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Franziska Dübgen

Theorien der Strafe zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner, Berlin
Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

© 2016 by Junius Verlag GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Ina Kerner
Dieter Thomä

Inhalt

Einleitung: Die neue Lust am Strafen

1.Normative Begründungsmodelle der Strafe

1.1 Strafen für das Gemeinwohl – relative Begründungen der Strafe

1.1.1 Klare Gesetze als beste Verbrechensprävention (Beccaria)

1.1.2 Der Nutzen für die Gesellschaft als Ziel und Maßstab der Strafe (Bentham)

Exkurs: Das Panoptikon. Die Ökonomisierung des Vollzugs

1.2 Gerechtigkeit und Strafe – absolute Begründungen der Strafe

Exkurs: Die historischen Ursprünge des Talionsprinzips

1.2.1 Das Strafgesetz als kategorischer Imperativ (Kant)

1.2.2 Die Negation der Negation: Strafe als Wiederherstellung des Rechts (Hegel)

2.Sozialtheoretische Erklärungen der Strafe

2.1 Strafrecht als geformter Trieb (von Liszt)

2.2 Strafe als Garant gesellschaftlicher Solidarität (Durkheim)

2.3 Strafgerechtigkeit als sublimierte Grausamkeit (Nietzsche)

3.Willensfreiheit, Schuldfähigkeit und die Legitimation der Strafe

3.1 Willensfreiheit in der materialistischen Deutung

3.2 Schuldfähigkeit und soziales Milieu

3.3 Neurowissenschaftliche Erkenntnisse über die Willensfreiheit

3.4 Kompatibilistische Positionen zu Willensfreiheit und Determinismus

3.5 Konsequenzen aus der Debatte über die Willensfreiheit für das Strafrecht

4.Kritik der Strafe und des Strafrechts

4.1 Strafe und soziale Herrschaft (Marx/Engels, Paschukanis, Kirchheimer/Rusche)

4.2 Radikale, kritische und feministische Positionen zur Strafe

4.3 Disziplinierung, Punitivität und Neoliberalismus (Foucault, Garland, Wacquant)

4.4 Postkolonialismus, Race und das Strafrecht

Exkurs: Impulse aus der Ubuntu-Philosophie

5.Perspektiven jenseits des Strafens

5.1 Abolitionismus: Plädoyer für die Überwindung strafrechtlicher Institutionen

5.2 Restaurative Gerechtigkeit als Wiederherstellung sozialer Harmonie

5.3 Transformative Gerechtigkeit: Horizonte gesamtgesellschaftlicher Formen der Konfliktlösung

Ausblick

Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Glossar

Über die Autorin

Einleitung: Die neue Lust am Strafen

Strafen im juridischen Bereich sind Sanktionen seitens des Staates, die auf eine Gesetzesübertretung folgen. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hat sich insbesondere die Gefängnishaft als Instrument der Bestrafung durchgesetzt, sodass Alexis de Tocqueville bereits nach seiner Reise in die USA in den 1830er Jahren fordern konnte, man müsse eine Demokratie auf der Basis ihrer Gefängnisse beurteilen (Beaumont & Tocqueville 1845). Gefängnisse sind – befreit von den mittelalterlichen Relikten physischer Folter und Grausamkeit – das Symbol einer modernen Epoche des Strafens geworden. Sie stehen für die Humanisierung des Strafens und den Fortschritt im strafrechtlichen Denken. Die moderne Haft ersetzt die Marter durch einen zeitlich definierten Freiheitsentzug, der als Quantifizierung des durch die Strafe verursachten Leidens das begangene Unrecht aufwiegen soll. Bereits Tocqueville merkte jedoch an, dass das Gefängnis durch seinen totalen Zugriff auf das Individuum die höchste Form des Despotismus darstelle und damit die Demokratie zu unterhöhlen drohe.

In Gefängnissen als Orten des modernen Exils, der Verbannung aus der Gesellschaft, sollen Menschen gebessert werden, um nach ihrer Haftzeit wieder ohne Straftaten frei leben zu können. Verfassungsrechtlich wurde dieser Gedanke in Deutschland als das Gebot zur Resozialisierung verankert und durch das Sozialstaatsprinzip und die Menschenwürde begründet. Die soziale Wirklichkeit von Haftanstalten scheint sich jedoch von diesem Ideal zu entfernen: Das Gefängnis ist nicht mehr allein oder vorrangig eine Institutionen der Besserung. Es ist auch, so behaupten jedenfalls seine Kritiker, ein Ort der Verwahrung, der Abschreckung und der Stigmatisierung (Wacquant 2009).

