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TOMAS SJÖDIN

WENN STILLE
EINE SPRACHE
WÄRE

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Wie wir die Verbindung
mit unserem Schöpfer
wiederfinden

Aus dem Schwedischen
von Hanna Schott

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SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-27048-8 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© der deutschen Ausgabe 2022

Originally published in Swedish under the title: Ljudet av tystnad by Libris bokförlag, Stockholm, Sweden

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, www.spika-design.de

Inhalt

Über den Autor

1   image Ich schreibe aus einem unruhigen, lauten Leben

2   image The Silent Killer

3   image In der Denkfabrik der Seele

4   image Reise in die Stille

5   image Tränen sind Trauer, die nach Hause gefunden hat

6   image Wie der Eisvogel Feuer fängt

7   image Sinneswandel und Umkehr

8   image Aus der Stille wächst das Gebet

9   image Am Anfang war der Sinn

10   image Mit dem Beten anfangen

11   image Der fliegende Teppich von Filadelfia

12   image Der kosmische Tanz

13   image Wir werden mit hundert Sprachen geboren

14   image Der Gott der Natur ist euer heimlicher Wegweiser

15   image Beten, ohne um etwas zu bitten

16   image Heimathäfen, Ausgangspunkte, Abschussrampen

17   image Broken Horses

18   image Dabeibleiben

19   image Sturm und Flaute

20   image Stell dich dem Tag, ehe der Tag sich dir entgegenstellt

21   image Du hast die Tage gezählt

Epilog

Anmerkungen

Über den Autor

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Tomas Sjödin (Jg. 1959) ist ein schwedischer Schriftsteller und Pastor. Er kommt aus der schwedischen Pfingstbewegung, ist aber seit vielen Jahren ökumenisch tätig, darunter in vielen Radio- und Fernsehsendungen. Mit seinen Büchern – autobiografisch grundiert, voller Tiefe und geistlicher Reflexion – hat er in Schweden und Deutschland großen Erfolg.

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Ich schreibe aus einem unruhigen, lauten Leben

Ich war ein mitteilsames Kind. Ich bin ein mitteilsamer Erwachsener, und das werde ich wohl auch bleiben. Das Spiel, das ich als Kind am wenigsten mochte, war das »Stille-Spiel«: Man musste einander in der Kunst des Schweigens übertreffen, indem man den anderen durch Grimassen und Gesten dazu brachte, die Kontrolle zu verlieren und loszulachen. Ein chronischer Redner wie ich war also zum Scheitern verurteilt, bevor das Spiel überhaupt angefangen hatte.

Wenn meine Eltern vom Elternabend in der Schule kamen, hatten sie jedes Mal dasselbe zu berichten: Die Lehrer hatten gesagt, dass ich ein freundlicher, aber unglaublich redseliger Junge sei und dass ich mich an diesem Punkt bessern müsse. Doch es wurde nie besser.

Wenn ich von der Schule nach Hause kam, konnte ich noch nicht mal in Ruhe zur Toilette gehen. Ich hatte meiner Mutter so viel zu erzählen, dass sie draußen vor der Badezimmertür stehen und mir zuhören musste. Sie besaß eine Engelsgeduld und stand dort tatsächlich, bis ich herauskam, um meine detaillierten Schilderungen in der Küche fortzusetzen. Und so ist es geblieben. Im Grunde bis heute.

Ich schreibe aus einem unruhigen, lauten Leben. Ich mag einen gewissen Geräuschpegel, rede, wie gesagt, gern und viel, höre fast ständig Musik, pfeife oder summe vor mich hin, während ich praktische Arbeiten mache, und außerdem höre ich beim Einschlafen gern den leisen Klang des Radios, das auf dem Nachttisch steht. Ich habe einen Beruf, zu dem es gehört, dass ich von morgens bis abends von Menschen umgeben bin, dass mehrere Telefone klingeln und ich so viele Mails bekomme, dass ich kaum auf alle antworten kann.

Das ist das Leben, wie ich es im Grunde liebe. Aber auch das, was man liebt, droht einen aufzureiben, wenn man sich ständig von äußeren Notwendigkeiten und von Erwartungen vorantreiben lässt – den eigenen und denen der anderen.

