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Helen Schwenken

Globale Migration zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner, Koblenz
Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2018 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Florian Zietz

Titelbild: Migration. Get used to it,

© Anne Giangiulio

E-Book-Ausgabe September 2019

ISBN 978-3-96060-111-1

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-805-1

1. Auflage 2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Ina Kerner
Dieter Thomä

Inhalt

1.Einleitung

1.1 Perspektiven auf globale Migration

1.2 Migrationsforschung global

1.3 Nationalstaatliche Paradigmen von Migrationsforschung

1.4 Stationen der Migrationsforschung in West- und Ostdeutschland

1.5 Zum Aufbau der Einführung

2.Definitionen und Daten: Die Produktion von Migration

2.1 Wie treffend fangen Statistiken Migrationsgeschehen ein?

2.2 Die Macht von Definitionen: Sind Flüchtlinge Migrant_innen?

2.3 Zur Messung von Migration

2.4 Zur Visualisierung von Migration

2.5 Globale Migrationsmuster

2.6 Einmal Migrant_in, immer Migrant_in?

2.7 Fazit

3.Migrationstheorien: Was sie erklären –und was nicht

3.1 Migrationstheorien im Überblick

3.2 Ravensteins Gesetze der Migration: Der Klassiker

3.3 Push-pull-Theorie der Migration

3.4 Neoklassische Migrationstheorien: Migration als rationale Wahl

3.5 The New Economics of Labour Migration

3.6 Weltsystemtheorie: Migration zur Mobilisierung und Kontrolle von Arbeitskraft

3.7 Migrationssystemtheorie: Migration wie ein geöltes Räderwerk

3.8 Labour Market Segmentation Theory: Nachfrage erklärt Migration

3.9 Neuere Ansätze: Von der Reduzierung der Komplexität zur notwendigen Komplexität

3.10 Transnationalismus: Leben in und zwischen transnationalen sozialen Räumen

3.11 Autonomie der Migration: Die transformative Kraft subjektiver Migrationsprojekte

3.12 Fazit

4.Politiken der Migrationskontrolle

4.1 Was wird unter Migrationssteuerung verstanden?

4.2 Die Kontroverse um Migrationssteuereung

4.3 Fazit

5.Migration und Geschlecht

5.1 Wie Frauen aus der Migrationsforschung herausgeschrieben wurden

5.2 Thematisierungsphasen von Geschlecht in der Migrationsforschung

5.3 »Feminisierung der Migration«: Ein zutreffendes Paradigma?

5.4 Wie verändern sich Geschlechterverhältnisse durch Migrationsprozesse?

5.5 Genderanalytische Konzepte zur Analyse von Migrationsphänomenen

5.6 Fazit

6.Migration als Emigration

6.1 Merkmale und politische Ökonomie der Emigrationsstaaten

6.2 Emigrationsstaaten im globalen Mobiliätsregime

6.3 Labour brokering states

6.4 Zum Verhältnis von Migration und Entwicklung

6.5 Staatliche Beziehungen zur Diaspora

6.6 Fazit

7.Ausblick

Dank

Anhang

Literaturverzeichnis

Über die Autorin

1. Einleitung

Diese Einführung beginnt mit der Infragestellung ihres Gegenstands: Denn viele der Konzepte, die in der Migrationsforschung lange zentral waren oder es weiterhin sind – Migrant_innen, Kultur, Identität, Integration, Grenze – werden von einer reflexiven oder kritischen Migrationsforschung inzwischen grundlegend kritisiert, weil sie auf dichotomischen Festschreibungen beruhen, deren stete Wiederholung Ein- und Ausschlüsse fixiert. Die Migrationsforschung ist immer schon aktiv an der Herstellung ihrer eigenen Kategorien und Themen beteiligt. Das bedeutet zwar nicht, dass es Migration, Grenzen oder Identitäten nicht gäbe. Aber sich dieser Produktions- und Konstruktionsprozesse bewusst zu werden sollte heute ein wesentliches Element der Migrationsforschung sein. Dazu will diese Einführung beitragen.

Nach einer klassischen Bestimmung wird Migration definiert als längerfristige, zumindest ein Jahr andauernde räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunkts von Individuen oder Gruppen. In räumlicher Hinsicht gilt die Überschreitung einer Grenze als internationale Migration, die durch dieses Kriterium von der Binnenmigration unterschieden wird. Soziologische Definitionen benennen drei Dimensionen der Migration: den Ortswechsel, die damit einhergehende Veränderung des sozialen Beziehungsgeflechts sowie »Grenzerfahrungen« (Oswald 2007, 13). Bestimmendes Merkmal ist also die Verlagerung des Lebensmittelpunkts (Familie, Wohnung, Arbeit, soziales Netz, Kultur). Die Bewegung einer Person ist somit das entscheidende Kriterium.