In Gefängnissen werden nicht selten kriminelle Netzwerke aufgebaut und Insassen durch die Erfahrung von Abwertung und Exklusion empfänglich für die Indoktrinierung radikaler Ideologien (Hannah, Clutterbuck & Rubin 2008, 14). Inmitten eines Klimas wiederkehrender psychischer und physischer Gewalt unter den Gefangenen, eingebettet in den Kontext eines streng regulierten Tagesablaufs, segregiert von ihrer Familie, ihrem sozialen Netzwerk und der restlichen Gesellschaft, geraten Häftlinge häufig in eine soziale Abwärtsspirale. Nach der Haftzeit folgen nicht selten Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und soziale Isolation. Gut zwei Drittel der Straftäter werden in Deutschland innerhalb der ersten drei Jahre rückfällig (Jehle et al. 2013, 8). Diese Erkenntnisse sind nicht neu, sondern begleiten die Haft, seit es sie gibt (Foucault 1994).

Während in den 1980er Jahren die Abschaffung strafrechtlicher Institutionen zugunsten anderer Strafformen – und sogar die Abschaffung des Sanktionsmittels Strafe insgesamt, zumindest in radikalen Nischen der Kriminologie – ernsthaft diskutiert wurde, wird heute erneut der Ruf nach härteren Strafen laut. Es werden neue Gefängnisse gebaut, die eine noch bessere, effizientere und personalsparende Überwachung versprechen. Private Unternehmen entdecken den Vollzug als Investitionsfeld, entweder um dort Waren zu Niedriglöhnen produzieren zu lassen oder um im Rahmen öffentlich-privater Partnerschaften selbst eine Haftanstalt zu betreiben. Im Strafrecht gibt es Verschärfungen, insbesondere im Jugendstrafrecht und im Sexualstrafrecht. Kriminologen diskutieren deshalb über eine »neue Lust am Strafen« als wachsende Punitivität in Gesetzgebung, Strafzumessung und Vollzug (Pratt 2007; Schlepper 2015). Um die gegenwärtige Diskussion über Ziele, Maß und Rechtfertigung der Strafe einzuordnen, hilft ein Blick in die Geschichte des strafrechtlichen Denkens. Seit der Frühaufklärung haben sich innerhalb der Straftheorie unterschiedliche Positionen herausgebildet, welche die Debatte bis heute strukturieren.

Die Frage, die in dieser Einführung bei der Diskussion unterschiedlicher Theorien der Strafe immer wieder neu und anders beleuchtet wird, ist die Frage nach den Gründen und Rechtfertigungen staatlichen Strafens. Während normative Theorien die Strafe im Hinblick auf absolute Ziele wie jenes der Gerechtigkeit oder auf ihre Zwecke hin begründen, analysieren sozialtheoretische Beiträge das Fortleben und den Wandel der Strafe als gesellschaftliche Praxis in Form der Funktionen, die sie für die Gesellschaft hat. Vor dem Hintergrund philosophischer, juridischer, soziologischer, politikwissenschaftlicher und ökonomischer Ansätze lassen sich unterschiedliche Zugriffe auf das Phänomen der Strafe entfalten, die jeweils ihre Transformationen, zugleich aber auch ihre Beständigkeit und Wirkmächtigkeit erklären. Die Art und Weise, wie wir heute über die Strafe und ihre Rechtfertigungen nachdenken, ist selbst Produkt der spezifischen Genese eines rechtsphilosophischen Denkens, das bis ins Altertum zurückreicht und insbesondere in der Zeit der Aufklärung philosophisch ausgearbeitet wurde. Präventionstheoretische Ansätze der Abschreckung durch Strafe, wie sie bereits im 18. Jahrhundert entworfen wurden, haben auch heute noch eine erstaunliche Aktualität.

Die Auswahl der in dieser Einführung vorgestellten Theoretiker und ihrer Schriften begründet sich vor allem damit, wie stark sie die Debatte über das Strafrecht und seine Reformen geprägt haben und welche Erklärungskraft sie im Lichte aktueller Diskussionen haben. Auf den Anspruch auf Vollständigkeit muss dabei selbstredend verzichtet werden. Wert gelegt wird dagegen auf eine textnahe Rekonstruktion zentraler Schriften der jeweiligen Autoren. Dabei tritt mancher Theoretiker, der in der Strafrechtsdogmatik einen prominenten Platz einnimmt, hinter jüngeren, kritischen und marginaleren Positionen zurück. Der Band bemüht sich, auch randständige Strömungen wie postkoloniale, race kritische, feministische und neomarxistische Ansätze für die Debatte fruchtbar zu machen und außereuropäischen Diskurssträngen zur Sichtbarkeit zu verhelfen, die innovative Impulse für die hiesige Debatte zu geben versprechen.

