Michael J. Sullivan

AN BORD
DER
SMARAGDSTURM

RIYRIA 4

Aus dem Englischen von
Wolfram Ströle

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

Die Figuren und die Handlung dieses Buches sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit existierenden Personen, lebenden oder toten,
sind rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.
 

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

 

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Rise of Empire/The Emerald Storm« im Verlag Orbit, Hachette Book Group, New York

© 2011 by Michael J. Sullivan

© Karte by Michael J. Sullivan

Für die deutsche Ausgabe

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg;

Illustration: Federico Musetti

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

 

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96015-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10835-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Robin, die Amilia Leben eingehaucht, Modina getröstet und

zwei weitere Menschen vor dem Tod bewahrt hat.

Für die Mitglieder von goodreads.com und die Bücherblogger-Community,

die beide die Serie unterstützt und andere eingeladen haben,

an dem Abenteuer teilzunehmen.

Und für die Mitglieder der Arlington Writers Group

für großzügige Unterstützung, Hilfe und Feedback.

1

Der Mörder

Merrick Marius legte einen Bolzen in die kleine Armbrust ein und schob sie unter die Falten seines Mantels. Dünne Faserwolken trieben vor die Mondsichel, und auf dem Hauptplatz wurde es dunkel. Merrick suchte die schmutzigen, von windschiefen Häusern gesäumten Gassen nach Passanten ab, doch sah er niemanden. Die Stadt war um diese Stunde menschenleer.

Rehagen mag ein elendes Nest sein, dachte er, aber wenigstens kann man hier gut arbeiten.

Die allgemeine Lage hatte sich seit dem kürzlichen Sieg der Nationalisten merklich verbessert. Die Wachen des Imperiums waren verschwunden, und mit ihnen auch die regelmäßigen Patrouillen. Nicht einmal eine funktionierende Polizei gab es, da die neue Bürgermeisterin sich weigerte, geeignete Männer und Soldaten zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, wie man so schön sagte, einzustellen. Stattdessen wollte sie sich mit Verkäufern, Schuhmachern und Milchbauern behelfen. Merrick hielt das für falsch, aber bei einer unerfahrenen Adligen musste man mit solchen Fehlern rechnen. Nicht dass er sich beschwert hätte – es erleichterte ihm die Arbeit.

Er bewunderte trotzdem, was Arista Essendon zustande gebracht hatte. In Melengar regierte ihr Bruder, König Alric, und als ledige Prinzessin verfügte sie über keine eigene Macht. Doch dann war sie hier aufgetaucht und hatte erfolgreich einen Aufstand angeführt. Zum Dank dafür hatten die überlebenden Bauern ihr die Stadtschlüssel überreicht. Sie beugten freiwillig das Knie vor der Prinzessin, obwohl sie Ausländerin und dazu noch königlichen Geblüts war. Genial. Er hätte es selbst nicht besser machen können.

Ein Lächeln umspielte Merricks Lippen. Er konnte die Kerze im zweiten Stock des Rathauses erkennen, die sogar um diese späte Stunde noch brannte. Hinter den Vorhängen bewegte sich Aristas Schatten. Sie war gerade von ihrem Schreibtisch aufgestanden.

Bald ist es soweit, dachte er.

Er bewegte die Finger, mit denen er die Armbrust hielt. Die Waffe war nur knapp zwei Fuß lang und der Bogen sogar noch kürzer. Entsprechend hatte sie auch nicht die Durchschlagskraft einer normalen Armbrust. Aber für seine Zwecke genügte sie. Sein Opfer trug keinen Panzer, und außerdem war der Bolzen auch gar nicht entscheidend. Die gezähnte Eisenspitze war mit Blatternsaft getränkt, einem Gift, das für einen Mord im Grunde gar nicht geeignet war, da es das Opfer weder schnell tötete noch lähmte. Der Tod trat zwar letztendlich ein, aber erst mit einer – wie Merrick fand – unprofessionellen Verzögerung. Er hatte das Gift noch nie verwendet und erst jüngst von seiner wichtigsten Eigenschaft erfahren – seine Wirkung konnte nicht durch Magie aufgehoben werden. Merrick wusste aus zuverlässiger Quelle, dass selbst die stärksten Zaubersprüche dagegen machtlos waren. In seinem Fall war das von ganz wesentlicher Bedeutung.

Eine zweite Person hatte das Amtszimmer betreten und Arista, die wieder an ihrem Schreibtisch saß, richtete sich abrupt auf. Offenbar handelte es sich um einen unerwarteten Besucher. Merrick wollte schon die Straße überqueren, um unter ihrem Fenster zu lauschen, da ging die Tür der Schenke hinter ihm auf. Zwei Gäste kamen heraus, und ihren unsicheren Schritten und grölenden Stimmen nach zu schließen, hatten sie an diesem Abend schon mehr als einen Humpen geleert.

»Wer lehnt da an dem Pfosten, Nestor?«, fragte der eine und zeigte in Merricks Richtung. Er war untersetzt und hatte eine wie eine Erdbeere geformte und ebenso rote Nase. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er Merrick an und machte schwankend einige Schritte auf ihn zu.

»Woher soll ich das wissen?«, sagte der andere. Er war dünn und groß, und auf seinem Schnurrbart glänzte noch der Schaum des Bieres.

»Was tut er da um diese Nachtzeit?«

»Woher soll ich das wissen, du Penner?«

»Frag ihn doch.«

Der große Mann trat vor. »He, was macht Ihr da? Haltet Ihr den Pfosten, damit das Dach nicht einstürzt?« Nestor bekam einen Lachanfall und musste sich mit den Händen auf die Knie stützen.

