Über das Buch:
Lancaster County – Land der Amisch – 1946
Unruhige Zeiten stehen Abram Ebersol und seiner Frau ins Haus. Ihre vier Töchter kommen ins heiratsfähige Alter und die ungezwungenen Jahre des „Rumschpringe“ brechen an. Was wird sich durchsetzen in den Herzen der Mädchen? Das geistliche Erbe der Amisch oder die schillernde Welt der „Englischen“?
Nur zu bald erliegt Sadie, die Älteste, in ihrer unbändigen Lebenslust dem Lockruf der Außenwelt. Es ist ein schlimmes Geheimnis, das sie ihrer Schwester Leah anvertraut.
Ausgerechnet Leah, die sensible Zweitgeborene, muss sich nun entscheiden zwischen der Liebe zu ihrer Schwester und der Treue zum Glauben ihrer Väter. Als ob sie nicht schon selbst genug Kummer hätte mit der Liebe und dem Vater und dem Leben überhaupt ...

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Herzen des Amisch-Landes in Lancaster, Pennsylvania, geboren. Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann Dave in Colorado/USA. Ihr Wissen über die Amisch hat sie von ihrer Großmutter, die in einer Mennoniten-Gemeinde alter Ordnung aufwuchs.

6

Peter und Fannie Mast kamen Arm in Arm aus dem Haus und schlenderten ihren Gästen entgegen, als Leah, ihre Mama, Tante Lizzie und ihre Schwestern aus dem Wagen stiegen. „Willkommen alle miteinander!“, kam die freundliche Begrüßung. Es war fast ein Uhr; die heiße Sonne brannte auf sie herab und machte alle ein wenig müde, obwohl die Fahrt nur eine halbe Stunde gedauert hatte.

Jonas und seine sieben Geschwister kamen aus der Küchentür in den Hof hinter dem Haus. Anna, Rebekka, Katie und Martha Mast versammelten sich um Sadie, Leah und die Zwillinge und plauderten in ihrem amischen Dialekt, während Jonas, Eli, Isaak und der kleine Jeremia Mast sich ein wenig abseits hielten, die Arme unsicher auf den Rücken legten und bloß lächelten.

Papa spannte das erschöpfte Pferd aus und führte es in den Stall, wo es frisches Wasser bekam. Peter folgte ihm. Fannie lud alle ins Haus ein zu einem kalten Gewürztee. „Ihr Kinder könnt eure Gläser nehmen und euch unter der Weide in den Schatten setzen“, schlug sie vor und lächelte über die Schulter, als ihr alle durch die Tür hinter dem Haus folgten.

„Unsere Mama will anscheinend in aller Ruhe mit eurer Mama und eurer Tante plaudern“, flüsterte Anna Sadie zu. Leah hatte ihre Worte gehört und fragte sich, was die Frauen wohl zu besprechen hatten.

„Draußen im Schatten ist es wahrscheinlich sowieso kühler“, meinte Sadie. „Vielleicht weht sogar ein leichtes Lüftchen.“

Bei Leah war keine Überredungskunst nötig. Was sie anging, so freute sie sich darauf, sich mit Kusine Fannies Kindern draußen hinzusetzen und zu plaudern, auch wenn die meisten von ihnen entweder jünger als sie waren oder schon auf die Zwanzig zugingen und keine Kinder mehr waren. Trotzdem hoffte sie auf eine Gelegenheit, nach so langer Zeit ein paar Worte mit Jonas wechseln zu können.

Bevor sie die Küche verließen und in den Hof gingen, verteilte Hannah neu bestickte Taschentücher unter Tante Fannie und ihren Töchtern.

„Das ist aber ein schönes Geschenk, danke“, bedankte sich Fannie.

„Vielen Dank“, sagten Anna, Rebekka, Katie und Martha wie aus einem Mund.

Über Mamas Gesicht zog ein Lächeln. „Hannah liebt es, andere mit ihren handgenähten Sachen zu überraschen.“

„Geben ist seliger als Nehmen“, sagte Mary Ruth und lehnte den Kopf an die Schulter ihrer Zwillingsschwester. Die beiden sahen aus, als suchten sie aneinander Halt wie zwei kleine Vögelchen in einem Nest.

Tante Lizzie nickte. Dann trugen sie trotz der Hitze ihre Gläser mit Eistee nach draußen und suchten sich einen gemütlichen Platz unter dem hohen, weit ausladenden Baum in der äußersten Ecke des Hofes. Jonas und seine jüngeren Brüder, darunter der dreijährige Jeremia, saßen mit überkreuzten Beinen als bunt gemischter Haufen etwas abseits von den Mädchen, aber immer noch in deren Hörweite. Sadie und Anna saßen nebeneinander und ließen Leah, Hannah, Mary Ruth und die vier kleineren Mast-Mädchen in einem Kreis neben ihnen Platz nehmen.

„Es dauert nicht mehr lang, dann gehen wir alle zum Sonntagabend-Singen“, bemerkte Rebekka mit erwartungsvoll leuchtenden Augen. „Ist das nicht großartig?“

Leah nickte. „Wie viele kommen bei euch zum Singen?“, fragte sie Rebekka und vergaß ganz, dass ihre Kusine erst fünfzehn war.

„Ich war noch nie dort“, grinste Rebekka. „Solche Fragen solltest du lieber Anna stellen. Oder Jonas. Sie gehen immer zum Singen.“

Als sie ihren Namen hörte, drehte sich Anna zu ihnen um. Sadie tat es ihr gleich. „Was hast du gesagt?“, fragte Anna, unter deren Gebetshaube ein paar dunkle Haarsträhnen zu sehen waren, die sich in ihrem Nacken gelöst hatten. Sie sah fast zu jung aus für eine Hochzeit im kommenden Herbst.

Rebekka war nicht schüchtern und sagte schnell: „Leah wollte nur wissen, wie viele Jugendliche in unserem Gemeindebezirk zum Singen gehen.“

„Mehr als ich zählen kann“, kam Annas Antwort. „Es werden von Woche zu Woche mehr.“

Jetzt mischte sich Sadie ein. „Und du hast einen Verehrer, ja?“

Das löste bei den Mädchen ein mühsam unterdrücktes Gekicher aus. Leah beobachtete, wie die Jungen sich ins Gras zurückfallen ließen und aus voller Kehle lachten. Alle außer Jonas. Er erwiderte nur ihren Blick und bewegte in diesem Augenblick den Kopf, als versuche er, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wollte er mit ihr spazieren gehen? Hatte sie diese Bewegung richtig gedeutet? Oder wollte er nur eine Fliege von seinem sonnengebräunten Gesicht vertreiben? Vermutlich hätte sie ihn nicht so lange anschauen sollen. Aber sie konnte einfach nicht anders. Und, ja, er gab ihr mit dem Kopf ein Zeichen. Natürlich bemerkte das jetzt niemand von den anderen, da alle noch über Sadies Bemerkung lachten und kicherten.