Das erste Kapitel beginnt mit einer intensiven und textnahen Lektüre der paradigmatischen Schriften seit der Frühaufklärung, welche die Debatte bis heute strukturieren und sich in relative und absolute Theorien der Strafe unterteilen lassen. In einem zweiten Kapitel wendet sich der Band verschiedenen Versuchen zu, die Straftheorie einerseits enger an die Empirie und die Erfordernisse politischer Steuerung zu binden und andererseits ihre normative Rechtfertigung aus dem Blickwinkel soziologischer Analyse und genealogisch-historischer Rekonstruktion zu überprüfen. Diese sozialtheoretischen Schriften fragen nach den Gründen, welche die Strafe jenseits ihrer vordergründigen Motive auf einer strukturellen, machttheoretischen und psychologischen Ebene motivieren. Das dritte Kapitel wendet sich der Frage nach der Schuldfähigkeit des Individuums zu. Die Idee der Strafe basiert vornehmlich auf der Vorstellung eines verantwortlichen Individuums, das stets auch anders hätte handeln können. Neuere neurowissenschaftliche Forschungen stellen diese Konzeption des Menschen jedoch infrage. Rechtsphilosophen und Kriminologen haben unterschiedliche Wege beschritten, um mit dieser Herausforderung an das Schuldstrafrecht umzugehen, die hier vorgestellt werden. Im vierten Kapitel beleuchtet der Band kritische Theorien der Strafe materialistischer, sprachphilosophischer, feministischer und postkolonialer Provenienz. Solche Theorien zielen darauf, das Verständnis von Strafe als Schwert der unparteiischen Justizia (versinnbildlicht durch die Augenbinde der Göttin der Gerechtigkeit) zu entmystifizieren und die Funktion von Strafe als Mittel der Herrschaftsstabilisierung bis in die Gegenwart herauszuarbeiten: Neoliberale Reformen in westlichen Ländern bewirken neben dem Zuwachs individueller Freiheiten in der Bevölkerung auch neue Ängste vor einem sozialen Abstieg. Die Toleranz im Umgang mit Diversität und von hegemonialen Normen abweichendem Verhalten ist dabei auf dem Rückzug begriffen. Neue punitive Elemente drohen das ausgleichende wohlfahrtsstaatliche Paradigma des Strafens der 1970er und 1980er Jahre abzulösen und soziale Problemlagen strafrechtlich zu regulieren. Die Vorstellung des eigenständigen Individuums, das volle Verantwortung für seine Handlungen trägt, unabhängig von seinem Milieu, ist einer der Pfeiler dieses neuen straftheoretischen Diskurses des Neoliberalismus. Nicht auch gesellschaftliche, politische und ökonomische Faktoren, sondern allein das Tätersubjekt wird als ursächlich für kriminelle Handlungen beschrieben. Während des Kolonialismus und der Segregation von schwarzen und weißen Menschen in den USA diente das Strafrecht zudem als Mittel der sozialen Differenzierung, der Unterwerfung und der Maximierung wirtschaftlichen Profits, deren Nachwirkungen in den Postkolonien sich bis heute nachzeichnen lassen. Diese Verzahnung des Strafrechts mit Formen kolonialen Regierens und der Sklaverei hinterlässt in den vom Kolonialismus befreiten Nationen ein ambivalentes Erbe des Rechts und insbesondere des Strafrechts. Ein Exkurs zu »Ubuntu« als einem aus Afrika stammenden Gerechtigkeitsideal zeigt eine alternative Möglichkeit, den Zusammenhang von Verbrechen und Wiedergutmachung konzeptionell zu fassen. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich im Anschluss an diese Überlegungen über konzeptuelle Alternativen zur Strafe mit Gerechtigkeitstheorien jenseits der Strafgerechtigkeit. Es rekonstruiert abolitionistische Positionen, die für eine Abschaffung der Gefängnisse und der Strafe im Allgemeinen argumentierten. Restaurative Theorien der Gerechtigkeit plädieren für ein Modell der kommunikativen Konfliktlösung mit den Zielen der Entschädigung und der Versöhnung zur Wiederherstellung der sozialen Harmonie. Schließlich wird anhand transformativer Gerechtigkeitstheorien die Frage der Normstabilisierung jenseits repressiver Gewalt aufgeworfen und im Hinblick auf die Veränderbarkeit von Machtstrukturen diskutiert.

