nach England machte Mary unter der Obhut einer Offiziersfrau, die viel mit ihren eigenen kleinen Kindern beschäftigt war und Mary nur zu gern in London der Frau übergab, die Mr Archibald Crawford zu diesem Zweck auf das Schiff geschickt hatte. Es war die Haushälterin in Schloss Misselthwaite, sie hieß Mrs Medlock und war eine stämmige Frau mit roten Bäckchen und scharfen schwarzen Augen. Sie trug ein leuchtend purpurrotes Kleid, darüber eine schwarzseidene Mantille mit Jet und Fransen dran und auf dem Kopf eine schwarze Haube, auf der purpurrote Samtblumen in die Höhe standen, und wenn Mrs Medlock den Kopf bewegte, zitterten die Blumen. Mary mochte die Frau nicht, aber das war weiter nicht verwunderlich, denn sie mochte kaum jemals jemanden. Außerdem sah selbst ein Blinder, dass Mrs Medlock sie auch nicht mochte.

»Du liebe Zeit, an der ist ja nichts dran«, sagte sie zu der Offiziersfrau. »Dabei heißt es, die Mutter war eine große Schönheit. Von der hat sie scheint's nichts geerbt.«

»Vielleicht wächst sie sich aus«, meinte die andere gutmütig. »Wenn sie nicht so gelb im Gesicht wäre und so mürrisch dreinschaute - die Züge sind im Grund gar nicht so übel. Kinder verändern sich schnell.«

»Na, da müsste sich aber viel verändern«, erwiderte Mrs Medlock skeptisch. »Und wenn Sie mich fragen - Misselthwaite ist nicht der richtige Ort, damit sich ein Kind zum Guten verändert.«

Die beiden dachten, Mary hörte nicht zu, denn sie stand, ein Stückchen entfernt, am Fenster des kleinen Hotels, wo sie die Nacht verbrachten. Sie beobachtete die Pferdebahnen und Kutschen und Leute, doch sie hörte genau zu und wurde immer neugieriger auf den Onkel und das Gut, auf dem er lebte. Wie mochte es dort aussehen, und wie war wohl dieser Onkel? Echt bucklig? Einen Buckligen hatte sie noch nie gesehen. Ob es in Indien keine Buckligen gab?

Seit sie keine Ayah mehr hatte und bei fremden Leuten wohnte, fühlte sie sich sehr einsam und grübelte über Dinge, die ihr vorher nie aufgefallen waren. Etwa, warum sie, auch solang die Eltern lebten, nie wirklich zu jemandem gehört hatte. Andere Kinder gehörten offensichtlich zu ihren Eltern, doch sie selbst war nie jemandes kleines Mädchen gewesen. Gewiss, sie hatte Dienerschaft gehabt, gut zu essen und viel anzuziehen, doch beachtet hatte sie niemand. Sie wusste nicht, dass dies großteils daher kam, dass sie ein unangenehmes, unfreundliches Kind war, denn dass sie das war, davon hatte sie keine Ahnung. Im Gegenteil, sie dachte dasselbe oft von anderen Leuten.

Jedenfalls war diese Mrs Medlock bei weitem die unangenehmste Person, die sie kannte. Dieses ordinäre hochrote Gesicht, diese ordinäre Haube! Und die schien ihr bestes Stück zu sein ... Am nächsten Tag, als sie die Reise nach Yorkshire antraten, ging Mary mit hoch erhobenem Kopf durch den Bahnhof, bemüht, einige Entfernung zwischen sich und ihre Begleiterin zu legen, damit nur ja niemand auf den Gedanken käme, sie gehöre zu ihr.

Mrs Medlock zählte zu den Leuten, die finden, Kinder hätten zu parieren. Ohnehin hatte sie keine Lust gehabt, nach London zu fahren, weil sie dadurch die Hochzeit ihrer Nichte versäumte, doch wenn sie die an sich angenehme und gut bezahlte Stellung als Haushälterin auf Schloss Misselthwaite behalten wollte, musste sie Mr Craven aufs Wort gehorchen. Sonst saß sie schnell auf der Straße.