Ein anderer Zugang, der neben den Individuen und Gruppen auch die betroffenen Gesellschaften auf zentrale Weise einbezieht, betrachtet »Migration als Perspektive«. Das bedeutet, dass mit dieser Perspektive »soziale Phänomene und Kontexte erfasst werden, für die die Überschreitung politischer und symbolischer Grenzen natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit durch Menschen, Artefakte und Praxisformen konstitutiv oder zumindest kennzeichnend ist: Übersetzung oder Vermischung als Folge von Wanderungen, Entstehung von Zwischenwelten und hybriden Identitäten, Phänomene der Zuschreibung von Fremdheit, Strukturen und Prozesse des Rassismus oder auch die Erschaffung neuer Formen von Ethnizität und vieles andere mehr – all dies gehört zur migrationsgesellschaftlichen Realität, ist adressiert und sollte in den Blick genommen werden, wenn wir von Migration sprechen.« (Mecheril 2014, 111) Deutlich wird an dieser Beschreibung, dass es einen signifikanten Unterschied macht, ob Migrationsforschung auf die räumlich mobilen Subjekte blickt oder in einem umfassenderen Verständnis auch die Folgen von Wanderungsprozessen und Gesellschaften als Migrationsgesellschaften umfasst. Und deutlich wird auch, dass solchen Beschreibungen und Definitionen jeweils Annahmen zugrunde liegen, die wenigstens umstritten sind. Dennoch soll im Folgenden nicht ganz auf Begriffsklärungen verzichtet werden, da sie Verständigung erlauben und an ihnen auch das Ringen um Begriffe und die ihnen zugrunde liegenden Einschätzungen verdeutlicht werden kann.

Wie aber kann Migrationsforschung betrieben werden, ohne Migration und Migrant_innen als etwas von der Norm Abweichendes, als ›das Andere‹ zu denken? Einige programmatische Formulierungen lauten: »Entmigrantisierung der Migrationsforschung« (Dahinden 2016), »Migrantisierung der Gesellschaftsforschung« (Bojadžijev/Römhild 2014) oder »Migrationsforschung als Nicht-Ausländerforschung« (Mecheril et al. 2013, 16). Was ist damit gemeint? Zunächst einmal verfolgen diese Programme das Ziel, die Migrationsforschung wieder enger an die Sozialtheorie anzubinden, dichotomisierende Kategorien zu hinterfragen und nicht allein ›die Migrant_innen‹ zum Gegenstand zu machen, sondern Migrationsgesellschaften bzw. Segmente der allgemeinen Bevölkerung. Eine als »Ausländerforschung« verstandene Migrationsforschung richtet ihr Augenmerk »einseitig auf die Bedingungen gelingender Eingliederung von MigrantInnen in bestehende, direkt oder indirekt als gegeben geltende Ordnungen« (ebd., 14). Dazu zähl(t)en Assimilations- und Integrationsforschung, eine an Migration im Dienste des Humankapitals ausgerichtete Forschung sowie die historische Gastarbeiterforschung. Solche Perspektiven unterstützen die oft implizit wirksame Annahme, dass ›das Allgemeine‹ oder ›die Normalität‹ ein Zustand ohne Migrationsprozesse sei. Ausgangspunkt ihrer Problematisierung ist, dass sich die Migrationsforschung in zwei Kontexten institutionalisiert hat, zum einen im Rahmen der Herausbildung von Nationalstaaten und in den letzten Jahrzehnten im Zusammenhang einer engen Kopplung von Auftrags- und Migrationsforschung. Die Nationalstaatengründung bedeutete, ein Innen und ein Außen klar zu definieren, sowohl territorial mittels der Institution von Grenzen wie auch das Staatsvolk betreffend anhand der Unterscheidung von In- und Ausländer_innen. Nur wenn nationalstaatliche ›Container‹ die Analyseeinheit sind, macht der Begriff der internationalen Migration Sinn.