Abschließend findet sich ein Glossar, das dem Leser und der Leserin Orientierung im Bereich der straftheoretischen Fachtermini bieten möchte. Zwar geht das Buch neben der Entfaltung systematischer Aspekte vorrangig chronologisch vor, dennoch kann es nach dem jeweiligen Lektüreinteresse kapitelweise gelesen werden und bietet immer wieder Querverweise auf Denker und Theorieansätze, die an anderer Stelle vertiefend diskutiert werden.

1. Normative Begründungsmodelle der Strafe

Von ihrem Beginn an lassen sich Straftheorien in relative und absolute Ansätze untergliedern. Relative Straftheorien rechtfertigen Strafen durch den aus ihnen entstehenden Nutzen für das Gemeinwesen. Sie sind auf die Zukunft ausgerichtet und zielen auf die Verhinderung neuer Gesetzesübertretungen. Absolute Straftheorien verorten den Grund der Strafe hingegen in der Tat. Sie beziehen sich retrospektiv auf die Wiedergutmachung vergangenen Unrechts. Normativ rechtfertigen sie sich durch den Verweis auf den übergeordneten Wert Gerechtigkeit oder auf die immanente Zweckhaftigkeit des Strafens als Modus der Vergeltung. Als klassische Vertreter absoluter Straftheorien können der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant (1724–1804) und G.W.F. Hegel (1770–1831) gelten.

Einer der frühesten Autoren einer relativen Straftheorie, der für die Beurteilung des Nutzens von Strafen für das Gemeinwesen argumentiert hat, ist der italienische Jurist und Philosoph Cesare Beccaria (1738–1794). Ein weiterer prominenter Vertreter der utilitaristischen Staats- und Rechtstheorie ist Jeremy Bentham (1748–1832), ein aus Großbritannien stammender Gelehrter. Er wird im Kontext der Straftheorien jedoch nur selten genannt. Wir nehmen ihn hier auf, weil seine Überlegungen zu einer ökonomisch fundierten, nutzenmaximierenden Straftheorie heute wieder Konjunktur haben. Seine Verortung in der Ideengeschichte des Strafens verspricht Hinweise darauf zu geben, warum über staatliches Strafen in der Art und Weise nachgedacht wird, wie es in den Bereichen der Politik und des Rechts gegenwärtig der Fall ist.

1.1 Strafen für das Gemeinwohl – relative Begründungen der Strafe

Inspiriert von den philosophischen Schriften der Aufklärung stellen Denker des 18. Jahrhunderts das mittelalterliche Strafsystem auf den Prüfstand. Den frühen Kritikern der Strafe ging es zum einen darum, die Straftheorie auf die von ihr selbst proklamierte Legitimation hin zu überprüfen: Vorrangig wurde diese in der Abschreckung der Täter zur Verhinderung zukünftiger Straftaten gesehen. Es handelte sich also um eine immanente Befragung der Strafe nach ihrer Wirkmächtigkeit und Kohärenz. Denkern wie Cesare Beccaria und Jeremy Bentham ging es zum anderen darum, die Strafe überhaupt systematisch zu begründen, sie philosophisch zu rechtfertigen und damit der Kontingenz des Strafens durch einen absolutistischen Herrscher entgegenzuwirken. Zudem führt Beccaria humanistische Motive dafür an, warum das durch exzessive Strafen verursachte Leiden gemindert werden sollte. Vorrangige Begründungslast übernimmt jedoch bei beiden Autoren die relative Straftheorie der Prävention, die sich vom Zweck des Strafens her rechtfertigt, nämlich der Verminderung von Kriminalität.

1.1.1 Klare Gesetze als beste Verbrechensprävention (Beccaria)

Cesare Beccarias kriminalpolitisches Pamphlet Von den Verbrechen und von den Strafen (1764, ital.: Dei delitti e delle pene) gilt als Geburtsstunde der modernen Kriminologie (Seminara 2014, 1127) und als Manifest der strafrechtlichen Aufklärung (Garlati 2015, 240). Es ist einer der einflussreichsten Texte der Neuzeit über das Strafen und fand bereits zu Lebzeiten Beccarias in Europa weite Verbreitung. Was macht seine Wirkmächtigkeit aus? Das Gedankengut, das sich in diesem kriminalpolitischen Manifest finden lässt, war seinerzeit nicht wirklich neu. Jedoch zeichnet den Text aus, dass er die frühaufklärerische Kritik am mittelalterlichen Strafsystem bündelte und zuspitzte. In seinem Essay nimmt Beccaria die repressive, willkürliche und grausame Kriminaljustiz seiner Zeit ins Visier. Zudem wendet er sich gegen die elendigen Verhältnisse in den Gefängnissen, gegen die Klassenjustiz in Form der Bevorteilung des Adels und gegen besonders grausame Formen öffentlicher Bestrafung, die seiner Ansicht nach eher zur Verrohung als zur Verbesserung der Menschen beitragen. Stattdessen plädiert er für ein transparentes, effizientes und angemessenes System der Bestrafung mit dem Ziel, das Gemeinwesen zum Wohl aller zu stärken.

