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Ruth Rendell

Die Unschuld
des Wassers

Ins Deutsche übertragen
von Eva L. Wahser

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel
»The Water’s Lovely«
bei Hutchinson, London.

1. Auflage
© 2006 by Kingsmarkham Enterprises Ltd.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Blanvalet Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-15128-7

www.blanvalet.de

1

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Wochenlang verschwendete Ismay keinen einzigen Gedanken daran. Dann rief irgendetwas die Erinnerung wieder wach, oder ein Traum ließ alles wieder aufleben. Der Traum begann immer gleich: Sie stieg mit ihrer Mutter die Treppe hinauf und folgte Heather durchs Schlafzimmer in den Raum auf der anderen Seite. Im Traum befand sich hier allerdings kein Bad, sondern ein ringsum mit Marmor getäfeltes Gemach, in dessen Mitte ein spiegelglatter See lag. Das weiße Ding im Wasser trieb, mit dem Gesicht nach unten, auf sie zu, und ihre Mutter rief absurderweise: »Schau weg!« Denn das tote Ding war ein Mann, ein nackter Mann, und Ismay ein fünfzehnjähriges Mädchen. Aber sie hatte hingesehen, und in den Träumen tat sie es wieder. Allerdings schaute sie nur auf das Gesicht des Ertrunkenen. Es war Guy. Sie hatte dem Toten ins Gesicht gesehen. Manchmal vergaß sie den Anblick, und doch flammte er immer wieder vor ihrem inneren Auge auf: die Angst, die noch in den toten Augen stand, die geblähten Nasenflügel, die statt Luft Wasser eingesogen hatten.

Heather zeigte weder Furcht noch sonst eine Emotion. Sie stand nur mit hängenden Armen da. Das nasse Kleid klebte ihr am Körper; unter dem Stoff zeichnete sich deutlich ihr Busen ab. Alle waren stumm, in der Realität wie in den Träumen, bis ihre Mutter auf die Knie sackte und unter Weinen und Lachen völlig wirres Zeug daherplapperte.

Bei Ismays Rückkehr war das Haus von Grund auf verändert. Selbstverständlich hatte sie gewusst, dass es zwei separate Wohnungen geben würde: eine im oberen Stockwerk für ihre Mutter und Pamela und die untere für sie und ihre Schwester Heather. Zwei Schwesternpaare – zwei Generationen. Doch eines war ihr während ihres letzten Universitätssemesters im sechshundertfünfzig Kilometer entfernten Schottland nicht klar gewesen: dass dabei ein Teil des Hauses verschwinden würde.

Die Idee dazu stammte von Pamela, auch wenn diese keinen Grund dafür hätte nennen können. Sie hatte von dem Vorfall so wenig Ahnung wie der Rest der Welt. In aller Unschuld und in bester Absicht hatte sie die drastischen Veränderungen geplant und ausgeführt. Pamela zeigte Ismay die Erdgeschosswohnung und begleitete sie dann nach oben.

»Ich bin nicht sicher, wie viel Beatrix versteht«, sagte sie, während sie die Tür zum ehemaligen Elternschlafzimmer öffnete. Hinter diesem Zimmer hatten sie damals den Ertrunkenen gefunden. »Ich kann nicht sagen, an wie viel sie sich noch erinnert. Weiß der Himmel, ob sie überhaupt realisiert, dass es sich um dasselbe Zimmer handelt.«

Das kann ja ich kaum, dachte Ismay und verstummte schockiert. Beinahe ängstlich sah sie sich um. Inzwischen war alles ein einziger Raum. Die Tür zum Bad – wo war sie gewesen? Die raumhohen Balkontüren waren verschwunden. Stattdessen gab es eine einzelne Glastür. Das Ganze wirkte größer und ähnelte mehr dem Zimmer aus den Träumen, wenn es auch nicht ganz so weitläufig war.

»So ist’s doch besser, Issy, oder nicht?«

»O ja, ja. Es war nur so ein Schock.« Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie das Haus verkauft hätten und weggezogen wären. Andererseits, wie hätten sie und Heather sich eine eigene Wohnung leisten können? »Hat Heather es schon gesehen?«

»Sie liebt ja Veränderungen über alles. Ich weiß nicht, wann sie das letzte Mal mit einer solchen Begeisterung auf etwas reagiert hat.« Pamela zeigte ihr die beiden Schlafzimmer, die früher einmal ihr und Heather gehört hatten, die neue Küche und das neue Bad. Am Treppenabsatz blieb sie stehen, umklammerte den Geländerpfosten und blickte Ismay fast flehend an. »Es ist neun Jahre her, Issy. Oder sind es schon zehn?«

»Neun. Fast neun.«

»Ich dachte, eine solche Veränderung würde dir helfen, die Sache endlich zu überwinden. Wir konnten dieses Zimmer doch nicht noch länger gesperrt lassen. Wie lange ist es her, seit es jemand betreten hat? Wahrscheinlich auch neun Jahre.«

»Ich denke nicht mehr viel daran«, log sie.

»Manchmal bilde ich mir ein, Heather könnte es vergessen haben.«

»Vielleicht kann ich es jetzt auch vergessen«, sagte Ismay und ging hinunter, um ihre Mutter zu suchen, die mit Heather im Garten geblieben war.

Vergessen ist keine Willenssache. Und so hatte sie die Sache zwar nicht aus ihrem Gedächtnis streichen können, aber das Gespräch mit Pamela, der Rundgang durch ihr altes Zuhause mit seinen Neuerungen markierten für Ismay einen Wendepunkt. Obwohl sie auch in der folgenden Nacht wieder von dem ertrunkenen Guy träumte, änderte sich allmählich ihre Einstellung, und sie spürte, wie die Last auf ihren Schultern leichter wurde. Sie hörte auf, sich zu fragen, was an diesem heißen Augustnachmittag passiert war. Wo war Heather gewesen? Was genau hatte Heather getan – wenn sie überhaupt etwas getan hatte? War vielleicht sonst noch jemand im Haus gewesen? Neun lange Jahre hatten die bohrenden Fragen und Spekulationen sie nicht losgelassen. Endlich hatte sie sich nach dem Grund dafür gefragt. Angenommen, sie fand die Wahrheit heraus. Was konnte sie damit anfangen? Sie hatte nicht vor, ihr zukünftiges Leben mit Heather zu teilen und sie vor irgendetwas zu beschützen, geschweige denn, sie »zu retten«. Die momentane Situation war einfach nur praktisch. Sie waren Schwestern und standen sich nahe. Sie liebte Heather, und das beruhte ganz gewiss auf Gegenseitigkeit.