Im akademischen Feld war bzw. ist die Migrationsforschung randständig. Nicht zuletzt deshalb hat sie häufig in Form von Auftragsforschung stattgefunden oder wurde von politiknahen Stiftungen initiiert. Angefordert wurden Studien, die mit spezifischen Kategorien (Türkinnen, Muslime, Migrationshintergrund, Integration etc.) hantierten und konkrete Problemlösungen erwarteten. Ihre Kategorien sind einem Alltagsverständnis entlehnt, werden durch die permanente Wiederholung immer weniger hinterfragt und auf diese Weise zum Inventar einer Wissenschaft, wodurch sie sich wiederum ›normalisieren‹. Durch die Problemlösungsorientierung sehen sich die Wissenschaftler_innen aufgefordert, auf einer konkreten Ebene anzusetzen, wobei aber die oft tief verankerten und nur schwierig zu verändernden gesellschaftlichen Umstände von Migrationen (z.B. internationale Arbeitsteilung, rassistische und antiziganistische Kontinuitäten, der »monolinguale Habitus« [Gogolin 2008] des Schulsystems) außer Acht bleiben. Beide Tendenzen haben dazu geführt, dass die Institutionalisierung der Migrationsforschung mit der Reproduktion von Kategorien einhergeht und auf einem »Paradigma der normalisierten Differenz« (Dahinden 2016, 2210) aufbaut, das eine reflektierende sowie eine breiter gesellschaftstheoretisch orientierte Migrationsforschung an sich infrage zu stellen beabsichtigt. Dass sie hinterfragt werden, soll nicht bedeuten, dass es Migrant_innen oder Migration nicht gäbe. Auch sind Ergebnisse von Arbeiten, die dem klassischen Containermodell folgen und Muster von Wanderungen oder gesellschaftlicher Inkorporation identifizieren, nicht pauschal von der Hand zu weisen. Jedoch muss auch die entsprechend verfahrende Forschung selbstreflexiv konstatieren, dass Migrationsforschung selbst Teil des Problemkomplexes geworden ist, den sie zu beschreiben und erklären beabsichtigte (Bommes/Thränhardt 2010, 9).

Einen einfachen Weg aus dieser grundsätzlichen Problematik der Migrationsforschung gibt es nicht, jedoch können einige über Migration und Migrant_innen hinausgehende Forschungsperspektiven ihr entgegenwirken: Migrationsprozesse sind in allen Dimensionen soziologischer Betrachtung relevant: bezogen auf das Individuum sowie die Gesellschaft und in ihren vielfältigen Verflechtungsformen; Migration ist relevant für das soziale Handeln, die soziale Ordnung sowie den sozialen Wandel. Diese Dimensionen sind, gekoppelt und korrespondierend mit der Analyse entsprechender Prozesse mithilfe von Gesellschaftstheorien, zu berücksichtigen. Insofern ist die Gesellschaftsforschung zu »migrantisieren« (Bojadžijev/Römhild 2014).

Migrationsforschung sollte zudem nicht nur eine Spezialdisziplin (eine sogenannte spezielle Soziologie) sein. Migrant_innen treten »in allen relevanten sozialen Kontexten, der Ökonomie, der Politik, dem Recht, der Erziehung, der Gesundheit, dem Sport, den Massenmedien oder der Religion individuell oder als Familien sozial in Erscheinung […]. Migrationssoziologen müssen damit zugleich immer auch Familien-, Erziehungs-, Jugend- oder Rechtssoziologen, Arbeitsmarktforscher, Betriebs, Industrie- oder Organisationssoziologen, Ungleichheitsforscher, Konfliktsoziologen, Politikwissenschaftler oder Staatstheoretiker usw. sein« (Bommes 2011, 36). Es mag also zwar disziplinäre Spezialisierungen geben, aber eine gute Migrationsforscherin ist immer auch Generalistin und greift auf Befunde aus anderen Disziplinen und Kontexten zurück.

Als Antwort auf die Reproduktion von als problematisch empfundenen Kategorien durch die Wissenschaft reicht das Spektrum der migrationstheoretischen Positionen ähnlich wie in der feministischen Wissenschaft vom »strategischen Essentialismus« (Phillips 2010) über intersektionale Ansätze bis zur Dekonstruktion. Eine strategisch-essentialistische Perspektive etwa nutzt die Kategorien, erläutert aber ihre Entstehung und reflektiert ihren Kontext. In einigen Forschungsdesigns wird die Kritik auch dahingehend übersetzt, dass die gleiche Gruppe in verschiedenen (oftmals Länder-)Kontexten untersucht wird, um so der Zuweisung von bestimmten Eigenschaften an eine Gruppe (›die zweite Generation‹) entgegenzuwirken und diese Zuschreibung vielmehr zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Intersektionale Ansätze arbeiten ebenfalls mit teils herkömmlichen Kategorien, zeigen aber deren Verflechtung und Ineinanderwirken auf (Lutz/Amelina 2017; Meyer 2017). Wie in der feministischen Diskussion ist hier die Bezugnahme auf Kategorien ambivalent und paradox. So können gruppenbezogene Positionen politisch sowohl emanzipatorisch wirken (›Neue Deutsche‹) und zur Erlangung sowie juristischen Kodifizierung von Rechten (Antidiskriminierungsgesetz, Anerkennung als verfolgte Minderheit etc.) führen als auch zur Referenz für Gegenbewegungen werden. Eine dekonstruktivistisch oder poststrukturalistisch orientierte Migrationsforschung hingegen kritisiert eine auf herkömmlichen Kategorien basierende Forschung radikal. Dies hat methodologische Konsequenzen, indem Kategorien als flexibel und veränderbar bzw. als letztlich nicht einmal definierbare Zugehörigkeiten in das Forschungsdesign eingelassen werden (z.B. Findlay/Li 1999).