Der Marchese Cesare Beccaria wird 1738 in Mailand geboren und entstammt einer adeligen Familie. Er absolviert ein Jurastudium in Padua, allerdings mit wenig Begeisterung. Beccaria beschreibt seine Ausbildung als dogmatisch, uninspirierend und durch einen autoritären Lehrstil geprägt (Monachesi 1956), weshalb er sich von den Rechtswissenschaften im engeren Sinne abwendet und ein Interesse für die Mathematik, die Philosophie und die Literatur entwickelt. Besonders begeistert er sich für die Schriften von Jean-Jacques Rousseau, Charles de Montesquieu, Thomas Hobbes und der französischen Enzyklopädisten. Beccaria wird Teil eines Kreises junger Männer, die sich um die Gebrüder Pietro und Alessandro Verri versammeln und ähnliche Interessen pflegen wie er selbst. Pietro Verri, ein zu seiner Zeit bedeutender italienischer Ökonom, wird sein Mentor. Er beauftragt Beccaria, der ihn gelangweilt um eine sinnerfüllende Aufgabe bittet, eine Abhandlung über die Lage der Justiz in Mailand zu verfassen (Garlati 2015, 239). Dafür stellt er ihm seinen Bruder Alessandro Verri zur Seite, der Schriftsteller ist, nebenbei selbst Gefangene betreut und sich für deren Rechte engagiert. Beccarias reichhaltige Notizen, die dieser in weniger als einem Jahr zusammenträgt, werden von Pietro Verri geordnet und in Form gebracht. Zum Zeitpunkt der Publikation ist Beccaria gerade einmal 26 Jahre alt. Der Aufklärungsphilosoph Abbé André Morellet übersetzt das Werk noch im Jahr seiner Veröffentlichung ins Französische und ordnet es dabei neu. Darüber hinaus kommentiert Voltaire die Schrift, was ihr zu weiterer Berühmtheit verhilft. Die Publikation erfolgt jedoch zunächst anonym. Nicht ohne Grund: Der Text wird 1766 von der römischen Kirche auf die Liste verbotener Bücher gesetzt und bleibt dort bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil im Jahr 1962 (Seminara 2014, 1121).

Innerhalb kurzer Zeit verbreitet sich Von den Verbrechen und von den Strafen vor allem im Ausland und wird in zahlreiche Sprachen übertragen. Der Text gilt als äußerst provokativ und gar revolutionär. Beccarias Schrift richtet sich an »wohltätige Monarchen« und fordert eine Abkehr vom strafrechtlichen Despotismus. Der Verfasser wird als »Sozialist« diffamiert (Garlati 2015, 240). Die Zarin von Russland Katharina II. lädt ihn nichtsdestotrotz zu sich ein, um an einer aufgeklärten Gesetzgebung mitzuwirken. Beccaria lehnt jedoch ab. 1791 tritt er einer amtlichen Kommission für ein neues Straf- und Zivilrecht in der Lombardei bei und stirbt rund drei Jahre später (Naucke 2005, XI–XII).