Vielleicht qualifiziert mich ja gerade dies dafür, ein Buch über die Stille zu schreiben: dass ich für die spreche, für die es meist gar kein Problem ist, von Menschen, Musik, Stimmen und Unruhe umgeben zu sein. Aus dieser Position kann ich zu erklären versuchen, was in einem Leben allein dadurch geschehen kann, dass man bewusst einen Moment akustischer Abgeschiedenheit wählt, und zwar jeden Tag. Das ist mein Anliegen. Vielleicht ist mein eigenes lärmiges Leben ja eine Voraussetzung dafür, über Stille schreiben zu können. Über Stille als ein wichtiges Element bei der Wiederherstellung eines verborgenen inneren Lebens, das sich durch Tiefe, Stabilität und – nicht weniger wichtig – stille Wunder auszeichnet.

Die große Frage, die die Stille uns stellt, ist nicht die Frage nach dem, was ich lieber überhören würde, sondern nach dem, was zu hören ich mich sehne. Wenn man die Stille wählt, fügt man dem Leben nicht etwas hinzu. Man verzichtet nur darauf, einen kleinen Zeitraum mit irgendetwas zu füllen. Man lässt ihn leer, sodass er von etwas anderem gefüllt werden kann. Nichts, was man selbst beiträgt oder was andere beitragen, sondern etwas, das auf einen zukommt wie eine Ahnung aus einer anderen Welt, einer Welt, in der die Zeit nicht vorbeirauscht, einer Welt, in der man sein eigenes Herz schlagen hören und seine eigene Sehnsucht wahrnehmen kann und in der es möglich ist, Nuancen zu erspüren. Nuancen, die einen den Unterschied zwischen Gold und billigem Plunder erkennen lassen. Denn wenn man eine Weile auf diese vermeintliche Leere hört, entdeckt man nach und nach, dass da ein Rhythmus ist und eine Melodie. Und, ich meine, auch eine nachhaltigere Art zu leben.

Stille ist das Luxusgut der Zukunft. Wenn ich Menschen frage, wonach sie sich am meisten sehnen, höre ich immer öfter die Antworten: »Dinge in aller Ruhe tun können«, »Stille« und »Schweigen«. Ich selbst gehöre auch zu dieser Gruppe, deshalb dieses Buch. Ich schreibe, wie gesagt, aus einem brausenden Leben, aber es ist ein Leben, das jetzt seine feste Verankerung in der Stille hat. Über dieses Vertäutsein in der Stille schreibe ich.

Es geht mir nicht darum, von einem brausenden Leben in ein anderes, stilleres Leben zu fliehen. Aber ich brauche einen Heimathafen, einen Platz, an dem ich anlegen kann, eben das Vertäutsein in der Stille. Einen Ort, an dem ich – eine kleine Weile an jedem Tag, etwas länger irgendwann im Lauf der Woche oder mehrere zusammenhängende Tage irgendwann im Laufe des Jahres – das Schwätzen hinter mir lassen kann, klingelnde Telefone, alle Menschen, die irgendwas von mir wollen, und all die Nachrichten, die ständig auf mich einströmen.

Ich glaube, dass Stille die vergessene oder vernachlässigte Kraft ist, die uns zu einem Leben zurückleiten kann, in dem wir sowohl Wurzeln als auch Flügel besitzen. Wenn man die Stille einlädt, entscheidet man sich auch gegen etwas, entzieht man sich. Es ist, als würde man einen Freiraum schaffen, eine Lichtung, und wenn das gelungen ist, geht es darum, ihn mit gar nichts zu füllen. Jedenfalls nicht gleich. Ehe man sich so etwas wie einem Tun nähert, muss man sich mit der Stille anfreunden. Die Stille ist wie ein scheuer Vogel. Man muss sich ihm vorsichtig nähern.

Die meisten von uns wissen ja, dass Stille herrlich und kraftspendend sein kann, aber die wenigsten leisten sich diesen Genuss. Warum eigentlich? Vielleicht scheuen wir die Stille, weil wir sie als befremdlich erlebt haben, vielleicht sogar als erschreckend? So ging es mir jedenfalls, bis das geschah, was mein Denken veränderte.

Weil ich zu den meisten Ereignissen in meinem Leben anhand von Kindern und Büchern zurückrechne, weiß ich genau, wann das war. Es war bei den Vorarbeiten zu meinem Buch Ett brustet Halleluja (»Ein gebrochenes Halleluja«), das 2009 erschien. Ich saß damals oft in der Göteborger Stadtbibliothek, und an dem Tag, an dem es geschah, war ich gerade dabei, ein Kapitel zu schreiben, in dem es um den »Ton« eines Menschen gehen sollte. Nicht um das, was er sagt, sondern um das, was wir anderen hören, was um diesen Menschen herum »tönt«.