Sie und Heather im Erdgeschoss, ihre Mutter mit Pamela im ersten Stock. Als Ismay ihre Mutter zum ersten Mal in dem neuen Wohnzimmer erlebte, beobachtete sie sie aufmerksam. Ihre Mutter hatte sich mit ihrem Radio, ihrem Fußschemel und ihrer Handtasche, die sie überall herumschleppte, eine Ecke eingerichtet. Ismay wollte wissen, ob der Blick der unter Medikamenten stehenden Beatrix vielleicht geistesabwesend das hintere Ende des Zimmers streifte, das sich am stärksten verändert hatte. Aber nein, das tat er nie. Offensichtlich war sie nicht einmal imstande zu begreifen, dass es sich um ein und dasselbe Zimmer handelte. Pamela hatte beide Schwestern auf einen Drink eingeladen. Heather ging mit Ismay hinauf, und es war genau, wie Pamela gesagt hatte. Heather benahm sich, als hätte sie alles vergessen. Sie ging sogar zu der neuen Glastür und öffnete sie, um zu prüfen, ob es regnete. Dann machte sie die Tür wieder zu und kam zurück. Vor einem Bild, das Pamela vor Kurzem aufgehängt hatte, blieb sie stehen. An dieser Wand hatte früher der Handtuchhalter gehangen; davor stand ein Schränkchen, auf das Beatrix eine Schüssel mit bunten Seifenstücken gestellt hatte. Ironischerweise war dieses Bild das Einzige, was an das ehemalige Badezimmer erinnerte: der Druck eines Bonnard-Gemäldes mit einer nackten Frau, die sich nach dem Bad abtrocknet.

Wenn alle den Vorfall vergessen, ignorieren oder akzeptieren konnten, dann musste sie es auch tun. Hatte sie ja auch schon. Fast war Ismay stolz darauf, dass sie genau das getan hatte, was man nach landläufiger Meinung tun musste: weitermachen. Als Ismay das nächste Mal in Pamelas Abwesenheit im oberen Stockwerk auf ihre Mutter aufpasste, stand sie irgendwann auf und ging über den polierten Boden und zwei Teppiche bis zu einem Tisch, der den Platz eingenommen hatte, an dem sich früher die Dusche befand. Dort nahm sie einen gläsernen Briefbeschwerer mit Rosenmuster in die Hand. Während sie ihn gegen das Licht hielt, spürte sie, wie ihr Herz schneller schlug. Das Pochen beruhigte sich, wurde langsamer und gleichmäßig. Dann drehte sie sich um und betrachtete demonstrativ die Stelle, wo Guy gestorben war.

Beatrix hatte ihr Radio eingeschaltet und dabei wie immer ihren Körper so nach links verdreht, dass ihr Kopf fast auf dem Regalbrett neben dem Radio lag. Sie presste ihr Ohr an den Lautsprecher. Nichts deutete darauf hin, dass sie registrierte, wo Ismay stand. Als ihre Tochter sie anlächelte, rang sie sich ein zerstreutes Lächeln ab.

Kurze Zeit später fand Ismay einen Job in der Werbung, und Heather kam in der Gastronomie unter. Die Schwestern kamen gut miteinander aus. Wie immer. Ismay hatte sich schon vor langer Zeit, beinahe unbewusst, zu Heathers Aufpasserin ernannt. Nein, das nun auch nicht, niemals – zu ihrer Gefährtin war sie geworden. Sie hatte nicht die Absicht, Heather zu überwachen, und wollte sie auch nicht »im Auge behalten« – Ismay wollte einfach nur da sein und sich um sie kümmern. Bei jedem Besuch daheim, jedes Mal, wenn ihre getrennten Wege sie während der letzten vier Jahre zusammenführten, hatte sie sich detailliert nach allem erkundigt und Heather aufmerksam zugehört. An die Zukunft und die damit unausweichlich verbundene Trennung verschwendete sie nie viele Gedanken. Entweder würde es eines Tages zwangsläufig dazu kommen, oder man musste die Trennung vermeiden, wofür beide einen grausamen Preis bezahlen würden.

So lebten sie zusammen, ohne je ein Wort über die Veränderungen im Haus zu verlieren, geschweige denn über den Vorfall an jenem Augusttag, an dem Ismay fünfzehn und Heather zwei Jahre jünger gewesen war. So blieb es Ismay erspart, jene nie ausgesprochene Frage zu stellen. Jede von ihnen zahlte die Hälfte der Miete als Unterhalt an Beatrix.

Ein Jahr verging und noch ein halbes. Ismay verliebte sich. Als sie Pam, die ihr zuhörte, und ihrer Mutter, die anscheinend nichts davon aufnahm und nicht einmal die Worte zu hören schien, davon erzählte, schilderte sie ihren Zustand wie einen freien Fall ins Ungewisse. Noch nie hatte eine Frau so leidenschaftlich geliebt wie Ismay ihren Andrew Campbell-Sedge. Auch Heather hörte zu, hatte aber ihrerseits nichts zu berichten. Heather und Liebesaffären? Wenn, dann waren es sicher nur kurze, oberflächliche und halbherzige Versuche gewesen. In Andrews Gegenwart verlor Heather kaum ein Wort. Ismay wusste, warum. Wenn Heather jemanden nicht leiden konnte, blieb sie stumm. Doch in dem Fall steckte noch mehr dahinter.

Andrew sah aus wie Guy. Er war derselbe Männertyp. Er hätte Guys jüngerer Bruder sein können. War das der Grund dafür, dass Ismay ihn liebte und Heather ihn nicht mochte? In der Nacht, als Ismay das begriff, hatte sie wieder diesen Traum, nur dass sie diesmal unter dem klaren hellgrünen Wasser Andrews Gesicht sah.

2

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Als Edmund von der Arbeit heimkam, war Marion da. Schon zum zweiten Mal in dieser Woche. Seine Mutter meinte: »Marion war so nett und hat für mich die Einkäufe erledigt. Da habe ich sie gebeten, noch zu bleiben und mit uns zu essen. Ich wusste, du würdest dich freuen.«

Tatsächlich? Warum? Soweit er wusste, hatte er sich nie über Marion geäußert. Vor ein paar Monaten hatte er lediglich angemerkt, es sei ihm schleierhaft, warum Frauen ihre Haare so unnatürlich tiefrot färbten. Marion lächelte ihn an und plauderte bei Tisch munter wie eh und je über sämtliche alten Leutchen, die sie besuchte und denen sie so gern half. »Schließlich werden wir alle mal alt, nicht wahr?« Dann folgten Bemerkungen über das staatliche Gesundheitswesen und die verschobene Hüftoperation ihrer verstorbenen Mutter, über Sedativa, Schmerzmittel und alternative Medizin. Sie bildete sich ein dies sei sein Interessengebiet, und gab sich die größte Mühe, ihm zu gefallen. Später würde er sie zur U-Bahn-Station begleiten müssen, die zwar nur am Fuß des Hügels lag, aber schließlich konnte er sie nicht allein durch die dunklen Straßen gehen lassen. Und auf dem ganzen Weg würde sie ihm erzählen, wie fantastisch sich seine Mutter trotz ihrer gesundheitlichen Probleme gehalten habe.

