Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe High Life

erschien 2002 im Verlag Akashic Books.

Copyright © 2002/2008 by Matthew Stokoe

Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig

Lektorat: Lektorat: Heiko Arntz

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-640-3

www.Festa-Verlag.de

Für Richard

Möge dies dein Heulen gegen die Welt sein

1

Ein heißer Regen wehte vom Meer heran. Er prasselte auf die Ocean Avenue in dampfenden, von Neon erleuchteten Schwaden, die den Hotels und Geschäften die Farben raubten und sie zusammen mit dem Abfall in die Rinnsteine spülten. Im Palisades Park stand ein dicker Penner und betrachtete etwas zu seinen Füßen. Mit dem Kopf in abgewinkelter Haltung sah er wie ein Gehängter aus. Er schwankte leicht, und ich stellte mir einen Strick vor, der von seinem Hals bis in den Himmel reichte. Ich fuhr rechts ran und fragte mich, ob er gefunden haben könnte, was ich suchte.

Man konnte nicht viel erkennen; das Natriumlicht erreichte kaum den Grünstreifen, während die wabernden Schatten der Hibiskusbüsche den Umriss des Penners in Bruchstücke hackten. Ich kniff die Lider zusammen, wischte mir Regenwasser aus den Augen und sah ihn mit dem Fuß aufstampfen. Ein Schauer goldener Tropfen spritzte vom Boden empor. Ich entspannte mich – der Schwachkopf stand in einer Pfütze und ließ sein Spiegelbild explodieren. Jedes Mal, wenn sich die Oberfläche beruhigt hatte, machte er es wieder, als wollte er nicht sehen, was sich ihm dort zeigte. Möglicherweise eine symbolische Vernichtung der eigenen Persönlichkeit. Vielleicht fand er es auch einfach hübsch anzusehen. Mich stimmte es nur traurig. Nicht weil sein Verhalten übertrieben absonderlich gewesen wäre, sondern weil ich mir nur zu gut vorstellen konnte, wie ich selbst diesen letzten kleinen Schritt aus der Normalität hinaus in eine Welt machte, wo Pfützen Geheimnisse bargen, die einen geduldig im strömenden Regen ausharren ließen.

Ich blickte an dem Penner vorbei, tiefer in die Dunkelheit, und sah Leute. Aber sie alle waren am Leben, oder was man in dieser nächtlichen Gegend Kaliforniens so Leben nannte. Sie lagen in Pappkartons und Plastikplanen gewickelt im Schutz von Bäumen oder unter Parkbänken und suchten nach einer Stunde Schlaf und Vergessen. Je länger ich hinsah, desto mehr wurden es – zu Schattenlachen zerflossene, fluchende menschliche Gestalten, die mit den eigenen Knochen einen aussichtslosen Kampf um eine einigermaßen bequeme Haltung ausfochten. Hin und wieder glomm die Glut einer Zigarette orange im Glas einer Weinflasche.

Diese Obdachlosen, die Säufer und Junkies, die kaputt gefickten Nutten und ausgerissenen Teenager, die Ex-Knackis und zukünftigen Knackis – allesamt von der Patina ihrer brutalen Verzweiflung überzogen –, verbrachten ihr ganzes Leben auf diesem Grasstreifen voller Hundescheiße. Sie lebten, tranken, fixten und fickten hier und fragten sich, was aus ihnen hätte werden können, wenn die Umstände andere gewesen wären.

Ja, Scheiße.

Ein letzter kleiner Schritt.

Dafür braucht es nicht viel.

Ich fuhr weiter, langsam Richtung Süden. Scheibenwischer auf Intervall; Regenschleier saugten jedes Geräusch auf. Im Auto fühlte ich mich sicher, ein gepolsterter Käfig aus Stahlblech, der mich vom Rest der Stadt trennte.

Rechts von mir, zehn Meter die Steilküste runter, ragte der Santa Monica Pier wie ein Dorn in den Ozean. Die Burgerbuden hatten geschlossen, das Karussell war tot, dennoch brannten Lichter und strahlten einen unangenehmen Schein nutzloser Helligkeit in die regnerische Nacht.

Keine Spur von ihr.

Ich machte kehrt und bog nach rechts ab, auf den Santa Monica Boulevard. Blödsinn, zu glauben, dass sie in so einer Nacht hier draußen wäre.

Es war spät genug, dass wenig Verkehr herrschte, so gegen drei Uhr früh. Ich rauchte und fuhr mit einer Hand am Lenkrad hinter vereinzelten, rot verwaschenen Heckscheinwerfern her. Rechts und links von mir protzten die Häuser mit Eigenwerbung, Imbissrestaurants, Motels, Bürogebäude, vom dezenten Art déco der 30er-Jahre bis zum Spiegelglas der Jahrtausendwende. Standen sie am Strand noch dicht an dicht, dünnten sie irgendwo hinter Lincoln aus und wurden umso niedriger, je mehr die Grundstückspreise fielen.

Santa Monica. SaMo. Das benutzerfreundlichere Los Angeles. Blitzsaubere Einkaufspassagen, schicke Cafés, die Third Street Promenade mit ihren Efeudinos und den durchgestylten Gourmet-Tempeln. Alles demonstrierte mustergültig, was Leute mit Geld überall auf der Welt für ihr Geld erwarteten.