Ich las über das Verhältnis von (leerem) Raum und Klang und landete – ich kann gar nicht mehr sagen, wie genau – bei einem musikwissenschaftlichen Buch, nach dem ich im Leben nicht gesucht hätte. Aber da ich dem Zufall nun mal misstraue, gehe ich davon aus, es war nicht ohne Bedeutung, dass ich mich auf die große Treppe setzte und ein bisschen zerstreut in Ton och tystnad (»Ton und Stille«) von Per-Anders Hellqvist blätterte und dort auf ein kurzes Zitat stieß, das meinen Blick auf die Stille veränderte.

Ich hatte mich gegen diesen Blick gewehrt, mir eingeredet, dass ich nun mal ein geselliger Mensch sei, der die Energie und die wegweisenden Ideen, die er braucht, im Austausch mit anderen und im Gespräch bekommt. Stille und Schweigen waren etwas für Menschen, die anders ticken als ich. Das glaube ich jetzt nicht mehr. Heute glaube ich: Wenn irgendjemand Stille nötig hat, dann sind es die geselligen Typen.

Jetzt aber zum Zitat von Per-Anders Hellqvist: »Die Stille ist keine [akustische] Nulllinie. Sie ist inhaltsreich. Es ist, als würde eine dicke Wolldecke von unserer akustischen Umwelt genommen: Wir werden uns des Ungeahnten bewusst, der Reiche und Gebiete, die sich darunter befinden, so wie der Taucher den Wundern des Meeresbodens begegnet.«

Hellqvists Bild scheint wie einem Reisekatalog der Seelenreisen GmbH entnommen. Ich glaube, ich habe den kurzen Text hundertmal gelesen, ihn in unzähligen Zusammenhängen zitiert, und immer noch übt er einen gewissen Sog auf mich aus, den ich nicht richtig erklären kann. Vielleicht bin ich einfach einer von denen, die sich intuitiv in »Unterwasserseminaren« zum Geheimnis des Meeresbodens selbst erkennen.

Das Bild macht Lust auf mehr. Die Stille ist nicht wie ein leerer, kalter Raum, in dem ich sitzen und ein besserer Mensch werden soll. Sie ist eher wie das Eintauchen in ein Element, in dem es von Leben wimmelt, von Vielfalt und Schönheit. Es geht darum, unter die Oberfläche unseres Daseins zu gelangen. Einzutauchen in die große, sich weit ausstreckende Stille kann in uns schlummernde Erinnerungen wecken, uns öffnen für die Möglichkeit, dass wir eine Goldader entdecken, die durch unser Leben verläuft, die Möglichkeit, dass in uns etwas Großes ruht, etwas, das ohne die Stille nicht zum Leben erweckt würde. Man muss es aber wagen einzutauchen. Die Herausforderung besteht darin, die Füße von der scheinbar sicheren Brücke zu lösen und durch die (Wasser-)Oberfläche hindurchzuspringen, hinab in die andere Welt, die dort auf uns wartet.

Dieser Text meinte mich, damals und auch heute noch. Ich begriff, was mir fehlte. Dass ich, ein Mann etwas jenseits der Lebensmitte, des Geschnatters müde, mich nach einem geheimen Ort sehnte, irgendwo tief drinnen in dem Leben, das ich liebte, das aber auch akustisch überfrachtet war. Ich begann zu ahnen, dass es einen Unterschied zwischen Stille und Leere gibt. Dass in der Stille eine Fülle zu finden ist, die das Leben mit einer neuen Qualität aufladen kann. Ich fing an zu begreifen, dass in der Stille eine Energie steckt, die das ganze übrige Leben mit Sauerstoff versorgen kann. Niemand muss mich darüber aufklären, dass es auch eine Stille gibt, die nur sehr schwer zu ertragen ist, die alles andere ist als eine korallenreiche Unterwasserwelt. Eine Stille, die vertuscht und erstickt. Die Verweigerung von Kommunikation, das strafende Schweigen.

Es braucht mir auch keiner zu erzählen, dass die Stille manchmal schmerzhafte Erinnerungen wecken kann. Erinnerungen an Dinge, die wir lieber nie erlebt hätten, und an Menschen, mit denen wir uns hätten aussprechen sollen – was wir aber nie getan haben. Erinnerungen an Stimmen, die zu früh erstickt wurden, und Lieder, die ungesungen blieben.

Und dennoch möchte ich mit einer an Beschränktheit grenzenden Starrköpfigkeit wiederholen, dass die Stille heilsam und heilvoll und einfach ganz, ganz wunderbar sein kann.