Mama wäre nicht damit einverstanden – überhaupt nicht einverstanden –, wenn Leah mit Jonas allein wegginge. Es war nicht der richtige Zeitpunkt. Man lernte sich beim Singen kennen. Dort sollten sich die jungen Leute nach Meinung der Gemeindeältesten nach Einbruch der Nacht in der Scheune eines Gemeindemitglieds treffen, miteinander reden, singen und sich kennenlernen – junge Männer und junge Frauen. Nicht hier, im hellen Tageslicht, wenn die Familie zusammensaß. Jetzt kamen Papa und Peter Mast aus dem Stall zurück. Sie unterhielten sich in ihrem amischen Dialekt, wie es die Männer oft taten. Sie gingen an ihnen vorbei, überquerten den grünen Rasen und steuerten auf das große, weiße Bauernhaus zu.

Als Leah wieder einen kurzen Blick zu Jonas hinüberwarf, war er mit dem kleinen Jeremia beschäftigt. Dann unterhielt er sich mit seinen Brüdern. Sie hörte wie er vorschlug, dass sie alle eine Runde Volleyball spielen könnten ... ein ruhiges Spiel, bei dem niemand laut wurde. Schließlich war heute der Tag des Herrn. Die anderen waren einverstanden, obwohl es unerträglich heiß war. Im Schatten der Weide teilten sie sich in zwei Mannschaften auf. Leah überraschte es nicht, dass sie auf der Seite von Jonas, Eli und deren achtjähriger Schwester Martha zusammen mit Hannah und Mary Ruth ausgewählt worden war.

„Sechs Spieler auf der einen Seite. Fünf auf der anderen. Alle einverstanden?“, fragte Jonas. Alle nickten zustimmend. „Wir spielen drüben im Garten neben dem Haus.“ Lächelnd führte er seinen kleinen Bruder die Stufen hinter dem Haus hinauf und ins Haus.

„Jeremia muss müde sein“, bemerkte Anna.

„Ja, es ist Zeit für seinen Mittagsschlaf“, nickte Rebekka.

Leah fand es sehr einfühlsam von Jonas, dass er sich als Ältester Zeit für den Jüngsten nahm. Er wird eines Tages ein wunderbarer Vater sein, überlegte sie.

Auf dem Weg um das Haus herum, an der Brunnenpumpe vorbei zum Garten, hielt sich Leah ein wenig abseits. Dadurch hörte sie unabsichtlich, wie Rebekka Mary Ruth fragte: „Hättest du mit deinen Schwestern Lust, zu kommen und uns zu helfen, den Hochzeitsquilt zu nähen, den Anna bekommen soll?“

„Sadie, Hannah und ich könnten schon kommen“, antwortete Mary Ruth. „Aber rechne nicht damit, dass Leah mitkommt. Sie näht keine Quiltdecken. Ehrlich gesagt, näht sie überhaupt selten.“

Der überraschte Blick in Rebekkas Gesicht belustigte Leah. „Willst du damit sagen, dass Leah nie Quiltdecken näht?“

Mary Ruth senkte die Stimme, aber Leah hörte ihre Antwort trotzdem. „Nein ... Leah arbeitet draußen und hilft Papa.“

„Sie verrichtet Männerarbeit?“

„Wusstest du das nicht?“, fragte Mary Ruth.

Rebekka schüttelte den Kopf.

„Es ist nicht so, dass sie Schwielen und Hornhaut an den Händen bekommt. Das nicht. Sie hebt auch nie etwas Schweres. Sie ist ja nicht wie ein Mann gebaut. Sie hilft ihm einfach überall, wo sie kann ... und leistet ihm Gesellschaft. So war es schon immer.“

„Schon immer?“

„Ja“, nickte Mary Ruth.

Rebekka sagte nichts mehr, worüber Leah wirklich froh war. Ihr war unbehaglich zumute, weil sie dieses Gespräch belauscht hatte. Sie wünschte, sie wäre vor den beiden gegangen, zusammen mit Anna, Sadie und Hannah, und hätte der Versuchung widerstanden, die beiden zu belauschen. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass es sie schmerzte. Es gab ihr einen richtigen Stich durchs Herz. Rebekkas verblüffte Reaktion darauf, dass sie Papa bei der Arbeit half, gab ihr irgendwie das Gefühl, keine richtige Frau zu sein. Das weckte in ihr neu den Gedanken, sie sei weniger wert, weil sie Papa auf dem Hof zur Hand ging, statt Mama bei der Frauenarbeit zu helfen. Wenigstens in Rebekkas Augen.

Warum machte es ihr eigentlich etwas aus, was Rebekka oder irgendjemand sonst dachte? Es war nicht ihre Idee gewesen, wenigstens nicht am Anfang, die Arbeit auf dem Hof zu machen. Es war nicht so, dass sie nicht kochen oder backen oder das Haus hätte putzen können. Das konnte sie auch alles, wenn es sein musste. Aber nach all diesen Jahren hatte sie das Gefühl, nicht dazuzugehören, wenn sich die Frauen zu einem Quilttag oder einem Einmachtag in der Küche einer Nachbarin trafen. Natürlich machte es ihr Spaß, Apfelbutter zu machen oder im Gemüsebeet Unkraut zu jäten und Mama bei ihren Topfpflanzen zu helfen. Ihr stellte sich nie die Frage, ob sie die Rollen lieber tauschen würde. Wenigstens war ihr diese Frage bis jetzt nie in den Sinn gekommen. Bis zu dieser Minute, als sie hörte, wie ihre Schwester und ihre Kusine über Leahs Platz im Leben sprachen.

Rebekka ging immer noch Schulter an Schulter neben Mary Ruth her, als sie plötzlich sagte: „Ich finde, Leah ist sehr hübsch. Findest du nicht auch?“

Mary Ruth zuckte mit den Achseln. „Ich glaube, darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht.“

„Doch, sie ist hübsch“, beharrte Rebekka. „Es würde mich kein bisschen überraschen, wenn sich mehr als ein Junge in sie verliebt, sobald sie anfängt, zum Singen zu gehen. Warte nur ab! Du wirst schon sehen.“

„Vielleicht. Das kann schon sein“, erwiderte Mary Ruth leise.

Leah bog abrupt nach rechts ab und eilte auf den Garten zu, in dem das Volleyballnetz schon spielbereit aufgebaut war.