Seine Mutter hatte Avocados mit Krabben vorbereitet, und danach gab es Spaghetti Carbonara. »Einfach köstlich, Irene«, rief Marion, die sich selbst für keine schlechte Köchin hielt. Als Geschenk hatte sie ihr eine Linzer Torte mitgebracht. »Wenn ich die Augen zumache, fühle ich mich wie in Bologna.«

Wärst du’s doch nur, dachte Edmund. Aha, also war man inzwischen bei »Irene« angelangt. Bei ihrem letzten Besuch hatte es noch »Mrs Litton« geheißen. Marions Haare wiesen eine kräftigere Rotfärbung auf als am Wochenanfang. Ihr kleines Klammeräffchengesicht war noch stärker geschminkt. Noch nie hatte er eine so zappelige Frau erlebt. Sie konnte keine fünf Minuten still sitzen. Ständig sprang sie auf und stakste auf ihren Streichholzbeinchen in den Pumps mit den neckisch-niedrigen Pfennigabsätzen herum.

»Bitte, fühlen Sie sich nicht verpflichtet, mich zu begleiten«, sagte sie zu ihm, nachdem sie den Kaffee serviert und wieder abgeräumt hatte. Noch eine Premiere.

»Das macht doch keine Mühe«, sagte seine Mutter, als müsste sie es tun. »Stellen Sie sich nur vor, es würde etwas passieren. Das würde er sich nie verzeihen.«

Sie lächelte und blickte Marion verschwörerisch an, als wollte sie sagen: Sehen Sie denn nicht, wie gern er Sie begleiten möchte? In dem Moment wusste er Bescheid: Marion war für ihn bestimmt. Seine Mutter hatte sie ihm als Geschenk ausgesucht. Wahrscheinlich noch nicht gleich, als man sich vor ein, zwei Jahren kennengelernt hatte – nein, damals noch nicht, aber vielleicht vor sechs Monaten schon. Und er, der Narr, hatte es nicht kommen sehen. Erst jetzt gingen ihm die Augen auf. Marion war älter als er, jedoch höchstens fünf oder sechs Jahre. Sie sollte seine Freundin werden, dann seine Verlobte und übers Jahr seine Ehefrau – eine Ehefrau, die mit seiner Mutter gern unter einem Dach wohnen würde.

Extreme Situationen erforderten extreme Maßnahmen. Er begleitete Marion den Hügel hinunter und hörte sich ihr Geplapper über die Arthritis seiner tapferen Mutter – als sei Irene neunzig und nicht zweiundsechzig – und die jüngsten Kapriolen des alten Mr Hussein und der alten Mrs Reinhardt an. Allerdings nur mit halbem Ohr, denn gleichzeitig sann er über mögliche Gegenmaßnahmen nach. Als sie ihm vor dem Bahnhof für seine Begleitung dankte, hob sie ihm ihr Gesicht entgegen. Erwartete sie etwa einen Kuss? Er trat einen Schritt zurück, wünschte ihr eine gute Nacht und ließ sie stehen.

»Wirklich eine reizende Frau«, meinte seine Mutter. »Ein reizendes Mädchen, sollte ich wohl besser sagen.« Sie hielt inne, um ihrer Bemerkung Nachdruck zu verleihen. »Wir haben einen neuen Nachbarn. Ich habe ihn heute einziehen sehen. Ein gewisser Mr Fenix. Marion meint, er hätte über eine Million für das Haus bezahlt. Und sie muss es schließlich wissen.«

Am nächsten Tag schaute er sich im Hospiz seine Kolleginnen etwas genauer an. Sämtliche Krankenschwestern, das wusste er, waren verheiratet oder lebten mit einem Freund zusammen. Am späten Vormittag ging er während seiner Arbeitspause hinunter in den Küchentrakt, um sich zum Kaffee einen Lebkuchen oder ein Stück Strudel zu holen. Das Jean-Langholm-Hospiz war für seine gute Küche bekannt. Wie sagte Michelle, eine der Köchinnen, immer? »Wenn die Leute schon zum Sterben hierherkommen, dann wollen wir ihnen zum Abschied wenigstens ein anständiges Essen servieren.«

Michelle half Diane gerade beim Gemüseputzen, wusch Brokkoli und bürstete Karotten ab. Heather, die Küchenchefin, buk zum Mittagessen hauchdünne Pfannkuchen. Edmund ging zu ihr hin – das tat er manchmal –,erkundigte sich nach ihrem Befinden und erzählte ihr von einem Patienten, für den sie sich interessiert hatte, einen gewissen Mr Warriner, der als Krebspatient auf seiner Station lag. Sein »Wie geht’s?« beantwortete sie einfach mit einem Lächeln, und die Neuigkeiten über Mr Warriner quittierte sie mit einem Kopfnicken. Sie war eine zurückhaltende junge Frau mit einem unscheinbaren Gesicht, das Ruhe und Gelassenheit ausströmte, und hatte eine kräftige rundliche Figur, ohne dabei dick zu sein. Sie sah immer aus, als sei sie frisch gebadet und hätte sich die Haare gewaschen. Ihre blauen Augen erinnerten an Delfter Porzellan. Ihre wunderschön dichten, blonden Haare waren zu einem Pagenkopf geschnitten. Freundlich fragte sie, ob sie ihm etwas vom Mandelkuchen oder von der Torte anbieten könne. Edmund entschied sich für ein Stück Battenberg-Torte und fragte dann: »Hätten Sie Lust, mit mir nach Feierabend mal was trinken zu gehen?«

Diese Frage kam für sie offensichtlich völlig unerwartet. »Ja, gern«, sagte sie leicht zögerlich.

»Wie wär’s dann mit heute Abend?«

Heather starrte ihn an, aber sie überlegte nicht lange. »Wenn Sie möchten.«

»Wann machen Sie hier Schluss?«

»Um sechs.«

»Dann hole ich Sie hier unten um sechs Uhr ab.«

Dafür würde er zwar auf seiner Station eine Stunde lang die Zeit totschlagen müssen, aber das war auch egal. Er könnte mit Mr Warriner über dessen Sohn, den Hund und die prächtige Briefmarkensammlung aus vergangenen Tagen plaudern. Egal, wie schrecklich dieser Abend werden würde, egal, wie oft Heather und er sich lange anschweigen und verlegen in die Augen sehen würden, alles war besser als Marion und ihr Geblöke. Wenigstens würde er dadurch der Falle entgehen, die seine Mutter und Marion für ihn aufgestellt hatten.