Ich schreibe dieses Buch aus meiner eigenen Sehnsucht heraus, aber auch als eine Art Tagebuch, das von einer Fährte erzählt, der ich in den letzten gut zehn Jahren gefolgt bin und die mich in eine Landschaft geführt hat, von der ich wünschte, ich hätte sie schon entdeckt, als ich noch jung war. Eine Art Reisebericht, könnte man vielleicht sagen. Vielleicht hätte ich einige klügere Entscheidungen gefällt, wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß? Vielleicht hätte ich mir einige Schmerzen erspart. Oder anderen Menschen Schmerzen erspart. Aber das ist jetzt nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist die Einsicht, dass es nie zu spät ist und dass der Weg zur »Vertäuung in der Stille« nicht weit ist. Er verläuft vor meiner Tür.

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The Silent Killer

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurden Kanarienvögel von britischen Bergleuten als eine Art Lebensversicherung benutzt. Die Grubenarbeiter schufteten unter extrem harten Bedingungen. Der Austritt von Kohlenmonoxid und der Ausbruch von Bränden waren eine ständige Bedrohung. Das heimtückische Gas war farb- und geruchlos und wurde deshalb The Silent Killer genannt. Wer eine Kohlenmonoxid-Vergiftung erlitt, starb entweder durch Ersticken oder erlitt schwere neurologische Schäden.

Man entdeckte, dass die Lungen von Kanarienvögeln, die empfindlicher sind als die von Menschen, auf das unsichtbare Gas schnell reagierten und sich deshalb als Frühwarnsystem eigneten. Die Bergleute nahmen also Käfige mit Kanarienvögeln mit hinunter in den Stollen, und wenn die Vögel sich aufplusterten, zu singen aufhörten oder gar tot umfielen, wussten die Arbeiter, dass sie sich schnell hinauf an die frische Luft begeben mussten.

Ich gehe das Risiko ein, wie ein Untergangsprophet zu klingen, wenn ich behaupte, dass der Kanarienvogel drauf und dran ist, das Singen einzustellen oder alarmistisch zu wirken, wenn ich auf eines unserer ernstesten Umweltprobleme hinweise, nämlich die Lärmverschmutzung. Die stillen Plätze auf unserem Planeten sind bald nur noch eine Erinnerung. Die Stille gehört auf die Rote Liste der bedrohten Arten, und wir riskieren gerade, einige verhängnisvolle Entscheidungen zu fällen, bei denen es um die Zukunft unserer Erde geht.

Es gibt eine kurze Passage in C. S. Lewis’ Meisterwerk Dienstanweisung für einen Unterteufel, einem seiner bestverkauften Bücher und dem, das schon bei seinem Erscheinen als eine Art Kanarienvogel verstanden wurde. (Der Untertitel der schwedischen Ausgabe heißt dementsprechend: Anweisung, um eine Seele auf die beste Art in Versuchung zu führen.)

Screwtape ist ein erfahrener Teufel. Sein Neffe Wormwood steht erst am Anfang seiner dämonischen Karriere und hat den Auftrag bekommen, einen jungen Mann zu umgarnen, damit der die »richtige«, also die böse Richtung einschlägt.

In diesem Brief erzählt Screwtape von einem Haus, das so vollständig von einem tödlichen Geruch erfüllt ist, dass sogar der Gärtner ihn verbreitet, der doch erst fünf Jahre im Hause dient. »Selbst Gäste, die nur für ein Wochenende bleiben, nehmen etwas von dem Geruch mit. Der Hund und die Katze sind davon besudelt«, schreibt Onkel Screwtape, und weiter: »Das ganze Haus … hat eine Übelkeit erregende Ähnlichkeit mit dem Himmel, wie er von einem menschlichen Schriftsteller beschrieben wurde: ›… die Regionen, wo es nur Leben gibt und darum alles, was nicht Musik ist, Stille ist.‹«

»Musik und Stille – wie ich sie beide verabscheue«, schreibt Screwtape und erklärt dem jungen Dämonen-Adepten, wie der Vater der Finsternis seinen Einzug in die Hölle hielt – und mit ihm der Lärm. »Lärm, die große Dynamik! Der hörbare Ausdruck alles Übermütigen, Rücksichtslosen, Männlichen – Lärm, der allein uns vor törichten Gewissensbissen, verzweifelten Skrupeln und unerfüllbaren Wünschen bewahrt.«1

C. S. Lewis’ Vorhersage ist längst eingetroffen. Es gibt Verzeichnisse der stillen Plätze unserer Erde – also jener Orte, an denen man dem Lärm und den Geräuschen entkommen kann, die wir selbst verursachen. Sie zeigen, dass ihre Zahl in einem rasenden Tempo abnimmt. Diese Entwicklung ist genauso besorgniserregend wie die der Treibhausgase, der Überdüngung und die globale Klimaerwärmung, und vielleicht hat uns der Lärm sogar so sehr betäubt, dass wir darüber die Ausbeutung der Welt zugelassen haben. Ohne Stille gehen wir verloren. Wenn die Seele nicht lebt, wenn ihr also eine sichere Verankerung und eine große Freiheit fehlen, dann ist die Zukunft der Erde bedroht. Und damit auch wir selbst.