Mary Ruth und Rebekka sollten nicht erfahren, dass sie jedes Wort der beiden gehört hatte. Sie interessierte sich nur dafür, was Jonas über sie dachte. Fand er sie attraktiv? Nach all den Jahren?

* * *

Beim Volleyballspiel ging es nicht so sehr darum, welche Mannschaft gewann, sondern man wollte Spaß haben und miteinander etwas unternehmen. Leah freute sich besonders, dass Jonas ihr immer wieder eine Vorgabe zuspielte, damit sie den Ball mühelos über das Netz schlagen konnte. Sie fand es sogar fast auffällig, wie oft das im Laufe dieses Nachmittags geschah. Sie hatte versucht, sich von Jonas nicht ablenken zu lassen. Sie wollte zeigen, wie gut sie spielen konnte. Um ihrer Mannschaftskameraden willen versuchte sie, das Kribbeln in ihrem Magen zu ignorieren, damit nicht jeder an ihrem Gesicht ablesen konnte, was sie fühlte. Es sollte nicht jeder wissen, wie viel ihr Jonas Mast bedeutete.

* * *

Ida freute sich sehr über einen gemütlichen, wenn auch kurzen Besuch bei Fanny. Sie tranken zusammen mit Lizzie eisgekühlten Gewürztee und sie erfuhr, was es hier in Grasshopper Level Neues gab. Abram und Peter hatten sich längst ins Wohnzimmer gesetzt und waren in ein etwas ernsteres Gespräch vertieft. Mit gesenkter Stimme, von Mann zu Mann.

„Ich schätze, euch ist aufgefallen, dass wir viel Sellerie gepflanzt haben“, lächelte Fannie leise und stützte ihre rundlichen Ellbogen auf den Tisch.

„Ich muss sagen, ich habe nicht aufgepasst. Aber ihr denkt anscheinend daran, eure Tochter im kommenden November zu verheiraten, oder?“ Sie wollte ihre Nase nicht zu neugierig in fremde Familienangelegenheiten stecken, aber Fannie hatte es in solchen Dingen noch nie bei vagen Andeutungen bewenden lassen.

„Ja, Anna ist bald eine Braut. Du hast recht.“

„Lizzie, die Mädchen und ich können euch gern bei den Vorbereitungen für die Hochzeit helfen“, bot Ida an. Wenn ihre eigenen Töchter so weit wären, würde sie ebenfalls Hilfe bekommen.

„Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis wir beide Großmütter sind“, seufzte Fannie und fächerte sich mit ihrem neuen Taschentuch, das sie von Hannah bekommen hatte, Luft zu.

„Das wird ein großer Tag werden.“

„Wie steht es mit Sadie? Hat sie schon einen jungen Mann, der feste Absichten hat, sie zu heiraten?“

Ida zuckte leicht zusammen, hoffte jedoch, Fannie habe das nicht bemerkt. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Lizzie war ebenfalls schweigsam. Zu schweigsam vielleicht. Irgendwie ging es niemanden etwas an, dass Sadie viel zu viel Zeit nachts außer Haus verbrachte. Zwei ... manchmal sogar drei Nächte in der Woche. Sie war nicht bereit, das Fannie zu erzählen, deren Kinder ihr anscheinend noch keine Sorgen bereitet hatten. Wenigstens bis jetzt noch nicht.

„Als sie sechzehn wurde, begann Sadie, zum Singen zu gehen, und es schien ihr viel Spaß zu machen. Aber in letzter Zeit geht sie nicht mehr hin.“ Ida wünschte, sie könnte das Gespräch auf ein ganz anderes Thema lenken, über andere Verwandte oder Kochrezepte reden.

„Warum, glaubst du, ist das so?“, kam Fannies nächste Frage.

Lizzie stand auf, ging zur Tür und schaute auf den Hof hinaus.

Ida schüttelte den Kopf. „Man hat auf einige junge Leute einfach nicht so viel Einfluss. Du weißt selbst, wie es ist, bevor sie sich taufen lassen. Sie wollen ihren Spaß haben.“

Einige junge Leute ...

Warum in aller Welt hatte sie Sadie in einen Topf mit den anderen geworfen? Fannie vermutete jetzt bestimmt, dass trotzdem etwas nicht stimmte. Immerhin war ihre Kusine nicht auf den Kopf gefallen. Sie war eine kluge Frau, ein paar Jahre jünger als Ida, die von genügend Problemen wusste, die Eltern mit ihren jungen Leuten während deren Rumspringzeit hatten. Aber sie hatte wahrscheinlich noch nicht eine ihrer eigenen Töchter dabei ertappt, wie sie mitten in der Nacht heimlich durch die Küchentür ins Haus geschlichen kam und ihren Spaß offensichtlich zu weit getrieben hatte.

Ida warf einen Blick aus dem Fenster und schaute zu, wie ihre Kinder fast schweigend Volleyball spielten. Ihr Blick wanderte zu Sadie: Sie war groß, schlank, schön. Was für eine Schande, dass ein solches Mädchen innerlich nicht so makellos war. Mit einem Seufzen beobachtete sie eine Weile Leah. Bei ihrer burschikosen Zweitältesten war genau das Gegenteil der Fall. Ihr Herz war so weiß wie eine Lilie, unvergleichlich hübsch. Und diese innere Schönheit strahlte durch ihr angenehmes Wesen auch nach außen. Ach, welch ein ungleiches Paar ... zwei völlig verschiedene Schwestern! Genauso wie sie und Lizzie es in ihrer Jugend gewesen waren. Aber jetzt nicht mehr. Die harten Schläge des Lebens brachten einen Menschen auf die Knie. Sie und Lizzie waren Frauen, die viel beteten. Sie waren fast wie gute Mennoniten, die still mit dem himmlischen Vater über alles sprachen, was sie beschäftigte.

Fannie brach das Schweigen. „Peter und ich ... wir bekommen noch ein Kind. Im nächsten Frühling. Ende März.“

„Na, das ist aber eine freudige Nachricht.“

Lizzie drehte sich mit einem erfreuten Lächeln um. „Ach, wie schön!“

„Wir haben es noch niemandem erzählt“, sagte Fannie, deren Augen bei dieser Nachricht strahlten. „Peter freut sich riesig. Und Jeremia bekommt einen Spielkameraden.“

Ida freute sich für Fannie. Das neue Baby würde das jüngste Kind in ihrer näheren Verwandtschaft sein. Ja, ein Kleinkind machte allen viel Freude, besonders bei ihren vielen Familientreffen.

„Hast du je daran gedacht, auch noch ein Kind zu bekommen? Vielleicht dieses Mal einen Jungen?“, fragte Fannie unerwartet.