Bei der Lektüre des berüchtigten Essays ist es hilfreich, sich seine Intention zu vergegenwärtigen: In strategischer Absicht wendet sich die Schrift an die Herrschenden im Kontext des Absolutismus und versucht sie davon zu überzeugen, ein äußerst brutales und willkürliches Strafrechtssystem zu reformieren. Als theoretisches Fundament dient dabei die Vertragstheorie, mit der sich Beccaria an die Ideen von Jean-Jacques Rousseau, vor allem aber auch an die Überlegungen von Thomas Hobbes anlehnt. Menschen schließen sich demzufolge zusammen, um dem Krieg aller gegen alle zu entkommen. Sie tauschen einen Teil ihrer eigenen Freiheit gegen die Sicherheit an Leib und Leben ein und treten das Recht zu herrschen und Gerechtigkeit zu üben an den Souverän ab, sofern dieser ihnen ihre Sicherheit garantiert. Um diesen Zustand der sicherheitsverbürgenden Vergesellschaftung aufrechtzuerhalten, darf die Staatsgewalt strafen. Alles, was über dieses Ziel hinausgeht, ist jedoch ungerecht. Gerechtigkeit bildet hier »das notwenige Band, um Einzelinteressen zusammenzuhalten« (Beccaria 2005, II, 11). Je geringer der Teil seiner Freiheit ist, den der Einzelne opfert, und je größer dabei seine Sicherheit, desto gerechter ist demnach ein Gemeinwesen. Mit dieser Formel grenzt Beccaria das, was er als politische Gerechtigkeit bezeichnet, streng von der zu seiner Zeit verbreiteten Vision einer religiös begründeten Gerechtigkeit ab. Während Letztere moralisch bestimmt, was als Sünde und was als gute Tat zu gelten hat, orientiert sich politische Gerechtigkeit daran, was für die Gesellschaft nützlich ist. Die Maxime aller Bestrebungen ist bei Beccaria weltlich begründet – als »das größte Glück verteilt auf die größte Zahl« (ebd., I, 6). Beccaria gilt deshalb als früher Vertreter des Utilitarismus. Für ihn sind diejenigen Maßnahmen gerecht, die das Glück der Menschen maximieren. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es nicht zuletzt der Bestrafung, die den despotischen Geist des Einzelnen und dessen Begehren nach mehr Besitz in die Schranken weist. Erst durch »fühlbare« Strafen, die sich dem Geist einprägen, seien die menschlichen Leidenschaften zu bremsen (ebd., II, 10–11). Die Strafe hält demnach den Einzelnen von zukünftigen Straftaten ab (Spezialprävention) und wirkt durch Abschreckung zugleich präventiv auf die Gesellschaft (negative Generalprävention) (ebd., XV, 45).

Von Charles de Montesquieu übernimmt Beccaria die Idee der Notwendigkeit der Gewaltenteilung zwischen gesetzgebender (Legislative), richtender (Judikative) und ausführender Gewalt (Exekutive). Dabei will er die Macht der Richter gegenüber der gesetzgebenden Gewalt eingeschränkt sehen. In der Interpretation der Gesetze identifiziert er einen Ort des potenziellen Machtmissbrauchs. So würden Richter, die hohe Geldstrafen verhängen, im Namen des Fiskus handeln und damit der Staat sich selbst in die Tasche wirtschaften. Um solcherlei Erscheinungen der Korruption entgegenzuwirken, soll die Funktion des Richters allein darauf beschränkt werden, das Gesetz nach einem einfachen Syllogismus auszulegen: »[…] der Obersatz muß das allgemeine Gesetz sein; der Untersatz muß die mit dem Gesetz übereinstimmende oder nicht übereinstimmende Handlung sein; der Schluß Freiheit oder Strafe« (Beccaria 2005, IV, 14). Nach diesem Verfahren sei sichergestellt, dass die Strafgesetze überall gleiche und unnachgiebige Anwendung finden. Ein Nachteil, welchen Beccaria nicht diskutiert, besteht freilich darin, dass die strikt formalisierte, verallgemeinerte Anwendung des Gesetzes dem singulären Einzelfall in seiner Spezifizität nicht Rechnung tragen kann. Ihm scheint es wichtiger zu sein, die Kontingenz der Rechtsprechung radikal zu begrenzen.

Eine kluge Architektonik der Gesetze erhöht ihre Wirkmächtigkeit. Um effizient zu wirken und allgemein zugänglich zu sein, müssen die Gesetze klar und allgemein verständlich formuliert werden, dürfen also nicht in einer Sprache verfasst werden, die zwar eine kleine Elite, nicht aber der allgemeine Bürger versteht. Gesetze können zwar nie vollständig verhindern, dass sich Menschen ihnen in gewissen Situationen widersetzen, jedoch vermögen sie es idealerweise, die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit so auszutarieren, dass sich die Mehrzahl der Bürger ihnen willentlich fügt. Zudem darf nicht bestraft werden, was nicht gesetzlich untersagt ist. Es muss also allgemein voraussehbar sein und darf keiner Willkür unterliegen, welches Verhalten strafrechtlich sanktioniert wird und welches nicht. Auch in diesem Punkt geht es Beccaria um die Abwehr der Korrumpierung des Rechts als Herrschaftsinstrumentarium.