Meine Augen brannten. Gestern Nacht war es genauso gewesen – ich war durch die Straßen gekurvt, total im Arsch, aber unfähig zu schlafen, ich verfluchte Karen, verfluchte mich, verfluchte unser ganzes gemeinsames Scheißleben. Sie war schon öfter verschwunden gewesen, aber diesmal hatte ich ein ungutes Gefühl.

Acht Tage. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte.

Aber ich hatte ein ungutes Gefühl …

Santa Monica verschmolz mit dem Westen von L. A. – keine Stadtgrenze, keine eigene Identität. Zu spät für Kundschaft, hier war das Geschäft so verzweifelt intensiv, dass es gegen zwei Uhr nachts ausbrannte. Aber es bestand die Möglichkeit, dass sie versuchen würde, vor einem der Clubs auf dem Strip einen Betrunkenen aufzugabeln.

Hollywood, ich komme.

Das Armaturenbrett leuchtete angenehm orange. Ich wollte gern glauben, was die anderen sagten, dass sich alles als ein harmloses Missverständnis herausstellen werde. Ich wollte es glauben, doch es gelang mir nicht. Sie war zu lange fort.

Ich konzentrierte mich aufs Fahren und versuchte, nicht zu denken.

Es hörte auf zu regnen.

Century City sah nachts genauso steril aus wie am Tag – Bürotürme und eine Einkaufspassage und keine Menschenseele. 20 Stockwerke höher, hinter makellosen Glasfassaden, warteten gewaltige Geldsummen darauf, dass die Leute von Warner und Fox und Sony da weitermachten, wo sie tags zuvor aufgehört hatten, um gigantische Filmprojekte zu finanzieren. Hier wurde den Träumen der Bevölkerung eines ganzen Planeten Leben eingehaucht – nicht in den Hirnen der Drehbuchautoren, nicht in den Studios von Burbank oder den Büros von Amblin drüben an der Universal City Plaza, sondern hier in der Maschinerie, die die grünen Scheinchen rüberschob.

Träume. Die Traumfabrik. Die meisten Menschen dachten, man habe es nur mit einer Form der Unterhaltung zu tun, allenfalls mit einer Art Indikator für Moden und Trends. Die meisten Leute gingen vom Kino nach Hause und sagten: »Wow, super. Der Typ war so cool, die Braut so scharf, das Haus so groß, hast du das verdammte Auto gesehen? Aber, Scheiße, das ist nur ein Film … das ist nicht das wahre Leben.«

Aber ich wusste es besser. Ich wusste, dass es eben doch das wahre Leben war. Alle Filme waren Fenster in die Wirklichkeit, kein Zerrbild davon – sie zeigten die einzig lohnende Art und Weise, zu leben. Alles andere war gequirlte Scheiße.

Filmstars blickten von ihren Reklametafeln herab, zehnmal so groß wie alle anderen, zehnmal so real – die einzigen Menschen, die zählten. Wenn es einen Gott gab, waren sie die Kinder, die er am meisten liebte.

Ich gelangte nach Beverly Hills. Die Straßen waren breit und ruhig und mit Pfützen lackiert. Hohe, als nasse Reflexionen verdoppelte Palmen standen an den perfekten Kreuzungen perfekter Straßen; in den Gärten der Villen auf dem ebenen Gelände verlieh dezente Beleuchtung Laub und Buschwerk einen sanften und heimeligen Anstrich. Hier gab es keine Scheiße; diese Menschen lebten in einem Film.

Eine lange, auf Hochglanz polierte Fassade glitt linker Hand vorbei, eines der Fenster aus schwarzem Glas war offen. Im Inneren telefonierte ein makelloser, dunkelhaariger, dicht von zwei Wasserstoffblondinen mit Implantaten bedrängter Mann mit dem Handy. Menschen wie auf Reklametafeln – die Farben ihrer Kleidung und Körper leuchtender als meine, ihre Silhouetten in der goldenen Innenbeleuchtung klarer und eindeutiger umrissen. Sie bedeuteten den Menschen etwas, nicht nur sich selbst – ganz im Gegensatz zu den Massen von weißem Abschaum, von Niggern und Itakern, die den größten Teil von L. A. bevölkerten.

Geld ist ein integraler Bestandteil der Architektur dieser Stadt, und man entwickelt Strategien, wie man sich in einer Parallelwelt jenseits des Reichtums einrichtet, da einen die Wirklichkeit ihrer Schönheit schlichtweg in die Defensive treibt. Doch es gibt Zeiten, da kann man die Realität nicht länger ignorieren, da taucht sie plötzlich vor uns auf und rammt uns frontal und erinnert uns mit Macht daran, dass alles noch da ist – ein Visum, eine Belohnung, eine amtliche Bestätigung, für die gewisse andere Leute einfach nur die Hand auszustrecken brauchen, um sie sich zu nehmen.

Und als ich die Limousine betrachtete, deren Heckleuchten vor mir in die Nacht hineinglitten, geheimnisvoll und zielstrebig, da wünschte ich mir nichts auf der Welt sehnlicher, als bei diesen Leuten zu sein und mit ihnen zu dem Marmorpalast am Strand zu fahren, dem ihre Spritztour vermutlich galt. Ihnen ebenbürtig zu sein, einen Besitz mein Eigen nennen zu können, der so groß war wie ihrer oder größer.