„Nein, eigentlich nicht.“ Sie war über Fannies unverblümte Frage etwas überrascht. „Ich komme allmählich aus dem Alter hinaus, in dem man Kinder bekommt.“

„Wäre es nach vier Töchtern nicht sehr nett, wenn Abram endlich seinen Sohn bekäme?“, kam Fannies viel zu schnelle Frage. „Damit der Familienname erhalten bleibt.“

Ida musste daran denken, dass Leah immer als Abrams Sohn betrachtet wurde, auch wenn sie diesen Gedanken nicht laut aussprach. In ihrem Gemeindebezirk war diese Ansicht ziemlich weit verbreitet. Natürlich entwickelte sich Leah in letzter Zeit immer mehr zu einer jungen Frau. Wahrscheinlich würde sie eines Tages der Arbeit auf dem Hof und im Stall überdrüssig werden und sich auf die Ehe vorbereiten wollen ... und endlich anfangen zu lernen, wie man Quiltdecken näht und dergleichen.

Es weckte in ihr ein Unbehagen, dass Fannie so redete. Weder sie noch Abram hatten sich je den Kopf darüber zerbrochen, dass der Name Ebersol aussterben würde. „Wir haben unsere Kinder schon immer dem Herrn anvertraut“, sagte sie. „Wenn Gott wollte, dass wir Söhne bekommen, nun ja ... dann denke ich, hätten wir inzwischen welche.“

Dem konnte Fannie nichts entgegensetzen, was Ida sehr froh machte.

* * *

Sadie blickte erstaunt auf, als ein Auto in die Auffahrt vor dem Haus einbog. Sie hätte nicht gewusst, wer der Fahrer war, wenn sie nicht ausgerechnet in diesem Augenblick während einer kurzen Spielunterbrechung in diese Richtung geschaut hätte. Die Mannschaft auf ihrer Seite des Volleyballnetzes wechselte die Positionen und ging in Stellung, damit der junge Isaak die Angabe machen konnte. In diesem Moment fuhr ein grauer Wagen neben dem Haus vor.

Ihr wurde schnell klar, wer der Fahrer war, und sie musste sich stark beherrschen, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Spiel zu lenken. Es gelang ihr nur zur Hälfte. Sie beobachtete, wie Derry Schwartz aus dem Auto stieg und zur Hintertür lief. Es sah fast so aus, als gehörte er zur Familie. Seine Kühnheit verwirrte sie noch mehr als sein plötzliches Auftauchen. Niemand außer Verwandten und Freunden klopfte an die Hintertür eines amischen Hauses. Alle anderen benutzten die vordere Tür. Aber Derry hatte überhaupt nicht an die Tür geklopft. Er war sofort hineingegangen, als würden Peter und Fannie ihn erwarten.

Wie seltsam, dachte sie. Kennt Derry Mamas Verwandte?

Es dauerte nur ein paar Minuten. Dann kam er wieder heraus und hatte einen großen Korb in der Hand.

In diesem Augenblick rief Jonas ihm zu: „Hallo, Derek! Hast du endlich die Erdbeermarmelade für deine Mama geholt?“

Derry hielt inne, bevor er ins Auto stieg. „Ich war sowieso in dieser Richtung unterwegs und dachte, ich komme kurz vorbei“, sagte er und legte schon die Hand auf die Autotür. „Ich muss mir zu Hause ein paar Pluspunkte erarbeiten.“

Sadie hatte keine Ahnung, was Derry mit diesen Worten meinte. Sie versuchte ihr Möglichstes, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, als Jonas Derry einlud, den Korb stehen zu lassen und seine Kusinen und Vettern kennenzulernen.

Derry hatte immer noch nicht entdeckt, dass sie hier war. Sonst wäre er längst zu ihnen herübergekommen. Sie fürchtete schon, sie würde zu schnell atmen und in Ohnmacht fallen, so nervös war sie.

Als Jonas ihm Sadie vorstellte, lächelte Derry nur und sagte: „Schön, dich kennenzulernen, Sadie.“ Genauso wie er es vorher getan hatte, als er Leah, Hannah und Mary Ruth vorgestellt worden war. Er hatte sie ganz genauso behandelt wie ihre Schwestern. Als wäre sie überhaupt nicht seine geliebte Freundin. Sondern einfach nur eine entfernte Verwandte von Jonas Mast und seiner Familie, die an einem heißen Sonntagnachmittag Volleyball spielte.

Sie konnte kaum ruhig bleiben und weiterspielen. Besonders als Derry sie kurz anschaute, als er das Auto auf dem Weg wendete, langsamer wurde und ihnen allen aus dem Fenster zuwinkte, bevor er wieder in Richtung Straße davonfuhr. Jonas hatte ihnen Sadies englischen Freund als den jungen Mann vorgestellt, der für seinen Vater auf dem Hof arbeitete. Was für eine Arbeit war das? Und warum hatte er ihr bei ihren vielen Spaziergängen im Wald nie erzählt, dass er für einen amischen Bauern arbeitete?

Ihre Gedanken rasten voraus zu ihrer nächsten Verabredung. Würde er ihr erklären, warum er heute so getan hatte, als kenne er sie nicht? Warum er sich so benommen hatte, als begegne er ihr zum ersten Mal?

Leah prallte mitten im Spiel mit Mary Ruth zusammen, als sich beide nach dem Ball in die Höhe streckten. Ihre Schwester war überhaupt nicht verletzt, aber als Leah das Gleichgewicht verlor und stürzte, vertrat sie sich den Knöchel und blieb im Gras liegen, unfähig, ihren Fuß zu bewegen. Jonas eilte als Erster an ihre Seite und fragte, ob sie noch gehen könne. Tapfer versuchte sie aufzustehen, obwohl sie stöhnte und sich den Fuß hielt – der Schmerz war unerträglich.

Aber schnell bückte sich Jonas und schwang sie auf seine Arme. Er trug sie durch den Garten und Hof zum Haus. „Ich trage dich, Leah“, sagte er leise immer wieder. „Alles wird wieder gut.“

Sie lehnte den Kopf an sein blaues Hemd, verlegen, weil sie gestürzt war, und fühlte sich so leicht wie eine Feder in Jonas’ Armen, der sie trug, als sei es das Natürlichste auf der Welt.

„Es tut mir leid ...“, murmelte sie.

„Ach, es war ein Unfall, Leah.“

Das unablässige Pochen in ihrem Knöchel trübte vielleicht ihr Wahrnehmungsvermögen, aber sie glaubte fast, Jonas habe gesagt: „Meine Leah“, während er mit ihr die Stufen hinter dem Haus hinauf und in die Küche ging. Vielleicht hatte er ihre heimliche Verlobung aus ihrer Kindheit doch nicht vergessen!