Weisheit ist etwas anderes als Wissen. Weisheit fragt nach dem Warum, Wann und Wie und kennt die jeweils richtige Abfolge dieser Punkte. Es geht darum, das Richtige im richtigen Moment zu sagen, nichts zu sagen, wenn es nichts zu sagen gibt, die Dinge abzuwägen und den Weg zu wählen, der am wenigsten Schaden anrichtet. Das sind Fähigkeiten, die aus einer inneren Sammlung erwachsen und in denen Erfahrung, Wissen und Mitgefühl zusammenkommen. Was auf diese Weise entsteht, ist die schöne Frucht, die wir Weisheit nennen. Regelmäßig Stille zu suchen, sich mit ihr anzufreunden, das ist deshalb weit mehr als ein Wellness-Rezept. Ich betrachte es eher als eine äußerst notwendige Antwort auf den leisen Ruf, der uns aus unserer gemeinsamen Zukunft erreicht.

In der Stille wird uns die Möglichkeit gegeben, uns selbst, unsere inneren Parameter, unsere Werte, unser Menschenbild und unseren Blick auf die Welt um uns herum neu zu kalibrieren. Für viele von uns könnte es tatsächlich lebensrettend sein, immer wieder einmal einen »akustischen Urlaub« zu buchen, um zu uns zu kommen und die positiven Effekte für unsere Gesundheit zu erleben. Vielleicht noch wichtiger und auch sehr viel leichter machbar ist es, in einer ständig brausenden Welt irgendwo in unserer Nähe ein stilles Eckchen, einen ruhigen Winkel zu suchen und dort so lange zu verweilen, bis man das wahrnimmt, was man nicht wahrnimmt, wenn man selbst ständig redet oder auf andere Weise ein Teil des allgemeinen Rauschens ist. Und diesen Platz kann man, selbst wenn man – wie ich – nicht gerade eine natürliche Neigung zur Stille hat, in sich selbst finden. So erlebe ich das jedenfalls. Das ist meine Erfahrung. Ich muss mindestens eine stille Stunde am Tag »herausschneiden«. Sonst werde ich fortgeblasen. Auf so wackeligen Beinen stehe ich.

Es gibt Menschen, die werden mit großen inneren Welten geboren, aber ich weiß nicht, ob ich sie beneiden soll. Ich fühle mich wohl in meiner geselligen, lärmenden und schwatzenden Welt. Und doch habe ich entdeckt, dass die Stille und das gesellige Leben keine Gegensätze sein müssen. Im Gegenteil: Sie bringen einander voran und befeuern einander in Richtung auf ein nachhaltigeres und leidenschaftlicheres Leben. Das zu entdecken war für mein Leben eine Art stille Revolution.

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In der Denkfabrik der Seele

Eines Tages wird der Mensch den Lärm ebenso unerbittlich bekämpfen müssen wie die Cholera und die Pest.

Robert Koch, Mikrobiologe und Nobelpreisträger, 1910

Von den Dingen, die ich zum Thema dieses Buchs gelesen habe, hat mich eins am meisten erschüttert und zugleich mit Hoffnung erfüllt: One Square Inch of Silence (»Ein Quadratzoll Schweigen«) von Gordon Hempton. Er ist Akustikökologe (so heißt das tatsächlich) und ist im Laufe von mehr als dreißig Jahren um den Globus gereist, immer in Sachen Klang und Stille. Hempton glaubt übrigens, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen Stille und Stille. Das kann man erkennen, wenn man die verschiedenen Aufnahmen hört, die er gemacht und gespeichert hat.