Ein Leben zu führen, wie man es führen sollte.

Doch davon war ich tausend Lichtjahre entfernt.

Und daher …

Nach Norden auf der Fairfax, am Sunset rechts und weiter auf den Strip.

Es heißt, in den 70er-Jahren sei alles besser gewesen, aber da war ich gerade fünf Jahre alt und anderswo.

Blitzende Fassaden, berühmte, in Glühbirnen geschriebene Namen – The Roxy, The Viper Room, Whiskey a Go Go. Etablissements, wo Johnny Depp, Dan Aykroyd und andere zum Zeitvertreib eine eng begrenzte Schar von Freunden bewirteten. Etablissements, in denen Leute wie River Phoenix starben, wo Tagungsbesucher von außerhalb in karierten Jacketts sich das Geld aus der Tasche ziehen lassen und eine Möse aufreißen konnten. Karen hatte hier in ihren Glanzzeiten ordentlich abgesahnt. Wenn man vor Touristenattraktionen anschaffen ging, klappte es immer, die Freier hatten reichlich Geld und einen guten Grund, nicht zu Hause zu sein.

Vor den Eingängen der Clubs stauten sich kleinere Gruppen streunender Passanten, die die Türsteher beschwatzten, sie auf einen letzten Absacker reinzulassen, andere standen am Bordstein, dachten an zu Hause und warteten auf ein Taxi. Der Regenguss vorhin am Arschende dieser Nacht hatte dem Treiben mitten in der Woche einen empfindlichen Dämpfer verpasst, die Straße wirkte fast verlassen. Wenn mit Sex Geschäfte gemacht wurden, dann über Agenturen – Telefonanrufe und Taxifahrten zu Privathäusern und Hotelzimmern.

Ich fuhr weiter, die Fairfax nach Norden und dann über die berühmteste Straße der Welt nach Osten – Hollywood Boulevard.

Als die Stars noch schwarz-weiß waren, muss diese Straße geglänzt haben, alles war locker und strotzte geradezu vor Begehrlichkeit. Coleman und Flynn und Crawford und all die anderen hatten Amerika in der ganzen Welt zu einem Hit gemacht, und die Massen, die sich vor dem Chinese-Theatre-Kino drängten, um sie zu sehen, partizipierten stellvertretend an ihrem Erfolg. Damals war Amerika ein Land, wo alles nicht Amerikanische nicht gut genug war, wo die Leistungen des Einzelnen ihr strahlendes Licht auf alle warfen.

Jetzt, kurz vor Morgengrauen im letzten Quartal der 90er-Jahre, war der Boulevard ein glitzernder, von Ängsten heimgesuchter Albtraum. Die Restaurants, in denen sich einst Berühmtheiten Rendezvous gegeben hatten, waren längst T-Shirt-Läden und Sonnenbrillengeschäften gewichen. In den Handabdrücken sammelte sich der Rotz, auf den Messingsternen klebte Kaugummi. Und wenn der Ruhm sich überhaupt noch von den Hügeln herabwagte, umgab ihn die Filmindustrie mit einem eisernen Panzer und schirmte die Allgemeinheit ab von seinem Glanz.

Aber es war doch immer noch der Hollywood Boulevard. Immer noch die Trumpfkarte, die Spitze des Eisbergs der Legende von Kalifornien, die man in jedem Kaff kannte und die überall auf der Welt noch die satteste Selbstzufriedenheit mit der Gewissheit störte, dass es einen Ort gab, der mehr zu bieten hatte.

Manchmal kam Karen zum Drücken oder Abhängen hierher. Oder um nach einem reichen Touristen Ausschau zu halten, der zwei Tage lang den Big Spender für sie spielen konnte. Aber jetzt war es dafür zu spät und zu gefährlich. Ich hätte schon vor Stunden mit der Suche anfangen müssen, aber der Ozean hatte mich aufgehalten – ich hatte das Gefühl gehabt, sie würde jeden Moment in einer der Picknickhütten von Venice Beach auftauchen, um mit irgendeinem hergelaufenen Typen zu kiffen oder zu saufen. Jetzt kam ich mir dumm vor, weil ich meine Zeit vergeudet hatte.

Der Strich lag nicht weit vom Boulevard entfernt. Ich hätte aufs Geratewohl nachsehen können, aber allmählich hatte ich die Schnauze voll. Wo immer Karen stecken mochte, sie musste ihren Arsch allein nach Hause schleppen.

Die Fahrt zurück nach Santa Monica war trostlos. Meine Augen brannten, mein Hals kratzte vom Zigarettenrauch. An einem Motel besorgte ich mir eine Cola aus dem Getränkeautomaten und kippte sie hinunter, bis mir die Tränen in die Augen schossen. Die Cola, die feuchte Nachtluft und der träge Puls der Stadt um mich herum. Für einen Augenblick war ich frei, für diesen Schnappschuss, für dieses Nanomillimeter dünne Scheibchen Zeit, frei von der Vergangenheit, frei selbst von der Gegenwart – nur dieses süße Kribbeln im Mund und die stille Gelassenheit, weil ich wach war, während die meisten meiner Mitmenschen schliefen.

Fünf Minuten später, als ich erneut auf der Straße war, taten Koffein und Zucker ihre Wirkung und putschten mich wieder etwas auf. Da es nichts zu sehen gab, spielte ich im Geiste Werbespots von Calvin Klein ab.