* * *

Ida, Fannie und Lizzie drehten sich gleichzeitig um und schauten Jonas verblüfft an, als dieser Leah in die Küche brachte und sie auch noch auf den Armen trug. Ihr Gespräch brach abrupt ab. Ida war ziemlich erleichtert über den Themenwechsel. Aber es tat ihr so leid, dass Leah solche Schmerzen hatte. Was in aller Welt war passiert? Und was bedeutete dieser seltsam triumphierende Blick in Jonas’ Augen?

„Leah hat sich den Knöchel verletzt“, erklärte Jonas und hielt sie immer noch auf den Armen.

Fannie stürzte Jonas förmlich entgegen und wies ihn an, Leah auf den Stuhl neben dem Holzofen zu setzen. „So ... vorsichtig ... das ist gut so. Pass auf, dass du ihr nicht noch mehr wehtust.“

Ida und Lizzie waren sofort neben ihr und knieten schnell nieder, um sich Leahs verstauchten Knöchel anzusehen. „Am besten sollten wir Eis auf den Fuß legen“, schlug Ida vor.

„Und ihn hochlegen, damit die Schwellung zurückgehen kann“, ergänzte Lizzie.

„Jonas, geh und hol ein paar kalte Wickel aus dem Keller“, ordnete Fannie an. Sobald er außer Hörweite war, murmelte sie: „Und mach dich nützlich, meine Güte.“

Ida runzelte die Stirn. Hatte Jonas sich nicht nützlich gemacht, indem er Leah ins Haus gebracht hatte? Sie hielt Leahs geschwollenen linken Fuß in der rechten Hand und berührte ihn leicht an den Stellen, an denen sich dunkle, blaue Streifen gebildet hatten. Schweigend betete sie ... für zwei Dinge: dass Leahs Knöchel nicht gebrochen war ... und dass Jonas’ Absichten lediglich darin bestanden, Leah zu helfen.

Mit Unruhe erinnerte sie sich an den verschneiten Januartag vor fast sechs Jahren, als Abram und sie mit ihren Kindern hierher zu Peter und Fannie gefahren waren, um miteinander das Epiphaniasfest zu feiern. Leah war damals erst zehn gewesen und Jonas dreizehn. Ihr war aufgefallen, wie die beiden sich während des ganzen Essens immer wieder über den Tisch hinweg angeschaut und sich ständig angelächelt hatten. Später an jenem Nachmittag hatte sie die beiden zufällig draußen im Milchhaus angetroffen. Natürlich hatten sie sich nur unterhalten, aber dieser faszinierte Blick in Jonas’ himmelblauen Augen hatte sie doch so sehr beunruhigt, dass sie später, als sie wieder zu Hause waren, Abram davon erzählte. Ihr Mann, der längst beschlossen hatte, dass Leah sich in den Sohn des Schmieds verlieben sollte, wies das arme Mädchen sofort streng zurecht. Viel später, als sie zu zweit in ihrem Schlafzimmer waren, erklärte Abram Ida: „Nichts wird sich einer Ehe zwischen Gideon Peachey und Leah in den Weg stellen. Auch nicht der älteste Sohn deiner Verwandten.“

Sie erschauerte bei der Erinnerung an die Wut in Abrams Stimme und in seinen Augen. Er war wie ein wild gewordener Hund in ihrem Schlafzimmer auf und ab gegangen und nur immer wieder kurz stehen geblieben, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Dann hatte er sich umgedreht und war weiter auf und ab gegangen und hatte mit den Händen an seinem buschigen braunen Bart gezupft. Seine grauen Augen hatten gefunkelt. „Ich lasse nicht zu, dass Leah einen anderen als Smithy Gid heiratet!“, hatte er gesagt.

Aber, ach, heute war nicht der Tag, um über solche Dinge nachzusinnen. Sie sollte ihre Aufmerksamkeit lieber auf den schmerzenden Knöchel ihrer geliebten Tochter konzentrieren und Leah zum Sofa helfen, wo sie ihren verletzten Fuß hochlegen konnte, damit die Schwellung zurückging, wie Lizzie gesagt hatte.

7

Nach dem Bibellesen und den Abendgebeten humpelte Leah an diesem Abend die Treppe hinauf, bevor irgendjemand anbieten konnte, ihr zu helfen. Sie wollte allein sein – brauchte Zeit für sich, um die Ereignisse dieses Tages zu verarbeiten. Das einzige wirklich Angenehme, das ihr Herz immer noch schneller schlagen ließ, war die Begegnung mit Jonas, der sehr um sie besorgt gewesen war und sie so fest entschlossen ins Haus getragen hatte. Sie dachte erneut daran, wie ihr Gesicht sein Hemd berührt hatte, wie seine starken Arme sie sicher gehalten hatten, wie seine Worte sie getröstet und ihr neuen Mut zugesprochen hatten. Warum hatte er nicht gewartet, um zu sehen, ob sie auftreten könnte, nachdem sie gestürzt war? Sie dachte an den Unfall zurück. Vielleicht hätte sie es ja doch geschafft, ins Haus zu humpeln, wenn sie dazu nur eine kleine Chance gehabt hätte. Aber Jonas war so impulsiv gewesen und hatte es nicht erwarten können, ihr höchstpersönlich zu helfen.

In der Stille ihres Schlafzimmers, das sie mit Sadie teilte, stand sie auf einem Fuß – ihrem guten Fuß – und spähte in den Handspiegel und versuchte, die Schönheit zu entdecken, die Rebekka in ihr gesehen hatte. Aber das Spiegelbild, das ihr entgegenschaute, war nicht annähernd so schön wie Sadies oder gar Annas Gesicht. Wenigstens nicht in dem Sinn, wie sie sich ein schönes Mädchen vorstellte. Vielleicht lag es daran, dass ihre Schwestern alle so helle Haare hatten. Konnte es das sein? Aber nein, sie wusste in der Tiefe ihrer Seele, dass es keinen Unterschied machte, ob ihre Haare braun waren oder blond. Sie hielt sich einfach nicht für schön. Burschikose Mädchen waren nun einmal nicht attraktiv. Diese Erkenntnis setzte sich in ihrem Kopf fest und verursachte ihr genauso große Schmerzen wie ihr verwundeter Knöchel.