Gordon Hempton ist ein aufmerksamer Zuhörer, und er ist überzeugt, dass die Stille auf unserer Erde unmittelbar vor ihrer Ausrottung steht. Seine Definition von Stille: wenn man mindestens 50 Minuten lang keinen von Menschen gemachten Laut hören kann. Nichts als die eigenen Laute der Natur oder der Atmosphäre. Wind, der durch Bäume streicht, Wasser, das im Bach murmelt, Vogelgesang. Seiner Ansicht nach gibt es in den USA nur noch zehn Orte, an denen man das erleben kann; viele dieser Orte musste er in den letzten Jahren von seiner Liste streichen. In Europa gibt es seiner Einschätzung nach keinen einzigen solchen völlig stillen Ort mehr.

Was geschieht in einer solchen Welt mit der Seele? Hempton glaubt, dass es zu unseren menschlichen Grundrechten gehört, den Lauten der Natur still und ungestört zuzuhören, sodass das, was wir hören, eine Bedeutung bekommt. Lange bevor der Mensch Laute und Lärm schuf, gab es nur die Laute der Natur. Das menschliche Hören entwickelte sich in perfekter Anpassung an diese Laute. Da ist der Wind, der den Wetterumschlag ankündigt, der erste Vogelgesang, der im Frühjahr die Botschaft bringt, dass die Erde bald wieder grün werden wird, ein sich nähernder Sturm, der das Ende der Trockenperiode verspricht, und die Gezeiten als eine Art himmlisches Ballett – um mir nur einige seiner Beispiele zu leihen.

Hempton nennt unseren Planeten Erde eine »solarzellengetriebene Jukebox«. Wenn man nämlich zum Äquator kommt und auf den Regenwald des Amazonas hört, also auf den Ort mit der meisten Sonne und der meisten Sonnenenergie, dann fällt einem dieses Bild ein, meint Hempton. Die Solarpanele – die Blätter – nehmen Licht und Energie auf und verwenden sie in ihrem bioakustischen System. Die Laute all des Lebens, das dort entsteht, sind so stark, dass der Mensch sie als beinahe zu stark empfindet.

Die Stille, so Hempton, ist ein heiliger Ort für die Seele, einer, der unsere Sinne öffnet und uns lebendig werden lässt: »Stille kann man wie ein Stück glühende Kohle von einem Feuer mitnehmen, man kann auf sie treffen, und sie kann uns treffen, sie kann verloren gehen und wiederhergestellt werden, aber man kann sie sich nicht vorstellen, wie viele glauben. Um das Wunder zu erleben, wie Stille die Seele weitet, muss man sie hören.«

Hier spricht ein Mann etwas Metaphysisches an, der von sich selbst sagt, spirituell aufgeschlossen, aber nicht religiös zu sein. Hempton glaubt, dass es uns nicht weiterbringt, wenn wir uns mit lärmdämmenden Kopfhörern oder durch Lärmschutzgesetze abzuschirmen versuchen. Nur eins bringt uns weiter: wieder Kontakt mit der Natur aufzunehmen, einer Natur, die spricht, die uns leise ruft, mit einem Ruf, den wir nur wahrnehmen, wenn er uns in der Stille erreicht. Stille und Hören bieten Raum für Wachstum und sind wie eine Stimmgabel, an der wir uns ausrichten können.

Laut Gordon Hempton haben wir ein Stadium der Menschheitsgeschichte erreicht, in dem die Umweltkrise eine dauerhafte Umstellung unseres Lebensstils notwendig macht. Mehr als je zuvor müssen wir uns jetzt in die Natur verlieben. Und Hempton meint: Der beste Ort der Begegnung wäre die Stille.

Ein spannender Gedanke, finde ich. Die Stille als Ort der Begegnung zwischen uns und der Natur, der wir wieder »verfallen« sollten, so wie wir einem Menschen »verfallen«, in den wir uns verlieben. Aber so, dass wir ihr immer und immer wieder verfallen, sodass die Verliebtheit die Chance bekommt, zu einer lebenslangen Liebe zu reifen.

Wir müssen verstehen, wie bedroht die Stille ist. Vielleicht kann ihre Bedrohtheit dann zu einem Weg nach vorn werden. Aus Bedrohung würde Hoffnung, könnte man sagen. Vielleicht liegt in Hemptons Bild von der Stille als Treffpunkt ja ein Schlüssel zur Hoffnung auf Zukunft? Oder, um in der Sprache der Liebe zu bleiben: der geheime Schlupfwinkel, der die Liebe lebendig hält.