»Wie findest du das?«, fragte Ismay. »Heather hat einen Freund.«

Andrew, der gerade Wein einschenkte, war so verblüfft, dass er das Glas überlaufen ließ. Ismay holte schnell ein Handtuch aus dem Bad. Lachend küsste er sie. »Und wer ist dieser Held?«

»Ach, Andrew, das ist nicht nett. Schließlich ist und bleibt sie meine Schwester. Ich liebe sie, auch wenn du es nicht tust.«

»Entschuldige, Schatz. Vermutlich beurteile ich sie und ihre Art, mit anderen Typen umzugehen, danach, wie sie mich behandelt. Auf dem Gebiet des hartnäckigen Schweigens ist sie eine wahre Meisterin. Aber das wäre mir ja alles egal, wenn sie nicht bei dir wohnen würde.« Andrew reichte ihr ein Glas, setzte sich neben sie und zündete sich eine Zigarette an. Ismays Missbilligung gegenüber Rauchern kannte nur eine einzige Ausnahme: Andrew. Sie fand, er rauchte so elegant wie ein Hollywoodschauspieler aus den Dreißigerjahren. »Also weißt du«, fuhr er fort, »eines müsstest du mir wirklich hoch anrechnen: dass ich nicht getürmt bin, nachdem ich herausgefunden hatte, dass der kleine Hausdrache, der es sich auf diesem Sofa bequem gemacht hatte, in Wirklichkeit deine Schwester und Mitbewohnerin war. Ist ja gut, sei doch nicht beleidigt. Du weißt doch, dass ich dich liebe. Wer ist es? Erzähl mir von ihm.«

»Er ist Pfleger.«

»Du machst Witze. Im Zoo?«

»Nein, Andrew, er ist Krankenpfleger. Im Jean-Langholm-Hospiz, wo auch Heather arbeitet.«

»Hätte ich mir denken können. Hast du ihn schon kennengelernt?«

»Noch nicht. Er heißt Edmund Litton und hat offensichtlich sämtliche Krankenpflegediplome, die man erwerben kann. Er wohnt in West Hampstead und ist dreiunddreißig.«

»Wie schaffst du es nur, einer Wand diese ganzen Informationen abzuluchsen? Ich bringe kaum ein Wort aus Heather heraus. Das totale Gegenteil zu dir, mein Plaudertäschchen. Ehrlich, manchmal frage ich mich, ob sie wirklich deine Schwester ist. Vielleicht ist sie ein Wechselbalg. Du bist so hübsch, während sie nun wahrlich keine Grazie ist. Stimmt doch, oder?«

»Keine was?«

»So sagt meine Großmutter immer. Mir gefällt dieser Ausdruck. Klingt so bildlich. Jetzt interessiert mich nur noch eines: Wird er sie heiraten? Wird dieser kühne Sanitäter sie ehelichen und von hier entführen, damit wir beide das tun können, was ich mir schon seit einem ganzen Jahr wünsche? Endlich zusammenziehen?«

»Ach, Andrew, das glaube ich nicht«, sagte Ismay. »Er wohnt bei seiner Mutter.«

Das Haus, Mitte der Dreißigerjahre erbaut, war ziemlich groß. Irene Litton hätte nie erwartet, dass ihr Sohn mit ihr eine Wohnung oder ein kleines Häuschen teilen würde. Jedenfalls redete sie sich das ein. Wenn man aber ein Haus mit vier Schlafzimmern zur Verfügung hatte, war es einfach unklug, so etwas leer stehen zu lassen, oder, besser gesagt: Es war klug, es nicht zu tun. Trotz seiner vielen Urkunden und Diplome verdiente Edmund nicht sonderlich viel. Wenn er nach den Wünschen seiner Eltern Medizin studiert hätte, wäre sein Gehaltsniveau ein ganz anderes gewesen, aber so, wie die Dinge lagen, wäre es schlicht und einfach töricht gewesen, wenn er von seinem Gehalt noch eine Hypothek für eine Wohnung hätte abbezahlen müssen. Natürlich hätte sie das Haus verkaufen und den Erlös mit Edmund teilen können. Doch dazu hätte sie vergessen müssen, wie sehr sie dieses Haus am Chudleigh Hill liebte und dass es seit sechsunddreißig Jahren ihr Zuhause gewesen war, jenes Zuhause, in das sie als Braut eingezogen war. So etwas hätte ihr Sohn nie zugelassen. Dafür respektierte er ihre Gefühle und Erinnerungen viel zu sehr.

Außerdem würde sie ja nicht mehr lange leben. Sie würde nicht steinalt werden. Das wusste sie schon seit Edmunds Geburt, die sie noch in schrecklicher Erinnerung hatte. Achtunddreißig Stunden lang Wehen! Man hatte sich an ihren Mann gewandt und ihn gefragt, wen man retten solle, seine Frau oder das Ungeborene. Seine Frau, hatte er selbstverständlich gesagt. Wie sich nach einem qualvollen Albtraum herausstellte – sie dachte, sie müsse sterben –, kam das Kind zur Welt, und sie lebte immer noch. Aber von diesem Augenblick an wusste sie, dass sie von Natur aus nicht kräftig war. Andernfalls hätten sie nicht so viele Unpässlichkeiten geplagt: Migräneattacken, die sie immer wieder tagelang hinstreckten, Kreuzschmerzen, von denen Edmund behauptete, die Ursache sei weder Arthritis noch eine Rückgratverkrümmung – aber er war eben kein Arzt –, eine Fibromyalgie, die von chronischer Müdigkeit begleitet wurde, chronische Verdauungsstörungen, taube Hände und Füße – so begann Parkinson, das wusste sie –, und in der letzten Zeit Panikattacken, die sie schier um den Verstand brachten.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihren fünfzigsten Geburtstag erleben würde. Ein Wunder, dass es anders gekommen war und sie immer noch lebte, aber jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Wenn sie in zwei, drei Jahren starb, würde das Haus samt Einrichtung an Edmund fallen. Eigentlich hatte sie gehofft, dass auch Marion dabei mitbedacht würde, aber das sollte nun nicht sein. Na ja, junge Menschen mussten ihre eigenen Entscheidungen treffen. Und ihre eigenen Fehler machen. Um Edmunds willen hoffte sie, dass er mit seiner Entscheidung für diese Heather keinen Fehler gemacht hatte. Er hatte sie zum Chudleigh Hill mitgebracht. Nicht um sie seiner Mutter vorzustellen – so konnte man das wohl nicht gerade nennen. Er hatte sie einfach mitgebracht. Das Mädchen war, vorsichtig ausgedrückt, linkisch und starrte einen aus grellblauen Augen irritierend an. Richtig unverschämt, dachte Irene. Aber gewiss trieben die beiden dort oben nichts, was sie nicht tun sollten. Schließlich war noch helllichter Samstagnachmittag. So etwas würde Edmund nie machen. Nicht vor der Hochzeit. Oder wenigstens nicht vor der Verlobung, dachte Irene tapfer; schließlich war sie ja nicht von gestern.