* * *

Mama und Tante Lizzie waren in den nächsten Tagen außerordentlich nett zu ihr. Sie bestanden darauf, dass sie im Haus blieb, entweder in ihrem Bett oder auf dem Sofa im Wohnzimmer, und ihren linken Fuß hochlegte. Sie brachten ihr das Essen auf einem Holztablett und überredeten sie, mehr zu essen, als sie wahrscheinlich benötigte. Das war ihre Art, Leah ihre Liebe zu zeigen. Papa hatte draußen mehr Arbeit, als er allein bewältigen konnte. Die Frühkartoffeln mussten gehackt und die Alfalfa bald zum zweiten Mal geschnitten werden. Sie konnte ihm jedoch beim besten Willen nicht helfen. Der Schmied Peachey und sein Sohn Gid kamen mehrere Male in dieser Woche und halfen ihm, aber abgesehen davon blieb die ganze Arbeit an ihrem Vater hängen.

Tante Lizzie sagte, sie sei bereit, zu einem Arzt zu gehen, der in der Nähe wohnte, und ihn zu holen, damit er einen Blick auf Leahs Knöchel werfen und feststellen könnte, ob der Fuß gebrochen war oder nicht. Aber Mama glaubte nicht, dass er gebrochen sei. Schließlich konnte Leah den Fuß bewegen – und auch mit den Zehen wackeln –, ohne dass ihr dies zusätzliche Schmerzen bereitete. So kam man einstimmig zu dem Schluss, dass der Knöchel nur verstaucht sei. „Was genauso schmerzhaft oder sogar noch schmerzhafter sein kann als ein Bruch“, erinnerte Lizzie sie.

Nach den ersten paar Tagen sehnte sich Leah immer mehr danach, aus dem Haus zu kommen, obwohl Hannah und Mary Ruth ihr zeigten, wie man stickt, Mama ihr Anweisungen gab, wie man Kleidungsstücke flickt, und Sadie und Tante Lizzie ihr zeigten, wie man ganz winzige Quiltstiche näht – Dinge, die sie bis jetzt nicht gelernt hatte. Es war also höchste Zeit. In gewisser Weise erwies sich ihr verstauchter Knöchel also als ein Segen. Fast so, als sei es so gewollt, dachte sie. Sie war fest entschlossen, eine richtige Frau zu werden. Eine Frau, auf die Jonas eines Tages stolz sein könnte, wenn sie an seiner Seite stünde.

In dieser Woche kam sie in den Genuss mehrerer unerwarteter Besuche. Zwei ihrer Besucher waren Fannie und Rebekka Mast, was Leah sehr nett von den beiden fand, denn sie hatten einen weiten Weg zurückzulegen.

Am nächsten Tag überraschte Jonas Mast sie mit einem kurzen Besuch. Er brachte zwei Blaubeerstrudel und einen Zuckerkuchen für die Familie mit. Während er die Köstlichkeiten von seiner Mutter überbrachte, erblickte Leah, die im Wohnzimmer lag, ihn zufällig, wie er in der Küche stand. Natürlich stellte Mama klar, dass er nicht weiter gehen dürfe als bis zum Türrahmen. Sie erlaubte ihm nur, ihr zuzurufen: „Hallo, Leah ... ich hoffe, dein Knöchel verheilt bald. Gute Besserung!“, bevor sie ihn wieder nach Hause schickte.

Adah Peachey kam eines Nachmittags vorbei und blieb zwei Stunden. Sie las Leah aus der Bibel vor und aus einigen Texten, die sie selbst verfasst hatte. Sie nannte sie „persönliche Aufsätze über das Leben und andere Dinge“. Leah fand die Aufsätze ihrer lieben Freundin sehr interessant und sagte ihr das auch. „Mama lässt mich fast überhaupt nichts machen, solange mein Knöchel nicht besser ist“, erklärte sie. „Ich bin so froh, dass du mich besuchen kommst.“

Sie waren oben in Leahs Zimmer, wo Adah neben Leah, die auf ihrer gelbgrünen Quiltdecke hockte, auf dem Stuhl saß. „Da ist noch etwas, das ich dir gern vorlesen würde, bevor ich wieder gehe“, sagte Adah. Ihre meergrünen Augen wurden ganz weich und leuchteten. Sie öffnete einen Umschlag und zog einen zusammengefalteten Brief heraus. „Ach, wenn ich es mir recht überlege, dann solltest du den Brief vielleicht lieber selbst lesen.“

Leah nahm den Brief entgegen. Sie erkannte Gids Handschrift darauf. Adahs Bruder, der immer noch in sie verliebt war, hatte ihr diesen Brief geschrieben.

„Komm schon, mach den Brief auf. Mein Bruder kann mit Worten gut umgehen“, sprach Adah ihr Mut zu.

Ehrlich gesagt, war sie versucht, den Brief wieder in das Kuvert zurückzuschieben.

„Ach, Leah, meine Güte. Jetzt lies doch endlich, was er dir schreibt!“

Um auf keinen Fall Adahs Gefühle zu verletzen oder einen noch schlimmeren Fehler zu begehen – wie würde sich Gid fühlen, wenn Adah ihm später diesen Moment schilderte? –, faltete Leah den Brief auseinander. Sie begann zu lesen:

Meine liebe Freundin Leah,
ich grüße dich im Namen des Herrn Jesus.
Ich habe gehört, dass es dir nicht gut geht und dass du dir den Knöchel verletzt hast. Meine Schwester Adah versprach mir, dir diesen Brief persönlich zu übergeben. Dieser Brief kommt von ganzem Herzen und soll ein Zeichen dafür sein, dass ich an dich denke, und für unsere Freundschaft. Bitte pass gut auf dich auf und schone deinen verletzten Fuß! Und denk daran, dass die Gebete unserer Familie dich täglich begleiten.
Sehr bald wirst du wieder auf den Beinen sein. Dann können wir sonntagabends zum Singen fahren: du, Adah und ich. Schone dich, damit du schnell wieder gesund wirst.
Der Herr sei mit dir.

Herzliche Grüße
Gideon Peachey

Der zärtliche Unterton dieses Briefes rührte sie an, aber sie wusste, dass sie solche Gefühle Adah nicht zeigen durfte. Nein, sie musste sehr vorsichtig sein, damit Adah nicht auf die Idee käme, ihr Bruder habe eine Chance bei Leah. „Danke“, sagte sie leise. „Sag Gid, der Brief war sehr lieb von ihm.“

Adahs Gesicht leuchtete entzückt. „Ja, natürlich richte ich ihm das aus.“

Ihr Herzschlag stockte kurz, als sie die viel zu große Begeisterung in Adahs Gesicht sah. Egal, was sie über Gids Brief sagte, seine Schwester würde ihre Reaktion wahrscheinlich völlig missverstehen, so groß waren Adahs Hoffnungen, Leah als Schwägerin zu bekommen. Ach, Leah hatte den Eindruck, sie könne bei dieser Sache nur verlieren.