»Nein«, erwiderte Merrick vollkommen ernst. »Ich bin hier, um den, der mir die dümmste Frage stellt, zum Stadtnarren zu ernennen. Glückwunsch, Ihr habt gewonnen.«

Der Dünne schlug seinem Freund auf die Schulter. »Siehst du? Ich sage dir schon die ganze Nacht, wie lustig ich bin, und du hast kein einziges Mal gelacht. Jetzt bekomme ich eine neue Stelle angeboten … die wahrscheinlich auch noch besser bezahlt ist als deine.«

»Natürlich, du bist wahnsinnig lustig«, versicherte sein Gefährte ihm. Die beiden entfernten sich schwankend. »Du solltest dich am Theater bewerben. Dort wollen sie für die Bürgermeisterin den Thron von Melengar spielen. Wenn du erst auf der Bühne stehst, gibt’s bestimmt was zu lachen.«

Merrick verzog das Gesicht. Er hatte das Stück vor ein paar Jahren gesehen. Die beiden darin auftretenden Diebe hießen zwar anders, stellten aber ganz offensichtlich Royce Melborn und Hadrian Blackwater dar. Royce war damals, als sie beide als Killer für den Diamanten gearbeitet hatten, Merricks bester Freund gewesen. Doch diese Freundschaft war an jenem lauen Sommerabend, an dem Royce Jade getötet hatte, abrupt zu Ende gegangen.

Merrick war zwar nicht selbst dabei gewesen, hatte die Szene aber in Gedanken unzählige Male durchgespielt. Royce hatte noch nicht den Dolch mit der weißen Klinge besessen, sondern zwei lange, gekrümmte Messer mit schwarzen Griffen. Merrick wusste, wie Royce die beiden Messer einsetzte, und konnte sich vorstellen, wie er Jade mit beiden Messern zugleich lautlos getötet hatte. Dass jemand Royce eine Falle gestellt und dieser gar nicht gewusst hatte, wen er tötete, war Merrick egal. Er wusste nur eins: Die Frau, die er geliebt hatte, war tot, und sein bester Freund hatte sie getötet.

Fast zwanzig Jahre waren seitdem vergangen, aber noch immer verfolgte ihn die Erinnerung an Jade und Royce. Er konnte die beiden, die in seinem Gedächtnis untrennbar miteinander verknüpft waren, einfach nicht vergessen. Wenn er an sie dachte, empfand er Liebe und Hass zugleich, ein unentwirrbares Chaos von Gefühlen.

Stimmenlärm aus Aristas Zimmer holte ihn ruckartig in die Gegenwart zurück. Er packte seine Armbrust fester und überquerte die Straße.

»Hoheit?«, fragte der Offizier und betrat das Amtszimmer der Bürgermeisterin.

Prinzessin Arista blickte von ihrem unaufgeräumten Schreibtisch auf. Ihre Haare waren ungekämmt, ihre Augen von dunklen Ringen umgeben. Sie betrachtete den Besucher. Er trug einen schlecht sitzenden Brustpanzer und in seinem Blick lag unverhüllter Ärger.

Das wird schwierig, dachte sie.

»Ihr habt mich rufen lassen?«, fragte er mühsam beherrscht.

»Ja, Renquist«, sagte sie. Sie hatte kurz gebraucht, das Gesicht einzuordnen, weil sie zwei Tage lang kaum geschlafen hatte und sich nur noch mit Mühe konzentrieren konnte. »Ich habe Euch rufen lassen, damit …«

»Ihr könnt mich nicht einfach so rufen, Prinzessin. Ich muss eine Armee anführen und einen Krieg gewinnen. Ich habe keine Zeit zum Plaudern.«

»Plaudern? Ich hätte Euch nicht rufen lassen, wenn es nicht wichtig wäre.«

Renquist verdrehte die Augen.

»Ihr müsst die Armee aus der Stadt abziehen.«

»Wie bitte?«

»Es muss sein. Eure Leute machen Ärger. Ich bekomme täglich Berichte über Soldaten, die Kaufleute schikanieren und Sachen kaputtmachen. In einem Fall soll es sogar zu einer Vergewaltigung gekommen sein. Verlasst die Stadt. Draußen habt Ihr Eure Leute besser unter Kontrolle.«

»Meine Männer haben gegen die Imperialisten ihr Leben riskiert. Dafür kann diese erbärmliche Stadt ihnen wenigstens Kost und Logis zur Verfügung stellen. Aber jetzt soll ich ihnen auf Euren Wunsch beides wegnehmen?«

»Die Händler und Bauern wollen sie nicht mehr verköstigen, weil sie es nicht mehr können«, erklärte Arista. »Als die Imperialisten noch in der Stadt waren, haben sie sämtliche Vorräte beschlagnahmt. Die diesjährige Ernte wurde durch Regen und den Krieg größtenteils vernichtet. Die Stadt hat nicht einmal genug für ihre eigenen Bürger, von einer Armee ganz zu schweigen. Jetzt ist es Herbst, und bald wird es kalt. Die Menschen wissen nicht, wie sie den Winter überleben sollen, wenn tausend Soldaten ihre Läden und Bauernhöfe plündern. Wir sind Euch dankbar, dass Ihr geholfen habt, die Stadt zu erobern, aber wenn Ihr weiter hierbleibt, wird die Stadt, die Ihr unter Einsatz Eures Lebens befreit habt, zugrunde gehen. Ihr müsst fort.«

»Wenn ich meine Leute zwinge, in undichten Zelten und ohne ausreichende Verpflegung zu campieren, wird die Hälfte von ihnen desertieren. Schon jetzt reden viele davon, dass sie zur Erntezeit eigentlich nach Hause müssen. Und Ihr solltet eigentlich wissen, dass das Imperium die Stadt zurückerobern wird, wenn wir abziehen.«

Arista schüttelte den Kopf. »Als Degan Gaunt noch die Armee befehligt hat, haben die Soldaten monatelang unter solchen Bedingungen gelebt, ohne dass sie gemeutert hätten. Die Stadt bekommt ihnen nicht. Vielleicht solltet Ihr nach Aquesta weiterziehen.«

Renquists Miene versteinerte. »Gaunts Gefangennahme erschwert die Eroberung von Aquesta. Ich brauche mehr Informationen und warte außerdem noch auf Verstärkung und Nachschub aus Delgos. Ein Angriff auf die Hauptstadt lässt sich nicht mit einem Angriff auf Vernes oder Rehagen vergleichen. Die Imperialisten werden bis zum letzten Mann kämpfen, um die Imperatorin zu verteidigen. Nein, wir müssen hierbleiben, bis wir für den Kampf gerüstet sind.«

»Dann bleibt, aber nicht in der Stadt«, erwiderte Arista fest.