1.1 Perspektiven auf globale Migration

Über Migration lässt sich ohne eigene Schwerpunktsetzungen (und die damit einhergehenden Auslassungen) sowie ohne eine eigene Positionierung keine Einführung schreiben. Daher seien hier die Perspektiven benannt, die für diesen Band maßgeblich sind.

Die erste Perspektive, die dieses Buch einnimmt, besteht in der sozialkonstruktivistischen Herangehensweise an das Thema Migration. Die Frage »Gibt es Migration?« scheint zwar eine einfach zu beantwortende empirische Fragestellung zu sein. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Denn Migration wird hergestellt – etwa durch Bezeichnungspraxen, durch Statistiken, durch Theorien, durch Separierungen; und damit auch durch die Migrationsforschung, die deshalb nicht einfach ihren Gegenstand ›hat‹, sondern an dessen Herstellung konstitutiv beteiligt ist. Migration gibt es nur dann, wenn bestimmte Mobilitätsformen als Migration verstanden und benannt werden. Wie anders ist zu erklären, dass bei mobilen Hochqualifizierten von expats die Rede ist und nicht von Migrant_innen? Benennungen sind von Strukturen der Macht und von normativen Orientierungen gekennzeichnet. Gerade im Zusammenhang mit Migrationsfragen wird häufig die Frage nach der Erwünschtheit von Migration und Migrant_innen gestellt, und nur selten ist bei der Erörterung dieser Frage eine neutrale Grundeinstellung vorherrschend. Das hat vor allem mit dem Etikettieren (Labeling) von bestimmten Menschen als ›Illegale‹, als ›Menschen mit Migrationshintergrund‹, als ›Flüchtlinge‹, als ›kriminelle Einwanderer‹ zu tun, wobei sogleich ins Auge fällt, dass es nur sehr wenig positiv konnotierte Etiketten für Zugewanderte gibt. Und auch die auf den ersten Blick zumeist nicht als negativ assoziierten Zuschreibungen erweisen sich bei näherem Hinsehen – und für die Betroffenen erst recht – als stigmatisierend. Beispiele dafür sind Bezeichnungen wie ›Opfer von Menschenhandel‹ oder ›IT-Inder‹. Die Forschung zu race relations in den USA konnte zeigen, wie sich das negative Bild Schwarzer durch entsprechende Label verfestigt und diese, einmal in der Welt, kaum wieder rückholbar sind bzw. immer wieder aufgerufen werden (Davis 1981, Kap. 11 »Rape, Racism and the Myth of the Black Rapist«). An dieser Herstellung von Migration und ihren Subjekten sowie den Diskursen über Migration ist eine Vielzahl von Akteur_innen beteiligt.

Dies leitet über zur zweiten, nämlich der kritischen regimetheoretischen Perspektive dieses Bandes. In der Migrationsforschung finden sich unterschiedliche theoretische Ansätze zu Regimen (zur Übersicht: Pott/Rass/Wolff 2018). Regime-Ansätze in den Internationalen Beziehungen (z.B. Beiträge in Ghosh 2000) haben ein stark institutionalisiertes Akteurs- und Politikverständnis. Als Regime gilt dort beispielsweise das Flüchtlingsschutzregime mit klaren Normen, Definitionen, zuständigen Organisationen und Handlungsabläufen. In der ethnografischen Migrations- und Grenzregimeforschung (z.B. Forschungsgruppe Transit Migration 2007; Tsianos/Karakayalı 2010) wird das Akteurs- und Handlungsspektrum hingegen deutlich breiter gefasst. Als Regime gilt hier »ein Ensemble von gesellschaftlichen Praktiken und Strukturen – Diskurse, Subjekte, staatliche Praktiken –, deren Anordnung nicht von vornherein gegeben ist, sondern das genau darin besteht, Antworten auf die durch die dynamischen Elemente und Prozesse aufgeworfenen Fragen und Probleme zu generieren« (Karakayalı/Tsianos 2007, 14). Gemäß diesem Verständnis nähert sich diese Forschung den Migrations- und Grenzregimen in methodologischer Hinsicht vor allem ethnografisch und analysiert Praktiken (»praxeologische Grenzregimeanalyse«, Tsianos/Hess 2010) und Diskurse. Eine historisch-materialistische Weiterentwicklung oder Reinterpretation des Regimebegriffs (Georgi 2016; Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa 2013) wiederum greift auf die Staatstheoretiker Nicos Poulantzas, Antonio Gramsci und Louis Althusser sowie die Regulationstheorie, zurückgehend auf den französischen Politökonom Michel Aglietta, zurück und stellt Hegemonieprojekte bzw. gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, deren strukturelle Verankerungen und konkurrierende Hegemonieprojekte (das neoliberale, das konservative, das national-soziale und pro-europäisch-soziale, das linksliberal-alternative und das linksradikale, Forschungsgruppe Staatsprojekt Europa 2013, 64–80) ins Zentrum der Analyse. Damit wird ein stärkerer Akzent auf die systemischen und politökonomischen Aspekte von Migrationsregimen gelegt, in deren Kontext die Auseinandersetzungen um Migration stattfinden. Die beiden letzten Verständnisse von Migrationsregimen informieren diese Einführung, indem sie gesellschaftliche Auseinandersetzungen um Migration, Rechte und gesellschaftliche Teilhabe in den Mittelpunkt stellen und Migrant_innen als Akteure von Regimen und Politiken einbeziehen, ohne dabei jedoch Strukturen aus dem Blick zu verlieren.