* * *

Man hätte den Nachmittag leicht für den frühen Abend halten können, so grau war es draußen. Strömender Regen ergoss sich wie die Sintflut über das Land. Nicht einmal die beherzten Schwalben, die im großen Vogelhaus neben dem Stall lebten, unternahmen an diesem Tag einen Versuch auszufliegen. Sie putzten sich die weißen Federn und warteten ungeduldig darauf, dass die Sonne wieder schien.

Leah saß im Wohnzimmer und hatte den Fuß mit kalten Umschlägen umwickelt und hochgelegt. Sie lauschte der trommelnden Musik des Regens auf dem Dach. Es störte sie nicht, allein zu sein. Sie saß hier und stickte gelbe und lavendelfarbene Blümchen auf ein neues Kopfkissen. Sie begann sogar, die Hausfrauenarbeiten zu genießen, und fragte sich, was Papa wohl davon hielte, wenn sie Mama, Sadie und den Zwillingen häufiger bei der Arbeit half. Sie wusste, dass sie die seltenen, aber tief greifenden Gespräche mit ihrem Vater vermissen würde. Sehr sogar. Trotzdem konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass man sie von ihrer Mutter und ihren Schwestern absichtlich so viele Jahre lang ferngehalten hatte. Auch wenn sie angeblich das „kräftige Mädchen“ in der Familie war, wusste sie keinen Grund, warum ihr Vater beschlossen hatte, sie bei der Arbeit auf dem Hof einzuspannen ... außer wegen der Erlaubnis, früher von der Schule abzugehen, um daheim helfen zu können, damit sie nicht ein Opfer der höheren Schulbildung würde wie Sadie. Sie machte sich nicht die Mühe, Spekulationen darüber anzustellen. Das würde zu nichts führen.

Sobald ihr Knöchel kräftig genug war, wäre sie wieder draußen und würde im Hühnerstall und im Hof, wo immer er sie brauchte, helfen. Bis dahin würde sie es genießen, eine Nadel in der Hand zu haben und einen Faden durch den Stoff zu ziehen. Sie hoffte, sie bekäme noch mehr Gelegenheiten, zu nähen und zu quilten. Auch ohne einen verletzten Fuß.

* * *

Tante Lizzie überraschte Leah am nächsten Tag mit ihrem Besuch. Leah freute sich und hoffte auf eine schöne, ruhige Zeit mit ihrer Lieblingstante. Bei dem doch beträchtlichen Altersunterschied von acht Jahren zwischen Lizzie und ihrer Mutter hatte Leah oft gestaunt, dass die beiden einander näherstanden als Mama und ihre anderen Geschwister, obwohl einige von ihnen nur wenige Jahre jünger oder älter waren als sie. Meine Güte, wie viel Spaß die beiden miteinander hatten, und wie fröhlich sie lachten, wenn sie in Mamas oder Lizzies Gemüsegarten miteinander arbeiteten!

Es hatte auch einige Male gegeben, bei denen Leah als junges Mädchen unerwartet zu ihnen gekommen war und überrascht festgestellt hatte, dass die beiden mitten in ihrem Gespräch abbrachen, sobald sie das Mädchen sahen. Diese Situationen hatten sie richtig verlegen gemacht. Die beiden benahmen sich, als wären sie selbst noch Jugendliche ... heimlichtuerische kleine Schwestern, die Puppen spielen. Das machte sie wirklich neugierig, was die beiden wohl flüsterten. Aber sie hatte keine Ahnung. Wahrscheinlich hatte ihr Gespräch überhaupt nichts mit Leah zu tun. Solche Situationen hatte es über die Jahre hinweg öfter gegeben, solange Leah zurückdenken konnte.

„Hat deine Rumspringzeit sehr lange gedauert?“, fragte sie, als Lizzie und sie endlich allein im Wohnzimmer saßen.

„Nein, lang würde ich eigentlich nicht sagen.“ Ihre Tante bot ihr eine Erdbeere aus der Schüssel an, die sie in der Hand hielt. „Aber eines muss ich zugeben: Ich bin auf diese Jahre nicht stolz. Absolut nicht.“

„Nein? Hast du den Teufel versucht?“ Die Worte rutschten ihr über die Lippen, bevor sie richtig darüber nachdachte. „So wie es ein paar junge Leute tun, meine ich.“

Tante Lizzie seufzte laut und wandte das Gesicht zum Fenster. Der Regen prasselte immer noch kräftig auf das Dach. „Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich in jener Zeit ein gottesfürchtiges Leben geführt habe. Aber um die Wahrheit zu sagen: Ich ging viel zu lange auf dem Weg dieser Welt. Ich hätte mein Vertrauen auf den Herrn setzen sollen, statt ...“ Sie brach ab und schaute Leah an. „Du kommst auch bald in dieses Alter, Liebes.“

Leah war überrascht, dass ihre Tante dieses Kosewort benutzte. Wie lange war es her, seit Lizzie sie das letzte Mal so genannt hatte? Sie seufzte. „Ich will nicht die Fehler begehen, die viele junge Leute machen“, erklärte sie ihrer Tante.

„Es ist eine gute Sache, von ganzem Herzen dem Herrn nachzufolgen, egal in welchem Alter du bist. Ich bete dafür, dass dir einer unserer amischen jungen Männer den Hof macht, wenn es Gottes Wille ist.“

Einer unserer amischen jungen Männer ... Die Art, wie Lizzie das sagte, machte Leah hellhörig. Wusste Lizzie etwas über Sadie? Aber nein, wie sollte sie? Was ihre persönliche Zukunft anging ... dass Gott etwas damit zu tun haben könnte, wen sie heiratete ... nun ja, sie fragte sich, ob Tante Lizzie Papas Pläne vergessen hatte: dass Smithy Gid früher oder später um Leahs Hand anhalten sollte. Wie sollte der Vater im Himmel dann bei der Wahl eines Mannes ein Wort mitreden können?