Renquist musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Und wenn ich mich weigere?«

Arista legte die Dokumente, die sie in der Hand hielt, auf den Tisch und schwieg.

»Meine Armee hat diese Stadt erobert«, fuhr Renquist schärfer fort. »Ihr seid Bürgermeisterin von meinen Gnaden. Ich nehme von Euch keine Befehle entgegen. Hier seid Ihr keine Prinzessin und ich bin nicht Euer Sklave. Ich bin meinen Leuten gegenüber verantwortlich, nicht der Stadt – und ganz sicher nicht Euch.«

Arista stand langsam auf.

»Ich bin die Bürgermeisterin dieser Stadt«, sagte sie in einem zunehmend herrischen Ton. »Die Bevölkerung hat mich dazu ernannt. Außerdem bin ich, ebenfalls durch Beschluss der Bevölkerung, die vorläufige Regentin von Rhenydd. Ihr seid mit Eurer Armee hier, weil ich es erlaube.«

»Ihr seid eine Prinzessin aus Melengar! Ich bin wenigstens in Rhenydd geboren.«

»Auch wenn Ihr mich persönlich nicht mögt, solltet Ihr wenigstens das Amt respektieren, das ich innehabe, und tun, was ich sage.«

»Und wenn nicht?«, fragte Renquist kalt.

Seine Aufsässigkeit überraschte Arista nicht. Renquist hatte als Berufssoldat unter König Urith und in der imperialen Armee gedient und sich nach dem Fall von Kilnar den aufständischen Nationalisten angeschlossen. Nach Gaunts Verschwinden war er zum Oberbefehlshaber der Armee aufgestiegen, ein Rang, von dem er bis dahin nicht einmal geträumt hatte. Und jetzt wurde ihm allmählich klar, was für eine Macht er in Händen hielt, und er fing an, eigene Wünsche zu entwickeln. Arista hatte gehofft, er würde sich als Geistesverwandter Emerys erweisen, aber er war kein Bürger mit der Gesinnung eines Fürsten. Wenn sie sich jetzt nicht gegen ihn durchsetzte, putschte er womöglich noch.

»Die Stadt hat sich eben erst von einem Tyrannen befreit und ich werde nicht zulassen, dass sie gleich unter das Joch des nächsten gerät. Wenn Ihr mir nicht gehorcht, lasse ich Euch als Oberbefehlshaber ablösen.«

»Und wie wollt Ihr das anstellen?«

Arista lächelte ein wenig. »Denkt doch nach … Ihr kommt bestimmt drauf.«

Renquist sah sie unverwandt an und da begriff er plötzlich, was sie meinte, und zuckte zusammen.

Arista nickte. »Die Gerüchte über mich stimmen. Und jetzt verlasst mit Eurer Armee die Stadt, damit ich mich nicht genötigt sehe, es Euch zu beweisen. Ihr habt einen Tag Zeit. Kundschafter haben im Norden der Stadt ein geeignetes Tal gefunden. Ich schlage vor, Ihr lagert an der Stelle, an der die Straße den Fluss quert. Dort seid Ihr weit genug von uns entfernt, dass es keinen Streit mehr gibt. Eure Leute werden das Gefühl haben, dass sie bereits nach Norden, in Richtung Aquesta unterwegs sind, und das wird sie motivieren.«

»Erklärt mir nicht, wie ich meine Leute zu führen habe«, erwiderte Renquist. Er klang allerdings nicht mehr so laut und selbstbewusst wie zuvor.

»Entschuldigt«, sagte Arista und neigte den Kopf. »Das war nur ein Vorschlag. Der Befehl, die Stadt zu verlassen, ist dagegen keiner. Guten Abend.«

Renquist zögerte. Er atmete mühsam und hatte die Fäuste geballt.

»Ich sagte, guten Abend.«

Renquist murmelte eine Verwünschung, ging aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Arista sank erschöpft auf ihren Stuhl.

Warum muss alles immer so anstrengend sein?

Alle wollten etwas von ihr: Essen, ein Dach über dem Kopf oder die Zusicherung, dass alles gut werden würde. Für die Einwohner der Stadt verkörperte sie die Hoffnung, während sie selbst davon immer weniger besaß. Angesichts der endlosen Probleme fühlte sie sich trotz der vielen Menschen in ihrer Umgebung merkwürdig allein.

Sie legte den Kopf auf den Schreibtisch und schloss die Augen.

Nur ein kurzes Nickerchen, dachte sie. Dann überlege ich, wie wir dem Getreidemangel abhelfen können, und lese die Berichte über die Misshandlung von Gefangenen.

Seit sie Bürgermeisterin geworden war, musste Arista sich um hundert Probleme kümmern, etwa wer die Felder von Bauern abernten durfte, die im Kampf gefallen waren. Angesichts der Nahrungsmittelknappheit und des bevorstehenden kalten Herbstwetters musste sie schnell Lösungen finden. Wenigstens lenkten diese Probleme sie von ihren eigenen ab. Wie alle Bürger wurde sie von albtraumhaften Erinnerungen an den Kampf um die Stadt verfolgt. Sie hatte keine sichtbaren Verletzungen davongetragen – ihr Schmerz rührte von einem Bild, einem Gesicht, das sie nachts gesehen hatte. Die Erinnerung daran schmerzte so sehr wie der Stich eines Messers in die Brust. Die Wunde würde wohl nie ganz heilen, sie würde für den Rest ihres Lebens eine entstellende Narbe zurückbehalten.

Sie schlief ein, und die in den wachen Stunden unterdrückten Gedanken an Emery fielen über sie her. Wie immer in diesen Träumen saß er im Mondlicht am Fußende ihres Bettes. Mit einem Lächeln auf den Lippen beugte er sich vor, und sie atmete in Erwartung des Kusses schneller. Doch dann zuckte Emery zusammen und versteifte sich. Ein Blutstropfen lief aus seinem Mundwinkel, und aus seiner Brust ragte der Bolzen einer Armbrust. Arista wollte schreien, aber kein Laut entwich ihren Lippen. Der Traum war immer derselbe – doch diesmal sprach Emery.