»Mutter, das ist Heather«, sagte Edmund.

»Angenehm.«

»Hallo, Mrs Litton«, sagte das Mädchen. Nach Irenes Geschmack klang es viel zu lässig.

Hübsche Haare, dachte Irene, aber sonst macht sie nicht sonderlich viel her. »Kann ich euch einen Tee anbieten?«

»Wir wollten gerade ins Kino«, erwiderte das Mädchen.

»Wie reizend. Was wollt ihr euch denn ansehen?«

»›Der Manchurian Kandidat.‹«

»Ach, den würde ich auch gern sehen«, meinte Irene. »Mit Nicole Kidman, oder?«

»Ich glaube nicht.« Heather wandte sich von Edmund ab und sah ihr lächelnd ins Gesicht. »Mrs Litton, würden Sie uns bitte entschuldigen? Wir müssen gehen. Ed, mach schon, sonst kommen wir zu spät.«

Ed! So hatte ihn noch niemand genannt. Unwillkürlich musste sie an den gewaltigen Unterschied zu Marion denken. Und Marion hätte sie mit Sicherheit gebeten, sie zu begleiten, wenn sie geäußert hätte, dass sie diesen Film gern sehen würde. Schließlich war das eine Sache der Höflichkeit. Eigentlich hätte auch Edmund sie fragen können. Plötzlich verspürte sie ein Stechen in der Leibesmitte, bittere Galle stieg in ihr hoch. Hatte sie vielleicht Gallensteine? Edmund würde es wissen, auch wenn er kein Arzt war. Sie würde ihn danach fragen, sobald er heimkam.

In der Nacht wachte Ismay auf und konnte nicht mehr einschlafen. Sie lag allein im Dunkeln – Andrew war schon fort – und grübelte über ihre Schwester nach. Würde dieser Mann ihre Schwester vielleicht heiraten? Gab es eine Chance? Bis Andrew auf diese Idee gekommen war, hatte sie an so etwas nicht einmal im Traum gedacht. Schließlich waren Edmund und Heather noch nicht einmal einen Monat zusammen. Trotzdem schien Heather ihn zu mögen, denn irgendwie war sie ständig mit ihm unterwegs. Noch nie war sie so oft ausgegangen, wenigstens nicht, seit Ismay hier mit ihr zusammenlebte. Während ihrer Ausbildung zur Diätassistentin hatte Heather zwar ein, zwei Freunde gehabt, aber das war, jedenfalls soweit Ismay wusste, nichts wirklich Ernstes gewesen.

Sie stand auf und wollte ins Bad gehen. Es dämmerte schon. Graues Licht kündete vom baldigen Sonnenaufgang. Heather hatte ihre Tür offen gelassen. Ismay blieb stehen und warf einen Blick auf ihre tief und fest schlafende Schwester, deren wunderschöne Haare wie ein goldenes Seidenkissen auf dem Polster lagen. Daneben ruhte ihre kräftige rechte Hand, die so geschickt zupacken konnte. Es war reichlich früh, an eine Hochzeit mit Ed zu denken, andererseits hatte es eine solche Situation noch nie vorher gegeben. Irgendwie musste sich Ismay eingestehen, dass sie eine ernste Beziehung für Heather wie selbstverständlich ausgeschlossen hatte. Als sie sich nach dem Grund dafür fragte, fiel ihr lediglich eine unbefriedigende Antwort ein: Heather war eben Heather. Sie war nicht wie andere Mädchen und für Männer nicht attraktiv. Aber auf Edmund musste sie wohl doch anziehend wirken.

Selbstverständlich hatte sie sich nicht darauf versteift, mit Heather zusammenzubleiben und für immer und ewig eine Wohnung mit ihr zu teilen. Ein solcher Gedanke wäre völliger Unsinn gewesen – schließlich war Heather ein unabhängiger Mensch. Sie konnte sich ganz gut um sich selbst kümmern und allein leben oder eben eine Existenz als Ehefrau führen. Jedenfalls ging Ismay davon aus, ganz im Gegensatz zu Andrew, in dessen Augen Heather irgendwie behindert war. Doch in diese Richtung hatte Ismay nicht einmal zu denken gewagt. Natürlich konnte sie sich notfalls von Heather trennen, und dann würden sie leben wie alle anderen normalen Schwestern auch, die einander gern hatten, ohne deswegen auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet zu sein …

An allem war nur die Nacht schuld. Fünf Uhr morgens – die Stunde der Verwirrung und der Trauer. Sie ging wieder ins Bett, wo sie im blassgrauen Licht mit offenen Augen dalag. Endlich erkannte sie, dass das alles nichts mit der Tageszeit zu tun hatte und auch nicht mit ihrem Wunsch, sich mit Andrews oder Heathers Naturell abzufinden. Alles drehte sich darum, was Heather vor zwölf Jahren getan hatte. Und getan hatte sie etwas, das stand zweifellos fest.

Doch das wussten nur drei Menschen: sie, ihre Mutter und Heather selbst. Dieses Wissen hatte ihre Mutter in den Wahnsinn getrieben, in die Schattenwelt der Schizophrenie. Ja, sie hatten über Heathers Beteiligung und über ihre Schuld diskutiert, sie und ihre Mutter, aber eben auch nur untereinander und nie mit Heather. Und die verhielt sich so, als hätte es nie einen Vorfall gegeben; sie sprach nie über Guy oder seinen Tod. Selbst die Erinnerung an ihn schien bei ihr gelöscht zu sein. Und doch war er tot, und daran war Heather schuld. Manchmal spürte Ismay eine Gewissheit, als hätte sie die Tat mit eigenen Augen gesehen, und manchmal glaubte sie nur, es zu wissen, weil jede andere Möglichkeit ausgeschlossen war.