Eine dritte Perspektive, die in dieser Einführung leitend ist und die Wahl des Covermotivs bestimmte, fasst Migration als globales Phänomen und als Ausdruck globaler sozialer Ungleichheiten. Migration betrifft Aus- und Einwanderung gleichermaßen, und viele Migrant_innen sind bzw. fühlen sich, wie der algerische Soziologe Abdelmalek Sayad es formuliert hat, »doppelt abwesend« – im Herkunftsland vergessen und im Zielland nicht repräsentiert (Sayad 2004). Migrationsprozesse sind sehr häufig, selbstverständlich mit Ausnahmen, auf durch Kolonialismus und Kapitalismus entstandene Ungleichheiten zurückzuführen. In den Herkunftsgesellschaften wirken diese Faktoren oft weiter ungleichheitsverstärkend, weil es nicht die Ärmsten sind, die migrieren, sondern zumeist ressourcenstärkere Menschen, deren Angehörige zudem über den Erhalt von Überweisungen durch die migrierten Verwandten in ihrer Position gestärkt werden. All diese Prozesse vollziehen sich nicht linear oder in eine Richtung, wohl aber lassen sich Muster erkennen. Lange war bzw. noch immer ist die deutschsprachige Migrationsforschung sehr auf den deutschen und europäischen Kontext und die als für diese Gesellschaften relevant wahrgenommenen Folgen von Migration fokussiert und lässt sich insofern zu großen Teilen als Integrationswissenschaft kennzeichnen – mit den bereits skizzierten Verengungen, die das zur Folge hat. Leser_innen, die stärker an diesem Feld interessiert sind, seien auf einschlägige Überblicks- und Einstiegswerke verwiesen (z.B. Aumüller 2015; Hoesch 2018; Hess/Binder/Moser 2009).

Die vierte Perspektive dieser Einführung ist eine genderanalytische. Migrationen wirken, genauso wie andere gesellschaftliche Faktoren, ganz unterschiedlich auf Geschlechter und Geschlechterverhältnisse und sind in komplexer Weise mit den verschiedenen Dimensionen sozialer Stratifizierung verbunden (Intersektionalität). Die meisten der klassischen Migrationstheorien sind jedoch von einem Gender Bias geprägt, der entweder mögliche Genderdifferenzen aufgrund einer individuumszentrierten Perspektive nicht in Betracht zieht oder Frauen pauschal als abhängige oder nachziehende Familienangehörige versteht. Auch in bestimmten Migrationspolitiken werden beispielsweise die Kategorien Alter und Bildung neben Geschlecht als bedeutsame Marker für die Zuweisung ungleicher Mobilitätsrechte verwendet, wenn etwa eine Regierung, in diesem Fall die indische, festlegt, dass Frauen im Alter von unter dreißig Jahren und mit nur geringer formaler Bildung nicht emigrieren dürfen.

Fünftens versucht diese Einführung, Regulationen von Migration immer auch in ihren Widersprüchlichkeiten zu begreifen. So wurde etwa die eben erwähnte Bestimmung der Migrationspolitik Indiens mit der Intention eingeführt, Personengruppen zu schützen, die als besonders vulnerabel eingeschätzt wurden. Für viele der Betroffenen stellt sie indes eine patriarchale, bevormundende Restriktion ihrer Bewegungsfreiheit dar. Solch widersprüchliche Verhältnisse etwa von Schutz versus Restriktion durchziehen eine größere Zahl von Migrationspolitiken. Und an ihnen kristallisieren sich soziale Artikulationen, deren Spektrum von unsichtbaren Widerstandshandlungen (bspw. im Sinne von »hidden transcripts«, Scott 1990; oder unsichtbaren (Alltags-)Politiken, Ataç et al. 2015) bis zu stärker formalisierten Reaktionsmustern in sozialen Bewegungen und Organisationen (exemplarisch: Bratic 2000; Özcan 1992; Schwenken 2006) reicht. Auch dieser Aspekt von Migration wird in dieser Einführung nicht gesondert behandelt, sondern jeweils in die Kapitel integriert.