»Es ist keine Zeit mehr«, sagte er und sah sie eindringlich an. »Jetzt liegt es an Euch.«

Sie mühte sich ab, zu reden, wollte ihn fragen, was er damit meinte, da …

»Hoheit.« Eine sanfte Hand hatte sie an der Schulter gefasst.

Arista schlug die Augen auf. Vor ihr stand Orrin Flatly, der Stadtschreiber, der früher über die Bestrafung der Rebellen auf dem Hauptplatz Buch geführt hatte. Er hatte sich ihr freiwillig als Sekretär angeboten und sie hatte zuerst gezögert. Wie hatte er eine so schreckliche Tätigkeit so emotionslos verrichten können? Doch Orrin hatte sich als treuer, umsichtiger Mitarbeiter herausgestellt. Sein ausdrucksloses Gesicht beim Aufwachen vor sich zu sehen war trotzdem gewöhnungsbedürftig.

»Was ist?« Sie war sicher, geweint zu haben, und fühlte nach den Tränen auf ihren Wangen.

»Jemand will Euch sprechen. Ich habe ihm erklärt, Ihr wärt beschäftigt, aber er lässt sich nicht abwimmeln. Er ist ziemlich …« Orrin machte eine unbehagliche Pause. »… aufdringlich.«

»Wie heißt er?«

»Das wollte er mir nicht sagen, er meinte allerdings, Ihr würdet ihn kennen und sein Anliegen sei von größter Wichtigkeit. Er müsse unbedingt sofort mit Euch sprechen.«

»Na gut.« Arista nickte benommen. »Ich brauche noch kurz, dann kannst du ihn hereinschicken.«

Orrin ging und sie strich rasch über die Falten ihres Kleides, um nicht ganz so verschlafen auszusehen. Da sie schon länger unter einfachen Leuten lebte, waren ihre Anforderungen bezüglich ihrer äußeren Erscheinung bereits erschreckend tief gesunken. Sie überprüfte ihre Frisur im Spiegel und fragte sich, wohin die Prinzessin von Melengar verschwunden war und ob sie je zurückkehren würde.

Während sie sich noch betrachtete, ging die Tür auf. »Was kann ich …«

In der Tür stand Esrahaddon. Er trug dasselbe fließende Gewand, über dessen Farbe sie sich nie sicher war. Seine Arme verschwanden wie immer unter den schillernden Falten. Sein Bart war länger geworden und grau meliert wie seine Haare, was ihn älter aussehen ließ als sie ihn in Erinnerung hatte. Sie hatte den Zauberer seit jenem Vormittag am Ufer des Nidwalden nicht mehr gesehen.

»Was wollt Ihr hier?«, fragte sie eisig.

»Auch ich freue mich, Euch zu sehen, Hoheit.«

Orrin hatte die Tür offen stehen gelassen, nachdem er den Zauberer hereingeführt hatte. Auf einen Blick Esrahaddons schloss sie sich lautlos. »Wie ich sehe, kommt Ihr immer besser ohne Hände zurecht«, sagte Arista.

»Man passt sich den Gegebenheiten an«, erwiderte der Zauberer und setzte sich ihr gegenüber.

»Ich habe Euch nicht erlaubt, Euch zu setzen.«

»Ich habe auch nicht darum gebeten.«

Arista spürte, wie ihr Stuhl sich von hinten gegen ihre Kniekehlen schob, und setzte sich unsanft.

»Wie macht Ihr das ohne Hände und Worte?«, fragte sie, von Neugier überwältigt.

»Der Unterricht ist vorbei, zumindest habt Ihr das bei unserer letzten Begegnung erklärt. Schon vergessen?«

Arista presste die Lippen zusammen. »Nein. Ich dachte außerdem, ich hätte klargestellt, dass ich Euch nie wiedersehen will.«

»Stimmt, das habt Ihr, aber ich brauche Eure Hilfe, um den Erben zu finden.«

»Ihr habt ihn wieder verloren, ja?«

Esrahaddon ging nicht darauf ein. »Wir können ihn mit einem einfachen Ortungszauber finden.«

»Eure Spielchen interessieren mich nicht. Ich habe eine Stadt zu verwalten.«

»Wir müssen den Zauber sofort durchführen, am liebsten gleich hier. Ich habe schon eine Vorstellung, um wen es sich handelt, aber die Zeit drängt und ich darf mir keinen Fehler erlauben. Räumt also die Dokumente vom Schreibtisch, dann können wir anfangen.«

»Ich denke nicht daran.«

»Arista, Ihr wisst doch, dass ich es nicht allein kann. Ich brauche Eure Hilfe.«

Die Prinzessin sah ihn wütend an. »Daran hättet Ihr denken sollen, bevor Ihr den Mord an meinem Vater eingefädelt habt. Ich sollte Euch hinrichten lassen.«

»Ihr versteht nicht. Es ist wichtig. Das Leben vieler tausend Menschen steht auf dem Spiel. Es geht um etwas Größeres als das, was Ihr verloren habt, etwas Größeres als den Tod von hundert Königen und tausend Vätern. Ihr seid nicht die Einzige, die Schlimmes erlebt hat. Glaubt Ihr, ich habe gerne tausend Jahre lang im Gefängnis geschmachtet? Zugegeben, ich habe Euch und Euren Vater für meine Flucht benutzt. Aber ich musste es tun – für etwas, das wichtiger ist als das Leben eines Einzelnen. Und jetzt hört auf mit dem Blödsinn. Die Zeit drängt!«

»Ich bin vollkommen zufrieden damit, Euch nicht zu helfen.« Arista lächelte. »Meinen Vater kann ich nicht wieder zum Leben erwecken, umbringen will ich Euch nicht und einsperren lassen würdet Ihr Euch nicht. Wie schön, dass Ihr mich braucht – dann kann ich mich für das, was Ihr mir genommen habt, revanchieren.«

Esrahaddon seufzte und schüttelte den Kopf. »Ihr hasst mich doch gar nicht wirklich, Arista. Ihr leidet unter Schuldgefühlen, weil Ihr wisst, dass Ihr mit dem Tod Eures Vaters genauso viel zu tun hattet wie ich. Aber wirklich schuld ist die Kirche. Ihre Vertreter haben alles eingefädelt, in der Hoffnung, dass ich sie zum Erben führe. Sie haben Euch zum Gutaria-Gefängnis gelockt, weil sie wussten, dass ich Euch benutzen würde.«

»Verschwindet!« Arista stand auf. Ihr Gesicht war rot angelaufen. »Orrin! Wache!«

Der Schreiber zog an der Tür. Sie ging auch einen Spalt auf, schloss sich aber auf einen kurzen Blick Esrahaddons hin wieder. »Ich hole Hilfe, Hoheit«, rief Orrin hinter der Tür.