Die im Gesetz festgeschriebenen Strafen müssen im Verhältnis zu der jeweiligen Tat stehen: »Wer beispielsweise dieselbe Todesstrafe für die Tötung eines Fasanen, für die Ermordung eines Menschen und für die Fälschung eines wichtigen Schriftstücks angedroht sieht, wird keinen Unterschied zwischen diesen Verbrechen machen […]« (Ebd., XXIII, 70) Das Strafmaß ergibt sich bei Beccaria zudem konsequentialistisch aus den Folgen der Tat für das Gemeinwesen: Richtet sich die Tat gegen eine Privatperson, so könne das Maß der Bestrafung geringer ausfallen, bedroht sie dagegen die Gesellschaft, müsse es dementsprechend härter sein (ebd., XXIII, 71). Ein weiterer Faktor für die Bestimmung der Härte oder Milde der Strafen ist der Grad der Festigkeit einer Nation. Ist sie jung oder droht leicht in Anarchie zu verfallen, dürfen auch die Gesetze strenger sein. Ist das Gemeinwesen gefestigt, so empfiehlt es sich dagegen, die Strafen abzumildern.

Alles, was über den Zweck der Abschreckung hinausgeht, ist Beccaria zufolge tyrannisch. Unnötige Härte verhindert keine weiteren Straftaten, sondern verhärtet das Gemüt des Bestraften. Im Verhältnis zu den damals gängigen Praktiken plädiert Beccaria deshalb für eine Humanisierung der Strafe. Schließlich darf der Mensch nicht, um für andere ein Exempel zu statuieren oder auch um die Machtfülle des Herrschenden zu symbolisieren, zu einem Objekt degradiert werden, wie dies insbesondere bei öffentlich inszenierten brutalen Formen der Folter geschieht.

Was das Verhör betrifft, gehört die Folter als Mittel der Geständniserzwingung nach Beccaria abgeschafft (ebd., XII). Sie ist eine vorweggenommene Bestrafung und widerspricht damit der Unschuldsvermutung gegenüber dem Angeklagten. Zudem sei ein unter Qualen hervorgebrachtes Geständnis unbrauchbar. War man im Mittelalter davon ausgegangen, dass die Folter als Prüfstein zur Wahrheitsfindung dient, nimmt Beccaria dagegen an, die Folter privilegiere allein den Schmerzunempfindlichen mit einem starken Gemüt gegenüber dem Schmerzempfindlichen, der leichter in Angst zu versetzen sei: »Es ist dies ein sicheres Mittel, um die starken Verbrecher freizusprechen und die schwachen Unschuldigen zu verurteilen.« (Ebd., 33) Letztere gestehen ihre Schuld allein deswegen ein, um dem anhaltenden Schmerz der Folterqualen zu entgehen. Erstere, selbst wenn sie schuldig sind, werden dagegen freigesprochen, sofern sie der Folter widerstehen. Insofern ist bei der Folter der Schuldige dem Unschuldigen gegenüber bessergestellt, weil er die Chance hat, seiner eigentlichen Bestrafung zu entgehen, während der Unschuldige präventiv gequält wird und durch das erpresste Geständnis noch weitere Bestrafung erleiden muss. Die Folter ist also ein in sich widersprüchliches Instrument und gehört abgeschafft.