Warum ist die Stille so wichtig? Die Stille nährt unsere menschliche Natur. Sie hilft uns zu verstehen, wer wir sind. In der Stille können wir uns nicht vor uns selbst verstecken. Vielleicht tun wir gerade deshalb alles, um ihr auszuweichen. Doch wenn wir das tun, entgeht uns das, was uns im Tiefsten zu Menschen macht. Das, was unsere Wahrnehmung so schärft, dass sie empfänglich wird, und unser Hören neu justiert. In einer guten Stille werden wir zu Menschen, die besser hören: auf die Natur, aufeinander und auf Gott. Vielleicht werden wir auch ernsthaftere Zuhörer, weil die Sehnsucht wächst, so zu leben, wie wir es als richtig erkannt haben. Wir werden fähig, uns von Selbstgefälligkeit zu lösen, von dem eingeschränkten Blick auf Wirtschaftlichkeit und auf Materielles, und wir verstehen, dass es uns schwerfällt, die Grenze zwischen Begehren und Bedürfen zu erkennen.

»Wo etwas Großes geschieht, geschieht es still«, schreibt der Ökologe Stefan Edman in seinem Buch Förundran (»Staunen«) und beschreibt, wie er einer Tannennadel zuhört. Sein Text beginnt mit der Beschreibung eines nur fünf Gramm schweren Wintergoldhähnchens, erzählt dann von einer 90 Jahre alten Tanne, die doppelt so viele Bewohner hat wie Östermalm (einem Innenstadtbezirk von Stockholm mit etwa 60 000 Einwohnern), und spricht dann vom Universum als einer einzigen großen Stille. »Klang entsteht in den Lebewesen«, schreibt Edman und fasst dann zusammen: »Die Wirklichkeit wohnt in der Stille.«

Was ist eigentlich Stille? Und gibt es überhaupt die völlige Stille? Wenn wir sagen: »Es ist still«, meinen wir ja nicht null Dezibel. Wenn es wirklich absolut still wäre, würden wir nach kurzer Zeit verrückt. Es geht also eher darum, dass wir von einem Ort träumen, an dem die Laute, die wir hören, begrenzt sind und an dem wir Laute wahrnehmen können, die uns sonst entgehen, Laute, die wir selbst mit unserem menschlichen Sprechapparat nicht zustande bringen. Eine Stille, in der wir das »Kleingedruckte« des Lebens wahrnehmen. (Ein schönes Wort, dieses »wahrnehmen«: sich einer Sache bewusst werden, die nur nach und nach hervortritt. Sie war immer da, aber erst jetzt kann sie erkannt werden. Man »wird ihrer gewahr«.)

Der eigensinnige Komponist und Autor John Cage schreibt in seinem Buch Silence: »Es gibt nicht so etwas wie eine leere Fläche oder eine leere Zeit. Es gibt immer etwas zu sehen oder etwas zu hören. Sicher ist: Sosehr wir auch versuchen, Stille zu schaffen – wir können es nicht. Ob wir es beabsichtigen oder nicht, es entsteht immer Geräusch.« Cage behauptet schließlich, dass wir, selbst wenn es uns gelingen sollte, tatsächlich Stille entstehen zu lassen, nichts entdecken würden als »das Getöse in unserem Inneren, den Strom unseres Blutes, das durch den Körper gepumpt wird. … Der Schaden, den der Lärm anrichtet, besteht nicht darin, dass er uns einer Nicht-Sache, eines ›Un-Wesens‹ beraubt, nämlich der Stille, sondern dass er uns all die kleinen Klänge nimmt. Denn das Getöse hat es uns nicht nur unmöglich gemacht zu wissen, wie Dinge klingen, es hat uns vergessen lassen, dass sie klingen.«

Bei diesem Gedanken sollte man einmal kurz und vielleicht auch etwas länger Halt machen. Was sind das für kleine, schwache, vorsichtige Klänge, die ich nicht mehr wahrnehme? Was geht im Brausen und Rauschen verloren? Wir können es nicht wissen. Der einzige Weg, es herauszufinden, geht über das Wagnis, sich der Stille zu stellen.

Peter Englund schreibt in seiner Essay-Sammlung Tystnadens historia och andra essäer (»Die Geschichte der Stille«), wie die Klanglandschaft unserer Welt sich verändert und dass wir heute in einer ohnehin schon vermüllten Welt auch noch mit großen Mengen »Klangmüll« umgehen müssen. »Da klingt es nicht nur lauter, da klingt auch so viel mehr; mehr in dem Sinne, dass der Lärm einen so viel breiteren Frequenzbereich eingenommen hat: Das ›weiße Rauschen‹ der elektrischen Geräte, das ferne Grollen der Flugzeuge, die nahen, eindringlichen Verkehrsgeräusche – alle zusammen bewirken, dass unser akustischer Horizont sich verengt, dass unsere akustische Welt simpler, platter, ärmer wird.«

Englund meint, dass die Natur unseres Hörens sich verändert hat, dass wir früher intensiver gehört haben, auf das hörten, was wir hören mussten, um zu überleben, dass der Klang also Bedeutung hatte. Heute sind die Klänge um uns herum Hintergrundgeräusche, die wir nur wahrnehmen, um sie gleich wieder aus unserer Wahrnehmung herauszufiltern.