»Ihr müsst Euch selbst vergeben, Arista.«

»Verschwindet!«, schrie Arista. Sie machte eine Handbewegung und die Tür flog so heftig auf, dass sie fast aus den Angeln gerissen wurde.

Esrahaddon stand auf und ging zur Tür. »Begreift doch, dass Ihr Euren Vater genauso wenig getötet habt wie ich.«

Er ging, und Arista schlug die Tür zu und setzte sich mit dem Rücken dagegen auf den Boden. Es war nicht meine Schuld!, hätte sie am liebsten geschrien, obwohl sie wusste, dass das eine Lüge war. Seit dem Tod ihres Vaters wich sie der Wahrheit aus, aber jetzt ging das nicht mehr. Auch wenn es ihr schwerfiel, es zuzugeben, Esrahaddon hatte recht.

Esrahaddon trat auf den dunklen Hauptplatz von Rehagen hinaus. Mit einem Seufzer blickte er zurück auf das Rathaus. Er mochte Arista aufrichtig und hätte ihr am liebsten alles erklärt, aber es war zu riskant. Obwohl er nicht mehr in Gutaria eingesperrt war, fürchtete er, dass die Kirche die Gespräche, die er führte, weiterhin belauschte – nicht jedes Wort wie im Gutaria-Gefängnis, aber der mächtige Zauberer Mawyndulë konnte über gewaltige Entfernungen hören. Deshalb musste Esrahaddon sorgfältig abwägen, was er sagte. Ein einziger Fehler, die versehentliche Nennung eines Namens, und alles war umsonst.

Die Zeit drängte, aber wenigstens wusste er jetzt, dass Arista tatsächlich ein Cenzar geworden war. Er hatte den Samen gesät und dieser war offenbar auf fruchtbaren Boden gefallen. Geahnt hatte er es bereits am Morgen des Kampfes um Rehagen, als Hadrian davon gesprochen hatte, dass der Regen nicht aufhören würde. Arista hatte den Zauber bewirkt, der entscheidend zum Sieg der Nationalisten beigetragen hatte. Seitdem hatte er Gerüchte gehört, in denen von übernatürlichen Kräften der neuen Bürgermeisterin die Rede war. Doch erst als Arista mit einer einfachen Handbewegung seinen Schließzauber an der Tür gebrochen hatte, hatte er sicher gewusst, dass sie jetzt die Kunst des Zauberns beherrschte.

Von Arcadius und ihm selbst abgesehen, lebten keine menschlichen Zauberer mehr, und sie waren beide ziemlich jämmerliche Vertreter dieser Kunst. Arcadius war nur ein alter Möchtegernzauberer, ein faquin, wie die Cenzar dazu zu sagen pflegten. Das elbische Wort bezeichnete einen Dilettanten. Ein faquin war nicht in der Lage, sich von der stofflichen Alchemie zu der auf geistiger Energie basierenden wahren Magie zu erheben.

Sich selbst hielt Esrahaddon keineswegs für einen besseren Zauberer. Ohne seine Hände war er auch als Zauberer ein Krüppel. Doch mit Aristas Eintritt in die Welt der Magie hatte die Menschheit wieder eine Meisterin ihres Fachs. Noch war sie ein Neuling, nur ein Kind, aber ihre Fähigkeiten würden mit der Zeit wachsen. Eines Tages würde sie mächtiger sein als jeder König, Imperator, Soldat und Priester.

Zu wissen, dass Arista die ganze Menschheit beherrschen konnte, bedeutete andererseits auch eine Gefahr. Zu Zeiten des alten Imperiums hatte es eine Absicherung dagegen gegeben. Der Rat der Cenzar hatte die Ausübung der Kunst überwacht und sichergestellt, dass sie angemessen verwendet wurde. Doch den Rat gab es nicht mehr. Die anderen Zauberer, Esrahaddons Brüder, und auch die geringeren Magier waren tot. Er selbst konnte die Kunst kaum noch ausüben. Die Kirche glaubte deshalb, die Bedrohung durch die Cenzar ein für alle Mal ausgemerzt zu haben. Doch nun war Arista aufgetaucht. Bestimmt wusste niemand, was für eine Gefahr diese so harmlos wirkende Prinzessin darstellte.

Esrahaddon brauchte sie, wie auch sie ihn brauchte, obwohl sie es noch nicht wusste. Er konnte ihr erklären, was es mit der Zauberei auf sich hatte. Die Cenzar waren die Hüter, Bewahrer und Verteidiger dieser Kunst gewesen. Sie kannten Geheimnisse, die die Menschen schützen konnten, wenn das Uli Vermar endete.

Als Esrahaddon seinerzeit vom Tag der Rechenschaft erfahren hatte, war er erleichtert gewesen, dass er nichts damit zu tun haben würde, weil bis dahin noch viele Jahrhunderte vergehen mussten. Ironischerweise reichte die Spanne seines Lebens aufgrund seiner Haft im zeitlosen Kerker von Gutaria jetzt an diesen Tag heran. Was einst in der unerreichbar fernen Zukunft gelegen hatte, war inzwischen bis auf wenige Monate herangerückt. Er lachte bitter.

Esrahaddon ging zur Mitte des Platzes und setzte sich, um nachzudenken. Sein Plan hing von vielen Unwägbarkeiten ab, aber alles war vorbereitet. Arista brauchte nur noch ein wenig Zeit, um ihre Schuldgefühle zu überwinden, dann würde sie einlenken. Hadrian wusste, dass er der Leibwächter des Erben war, und hatte sich dieser Aufgabe als würdig erwiesen. Dann gab es noch den Erben selbst, eine ziemliche Überraschung, zugegeben, aber irgendwie auch passend.