Sie musste es einfach fragen. Sie wollte unbedingt mehr wissen. „Hast du dich damals in einen amischen jungen Mann verliebt?“

Lizzies große Augen wanderten erneut weit in die Ferne. „Ach, zu meiner Zeit gab es jede Menge junger Männer aus der Gemeinde, ja, es waren viele. Einer mochte mich besonders gern, aber er heiratete dann doch eine andere. Ich kann ihm daraus keinen Vorwurf machen. Aber er war wirklich ein kluger Junge.“

„Wie kann er klug gewesen sein, wenn er es sich entgehen ließ, dich zu heiraten, Tante Lizzie? Wie konnte er das nur tun? Ich würde sagen, er war sehr dumm.“

„Nein ... nein, ich trödelte zu sehr herum. Ich habe ihn zu lange hingehalten. Er hatte jedes Recht, nicht auf mich zu warten.“

Leah interessierte sich weniger für den jungen Mann. Vielmehr ärgerte sie sich, dass ihre Tante so eine geringe Meinung von sich selbst hatte. „Ich finde, du bist wunderschön, Tante Lizzie“, sagte sie plötzlich. „Ehrlich.“

Lizzies Augen leuchteten auf. Liebevoll berührte sie Leahs Hand. „Bleib so lieb, wie du jetzt bist, Leah. Ja?“

Sie wollte am liebsten spontan antworten, dass sie nie daran denken würde, Mama und Papa wehzutun, und auch nicht Tante Lizzie, anders als Sadie, die weiterhin so engen Kontakt mit der Welt hatte. Aber sie sagte nichts von dem, was sie dachte, sondern streckte nur die Hand aus und legte sie auf Tante Lizzies Hand und nickte, sorgsam bemüht, die Tränen, die ihr die Kehle zuschnüren wollten, zurückzuhalten.

Als der Tag vorbei war, lange nachdem Tante Lizzie wieder die Anhöhe hinauf zu ihrem eigenen kleinen Haus gegangen war, lag Leah in der Dunkelheit in ihrem Bett. Sie legte ihren immer noch schmerzenden Knöchel so unter das Baumwolllaken, dass er bequem lag, und dachte an ihre neu entdeckte Freude – Nähen und Flicken mit ihren Schwestern und ihrer Mutter. Natürlich wagte sie es nicht, Papa zu sagen, sie würde die Arbeit im Haushalt der Arbeit auf dem Hof vorziehen. Nein, sie würde nicht mit der Tür ins Haus fallen und etwas in dieser Richtung zu ihm sagen. Sie müsste sich Zeit lassen ... auf den richtigen Augenblick warten und sich dann vortasten, genauso wie sie jeden Morgen vorsichtig die Eier einsammelte, damit die empfindlichen Schalen nicht in ihren zarten Händen zerbrachen.

* * *

Leah saß draußen im Schuppen und war froh, dass der Nachmittagsregen noch auf sich warten ließ. Nachdem sie von der Schule nach Hause gekommen waren, hatten Hannah und Mary Ruth ihr geholfen, hinauszuhumpeln, damit sie Mama helfen konnte, den Schuppen ein wenig aufzuräumen, bevor der Regen einsetzte.

„Im Schuppen ist es so schmutzig wie noch nie“, murmelte Mama, die mit Kehrschaufel und Besen die Arbeitsfläche säuberte, die eine gesamte Wandseite säumte. Mehrere alte Vogelhäuser standen dort und warteten auf den Frühling. Eine Ansammlung von Werkzeugen – Handrechen, Spaten, Harken und dergleichen – und ein Beutel mit Dünger waren am anderen Ende sauber untergebracht neben dem Kricket-Set der Familie und einer Kiste mit einem Wurfringspiel auf dem obersten Regalbrett. Die Arbeitsschürze hing an einem Haken.

„Ich putze die Fenster von innen“, bot sich Leah freiwillig an und freute sich, dass sie helfen konnte. Heute war der erste Tag seit fast zwei Wochen, an dem sie wieder aus dem Haus gehen konnte. Sie hatte im Hühnerstall die Eier eingesammelt und später einer Schar gackernder Hühner und einem Hahn Futter hingestreut. Die Tiere hatten sie wie eine Fremde behandelt. Früher hatte sie sich nie über ihre Beziehung zu den Hühnern den Kopf zerbrochen. Jetzt brach sie in ein helles Lachen aus, während sie die staubigen Schlieren vom Schuppenfenster wischte.

„Was ist denn so lustig?“, fragte Mama.

Als Leah ihre Mutter anschaute, fiel ihr erneut auf, welche Zufriedenheit ihre Mutter ausstrahlte. Mama sah immer sehr hübsch aus.

Sie erzählte, wie seltsam sich die Hühner verhalten hatten und vor ihr zurückgewichen waren, als würden sie Leah nicht kennen.

„Hühner sind launische Tiere. Das ist alles. Mach dir deshalb keine Gedanken, Liebes.“

„Es ist aber doch lustig, nicht wahr?“

Mama stimmte ihr zu. Ihre blauen Augen funkelten, als sie lächelnd fragte: „Aber sie haben trotzdem das Futter gefressen, das du ihnen hingestreut hast, oder?“

Das löste ein neues Lachen aus. „Ja, das haben sie.“

Leah musste immer noch schmunzeln und freute sich, dass sie mit ihrer Mutter gemeinsam lachen konnte. Sie hatte den Eindruck, dass sie und Mama sich in den letzten zwei Wochen nähergekommen waren. „Mama, was würdest du davon halten, wenn ich Papa sage, dass ich gern nähen und kochen und putzen möchte, wie du und Sadie?“, fragte sie.

Ein unerwarteter Sonnenstrahl drang durch das frisch geputzte Fenster in den Schuppen und ließ den Staub, den Mama zusammenfegte, im Licht tanzen. „Das klingt, als hättest du dir ernsthaft Gedanken darüber gemacht.“

„Ja, das habe ich“, war alles, was sie sagte. Sie hielt fast den Atem an, während sie wartete, wie Mamas Antwort wohl ausfallen würde.

„Ja, ich denke auch, es ist allmählich an der Zeit, dass du Frauenarbeit lernst. Ich bin einverstanden.“

Mamas Antwort bedeutete eine große Erleichterung für sie. Immerhin würde es nicht mehr lange dauern, dann würde sie heiraten, ihrem Mann den Haushalt führen und ihren Kindern etwas zum Anziehen nähen. Es war höchste Zeit, dass sie ihre Aussteuertruhe auffüllte, die bis jetzt ziemlich leer war, mit Ausnahme von ein paar Quiltdecken und Leinentüchern, die Mama, Tante Lizzie und einige andere Verwandte ihr im Laufe der Jahre geschenkt hatten.

„Willst du, dass ich mit Papa darüber rede?“, fragte Mama.

Leah wollte das lieber selbst tun. „Danke ... aber nein. Es ist wahrscheinlich am besten, wenn ich selbst sehe, wie Papa auf diese Idee reagiert. Einverstanden?“

Mama zuckte die Achseln und fegte weiter. Leah hatte das Gefühl, dass ihr eine Last von der Schulter genommen wurde. Ja, noch ein paar Tage und sie würde mit Papa über alles sprechen.