Unweit der Franklin registrierte ich meine Umgebung allmählich wieder. Der Santa Monica Boulevard war auf dem letzten langen Abschnitt bis zum Meer hinunter frei; ich freute mich, dass ich mich nicht mit anderen Autofahrern herumärgern musste.

Mein Rücken schmerzte, ich drückte ihn in den Sitz. Das Polster tat meinen Schultern gut. Das Lenkrad lag griffig in der Hand. Honda Prelude, fünf Jahre alt, wenig Kilometer, kein Kratzer. Nicht gerade ein Porsche, aber ich konnte mich nicht beklagen. Ich durfte mich glücklich schätzen, dass ich überhaupt ein Auto besaß.

Vor einem Monat, als man mir den nicht versicherten Ford gestohlen hatte, blieben mir, um wieder einen fahrbaren Untersatz zu kriegen, nur der Bus, Doppelschichten und die Hoffnung, dass ich die Kohle zusammenhatte, bevor mich die Überstunden oder ein Irrer auf der Sitzbank hinter mir umbrachten. Karen hätte was beisteuern können, aber ich bat sie nicht darum. Da hatten wir das Stadium, wo sie etwas zur gemeinsamen Haushaltskasse beitrug, längst hinter uns – was sie mit Anschaffen verdiente, wurde sofort in Drogen und Partys umgesetzt. Außerdem bedeutete ihr ein Auto nichts; sie hatte nicht mal einen Führerschein.

Wie sich jedoch herausstellte, hatte ich sie zu früh abgeschrieben. Wie sich herausstellte, fühlte sie sich zu einem einmaligen, unerklärlichen Akt der Großzügigkeit veranlasst.

Ocean Avenue, eine Stunde vor Morgengrauen. Im Landesinneren sickerte kümmerliches Licht in den Himmel; Wolken zeichneten sich ab, die den Regen der vergangenen Nacht gebracht hatten. Zu spät zum Schlafen. Ich überlegte mir, dass ich noch mal den Park absuchen würde, anschließend den Strandabschnitt darunter, danach zurück nach Venice, duschen und irgendwas Chemisches einwerfen, bevor es Zeit wurde für den Donut Haven.

Doch es sollte anders kommen.

Als ich die Camera Obscura passierte, hörte ich eine Sirene. Sekunden später bretterte an der Innenseite mit einer plötzlichen Druckwelle von Licht und Lärm ein Notarztwagen heran. Ein paar Sekunden befand er sich auf einer Höhe mit mir, dann überholte er, scherte auf meine Fahrspur ein und brauste davon.

Es gab keinen Grund, dass dieser Krankenwagen mehr für mich bedeuten sollte als die vielen Hundert anderen, die ich seit meiner Ankunft in der Stadt gesehen hatte, doch nach einer Viertelmeile ging mir auf, wohin er fuhr, und da kam mir diese böse Vorahnung, die ich nicht als Nachhall eines Unglücks abtun konnte, das jemand anderem zugestoßen war.

Hektisches Treiben am Parkrand, etwa gegenüber der Stelle, wo der San Vicente Boulevard von der Ocean Avenue abgeht. Zwei Streifenwagen standen bereits dort; ihre Warnlichter verwandelten die Straße in eine Filmkulisse. Dunkle Schattenrisse von Leuten liefen vor dem blinkenden, blau-roten Leuchten hin und her. Das Laub am Straßenrand wogte unter den wirbelnden Farben, als würde ein starker Wind hindurchwehen.

Die Ambulanzen bremsten, bogen über die Gegenfahrbahn ab und kamen bei den Polizeiautos zum Stillstand; ihre Lichter blinkten im Einklang mit den anderen.

Ich verspürte den Drang, einfach zu wenden, nach Hause zu fahren und dem Wissen zu entfliehen, was diese Gruppe von Einsatzfahrzeugen an einer Steilküstenpromenade an der westlichen Grenze eines Landes mit 350 Millionen Einwohnern zusammenführte. Aber ich wendete nicht. Ich musste wissen, ob sie gefunden hatten, wonach ich die ganze Nacht suchte.

Ich ließ den Prelude ein Stück nördlich des Schauplatzes stehen und ging zu Fuß zurück.

Dies war das versiffte Ende des Parks, wo die Penner zum Scheißen und Vögeln hinkamen – ein von Furchen und Gräben durchzogenes Stück Land ohne befestigte Wege, das sich schräg abfallend bis zum Klippenrand erstreckte. Bäume gab es nicht viele, dafür jede Menge niedrige Sträucher, denen der Dünger aus Billigfraßabfällen und dem Inhalt verdorbener Mägen und Gedärme zu bekommen schien.

Eine kleine Schar Penner aus dem Park und morgendliche Jogger hatten sich am Straßenrand versammelt, reckten die Hälse, um zu sehen, was sich in einem an die anderthalb Meter tiefen Graben abspielte, der von der Straße in den Park verlief. Nennenswerten Erfolg hatten sie dabei nicht. Die Polizei hatte den Schauplatz hufeisenförmig mit gelbem Flatterband abgesperrt und blaue Plastikplanen zwischen zwei Büschen aufgehängt. Es hätte auch nichts genützt, wäre man die Ocean Avenue ein Stück rauf- oder runtergegangen, um es aus einem anderen Blickwinkel zu versuchen. Die Tiefe des Grabens und die Büsche, die an seinen Rändern wuchsen, machten alle voyeuristischen Bedürfnisse zunichte.