Vor allem bekannt wurde Beccaria jedoch für seine Argumentation gegen die Todesstrafe. Zu seinen Lebzeiten war ein zunehmendes Maß an Grausamkeit bei den Exekutionen zu verzeichnen. Verurteilte wurden beispielsweise am Schwanz eines Pferdes geschleift, körperlich verstümmelt, mit glühenden Eisen malträtiert oder auf das Rad geschnallt. Enthauptungen waren ein Privileg des Adels, und die Einführung der Guillotine zu Zeiten der Französischen Revolution wurde schließlich als sozialer Fortschritt gefeiert (Garlati 2015, 258). Beccaria findet für die Todesstrafe im Allgemeinen klare Worte: Ihre Vollstreckung komme einem »Krieg der Nation gegen einen Bürger« (Beccaria 2005, XVI, 49) gleich und sei schlichtweg »öffentlicher Mord« (ebd., XVI, 54). Seine Argumentation ist vertragstheoretisch aufgebaut. Erst fragt er den Leser: »Wer hätte jemals anderen Menschen die Befugnis, ihn zu töten, einräumen wollen?« (Ebd., XVI, 46) Seine Antwort lautet: Niemand würde dies tun. Schließlich ist es der Sinn des Gesellschaftsvertrags, den geringsten Teil unserer Freiheit für das Überleben in der Gemeinschaft aufzugeben. Die Verfügungsgewalt über das Leben ist aber gerade die umfassendste Einschränkung unserer Freiheit. Gegen diese Argumentation von Beccaria lässt sich einwenden, dass es durchaus rational sein könnte, nicht dem eigenen Tod, aber einem Strafsystem, welches bei bestimmten Gesetzesübertretungen die Todesstrafe vorsieht, zuzustimmen, sofern dies die einzige Möglichkeit ist, die staatliche Ordnung aufrechtzuerhalten und damit unsere eigene Sicherheit zu garantieren (Primorac 1978, 419). Beccaria bringt noch ein zweites Argument an, dem zufolge der Mensch gar nicht über das Recht verfügt, im Gesellschaftsvertrag sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Im 18. Jahrhundert war die Vorstellung weit verbreitet, dass Selbsttötung moralisch nicht zu rechtfertigen ist und allein Gott über das Leben verfügen kann. Entsprechend könne der Mensch sein Leben auch nicht in einen Gesellschaftsvertrag einbringen. Neben diesen zwei kontraktualistischen Argumenten führt Beccaria weitere utilitaristische Erwägungen an, warum es schlicht nutzlos sei, einen Verbrecher zu töten: Schließlich sei die Abschreckung durch einen einzigen, noch so grausamen Moment der Hinrichtung weniger wirksam als die beständige Betrachtung des Leidens eines Verurteilten. Als Alternative zur Todesstrafe schlägt er deshalb die lebenslange Knechtschaft vor: Fesseln, Ketten, Schlagstock, eiserner Käfig und Zwangsarbeit. Letztere sei auch insofern nützlicher, als dass der Schuldige der Gesellschaft durch die geleistete Arbeit etwas zurückgeben könne. Aus heutiger Sicht erscheint dieser Vorschlag kaum einer Verbesserung gleichzukommen und wird von dem Rechtswissenschaftler Wolfgang Naucke deshalb auch als »säkularisierte Hölle« bezeichnet (Naucke 2005, XXVI). Beccaria verteidigte sich gegen diese von ihm bereits antizipierte Kritik mit dem Argument, dass der Schrecken vornehmlich beim Betrachter entstehe, der dem Unglück des anderen in nicht endender Folge zusieht. Der Gemarterte selbst verhärte im Gemüt; er lebe aufgrund seines Schmerzes allein im Augenblick und finde »Entschädigungen und Tröstungen, von denen die Zuschauer nichts wissen und die sie nicht für möglich halten« (Beccaria 2005, XVI, 52).

Ausnahmen vom generellen Verbot der Todesstrafe sind für Beccaria nur dann legitim, wenn durch das Weiterleben des Verbrechers das Gemeinwesen bedroht wird: in jenem Fall etwa, in dem die internierte Person eine solche Machtfülle besitzt, dass eine Gefahr für die Sicherheit der Nation von ihr ausgeht, oder wenn die Tötung eines Verbrechers das einzige Mittel darstellt, andere vom Begehen weiterer Verbrechen abzuhalten. Die Todesstrafe dürfe also nur in solchen Ausnahmefällen eingesetzt werden, in denen kein anderes Mittel zur Verfügung stehe, um einen Zerfall des Gemeinwesens in Anarchie zu verhindern. In Zeiten, in denen eine Nation sehr gefestigt ist, rückt ihre Notwendigkeit indes in weite Ferne.

Der Vollzug der Strafe muss rasch nach dem Verbrechen folgen, sodass die Untat im öffentlichen Bewusstsein auch hinreichend mit der Strafe verknüpft wird (ebd., XIX). Ziel der Strafe ist es schließlich, die Tat unattraktiv erscheinen zu lassen, weil letztlich durch sie kein Vorteil gewonnen werden kann. Diejenigen Strafen, die zwar milde sind, aber mit großer Wahrscheinlichkeit auf Taten folgen, sind für die Bürger weitaus einprägsamer als vereinzelte brutale Formen der öffentlichen Sanktionierung.

Die von Beccaria geforderte Unverbrüchlichkeit der Gesetze wendet sich gegen jegliche Form der Straflosigkeit. Das gilt auch dann, wenn das Opfer dem Täter bereits verziehen hat. Schließlich wird auch das Gemeinwesen durch das Verbrechen angegriffen, und ein Einzelner kann nicht im Namen des Gesetzes verzeihen. Ähnlich hält es Beccaria mit der Gnade (ebd., XX). Diese diene in einem willkürlichen Rechtssystem dazu, die Widersprüchlichkeit und Grausamkeit der Gerichtsurteile abzumildern. Zudem soll sie die Herrschaftsfülle des Souveräns verdeutlichen. Sei der Gesetzgeber jedoch bereits »mild, duldsam und menschlich« (ebd., 65), so werde sie obsolet. Unter solchen Umständen bewirkt die Begnadigung durch die Richter eher »gewaltsame Verletzungen als Hervorbringung der Gerechtigkeit« (ebd.). Sie nährt den Glauben der Bürger, sie könnten ihrer gerechten Bestrafung entgehen, und ist damit nicht nur ungerecht, sondern auch wenig nützlich.