Doch, alles ist auf dem besten Weg, dachte er. Am Schluss fügt sich immer alles zueinander, zumindest hat Yolric das immer gesagt.

Yolric war der weiseste Zauberer gewesen und hatte leidenschaftlich an die Fähigkeit der Welt geglaubt, sich zu verbessern. Esrahaddons größte Angst beim Untergang des alten Imperiums war gewesen, dass Yolric sich mit Venlin verbünden könnte. Dass der Nachfahre des Imperators noch lebte, bewies allerdings, dass Esrahaddons Meister dem Patriarchen nicht geholfen hatte, den Sohn des Imperators zu finden, als dieser sich versteckt hatte. Esrahaddon lächelte wehmütig. Er vermisste den alten Mann. Bestimmt war Yolric längst tot. Er war schon damals, in Esrahaddons Kindheit, uralt gewesen.

Esrahaddon streckte die Beine und zwang sich dazu, ganz ruhig zu überlegen. Eigentlich hätte er ausruhen müssen, aber das konnte er schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Ruhe fanden nur Menschen mit einem reinen Gewissen, und an seinen Händen klebte zu viel unschuldiges Blut. So viele Menschen waren gestorben! Allein deshalb durfte er jetzt nicht scheitern.

Mit der Erinnerung an Yolric kamen weitere Erinnerungen aus seiner Vergangenheit, und die Gesichter längst verstorbener Menschen tauchten vor ihm auf: seiner Angehörigen, seiner Freunde und der Frau, die er einst zu heiraten gehofft hatte. Sein früheres Leben kam ihm wie ein Traum vor, aber vielleicht war ja sein gegenwärtiger Zustand der eigentliche Albtraum, und er darin gefangen. Vielleicht wachte er eines Tages auf und war wieder im Palast bei Nevrik, Jerish und seiner geliebten Elinya.

Ob sie die Zerstörung der Stadt überlebt hat?

Er wollte es glauben, auch wenn es noch so unwahrscheinlich schien. Die Vorstellung, sie könnte dem Untergang entronnen sein, gefiel ihm. Richtig trösten konnte sie ihn natürlich auch nicht.

Wenn sie nun geglaubt hat, was man danach über mich sagte? Hat sie jemand anderen geheiratet, weil sie sich von mir betrogen fühlte? Ist sie unversöhnt als alte Frau gestorben?

Nein, so etwas durfte er nicht denken. Was er zu Arista gesagt hatte, stimmte: Verglichen mit dem großen Ziel waren ihre persönlichen Opfer unbedeutend. Aber jetzt musste er schlafen. Er stand auf und machte sich auf den Rückweg zu seiner Herberge. Eine Wolke schob sich vor den Mond und es wurde noch dunkler. Im selben Augenblick spürte er stechende Schmerzen im Rücken. Er schrie und fiel auf die Knie. Sein Gewand fühlte sich nass an und klebte an seinem Rücken.

Ich blute.

»Venderia«, flüsterte er. Augenblicklich begann sein Rock zu leuchten und auf dem Platz wurde es hell. Am Rand des hellen Scheins sah er einen Mann in einem schwarzen Mantel stehen. Im ersten Moment hielt er ihn für Royce. Er strahlte dieselbe Gleichgültigkeit aus, aber er war größer und hatte breitere Schultern.

Esrahaddon stieß eine Verwünschung aus, und die vier Pfosten, die das Vordach über dem Mann trugen, explodierten. Das schwere Dach stürzte im selben Moment ein, in dem der Mann darunter hervortrat. Das Getöse der herabstürzenden Balken ließ ihn vollkommen unberührt. Nur sein Mantel blähte sich ein wenig.

Schweiß rann Esrahaddon über das Gesicht und sein Rücken schmerzte unerträglich. Mühsam richtete er sich auf und blickte dem Mann entgegen, der ganz ruhig näherkam. Er nahm alle Kraft zusammen und flüsterte erneut. Die Erde, die den Platz bedeckte, wurde von einer heftigen Bö aufgewirbelt und dem Mann ins Gesicht geblasen. Sie hüllte ihn ein, und er ging in Flammen auf. Esrahaddon spürte die Hitze des Feuers, das den Platz in gelbes Licht tauchte. Doch als es schließlich erlosch, ging der Mann einfach weiter. Ihm war nichts passiert.

Vor dem Zauberer blieb er stehen und betrachtete ihn neugierig – wie etwa ein Kind einen seltsamen Käfer betrachtet, bevor es ihn zerquetscht. Stumm zog er einen silbernen Anhänger hervor, der ihm an einer Kette um den Hals hing.

»Kennt Ihr den?«, fragte er. »Angeblich habt Ihr ihn gemacht. Ich fürchte nur, der Erbe wird ihn nicht mehr brauchen.«

Esrahaddon starrte ihn entgeistert an.

»Wenn Ihr Hände hättet, könntet Ihr ihn mir vom Hals reißen. Dann hätte ich wirklich ein Problem, stimmt’s?«

Der Lärm des eingestürzten Vordachs und das helle Feuer hatten die Bewohner der benachbarten Häuser geweckt. In Fenstern wurden Kerzen angezündet und verschiedene Türen gingen auf.

»Ich soll Euch von den Regenten ausrichten, dass Eure Dienste nicht länger benötigt werden.« Der Mann in dem schwarzen Mantel lächelte kalt. Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und verschwand in dem Gewirr der dunklen Gassen.

Esrahaddon war verwirrt. Der Bolzen oder Pfeil, der in seinem Rücken steckte, fühlte sich nicht tödlich an. Er konnte ohne Mühe atmen, demnach waren weder seine Lungen noch sein Herz verletzt. Zwar blutete er, aber nicht heftig. Die Schmerzen waren stark, ein innerliches Brennen, aber er spürte seine Beine und konnte noch gehen.

Warum hat der Mann mich nicht getötet? Warum hat er – Gift!