Es gibt eine Suche nach Stille, deren Ziel die Leere ist. Nichts sehen. Nichts hören. Nichts wissen. Für mich klingt das wie die Definition von »tot«. Darauf bin ich nicht aus. Ich schreibe mich auf diesen ersten Buchseiten warm, um eine Stille zu beschreiben, deren Wirkung in eine andere Richtung geht – die uns zu Menschen mit einem klareren Blick macht, mit einem feineren Gehör, mit einem reicheren und wärmeren Gefühlsleben und einem tieferen Engagement.

Bei einer guten Stille geht es mehr darum, den Ton zu treffen, als still zu werden. Ein Gehör zu entwickeln für die schwachen Signale, die meinen Ton tragen, meinen Beitrag in dieser Welt, und die Fähigkeit zu unterscheiden, wo ich mich einmischen soll und wo nicht.

In der britischen Daily Mail lese ich von der anechoic chamber, einem echolosen Raum in den Orfield Labaratories in Minneapolis. Im Jahr 2012 wurde er zum stillsten Ort der Welt gekürt. Nur wenige halten es in dieser Kammer für eine Weile aus. Nach kurzer Zeit beginnt man zu halluzinieren, niemand konnte die totale Stille mehr als eine Stunde ertragen. Die kompakte Stille des Raums lässt die Ohren taub werden. Im Interview sagt Steven Orfield, einer der Initiatoren des Projekts: »Je stiller es ist, desto mehr Geräusche hörst du: deinen Herzschlag, die Bewegungen der Lungen, wie es im Bauch arbeitet. In der Kammer wirst du selbst zum Klang.«

Ich mag diesen letzten Satz: »In der Kammer wirst du selbst zum Klang.« Es klingt wie das Echo eines Jesuswortes aus der legendären Rede, die als Bergpredigt bekannt wurde: »Wenn du betest, dann geh in dein Kämmerchen, ins Verborgene.«

Der Orfield-Raum wurde als stillster Ort inzwischen von Microsofts echofreiem Raum in Redmond, USA, geschlagen, aber so oder so führt uns die Analyse der Forschenden eine existenzielle Dimension vor Augen: »In der Kammer wirst du selbst zum Klang.« Ich glaube, dass das im wörtlichen wie im übertragenen Sinne wahr ist. Stille und Abgeschiedenheit ermöglichen beziehungsweise zwingen uns, uns selbst zu begegnen – im Guten wie im Bösen. In der Stille stoßen wir auf eine Wahrheit, der wir nicht entkommen können.

In der ungekürzten Neuübersetzung ins Schwedische von Henry David Thoreaus Walden. Ein Leben mit der Natur schreibt der Übersetzer Peter Handberg: »Die Frage ist, ob nicht die modernen Techniken dazu beitragen, viele der Instrumente des Wissenserwerbs auszuradieren, mit denen wir früher in uns selbst hineinhörten.«

Als ich das las, wusste ich, dass es um mich geht. Und gleichzeitig sah ich einen Weg: Ich begriff, dass ich irgendeinen Zeitraum im Laufe eines jeden Tages und einen etwas längeren Zeitraum im Laufe einer jeden Woche »herausschneiden« musste, um selbst zu bestimmen, worauf ich hören möchte, und einen Platz zu finden, an dem ich die uralten »Instrumente des Wissenserwerbs« vom Staub befreien kann.

Unser Inneres ist so groß, und in dieser weiten Landschaft kann die Stille uns ermöglichen, die großen Linien zu sehen, weitreichende Gedanken zu denken, Gedanken miteinander zu langen Ketten zu verknüpfen, Dinge in einen Zusammenhang zu bringen und zu verschmelzen. »Zuwarten«, sagte meine Mutter, wenn sie auf eine Frage nicht sofort antworten konnte. »Ich muss da noch zuwarten.« Das ist so gut! »Zuwarten« ist nicht einfach warten. Es ist das Warten auf etwas, das auf uns zukommt – in dem Glauben, dass das Gute schon auf dem Weg zu uns ist.

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Reise in die Stille