Der hatte ihr auf seine kurze, kalte Art gesagt: »Hauptmann Lennox und seine Frau sind in Indien an der Cholera gestorben. Er war der Bruder meiner Frau und ich bin jetzt der Vormund seiner Tochter. Das Kind soll hierher gebracht werden. Das werden Sie tun. Übermorgen fahren Sie zu dem Zweck nach London.«

Also packte sie eine Reisetasche und setzte sich in die Bahn.

Und nun saß Mary ihr gegenüber im Abteil auf dem Fensterplatz und machte ein verdrossenes Gesicht. Sie hatte nichts zu lesen, keine Bilder zu betrachten, also hielt sie die dünnen, schwarz behandschuhten Hände müßig im Schoß gefaltet. Durch das schwarze Kleid wirkte ihre Gesichtsfarbe gelber denn je und das farblose Haar hing in schlaffen Strähnen unter dem schwarzen Krepphut hervor.

So ein verwöhntes, mürrisches Ding hab ich im Leben nicht gesehen, dachte Mrs Medlock. Auch ein Kind, das so still saß und nichts tat, hatte sie noch nie gesehen. Schließlich wurde sie es müde und sie begann mit ihrer spröden, harten Stimme ein Gespräch.

»Vielleicht sollte ich dir etwas über den Ort sagen, zu dem wir fahren. Und den Onkel - weißt du etwas über ihn? Haben dir die Eltern von ihm erzählt?«

»Nein«, gab Mary zurück und runzelte die Stirn, weil ihr jetzt erst auffiel, dass die Eltern niemals zu ihr etwas über einen bestimmten Menschen gesagt hatten.

»Hm«, machte Mrs Medlock und musterte das unkindliche, teilnahmslose Gesichtchen. Sie schwieg eine Weile, dann fing sie wieder an: »Es ist doch besser, ich erzähl dir etwas, damit du vorbereitet bist. Das Schloss ist ein merkwürdiger Ort.«

Mary schwieg, und die Frau fuhr fort: »Auf seine düstere Art ist es ja großartig. Vielleicht ein bisschen unheimlich. Es ist sechshundert Jahre alt und es liegt am Rand des Moors, es hat fast hundert Zimmer, nur werden die meisten nicht bewohnt und sind abgeschlossen. Im Schloss sind viele Bilder, schöne alte Möbel und sonst Sachen, die sind alle seit einer Ewigkeit dort. Es liegt in einem riesigen Park, in dem gibt es eigene Gärten, und die Parkbäume sind ganz hoch und alt, und von vielen reichen die Äste bis zum Boden.« Sie hielt inne und holte tief Atem. »Aber sonst gibt es dort nichts«, schloss sie etwas plötzlich.

Mary hatte unwillkürlich zugehört. Das schien ja ganz anders zu sein als in Indien und Neues reizte sie stets. Doch hatte sie nicht die Absicht, Anteilnahme zu zeigen. Diese abweisende Art gehörte zu ihren unglückseligen, unangenehmen Eigenschaften.

»Na«, ermunterte die Frau sie. »Was hältst du davon?«

»Ich kann nichts dazu sagen. Solche Häuser kenne ich nicht.«

Mrs Medlock lachte auf. »Wenn man dich reden hört, glaubt man, du bist eine alte Frau. Interessiert dich das alles nicht?«

»Es ist doch gleichgültig, ob es mich interessiert oder nicht.«

»Da magst du Recht haben. Es ist wirklich egal. Keine Ahnung, warum er dich nach Misselthwaite nimmt. Vielleicht weil es das Einfachste ist für ihn. Eines weiß ich: Er wird sich nicht besonders um dich kümmern. Er kümmert sich nämlich nie besonders um jemanden. Weißt du«, fügte sie vertraulich hinzu, »er hat einen krummen Rücken. Deshalb ist er so komisch. Er war ein mürrischer Junge und dann ein mürrischer junger Mann und hat nie Freude an dem schönen Besitz und dem vielen Geld gehabt, wenigstens nicht, bis er heiratete.«

Mary hatte zwar keine Anteilnahme zeigen wollen, doch jetzt wandte sie der Frau doch die Augen zu. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, der Bucklige könnte verheiratet sein, und nun war sie ehrlich erstaunt. Mrs Medlock merkte es und fuhr lebhafter fort:

»Sie war bildhübsch, ein reizendes Ding, und wenn sie es verlangt hätte, würde er ihr den Mond vom Himmel geholt haben. Als sie starb ...«

Es gab Mary einen Ruck. »Ach, sie ist tot?«, rief sie aus.