Lichtkreise von Taschenlampen beleuchteten die Planen von innen. Man sah das Schattenspiel der Polizisten – hängende Schultern, ein Auf und Ab von Händen mit Zigaretten. Was immer sie zu dieser unchristlichen Stunde hergeführt hatte, lag vermutlich zu ihren Füßen und war, da die Notärzte seelenruhig auf der Stufe an der Rückseite ihres Wagens saßen und Kaffee tranken, vermutlich tot.

Ich stellte mich eine Weile zu den anderen Schaulustigen, belauschte Unterhaltungen und hoffte auf Informationen. Niemand wusste, was passiert war, aber alle wussten, was das gelbe Band zu bedeuten hatte. Und sie wussten auch, wenn sie lange genug warteten, würde etwas in einem Leichensack herausgetragen werden. Aber das nützte mir nichts. Ich würde kein Gesicht sehen.

Eine Alternative bot sich denkbar einfach. Die Polizisten hatten ein paar Männer abgestellt, die dafür sorgten, dass niemand zu neugierig wurde, doch die bewachten lediglich den Straßenrand. Also … ein rascher Spaziergang 20 Meter nach Süden, dann ab ins Gebüsch und im Bogen wieder zurück, sodass ich irgendwo auf der anderen Seite der Plastikplane in den Graben klettern konnte. Es dauerte eine Weile, da ich an vielen Stellen, wo das Gebüsch nicht genug Deckung bot, gezwungen war, zu kriechen, und weil ich Kackehaufen ausweichen musste. Aber schließlich schaffte ich es bis zum Flatterband, die letzten zehn Meter auf dem Bauch. Durch eine Lücke zwischen zwei Büschen hatte ich den besten Ausblick.

Der Graben war ausbetoniert und bildete einen Ablauf für eine Sturmdrainage. Ein schmales Rinnsal tröpfelte aus der Öffnung eines großen Rohrs und bildete Pfützen um die Schuhe von vier Bullen, die in einer Gruppe zusammenstanden und einander Witze erzählten. Alle trugen Uniform und schienen sich nicht weiter an dem Ding am Boden zu stören. Vermutlich schlugen sie nur Zeit tot, bis die Detectives eintrafen.

Das Ding am Boden …

Es war schlimmer, als ich erwartet hatte.

Ich blieb eine Weile liegen und sah zu, wie das Wasser es umspülte, dann kroch ich zentimeterweise zurück, von wo ich gekommen war.

Weg von der Stelle, wo meine tote Frau lag.

Wieder auf der Straße. Das Laub im Park glühte kupferrot, als die Sonne aufging. Der Himmel durchlief das ganze Spektrum von Pastelltönen bis zu jenem strahlenden Blau, das als sein Markenzeichen galt. Die Polizisten erzählten sich immer noch Witze; ihr Gelächter hallte weithin durch die warme Luft. Ein grunzendes Schnauben wie von Tieren.

Ich fuhr nach Venice, während die Welt erwachte.

Das Bild in meinem Kopf war von pornografischer Detailgenauigkeit.

2

Die Schnellstraße verläuft einen Block versetzt parallel zum Ocean Front Walk. Die Gebäude direkt am Strand sind mehrere Stockwerke hoch; das Meer sieht man nur, wenn man eine Straße überquert. Abseits der Ladenfassaden der Uferstraße sind die Häuser auf eine schicke Weise schäbig, von der Sonne ausgebleicht und salzverkrustet. Es ist nicht gerade ein Getto, aber man sieht auch nicht viele Fotografenteams von Architectural Digest hier die Kameras aufbauen.

Venice genießt den Ruf eines ausgeflippten Spaßviertels für Freaks und Subkulturhippies. Aber das ist reine Propaganda, die wie beim Sunset Strip und Hollywood Boulevard nur dazu dient, Touristen anzulocken. In Wahrheit ist Venice erstaunlich vielseitig. Ein Bohèmeparadies für Künstler, fette Beute für die renovierungsgeilen Sanierer, die man früher Yuppies nannte, ein erdverbundenes Paradies für die alten Leute, die seit Ewigkeiten hier wohnen, ein betont dezent gehaltenes Umfeld für eine Eigentumswohnung, wenn man auf bestem Weg ist, zum Promi zu werden. Und es ist cool, am Wochenende die jungen Frauen auf ihren Rollerblades zu sehen.

Als ich dorthin zog, verströmte alles den Duft grenzenloser Möglichkeiten. Die Farben – das blaue Meer, die weißen Fassaden, die roten Ziegeldächer –, die frische Brise, die unerwartet üppige Vegetation, der viele Platz auf den Treppenstufen vor dem Haus, die sich über das Meer bis ans Ende der Welt zu erstrecken schienen – das alles waren die Zutaten, aus denen ich eine Metapher für meine Zukunft zusammengemixt hatte: Optimismus, strahlende Lichter, Bewegung, Erfolg.

Ich hatte zwei Jahre dort gelebt und war zwei Jahre lang unglücklich.