Angenommen, Heather wollte Edmund Litton heiraten. Musste man ihm von der Sache erzählen? Das war die große Frage. Konnte sie es zulassen, dass dieser offensichtlich nette, brave und intelligente Mann Heather zur Frau nahm, ohne von ihrer Tat zu wissen? Andererseits – würde er Heather dann noch wollen? Ich liebe meine Schwester, flüsterte sie sich im Dunkeln zu. Sie ist ein liebenswürdiges Geschöpf, egal, was Andrew sagt. Es wäre mir unerträglich, sie zu verletzen und ihres Glückes zu berauben und sie vom Leben abzuschneiden, so wie man früher Mädchen ins Kloster gesteckt hat, nur weil … weil sie jemanden ertränkt hatte?!

Sie hörte, wie Heather aufstand und ganz leise in die Küche schlich. Sollte sie Heather Edmunds Obhut anvertrauen, auch wenn sie selbst diese Rolle nur halbherzig ausgeübt hatte? Ismay versuchte, den Gedanken abzuschütteln. Es ist noch früh am Tag, redete sie sich ein. Einschlafen konnte sie trotzdem nicht mehr.

3

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Ohne ein eigenes Zuhause oder genug Geld für eine befristete Bleibe gestaltete sich ein Sexleben schwierig. Edmund hatte bereits seit fünf Jahren mit niemandem mehr geschlafen. Das letzte Mal war es während der Weihnachtsfeier im Hospiz mit einer Krankenschwester von einer Teilzeitagentur passiert, in einem Raum voller Waschbecken, der sogenannten »Schleuse«. Und auch das war nur ein einmaliger Quickie gewesen. Seitdem er mit Heather ausging, erfüllte ihn der Gedanke an seine weitgehend sexfreie Zeit zwischen zwanzig und dreißig mit ungläubiger Scham. Dieses Jahrzehnt galt im Hinblick auf Lust und Potenz als die beste Phase im Leben eines Mannes, und er hatte sie verstreichen lassen, weil er sich stets gescheut hatte, seiner Mutter zu eröffnen, dass er ein Mädchen bei sich übernachten ließ. Reue war sinnlos. Aber noch war nicht alles zu spät, und noch heute Abend wollte er seiner Mutter mitteilen, dass er übers Wochenende verreisen würde. Und auch den Grund dafür.

Schon seit einiger Zeit hatte er ihr nun die Stirn geboten. Lange vor seiner Begegnung mit Heather hatte er ein Abendessen bei seinem Freund, dem am Hospiz arbeitenden Palliativmediziner Ian Dell, erlebt und dabei Ian mit dessen Mutter beobachtet. Nie hätte er sich träumen lassen, dass sein energischer, resoluter Freund so kraftlos und unterwürfig sein konnte und dermaßen unter der Knute seiner Mutter stand. Mrs Dell war eine kleine alte Hexe, wie Edmund sie innerlich nannte, und hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Irene Litton, aber in ihrem diktatorischen Verhalten glichen sich beide wie ein Ei dem anderen. Ian gab Mrs Dell fast in allen Punkten nach, und zu allem Überfluss entschuldigte er sich sogar noch bei Edmund dafür, dass er sich – im Tonfall äußerst liebenswürdig – geweigert hatte, anderntags im Hospiz frei zu nehmen, um seine Mutter zu ihrer Schwester nach Rickmansworth zu fahren.

»Wahrscheinlich denkst du, ich hätte sie fahren sollen«, meinte er. »Ich habe noch Überstunden, und außerdem ist es bei uns momentan nicht so hektisch. Stimmt ja auch. Ich werde die Sache wieder ausbügeln und am Wochenende mit ihr einen Ausflug machen.«

In Ian hatte er sein eigenes Spiegelbild erblickt. Er musste sich ändern. Wenn er schon jetzt, mit Anfang dreißig, nicht mehr in der Lage war, seiner Mutter die Stirn zu bieten, dann war alles zu spät. Obwohl er mit Heather nie über seine Mutter gesprochen hatte, half es ihm irgendwie weiter, dass die junge Frau einen Platz in seinem Leben hatte. Es verlieh ihm Selbstvertrauen und stimmte ihn fröhlich. Als ihn Irene an seinem ersten freien Samstag seit einem Monat aufgefordert hatte – es war eine Aufforderung und keine Bitte –, mit ihr zusammen seine Tante und seinen Onkel in Ealing zu besuchen, hatte er tief Luft geholt und sich geweigert. Er habe schon etwas vor. Die Folge war ein erbitterter Streit gewesen, der darin gipfelte, dass seine Mutter eine Panikattacke bekam. Aber Edmund sagte sich immer wieder: Der erste Schritt zählt. Danach würde allmählich alles leichter werden, und er würde ihr in aller Offenheit seine Planung fürs Wochenende mitteilen können. Und sie würde sich einfach damit abfinden müssen. Mit diesen Gedanken nahm er allen Mut zusammen.

Als er Heather zum ersten Mal auf einen Drink eingeladen hatte, hatte er ihrer Beziehung kaum eine Zukunft gegeben. Höchstens ein paar Wochen ohne Sex. Wie immer eben. Außerdem hatte er Heather nicht sonderlich attraktiv gefunden, auch wenn sie mehr zu bieten hatte als die dürre Marion mit ihrem kalkweißen Gesicht und den grellroten Haaren. Aber das hatten fast alle anderen Frauen. Nachdem sie nun aber öfter einen Schluck zusammen getrunken hatten und schon dreimal miteinander essen gegangen waren, nach zwei Kinobesuchen und einem Theaterabend und dem Besuch einer Ausstellung über den Wandel des Essens durch die Jahrhunderte, die sie unbedingt hatte sehen wollen, betrachtete er sie mit anderen Augen.

Eines Abends sagte sie zu ihm: »Ich bin normalerweise ziemlich schweigsam. Abgesehen von meiner Schwester unterhalte ich mich nicht viel mit anderen Leuten. Mit dir kann ich reden.«

Dieser Satz berührte ihn ungemein. »Das freut mich.«

»Bei dir fällt es mir leicht, weil du keine dummen Sachen sagst. Das ist schön.«

Er begleitete sie nach Hause, nach Clapham. Als er sich an der U-Bahn-Station Embankment nicht von ihr verabschiedete, sondern den ganzen Weg mitfuhr, sagte sie: »Du bist so nett zu mir. Ich gehe nicht gern allein von der U-Bahn nach Hause.«

»Selbstverständlich begleite ich dich«, erwiderte er. Und als sie am Rand des Common entlangspazierten, nahm er sie bei der Hand.