1.2 Migrationsforschung global

Nicht nur Migrationsprozesse sind global und in globale Ungleichheitsstrukturen eingelassen, sondern dasselbe gilt auch für die Migrationsforschung selber. Bei der Forschungsfinanzierung und der Verbreitung von Veröffentlichungen ist zweifelsohne eine US-amerikanische und europäische Dominanz zu konstatieren. Wie selbstverständlich wurden (und werden) in führenden Zeitschriften Artikel mit allgemeingültigen Ansprüchen veröffentlicht, die sich jedoch, ohne dass dies thematisiert würde, ausschließlich auf die USA oder Europa beziehen. Forschung aus dem Globalen Süden hat es dagegen deutlich schwerer, wahrgenommen zu werden. Dabei gibt es in allen Kontinenten ausgezeichnete Migrationsforschung.

In Afrika gilt Migration aus historischer Perspektive eher als der Normalzustand denn Sesshaftigkeit, wird jedoch von Forscher_innen des Globalen Nordens häufig als etwas Exzeptionelles dargestellt. Fragen von Mobilität und Translokalität sind im afrikanischen Kontext in viele Forschungsfelder eingelassen, ohne gleich als Migrationsforschung gekennzeichnet zu sein. In den Regionen sind dabei je spezifische Entwicklungen charakteristisch (bspw. zu Westafrika: Adepoju 2003). Migrationsforschende sind u.a. in dem 1998 durch die UNESCO initiierten Network of Migration Research on Africa (NOMRA) oder über Fachverbände wie die »Sektion Migration« der Union for African Population Studies (UAPS) vernetzt. Das seit 1993 bestehende African Centre for Migration & Society (ACMS) an der University of the Witwatersrand in Johannesburg in Südafrika oder das Center for Migration and Refugee Studies an der American University Cairo in Ägypten sind zwei explizit auf Migrationsfragen ausgerichtete Institute. Am ACMS trägt ein Forschungsschwerpunkt die Projektbebezeichnung »Governing Morality: Gender, Sexuality & Migration« (Palmary 2017) und verdeutlicht damit die biopolitische Verquickung der betreffenden Dimensionen im politischen Umgang mit Migration in vielen afrikanischen Ländern bzw. bei der Migration von Afrikaner_innen nach Europa. Ferner gibt es einige policy-orientierte (Forschungs-)Institute mit dem Schwerpunkt Migration wie das African Migration and Development Policy Centre (AMADPOC) am UN-Sitz Nairobi in Kenia. In der angewandten Forschung stehen Fragen von Migration und Entwicklung oben auf der Agenda (z.B. Adepoju 2007). Ein weiteres wichtiges Thema sind die Fluchtbewegungen bzw. die Auswirkungen langanhaltender Fluchtsituationen auf die Betroffenen, die von der Friedens- und Konfliktforschung wie auch von der Fluchtforschung, allerdings primär von Autor_innen aus Großbritannien und Kanada, behandelt werden.

In vielen asiatischen Ländern gibt es eine gut ausgebaute Migrationsforschung. Anerkannte Fachzeitschriften für den (süd-) asiatischen Raum sind u.a. The South Asian Diaspora (seit 2009) und das Asian and Pacific Migration Journal (seit 2006). Einen Überblick über die in Indien laufenden Forschungen und Debatten gibt der jährlich erscheinende India Migration Report (z.B. Irudaya 2017) sowie für Südasien neuerdings der South Asia Migration Report (Irudaya 2016). Wichtige Migrationsforschung findet u.a. am Centre for Development Studies in Thiruvananthapuram, Kerala, oder am Zakir Husain Centre for Educational Studies an der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi statt. Einen Schwerpunkt der indischen Migrationsforschung bilden »Diasporabeziehungen«, d.h. die Bezüge historischer Migrationsbewegungen (vor allem bonded labour) bzw. heutiger oft hochqualifizierter Emigration zum Herkunftsland in kultureller, familiärer, ökonomischer Hinsicht. In Dhaka in Bangladesch soll mit der Research and Migratory Movements Research Unit (RMMRU, gegründet 1995) die Lücke zwischen akademischer Forschung, globalen Migrationsdiskursen und lokalen Organisationen geschlossen werden. In Thailand wurde 1987 das Indochinese Refugee Information Center gegründet, das mit den Veränderungen der Flucht- und Migrationsprozesse in das jetzige Asian Research Center for Migration (ARCM) an der Chulalongkorn University übergegangen ist. An der National University of Singapore wird im Asia Research Institute im Cluster »Asian Migration« mit einem Schwerpunkt u.a. auf Globalisierung, global cities und (Im-)Mobilitätspraktiken geforscht. Die Binnenmigration in China (Fan 2014), die chinesische Diaspora weltweit (Chan 2018) und das für Chines_innen vergleichsweise neue Migrations- und Investitionsziel Afrika sind einige der chinabezogenen Themen.