Ich parkte das Auto zwischen zwei Mülltonnen und blieb einfach sitzen – Fenster hochgekurbelt, Motor aus. Ich fühlte mich eingekerkert, abgeschieden vom Gerede und den täglichen Verrichtungen der Menschen. Um mich herum hätte ein Aufstand losbrechen können, ich hätte es nicht mitbekommen. Im Augenblick sah ich nichts anderes als den Anblick, der sich mir im Park geboten hatte.

Ich hatte Karen auf den ersten Blick erkannt, obwohl sie sich sehr verändert hatte.

Gesicht nach oben, Haltung so plump und irgendwie lächerlich wie die Leichen im Fernsehen. Ich hatte mir stets vorgestellt, dass eine echte Leiche sehr viel brutaler und verstörender auf die Sinne wirken würde als die in sich zusammengesackten und besudelten Schauspieler in Polizeiserien. Doch Karen schien im Vergleich mit den spätabendlichen Kopien auf der Mattscheibe blasser und irgendwie substanzloser zu sein.

Vor allem war sie nackt, Sportsfreunde. Beine gespreizt, ein Arm unter den Brüsten quer über dem Torso, der andere schnurgerade ausgestreckt. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Bauch dagegen offen – aufgeschlitzt vom Schlüsselbein über den Nabel bis wenige Zentimeter über dem Schambein, dazu ein T-förmiger horizontaler Schnitt, damit man die Bauchdecke zurückklappen konnte. Es sah aus, als wäre aus der linken Klappe ein Stück herausgetrennt worden.

Ich blieb lange im Auto sitzen und versuchte zu ergründen, was ich empfand. Am Ende gab ich auf; das Gefühlschaos war zu groß. Stattdessen dachte ich darüber nach, wie einfach es gewesen sein musste, sie dort zu entsorgen – hinfahren, Tür öffnen, ihr einen Schubs geben, und schon war sie verschwunden. Und wie sie ausgesehen haben musste, während sie fiel und dabei kraftlos die Beine spreizte.

Danach überlegte ich mir, dass ich mir ihr Gesicht einprägen sollte, wie es die Leute im Fernsehen immer zu machen schienen, wenn sie jemanden verloren hatten. Doch ich sah immer nur das eine Bild vor mir, wie Wasser auf dem nassen Betonboden der Drainage zwischen ihren Beinen dahinrann.

Das Apartment war das Apartment. Wie eh und je. Erster Stock in einer 50er-Jahre-Mietskaserne, von der der Putz abbröckelte. Ein Zimmer mit Bett und Sofa, Küche und Bad.

Es roch abgestanden. Ich hätte zum Lüften ein Fenster öffnen können, doch hätte ich damit die Welt hereingelassen, und dies war ein Vormittag in Venice, an dem ich sie aussperren musste.

Ich schaltete den Videorekorder ein und sah mir die gestrige Folge von 28 FPS an, das wöchentliche Nachrichten- und Klatschmagazin rund ums Kino, das ein kleiner Kabelsender produzierte. Die Moderatorin war eine schicke blonde Punk-Tussi namens Lorn. Um die Filme, die die Leute drehten, scherte sie sich wenig, dafür mehr um die Leute selbst – Schauspieler, Regisseure, Produzenten, wenn sie nur reich genug waren und in der Branche waren. Beziehungen, Geld, Häuser, Autos, Interessen und Vorlieben, Sucht und Entziehungskuren – auf all das fuhr sie voll ab. Ich ließ mir nicht eine Folge entgehen.

Robert Downey Jr. bekam Ärger wegen Drogen- und Waffenbesitzes, Don Johnson hatte sich den Fuß gebrochen. Erfreulicher war da schon, dass sich Ray Liotta und Michelle Grace verlobt hatten; dass man Mickey Rourke und Carré Otis in New York gesehen hatte, und sie hatten total cool gewirkt. Und Goldie Hawn hielt sich wegen der Premiere von Der Club der Teufelinnen in London auf. Auf dem Flughafen von Heathrow trug sie ein niedliches schwarzes, halb durchsichtiges Etwas, unter dem man aufreizend ihre Brustwarzen sah. In L. A. hingen Noah Wyle und Anthony Edwards im House of Blues bei einer MTV-Veranstaltung ab. Anna Nicole Smith schrieb ihre Lebensgeschichte, und George Clooney echauffierte sich über aufdringliche Fernsehjournalisten.

Als die Kassette zu Ende war, wollte ich eine andere abspielen, konnte mich jedoch nicht konzentrieren – andere Gedanken drängten sich in den Vordergrund.

Sie war seit einem Jahr meine Frau, jetzt war sie tot, und ich hatte es der Polizei nicht gesagt. Jeder andere hätte die Absperrung ignoriert, hätte zusammenhanglos etwas von Ehefrau und Beziehung gefaselt und o Gott wie entsetzlich …

Aber ich nicht.

Ich konnte es auch nicht damit entschuldigen, dass die Polizei über kurz oder lang sowieso vor meiner Tür stehen würde. Denn das würde sie nicht.