Sie hatte einen warmen, kräftigen Händedruck. Als er ihr im Schein der Straßenlampe ins Gesicht sah, merkte er, dass sie ihn unverwandt aus großen Augen anschaute, deren undurchsichtig-milchiges Blau an eine Keramikglasur erinnerte. Und dann waren da noch andere Merkmale, die jedem männlichen Wesen mehr ins Auge gestochen hätten: ihr üppiger Busen und die runden Hüften, ihre vollen Lippen und schließlich die Haare, diese leuchtend-schimmernde volle Haarpracht, mal flachsblond, dann wieder wie Stroh oder feinstes Gold. Sie machte nie viele Worte, aber wenn sie sprach, klang ihre Stimme weich und tief, und wenn sie lächelte, was selten geschah, begann ihr Gesicht zu strahlen und ließ sie schön erscheinen.

Wider Erwarten bewohnte sie in einer gleichförmigen Häuserzeile ein deutlich größeres, freistehendes Haus, das als einziges einen überdachten Weg vom Tor bis zur Haustreppe hatte. Steinerne Ananasstauden zierten die Torpfosten. Im ersten Stock und im Erdgeschoss brannte Licht.

»Im Erdgeschoss wohne ich zusammen mit meiner Schwester Ismay und meine Mutter wohnt mit ihrer Schwester im ersten Stock.« Am Fuß der Treppe blieb sie stehen, ohne dabei seine Hand loszulassen. »Am nächsten Wochenende werden Ismay und ihr Freund nicht da sein«, sagte sie leise.

»Darf ich dich am Freitag ausführen?«

Sie hob ihr Gesicht. Noch nie hatte er einen so vertrauensvollen Blick gesehen, dachte er im schimmernden Halbdunkel. Ihre Lippen berührten sich, und er küsste sie wie auch in den vergangenen Wochen. Aber diesmal erwiderte sie den Kuss auf eine Weise, die ihn leidenschaftlich erregte. Als sich ihre Gesichter voneinander lösten, rang er nach Luft. Sie umarmte ihn ganz fest.

»Heather«, keuchte er. »Heather, mein Liebling.«

»Komm am Wochenende.«

Er nickte. »Ich freue mich schon jetzt riesig darauf.«

»Ich werde übers Wochenende nicht da sein«, sagte Edmund zu seiner Mutter. »Am Sonntag bin ich wieder zurück.«

Sie hatten sich eben erst zu Tisch gesetzt. Irene spießte den ersten Bissen auf die Gabel und legte sie dann wieder hin. »Du verreist doch nie übers Wochenende.«

»Nein. Höchste Zeit, dass ich damit anfange.«

»Und wohin fährst du?«

»Nach Clapham.«

»Aber nach Clapham musst du doch nicht verreisen. Clapham liegt in London. Was du in Clapham erledigen willst, kannst du doch auch tagsüber machen. Dann bist du zum Schlafen wieder hier.«

Edmund fasste erstaunlicherweise Mut. Lag es an Heather? »Ich werde das Wochenende bei Heather verbringen.«

Edmund aß weiter, im Gegensatz zu seiner Mutter. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf und meinte: »Ach, Edmund, Edmund, ich hätte nicht gedacht, dass du zu dieser Sorte Männer gehörst.«

Noch immer war er vor ihr auf der Hut, aber mittlerweile zog er Vergleiche zwischen seinem jetzigen Verhalten und früher. Dazwischen lagen Welten. Seine Anstrengung hatte sich gelohnt, und manchmal amüsierten ihn die Auseinandersetzungen mit ihr bereits. »Welche Sorte Männer, Mutter?«

»Tu nicht so, als wüsstest du nicht, was ich meine.«

»Mutter, ich werde das Wochenende mit meiner Freundin verbringen. Wahrscheinlich möchtest du nicht, dass ich ins Detail gehe.« Zum ersten Mal hatte er Heather als seine Freundin bezeichnet. »Und jetzt würde ich gern fertig essen.«

»Ach, ich bringe keinen Bissen mehr hinunter«, sagte Irene, lehnte sich in ihren Stuhl zurück und rang nach Luft. »Ich fühle mich gar nicht wohl. Wahrscheinlich kündigt sich wieder eine Migräne an.«

Am liebsten hätte Edmund etwas gesagt wie: »Sobald ich etwas sage, was dir nicht passt, fühlst du dich immer schlecht.« Oder sogar: »Könnte es vielleicht etwas Psychosomatisches sein?« Aber er blieb stumm. Er hatte keine Lust, weiter mit ihr zu streiten, geschweige denn sich zu verteidigen. Um Himmels willen, nur das nicht. Selbstverständlich würde sie das Thema erneut aufgreifen. Immer wieder.

Kaum hatte er Messer und Gabel über Kreuz auf seinen leeren Teller gelegt, war es auch schon so weit. »Dann werde ich in diesem Haus ganz allein sein.«

»Es sei denn, du holst Marion zu dir.«

»In meinem Alter ist das hart. Schließlich habe ich nicht mehr viel Kraft.«

»Mutter«, sagte er, »gleich nebenan wohnt Mr Fenix. Er ist ein guter Nachbar. Und zu den Leuten von gegenüber besteht auch eine gute Nachbarschaft. Du hast einen Telefonanschluss und ein Handy. Du bist erst zweiundsechzig, und dir fehlt nichts.« Noch vor einem halben Jahr hätte er nicht die Kraft für solche Sätze gehabt.

»Mir fehlt nichts!« Sie wiederholte diese Worte mit einem ironischen Lachen. »Es ist schon erstaunlich, wie gefühllos die eigenen lieben Kleinen als Erwachsene plötzlich sein können. Als man mir dich, einen Winzling, das erste Mal in den Arm gelegt hat, hätte ich mir nie träumen lassen, dass du mir meine Qualen mit einer solchen Behandlung vergelten würdest. Niemals! Nicht nach allem, was ich durchgemacht habe, um dich auf die Welt zu bringen.«

»Soll ich Marion für dich anrufen, ja? Dann kannst du sie fragen.«

»Nein, nein, ich kann mich nicht von fremden Leuten abhängig machen. Das muss ich schon allein ertragen. Lieber Gott, hoffentlich werde ich nicht krank.«

Wie er es sich vorgenommen hatte, fuhr Edmund am Freitag nach Clapham, allerdings erst nach einigen weiteren Kämpfen. Am Abend vorher ereilte Irene eine Erkältung, und zwar eine echte. Im Gegensatz zu Sodbrennen, das lediglich auf der eigenen Aussage beruht, kann man Niesattacken und eine laufende Nase nicht vortäuschen. Irene wies darauf hin, dass ihre letzte Erkältung gerade mal drei Wochen zurückliege. Und dass zwei unmittelbar aufeinander folgende Erkältungen sehr wohl die Vorboten einer Lungenentzündung sein könnten, sei ja hinlänglich bekannt. So etwas habe sie schon als Kind gehabt. Eine doppelseitige Lungenentzündung als Resultat mehrerer Erkältungen.