Esrahaddon konzentrierte sich und murmelte einen Spruch, doch vergeblich. Er fuchtelte mit den Armstümpfen, um einen stärkeren Zauber zustande zu bringen, doch wieder vergeblich. Er spürte, wie das Gift sich langsam ausbreitete. Ohne seine Hände war er ihm hilflos ausgeliefert. Wer immer der Mann in dem schwarzen Mantel war, er hatte genau gewusst, was er tat.

Esrahaddon blickte zum Rathaus zurück. Er durfte nicht sterben – noch nicht.

Der Lärm draußen weckte Aristas Aufmerksamkeit. Sie saß noch immer an die Tür gelehnt auf dem Boden, als die Stimmen und Rufe vom Platz hereindrangen. Sie wusste nicht, was passiert war, doch dann rief jemand: »Er stirbt!« Sie sprang auf.

Um die Treppe vor dem Rathaus hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Aus ihrer Mitte drang ein gespenstisch pulsierender Schein, als sei ein Stück vom Mond auf dem Platz gelandet. Beim Näherkommen sah Arista den Zauberer. Das Licht ging von seinem Gewand aus und wurde im Rhythmus seiner langsamen, mühsamen Atemzüge heller, schwächer und wieder heller. Sein fahler Schein fiel auf eine Blutlache. Esrahaddon lag auf dem Rücken. Sein Gesicht war gespenstisch bleich, geradezu durchscheinend, seine Lippen dunkelblau. Neben ihm lag ein Armbrustbolzen. Die Ärmel seines Rocks waren zurückgerutscht.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Wir wissen es nicht, Hoheit«, antwortete einer der Umstehenden. »Er hat nach Euch verlangt.«

»Holt Gerand, den Arzt«, befahl sie. Dann kniete sie sich neben ihn und zog behutsam die Ärmel über seine Arme.

»Zu spät«, flüsterte Esrahaddon und sah sie unverwandt an. »Ich kann mir nicht helfen … Gift … Arista, hört mir zu … die Zeit drängt.« Er sprach hastig und holte zwischen den Wörtern mühsam Luft. Auf seinem Gesicht mischte sich Entschlossenheit mit Verzweiflung, wie bei einem Ertrinkenden, der mit den Händen nach einem Halt sucht. »Übernehmt meinen Auftrag … sucht …« Der Zauberer zögerte und ließ den Blick über die Gesichter der Zuschauer wandern. Dann bedeutete er Arista, sich über ihn zu beugen.

Sie hielt das Ohr dicht an seinen Mund und er fuhr fort. »Sucht den Erben und nehmt ihn in Eure Obhut … ohne den Erben ist alles verloren.« Er hustete und kämpfte um Luft. »Sucht das Horn von Gylindora … dazu braucht Ihr den Erben … es ist bei Novron in Percepliquis vergraben …« Wieder holte er rasselnd Luft. »Beeilt Euch … zum Winterfest endet das Uli Vermar …« Wieder ein Atemzug. »Sie werden kommen … ohne das Horn müssen alle sterben.« Noch ein Atemzug. »Nur Ihr wisst jetzt … könnt retten … der Patriarch … ist derselbe …« Der nächste Atemzug blieb aus, die Stimme verstummte endgültig. Der pulsierende Schein des Gewands erlosch, und auf dem Platz kehrte wieder Dunkelheit ein.

Stinkender, gräulich-weißer Rauch stieg vor Aristas Augen von den blonden Haaren auf. Nicht der leiseste Lufthauch war zu spüren, trotzdem zog der Rauch zielsicher zur Nordwand ihres Amtszimmers und löste sich dort auf.

Für einen Ortungszauber musste man etwas von der gesuchten Person verbrennen. Haare waren eine naheliegende Wahl, es funktionierte aber auch mit Fingernägeln oder sogar Haut. Am Tag nach Esrahaddons Tod hatte Arista sich die gesamte persönliche Habe bringen lassen, die Degan Gaunt, der vermisste Anführer der Armee der Nationalisten, zurückgelassen hatte. Parker hatte ein abgetragenes, schmutziges Paar Stiefel geschickt, ein zerknittertes Hemd und einen wollenen Mantel. Die Stiefel hatten nichts gebracht, Hemd und Mantel dafür umso mehr. Arista hatte einige Dutzend blonde Haare und hunderte Hautschuppen vom Stoff abgezupft und sorgfältig in einem Samtbeutel gesammelt. Zugleich hatte sie sich eingeredet, dass sie ja nur wissen wollte, ob der Zauber funktionierte. Auf keinen Fall wollte sie bei einem Erfolg mit der tatsächlichen Suche beginnen.

Jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher. Für Esrahaddon hatte der Erbe alles bedeutet. Seit seiner Flucht aus Gutaria hatte er sein Leben der Suche nach dem Nachkommen des Imperators gewidmet und Arista in Avempartha sogar gezwungen, ihm bei einem Zauber zu helfen, durch den der Erbe und sein Leibwächter identifiziert werden sollten. Den Leibwächter hatte Arista sofort erkannt: Es war Hadrian. Den Erben dagegen hatte sie noch nie gesehen. Das Bild eines Mannes mittleren Alters mit blonden Haaren war für sie nur ein unbekanntes Gesicht gewesen, bis sie nach dem Kampf um Rehagen erfahren hatte, dass es Degan Gaunt zeigte, den Anführer der Nationalisten. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass die Schergen des Neuen Imperiums Gaunt hatten verschwinden lassen. Der Farbe des Rauchs nach war er noch am Leben und wurde einige Tagesreisen entfernt irgendwo im Norden gefangen gehalten. Arista starrte die Wand an, an der der Rauch verschwunden war.

»Das ist verrückt«, sagte sie laut zu dem leeren Zimmer. Ich kann mich doch nicht auf die Suche nach dem Erben machen. Das Imperium hat ihn gefangen genommen und wird mich töten, wenn ich dort auftauche. Außerdem werde ich hier gebraucht. Warum sollte ich Esrahaddons fixe Idee ernst nehmen?

Wenn sie wollte, konnte sie sich zur Hochkönigin von Rhenydd erklären. Die Bevölkerung würde sie feiern. Sie würde über ein Königreich herrschen, das größer war als Melengar, und reich sein und von allen geliebt. Nach ihrem Tod würde ihr Name in Geschichtsbüchern und Liedern weiterleben und ihr Bildnis auf Statuen überdauern.