Karen hatte meinen Namen nicht mehr benutzt, seit der Reiz des Neuen wenige Wochen nach der Hochzeit verflogen war, und weder ihren Ausweis umschreiben lassen noch meine Adresse angegeben. Und dass jemand aus der Gegend, wo man sie gefunden hatte, sie identifizieren könnte, schien unwahrscheinlich; niemand kannte sie in Santa Monica – sie hing fast ausschließlich im Westen von L. A. und in Hollywood herum. Und selbst wenn die Polizei jemanden fand, der sie wiedererkannte, bestand so gut wie keine Chance, dass man auf mich käme. Wir hatten jeder unser eigenes Leben gelebt, sie hatte nie Freunde in mein Apartment mitgebracht. Soweit es die Öffentlichkeit betraf, gab es so gut wie keine Verbindung zwischen uns. Und überhaupt, was bedeutete Los Angeles schon eine weitere tote Hure?

Kennengelernt hatten wir uns in einer Bar. Ich hielt mich seit einem Jahr in L. A. auf, und das nicht besonders erfolgreich. Abgesehen von Abendkursen in Fernsehmoderation, die in Mini-Tonstudios abgehalten wurden, deren einziger Verwendungszweck in ebendiesen Abendkursen bestand, hatte ich noch nicht viel erreicht. Ich wusste immerhin inzwischen, wie ich den Kopf halten musste, damit meine Augenhöhlen keinen Schatten warfen, ich konnte vom Teleprompter ablesen, ein Dauerlächeln aufsetzen und diese ungetrübte, unermüdliche Vitalität verströmen, die so wichtig ist, wenn man sein Publikum bei der Stange halten will. Aber ich fand einfach nicht meinen Platz in der Stadt; mein einziger Kontakt mit der ansässigen Bevölkerung bestand darin, dass ich an einer Theke auf einem Barhocker saß und mein Bier trank.

Ich kam mit dem üblichen Traum in den Westen, dass ich schnell einen Haufen Geld verdienen und dann den Rest meines Lebens in der Sonne sitzen und es genießen würde.

Doch dazu kam es nicht. Ein 30-Jähriger ohne Ausbildung, der es nicht wie erhofft vom Tellerwäscher zum Millionär bringt, weil die Medienindustrie es versäumt hat, ihn zu entdecken, läuft Gefahr, auf der Tellerwäscherseite des Lebens hängen zu bleiben. Und ich wurde nicht entdeckt.

Also suchte ich mir einen Job bei Donut Haven. Damit konnte man überleben. Doch selbst als ich Karen kennenlernte – da arbeitete ich schon fast ein Jahr als Teigkneter –, besaß ich kaum mehr als das Hemd über dem Arsch. Meine einzige finanzielle Errungenschaft war, dass ich nicht im Osten von L. A. leben musste.

Sie arbeitete in jener Nacht. Ich war noch nie bei einer Hure gewesen, sagte aber Ja, als sie gegen mich stolperte und nuschelte, dass ich es mit ihr treiben könnte, wenn ich das nötige Kleingeld hätte. Warum nicht? Ab einem gewissen Punkt macht die Depression der Großstadt fast jede Aussicht auf körperlichen Kontakt attraktiv. Wir gingen zu mir, und als es vorbei war, blieb sie die Nacht über. Sie hatte kein eigenes Zuhause.

Karen war klein, spindeldürr, blond, eine 22-Jährige mit einer ganzen Palette von Suchterkrankungen, die auf der Straße lebte. Wenn sie keine Unterkunft fand, schlief sie in einem der rund um die Uhr geöffneten Kinos oder unter einer Parkbank. Beim ersten Mal roch sie so übel, dass ich sie zwang, vorher zu duschen. Es war offensichtlich, dass es mit ihr nicht zum Besten stand.

Ich brauchte Gesellschaft. Und Karen brauchte einen Platz, um runterzukommen und ihr Leben wieder auf die Reihe zu kriegen, wenn sie ihren nächsten Geburtstag noch erleben wollte. Ich denke, ich sah einfach meine Chance und nutzte sie. Aber sie ebenfalls. Ich bezahlte sie noch ein paarmal dafür, dann bat ich sie, bei mir einzuziehen. Das ließ sie sich nicht zweimal sagen.

Die ersten anderthalb Monate waren großartig. Sie ließ das Anschaffen sein, wir machten Ausflüge zusammen, ich begann ein gesellschaftliches Leben. L. A. wurde eine Art Heimat für mich und war kein Ödland mehr, das mich mit Neid erfüllte. Karen fuhr den Drogenkonsum herunter und lebte gesünder. Jeder half dem anderen und tat dem anderen gut, eine Situation, die wir törichterweise mit Liebe verwechselten. Und um alles noch fester zu besiegeln, heirateten wir eines Tages in einem Anfall von Verblendung. Karen schien es schon am Tag danach peinlich zu sein; sie sprach so gut wie nie darüber.

Sie gab sich große Mühe, ihrem neuen Leben aus dem Weg zu gehen, doch ihr altes Leben verdrängte sie noch meisterhafter. In dem Jahr, das wir zusammen waren, erfuhr ich nur einen persönlichen Sachverhalt aus ihrem früheren Leben, dass sie nämlich als Tochter eines Polizisten mit 15 von zu Hause ausgerissen und nie wieder zurückgekehrt war.

Vielleicht lag es an dieser beschissenen Vergangenheit, vielleicht war es eine verzweifelte Suche nach Aufmerksamkeit, dass sie wieder auf den Strich ging. Höchstwahrscheinlich war sie auch nur enttäuscht, dass ich nicht die erhoffte Goldader war, weil ich selbst zu wenig verdiente.