»Mutter, du bekommst keine Lungenentzündung«, sagte Edmund, der Krankenpfleger.

Von heißer Zitrone mit einem Schuss Whisky riet er ab. Stattdessen machte er ihr ein Honig-Zitronen-Getränk und riet, alle vier Stunden ein Aspirin zu nehmen. »Du bist kein Arzt«, sagte sie wie schon so oft. »Ich sollte Antibiotika bekommen.«

»Eine Erkältung ist eine Viruserkrankung, und gegen Viren helfen Antibiotika nicht.«

»Wenn ich erst mal eine echte Lungenentzündung habe, wirst du schon sehen, wie das mit den Viren ist.«

Irene Litton war eine große, gut gebaute Frau, deren Figur fast an Heather Sealand erinnerte. Obwohl Edmund das bemerkt hatte, hatte er sich geweigert, den naheliegenden psychologischen Schluss daraus zu ziehen: Dass er Frauen attraktiv fand, die seiner Mutter ähnelten. Mehr Ähnlichkeiten gab es ja auch nicht, denn Irene hatte dunkle Haare mit nur wenig Grauanteil, und ihr ausdrucksstarkes längliches Gesicht mit der Adlernase glich dem der Callas, obwohl Irene durch und durch Engländerin war. Dieser Ähnlichkeit war sie sich durchaus bewusst: Schon mehrmals hatte sie sich zu der Bemerkung hinreißen lassen, aus ihr wäre vielleicht auch ein Opernstar geworden, wenn sie Gesangsstunden hätte nehmen können. Sie trug geraffte oder weich fallende Kleider mit Fransen in kräftigen Edelsteinfarben – weinrot, saphirblau, dunkelgrün oder lila – und dazu Unmengen selbst gemachter Ketten. Sie bewegte sich langsam und aufrecht mit hoch erhobenem Kopf. Normalerweise erfreute sie sich bester Gesundheit, was ihren Typ positiv unterstrich. Mit einer roten Schniefnase sah sie allerdings entsetzlich aus.

Marion, die kurz vor Edmunds Aufbruch ins Wochenende eingetrudelt war, bemerkte das sofort und bekundete tiefes Mitgefühl. Den Zeitpunkt ihrer Ankunft wird sie wohl ganz genau berechnet haben, dachte Edmund, der überzeugt war, dass seine Mutter sie trotz aller gegenteiligen Beteuerungen eingeladen hatte. Außerdem war er ziemlich sicher, dass Marion wusste, wohin und zu wem er gehen wollte, denn bevor sie zu Irene hineintänzelte, waren sie noch einen Moment lang allein im Flur gewesen. Dabei hatte sie ihm einen tiefen vorwurfsvollen Blick zugeworfen, der trotz ihres halbherzigen Lächelns traurig wirkte. »Ich habe ein paar selbst gebackene Cremetörtchen mitgebracht«, hatte sie gemeint. »So etwas tut richtig gut, und das braucht sie momentan.«

Nachdem er das kleine Vorgartentor hinter sich zugezogen hatte, warf er einen Blick zurück. Beide Frauen beobachteten ihn vom Erkerfenster aus. Garantiert war er das Hauptthema ihres Gesprächs, er, der rücksichtslose unmoralische undankbare Sohn, der kein Herz hatte und nicht einmal Arzt war! Vermutlich würden ihm den ganzen Abend lang die Ohren klingeln. Aber er war fest entschlossen, sich durch solche Gedanken nicht das Wochenende verderben zu lassen.

Marion ließ den beigen Damastvorhang sinken und begab sich wieder an den Kamin, in dem ein täuschend echt wirkendes Gasfeuer mit glühenden Dauerkohlen und Holzscheiten flackerte. Dort fühlte sie geschäftig Irenes Stirn, goss frisches Wasser in ihre Karaffe, holte Echinacea-Tropfen und Hustenpastillen und steckte ihr zu guter Letzt ein Thermometer in den Mund.

»Eigentlich wäre das alles doch Edmunds Aufgabe gewesen«, sagte sie.

»Hmmm-mm-hmm-hmm.«

»Schließlich ist er Krankenpfleger.«

»Mm-hmm-hmm«, tönte es noch nachdrücklicher.

Das Thermometer zeigte Normaltemperatur.

»Unmöglich!«

»Vielleicht funktioniert es nicht richtig. Soll ich’s später noch mal versuchen? Oder soll ich schnell nachsehen, welche Apotheke Nachtdienst hat, und ein neues besorgen? Ich könnte aber auch heimlaufen und meines holen.«

»Würden Sie das tun, Marion? Sie sind so nett zu mir. Wissen Sie, allmählich betrachte ich Sie immer mehr als meine Tochter beziehungsweise als Schwiegertochter, wenn ich das so sagen darf. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre …«

Marion sauste zur U-Bahn-Station. Dann besann sie sich jedoch anders und rannte durch das Gassengewirr nach Hause, Richtung Finchley Road. Marions Bewegungsdrang und ihr ununterbrochener Redefluss entsprachen einander. Trotz ihres Annäherungsversuches war ihr Edmunds Flucht bei Weitem nicht so nahe gegangen, wie Irene glaubte. Marion sehnte sich nicht danach, von einem jungen Mann begehrt zu werden, sondern nach älteren, gut betuchten Menschen, die ihr mehr als nur ihre Sympathie schenkten. Außer Irene gab es noch den alten Mr Hussein und die alte Mrs Reinhardt. Einige andere hatte sie auch schon im Blick. Und dann war da noch die alte Mrs Pringle gewesen. Die war leider letztes Jahr gestorben. Ihr riesiges Haus in der Fitzjohn Avenue hatte sie Marion zwar nicht vererbt, aber dafür einen ordentlichen Batzen Geld und ein paar hübsche Schmuckstücke. Damit hatte sich Marion in dem Haus an der Lithos Road die Wohnung über zwei Ebenen – Erdgeschoss und Souterrain – kaufen können, die sie jetzt auf der Suche nach einem Thermometer betrat. Dank ihrer Ordnungssucht fand sie es sofort in einem Fach des Badezimmerschränkchens, direkt neben dem braunen Fläschchen mit Morphinsulfat. Flink machte sie sich wieder auf den Rückweg, diesmal mit der U-Bahn. Es war nur eine Station bis West Hampstead und zu Irene.