»Ja, sie ist tot. Und das hat ihn noch verschrobener gemacht, jetzt liegt ihm an keinem Menschen mehr was. Er will auch keinen sehen. Die meiste Zeit ist er auf Reisen, doch wenn er kurz aufs Schloss kommt, dann schließt er sich im Westflügel ein, und niemand darf zu ihm außer Pitcher. Das ist sein Kammer-Diener, er ist schon ein alter Knabe, doch er hat ihn von klein auf betreut und kennt ihn in- und auswendig.«

Das klang alles wie aus einem Buch und es machte Mary nicht eben fröhlicher. Ein Haus mit hundert Zimmern, davon nur einige bewohnt, der Rest verschlossen, ein Haus am Rand des Moors - was immer das sein mochte, ein Moor? -, nun, lustig klang das nicht. Dazu noch ein Mann mit einem krummen Rücken, der sich einschließt. Mary presste die Lippen zusammen und starrte aus dem Fenster.

»Erwarte nicht, dass du ihn zu sehen kriegst, ich wette zehn zu eins, dass er dich nicht empfängt«, warnte die Haushälterin das Kind. »Und erwarte auch nicht, dass du im Schloss Leute findest, mit denen du dich unterhalten kannst. Du wirst immer allein sein und allein spielen müssen. Ich werde dir sagen, welche Zimmer du betreten darfst und welche nicht. Die Gärten sind groß genug und offen. Aber im Haus umherspazieren und überall die Nase reinstecken, das darfst du nicht. Dann wird Mr Craven sehr böse.«

»Ich habe nicht die Absicht, irgendwo die Nase hineinzustecken«, erwiderte Mary hochmütig. Sie wandte das säuerliche Gesicht wieder dem tropfnassen Fenster zu und schaute hinaus in Sturm und Regen, die nicht enden wollten. So lang und starr schaute sie, dass sich das viele Grau immer schwerer über sie legte, bis ihr schließlich die Augen zufielen.

Sie schlief lang, und als sie erwachte, hielt der Zug in einer Station, und Mrs Medlock hatte eben ein Lunchpaket gekauft. Beide verzehrten sie Huhn, kalten Braten und Butterbrot und tranken dazu heißen Tee. Der Regen strömte nun noch heftiger herab, auf dem Bahnhof war alles nass und alle Leute trugen nass glänzende Regenmäntel. Der Schaffner zündete in den Wagen die Lampen an. Mrs Medlocks Laune hatte sich durch den heißen Tee beträchtlich gebessert, sie aß auch ausgiebig von Huhn und Braten, die ihr schmeckten, und dann schlief sie ein. Mary saß aufrecht da, starrte sie an und beobachtete, wie die schauerliche Haube zur Seite rutschte und die Blumen sich umlegten. Vom gleichmäßigen Laut des Regens, der an die Scheibe peitschte, in den Schlaf gewiegt, fielen auch Mary die Augen wieder zu. Als sie erwachte, war es draußen ganz dunkel geworden. Der Zug hielt. Mrs Medlock schüttelte sie.

»Na, du hast aber gut geschlafen«, stellte sie fest. »Höchste Zeit, dass du die Augen aufmachst! Wir sind in der Station Thwaite. Es heißt aussteigen; dann kommt noch eine lange Kutschenfahrt.«

Mary stand auf, sie konnte kaum die Augen offen halten. Mrs Medlock suchte das Gepäck zusammen. Das kleine Mädchen machte keine Anstalten, ihr zu helfen, denn in Indien hatte man damals viele Dienstboten, die aufhoben, was zu Boden gefallen war, und die einem alles trugen. Also war es ihr selbstverständlich, bedient zu werden.