In Mittel- und Südamerika ist die Migrationsforschung in den jeweiligen Ländern sehr unterschiedlich stark institutionalisiert, was sowohl mit der Ausstattung der Universitäten als auch mit der Bedeutung von Migration in den betreffenden nationalstaatlichen Kontexten zusammenhängt. Im lateinamerikanischen sozialwissenschaftlichen Forschungsverbund CLACSO, Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales, befasst sich eine transnationale Arbeitsgruppe mit Süd-Süd-Migrationen. Im nordamerikanischen Mexiko gibt es die wohl am weitesten ausgebaute Migrationsforschung, u.a. mit Schwerpunkten zu den jeweiligen geografischen Besonderheiten in Grenzlagen wie am Colegio de la Frontera Norte in Tijuana, wo auch die Zeitschrift Migraciones Internationales herausgegeben wird, und am ECOSUR in Tapachula an der Südgrenze oder in Regionen mit starker Emigration wie in der Entwicklungsforschung an der Universidad Autonóma de Zacatecas, wo der UNESCO-Lehrstuhl für Migration, Development and Human Rights einen Kern der Forschungsarbeit bildet und die Zeitschrift Migración y Desarrollo sowie zahlreiche Buchreihen herausgegeben werden. In Ecuador legt die Migrationsabteilung von FLACSO (Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales Sede Ecuador) einen Fokus auf den Zusammenhang von Gender und Migration.

1.3 Nationalstaatliche Paradigmen von Migrationsforschung

Welchen Einfluss haben regionale Spezifika und die jeweils vorherrschenden Formen der Repräsentation in unterschiedlichen Migrationsregimen auf die dort stattfindende Migrationsforschung, konkreter auf Definitionen, die Identifikation von Problemen und auf die Theoriebildung? Einen schematischen Wirkmechanismus gibt es in dieser Hinsicht sicherlich nicht, zudem sind die unterschiedlichen Migrationsregime steten Veränderungen – und in regionalen Verbünden wie der Europäischen Union in Teilen Angleichungen – ausgesetzt. Dennoch kann eine entsprechende Systematisierung helfen, Unterschiede zu erkennen. So ist für die deutsche Migrationsforschung charakteristisch, dass Konzepte von Integration eine viel bedeutsamere Rolle spielen als etwa in der französischen Migrationsforschung. Michael Bommes und Dietrich Thränhardt (2010) sprechen daher von »nationalen Paradigmen« der Migrationsforschung.

Mit Blick auf Migrationsbewegungen unterscheiden sich Staaten grundsätzlich danach, ob sie primär Emigrations- oder Immigrationsstaaten sind, wobei bei Ersteren eine erhebliche Rolle spielt, was die Gründe für Emigration sind und wie aktiv die Rolle des Staates dabei ist, und bei Letzteren, ob sie sich selbst als Einwanderungsländer verstehen oder dies ›wider Willen‹ geworden sind. In Wohlfahrtsstaaten werden Migrant_innen sehr unterschiedlich wahrgenommen, entweder als potenzielle Last und Betrüger_innen oder als Beitragszahlende und künftige Staatsbürger_innen, und diese Wahrnehmung korrespondiert teils mit der von Gøsta Esping-Andersen etablierten Unterscheidung liberaler, konservativer und sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaatsmodelle (Esping-Andersen 1990). Ein- bzw. Ausschlussorientierungen sind daher ebenso wie das Staatsbürgerschaftsmodell und die Rolle von nachwirkendem Kolonialismus wichtig, und die Differenzen gehen häufig auf die unterschiedlichen Formen der Nationalstaatsbildung sowie die Situierung der betreffenden Staaten in der internationalen Arbeitsteilung zurück, wo sie sich dann mehr oder weniger direkt in der jeweiligen Migrationsforschung zeigen.

Für die meisten europäischen Staaten – Frankreich, die Niederlande, Deutschland und Großbritannien – steht, wie die Tabelle unten zeigt, die Perspektive der Einwanderung im Fokus, in den Hintergrund getreten sind dagegen die historischen Phasen, in denen etwa in Deutschland Auswanderung oder Exil wichtigere Referenzen waren. Andere langfristig wirksame geschichtliche Ereignisse und Kräfte wie der Kolonialismus oder die Französische Revolution behalten demgegenüber bei der Ausgestaltung auch der aktuellen Migration gerade in Frankreich und Großbritannien ihre Bedeutung. Für Großbritannien kann in der Migrationsforschung das race-relations-Paradigma, für die Niederlande das Paradigma der ethnischen Minderheiten, für Frankreich jenes der Assimilation in die französische (Staats-)Bürgerschaft und für Deutschland die Integration in den Wohlfahrtsstaat als zentral gelten (Bommes/Thränhardt 2010, 9, 23f.). Als »national« charakterisieren Bommes und Thränhardt die Paradigmen der Migrationsforschung aber nicht nur aufgrund des spezifischen nationalen Kontextes, sondern auch, weil Migrationsforschung ihre Anfänge als angewandte Forschung mit Lösungsauftrag hatte, von diesen Gegebenheiten immer noch stark beeinflusst ist und es in den jeweiligen Ländern staatliche Akteure und Institutionen sind, die das Staatsbürgerschaftsmodell, die Einwanderungsbedingungen und das, was jeweils als Problem wahrgenommen wird, definieren (ebd., 10). Es gibt also Besonderheiten in den jeweiligen Nationalstaaten, aber auch vergleichbare Debatten, die teils mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten geführt werden: Wenn sich zum Beispiel in den USA die Diskussion in der Migrationsforschung um Konzepte von Assimilation dreht und zwischen kultureller und struktureller Assimilation unterschieden wird, so verläuft die gleiche Debatte in Deutschland stärker entlang der Konzepte von Integration und Ungleichheit/Benachteiligung.