Ihr Blick fiel auf das ordentlich zusammengefaltete Gewand auf ihrem Schreibtisch. Es war nach Esrahaddons Beerdigung zu ihr gebracht worden. Der gesamte weltliche Besitz des Zauberers bestand nur aus diesem Stück Stoff. Er hatte seine ganze Kraft ausschließlich in den Dienst seiner Suche gestellt und war nach neunhundert Jahren gestorben, ohne sein Ziel erreicht zu haben. Die Frage nach den Gründen seiner Suche ließ Arista nicht los. Treue gegenüber dem Nachfahren eines minderjährigen Herrschers von vor tausend Jahren konnte seine Besessenheit nicht allein erklären – es musste noch einen anderen Grund geben.

»Sie werden kommen.«

Was hat er damit gemeint? Wer wird kommen?

»Ohne das Horn müssen alle sterben.«

Alle? Wer ist damit gemeint? Doch bestimmt nicht alle Menschen, also wirklich alle – oder doch? Vielleicht hat er nur wirres Zeug gefaselt. Das tun Menschen doch, wenn sie sterben. Oder?

Seine Augen fielen ihr ein, die sie bis zuletzt klar und eindringlich angeblickt hatten, wie die von … Emery.

»Es ist keine Zeit mehr. Jetzt liegt es an Euch.«

»Nur Ihr wisst jetzt … könnt retten …«

Sie hatte nicht richtig hingehört, als Esrahaddon das gesagt hatte, aber jetzt hörte sie nichts anderes mehr. Unablässig musst sie daran denken, dass der Zauberer ihr mit seinen letzten Atemzügen die Geheimnisse hatte anvertrauen wollen, die er seit tausend Jahren mit sich herumtrug. Ihr war, als hätte er ihr unendlich kostbare, funkelnde Edelsteine geschenkt, die ohne sein Wissen nur gewöhnliche Kiesel waren. Sie konnte nicht enträtseln, was er ihr hatte sagen wollen. Dafür wusste sie genau, was getan werden musste. Sie musste aufbrechen. Wenn sie erst wusste, wo Gaunt gefangen gehalten wurde, konnte sie Hadrian Bescheid geben und ihm den Rest überlassen. Schließlich war er der Leibwächter, also musste er sich um Gaunt kümmern.

Arista steckte den einzigen Besitz, der ihr etwas bedeutete, eine Haarbürste mit Perlmuttgriff aus Tur Del Fur, in einen Beutel. Dann schrieb sie hastig einen Brief, in dem sie ihren Rücktritt erklärte, und ließ ihn auf dem Schreibtisch liegen. An der Tür blieb sie stehen und blickte noch einmal zurück. Auf dem Schreibtisch lag noch das Gewand des alten Zauberers. Irgendwie erschien es ihr angemessen, geradezu notwendig, es mitzunehmen. Sie ging noch einmal zurück und hielt es hoch. Grau und glanzlos hing es herunter. Obwohl niemand es gewaschen hatte, sah sie keinerlei Blutflecken. Noch überraschender war, dass der Bolzen offenbar kein Loch in den Stoff gerissen hatte. Esrahaddon war selbst nach seinem Tod noch rätselhaft. Sie zog das Gewand über ihr Kleid, und zu ihrem Erstaunen passte es wie angegossen – obwohl Esrahaddon über einen Fuß größer gewesen war als sie. Sie verließ das Zimmer und trat in die Nacht hinaus.

Draußen war es herbstlich kalt. Arista zog das Gewand fester um sich und setzte die Kapuze auf. Der Umhang fühlte sich anders an als alle Stoffe, die sie kannte – leicht, weich und zugleich wunderbar warm und behaglich. Und er duftete angenehm nach Salifan.

Sie überlegte, ob sie ein Pferd aus dem Stall nehmen sollte. Sicher hätte niemand etwas dagegen gehabt, aber ihr Ziel konnte nicht allzu weit entfernt sein, und ein langer Fußmarsch kam ihr gelegen. Esrahaddon hatte zwar gesagt, die Zeit dränge, aber es war unklug, sich Hals über Kopf ins Ungewisse zu stürzen. Ein Fußmarsch schien die beste Art, sich dem Rätsel zu nähern. So hatte sie Zeit zum Nachdenken. Wahrscheinlich hätte Esrahaddon dieselbe Art des Reisens gewählt. Sie fühlte sich jedenfalls richtig an.

Am Brunnen des Platzes füllte Arista einen Trinkschlauch. Außerdem packte sie ein wenig Proviant ein. Die Bauern, die die Soldaten nicht versorgen wollten, legten immer kleine Gaben auf die Rathaustreppe. Das meiste verschenkte Arista an die Armen der Stadt, was dazu geführt hatte, dass immer mehr Gaben auf der Treppe lagen. Jetzt versorgte sie sich mit etwas Käse, zwei Laib Brot, Äpfeln, Zwiebeln und Rüben. Nicht gerade ein fürstliches Mahl, aber genug zum Überleben.

Sie hängte sich den vollen Trinkschlauch über die eine und das Bündel mit dem Proviant über die andere Schulter und brach zum nördlichen Stadttor auf. Ihre Schritte und die Geräusche der Nacht klangen laut in ihren Ohren. Wie gefährlich, ja geradezu tollkühn war es doch gewesen, Medford zu verlassen, auch wenn Royce und Hadrian sie begleitet hatten. Und jetzt, nur wenige Wochen später, war sie sogar ganz allein mitten in der Nacht unterwegs. Sie wusste, dass ihr Weg sie auf imperiales Territorium führen würde. Allein erregte sie hoffentlich weniger Aufmerksamkeit.

»Hoheit!«, rief die Wache am Nordtor überrascht, als sie sich näherte.

Sie lächelte freundlich. »Würdet Ihr bitte das Tor öffnen?«

»Natürlich, Hoheit, aber warum? Wohin geht Ihr?«

»Nur spazieren«, erklärte sie.

Der Mann starrte sie entgeistert an. »Wirklich? Ich meine …« Er blickte über ihre Schulter. »Ganz allein?«

Arista nickte. »Seid versichert, mir passiert nichts.«