Der Bahnhof war klein und außer ihnen stieg niemand aus. Der Bahnhofsvorstand verwickelte Mrs Medlock in seinem rau, aber gutmütig klingenden Dialekt in ein Gespräch. Später erkannte Mary, dass die breite, gemächliche Aussprache typisch Yorkshire war und dass einfache Leute sich hier zu duzen pflegten.

»Aha, bist also zurück«, sagte er. »Und die Kleine hast mitgebracht. Draußen wartet euer Wagen.«

Vor dem kleinen Bahnhofsgebäude stand ein Brougham — eine geschlossene Pferdekutsche. Mary stellte fest, dass der Wagen elegant und die Livree des Dieners, der ihr einsteigen half, gut geschnitten war. Darüber trug er einen nass glänzenden Regenmantel und am wasserdichten Überzug seines Huts lief das Wasser herunter.

Er schloss die Wagentür, stieg zum Kutscher auf den Bock und Mary setzte sich in der bequemen Polsterung zurecht. Sie wollte gern etwas vom Weg und der seltsamen Gegend sehen, also blickte sie aus dem Fenster. Sie war an sich kein furchtsames Kind, und auch jetzt hatte sie keine Angst, dennoch hatte sie das Gefühl, in einem Haus am Rand eines Moors, in einem Haus mit hundert verschlossenen Türen, könne sich alles Mögliche ereignen.

»Was ist ein Moor?«, wandte sie sich an ihre Begleiterin.

»Schau aus dem Fenster, in zehn Minuten sind wir mitten drin«, gab die Frau zurück. »Wir fahren fünf Meilen durchs Missel-Moor, bevor wir das Schloss erreichen. Viel wirst du wegen der Dunkelheit zwar nicht sehen, aber ein bisschen wohl doch.«

Mary stellte keine weiteren Fragen, wartete geduldig in ihrer dunklen Ecke und hielt die Augen fest aufs Fenster gerichtet. Die Wagenlaternen erhellten immer ein Stück der Straße, und auch auf Dinge, an denen sie vorbeifuhren, erhaschte Mary einen Blick. Nach dem Bahnhof kamen sie durch ein winziges Dorf. Sie sah weiß gekalkte Häuschen und ein erleuchtetes Wirtshaus. Dann eine Kirche, ein Pfarrhaus und ein Häuschen mit einer Art Schaufenster, in dem Spielzeug, Naschwerk und anderes mehr wohl zum Verkauf ausgestellt waren. Endlich rollten sie auf der freien Straße dahin und Mary unterschied Hecken und Bäume.

Dann ging es wohl bergauf, denn die Pferde verlangsamten das Tempo, und ganz plötzlich gab es weder Hecken noch Bäume mehr. Eigentlich sah Mary nur mehr undurchdringliches Dunkel zu beiden Seiten. Sie beugte sich vor und drückte die Nase an die Scheibe. Da gab es einen heftigen Ruck.

»Aha! Jetzt haben wir das Moor erreicht!«, rief Mrs Medlock.

Das Licht der Wagenlaternen fiel auf eine ziemlich schlechte Straße, die durch Buschwerk und niedrigen Pflanzenwuchs in eine endlose, undurchsichtige Weite zu führen schien. Nun war auch Wind aufgekommen, und es rauschte ganz merkwürdig, dunkel, verhalten und wild.

»Ist das ..., aber das Meer ist das wohl nicht?«, fragte Mary.

»Nein. Es ist das Moor. Das Hochmoor von Yorkshire. Viele, viele Meilen von Ödland, auf dem nichts wächst als Dornbüsche, Heidekraut und Stechginster. Keine Lebewesen gibt es hier als Wildponys und Schafe.«

»Aber klingen tut es wie das Meer«, beharrte Mary.

»Das ist der Wind im Buschwerk«, erklärte Mrs Medlock. »Für mich ist es eine öde, schauerliche Gegend, aber es gibt eine Menge Leute, denen das Moor gefällt, besonders wenn die Heide blüht.«