 

Basis: Individuum

Basis: Individuum

Zielkonzept Inklusion

Frankreich
Hilfekultur: (Individual-) Inklusion durch Staatsangehörigkeit, Assimilierung
Organisierung: repräsentative Migrant_innenorganisierung, Kampagnen

Niederlande
Hilfekultur: Inklusion auf ethnischer Basis, Minorisierung
Organisierung: Förderung der Selbstorganisierung ethnischer Gruppen, Minderheiten-Netzwerke

Zielkonzept Exklusion

Deutschland
Hilfekultur: hoheitlich-paternalistische (Individual-) Exklusion, Klientelisierung Organisierung: soziale (Betreuungs-) Verbände für Migrationsprobleme, Wohlfahrtsverbände

Großbritannien
Hilfekultur: racial/paternalistische Exklusion, Ethnisierung
Organisierung: communities, »race relations industry«, voluntary sector

Unterscheidung nationaler Einwanderungsregime, Quelle: Bauer 1999, 502, 6.

Für die Migrationsforschung in Staaten mit einer anderen Stellung in Migrationssystemen oder dem globalen Migrationsgeschehen passen die auf die westlichen Industriestaaten gemünzten und am wohlfahrtsstaatlichen Modell ausgerichteten Paradigmen nicht, so dass sich dort andere Orientierungen ergeben, die weniger auf die Modi der Inkorporation schauen, sondern auf die Bedeutung von Migration allgemein: So konzentrieren sich die Studien am Centre for Development Studies in Thiruvananthapuram im südindischen Kerala auf den Komplex »Entwicklung durch Migration«, für den große soziale Kosten und Mechanismen von Ausbeutung bedeutsam sind (z.B. Irudaya/Varghese/Jayakumar 2011). Anders Arbeiten aus Mexiko: Auch dort sind Fragen lokaler Entwicklung und die Wirkungen staatlicher Förderung von Rücküberweisungen und Investitionen ein wichtiges Thema, stehen aber neben der Thematisierung des Transits durch Mexiko, der Abschiebung von Mexikaner_innen aus den USA (z.B. París Pombo 2012), der Gestaltung von Diasporabeziehungen (Fitzgerald 2008) und vergleichenden Langzeitbeobachtungen zu den Wirkungen von Rückkehrmigration (z.B. García Zamora 2017). Zusammenfassen lassen sich diese Perspektiven als das in der mexikanischen Migrationsforschung dominierende »Emigrationsstaatsparadigma«, und ganz ähnlich ist beispielsweise die Migrationsforschung zu den Philippinen mit ihrer Akzentuierung der für die Emigration errichteten staatlichen Infrastruktur einzuordnen (Guevarra 2010; Rodriguez 2010).

Wie stabil sind diese nationalen Paradigmen? Lässt sich eine Migrationsforschung vorstellen, die nicht von nationalen Paradigmen bestimmt ist? Bei den zuletzt beschriebenen Leitvorstellungen aus Emigrationsstaaten spricht vieles für eine vergleichsweise Stabilität der Forschungsperspektiven. Etwas anders sieht es für die europäischen Staaten aus, in denen sich in den letzten Jahrzehnten ein Wandel vollzogen hat. So vertritt Christian Joppke in Beyond national models (2007) die These einer Einebnung der nationalen Unterschiede in den leitenden Politiken zur Inkorporation von Zugewanderten in Westeuropa und führt das Beispiel der Niederlande an: Dort wurde der lange Zeit vorherrschende multikulturelle Ansatz aufgegeben, und es findet eine Verknüpfung von Integrationspolitik und Migrationskontrolle bzw. Sicherheitspolitik statt, die eine ›schlechte Integration‹ sanktioniert und verpflichtende Maßnahmen zur civic integration vorsieht. Seit 2006 wird von den Einwandernden erwartet, dass sie sich bereits vor der Einwanderung auf die Integration vorbereiten (integration from abroad). Damit finde eine Angleichung an die deutsche Praxis statt, die ebenfalls in anderen europäischen Ländern zu sehen sei und die Joppke als »repressive liberalism« (ebd.) bezeichnet. Mit Blick auf die Ausbreitung des Ansatzes der civic integration