Es war eine schlimme Zeit, es war der Anfang vom Ende, es fing schon früh in unserer Ehe an und hörte nicht mehr auf. Wäre sie konsequent gewesen und hätte ihre Neigungen egoistisch und rücksichtslos genug ausgelebt, dann hätte ich vielleicht einen Schlussstrich ziehen und fortgehen können. Aber davon abgesehen, dass sie ständig unterwegs war und sich von anderen Männern ficken ließ, redete sie auch immer wieder von Liebe und sagte, dass sie bei mir bleiben wollte. Ein Teil von mir wusste natürlich, dass es ihr hauptsächlich darum ging, ihr Stück vom Kuchen abzubekommen – sie wollte für Geld pimpern, sich zudröhnen, abhängen und am Ende nach Hause zu ihrem armen Trottel kommen, der sie emotional wieder aufrichtete. Aber ein anderer Teil von mir wollte die Zweisamkeit so sehr, dass ich mir immer wieder einredete, am Ende würde doch noch alles gut werden.

Leicht fiel es mir nicht, die Fassung zu bewahren. Als sie die ersten paar Male von einer ihrer Touren nach Hause kam, musste ich mich zusammenreißen, damit ich ihr keine schmierte. Ich wartete auf sie und malte mir idiotischerweise aus, dass sie mir in die Arme fallen und versichern würde, wie glücklich sie sei, wieder hier zu sein. Normalerweise jedoch ging sie schnurstracks ins Badezimmer, um zu duschen. Also folgte ich ihr, sah den angetrockneten Ficksaft wie glänzenden, schuppenden Schorf auf ihrem Bauch und dachte, ich müsste kotzen.

Mit der Zeit stumpfte ich ab. Ich legte mir einen Panzer zu, unter dem ich die pochende Trauer verbarg, und ich wartete nicht mehr auf sie. Die Seelenqualen waren damit nicht verschwunden, ich empfand sie aber weniger stark. Ich bildete mir ein, ich könnte eine Trennlinie ziehen zwischen der Frau, die loszog und Schwänze lutschte, und der Teilzeitehefrau, die nach wie vor Interesse an mir bekundete.

Doch dieser Zustand selbst verordneter Verblendung hielt nicht lange an. Vielleicht hätte ich es geschafft, wenn weiterhin alles einigermaßen diskret zugegangen wäre, doch sie zog die Daumenschrauben immer enger – sie ging nicht mehr nur hin und wieder tagsüber irgendwo anschaffen, sondern irgendwann regelmäßig jeden Abend, und manchmal blieb sie die ganze Nacht und länger fort. Sie erwähnte einen Arzt, einen Polizisten … Am Ende verschwand sie manchmal eine oder zwei Wochen ohne Vorwarnung. Mich packte eine Wut, die längst über bloße Eifersucht hinausging, es war Hass und Selbstekel, und es machte mich fertig. Und sie versicherte mir, dass ihr immer noch etwas an mir lag, dass sie mir ihr Leben verdankte, weil ich sie aus der Gosse geholt hatte, doch zu diesem Zeitpunkt glaubte ich ihr bereits nicht mehr.

Als sie vor acht Tagen verschwand, kam mir zum ersten Mal der Verdacht, dass sie nicht einfach bloß anschaffen war, sondern dass es um mehr ging, um etwas Illegaleres und Gefährlicheres. Aber die Polizei rief ich nicht. Schließlich machte ich mich auf die Suche nach ihr, allerdings eher aus Schuldgefühl, nicht aus Liebe.

Jetzt hatte ich sie gefunden, und der Tod, der doch so gern für klare Verhältnisse sorgte, änderte nicht das Geringste an meinen Gefühlen. Ihr Anblick weckte so wenig Emotionen in mir, als wäre ihr Leichnam aus Gummi gewesen.

Diese Erkenntnis der niederschmetternden Sinnlosigkeit unserer gemeinsamen Zeit hinderte mich jetzt daran, mich zu unserer Beziehung zu bekennen. Mir lag einfach nicht mehr genug an ihr, dass ich bereit gewesen wäre, den Papierkram auf mich zu nehmen, der damit einhergegangen wäre.

Vor acht Tagen.

Sie kam nach zweiwöchiger Abwesenheit nach Hause und sah nicht gut aus. Sie war nicht mehr nur blass, sie war bleich, sie hatte abgenommen, ihr Haar war stumpf und glanzlos. Dennoch schien sie irgendwie ganz aufgeregt zu sein, wie ein Kind, das zur Geburtstagsfeier geht und ein tolles Geschenk dabeihat, das es allerdings einem Kind geben muss, das es nicht besonders mag. Und genau das tat sie dann auch, sie führte mich nach draußen und überreichte mir ein Geschenk – den Prelude.

Ich sah ihrem Gesicht an, wie sehr sie sich wünschte, dass ich mich freute, und ich hatte gewiss nicht vor, mich über das Auto zu beschweren, aber, verflucht, das Geschenk verwirrte mich. Doch ich fand die richtigen Worte, die Worte, die sie offenkundig hören wollte, und dann machten wir eine Probefahrt nach Santa Monica. Die ganze Zeit fragte ich mich, welche Formen sexueller Dienstleistungen erforderlich gewesen sein mochten, um innerhalb von zwei Wochen so viel Geld zu verdienen.

Als wir wieder im Apartment waren, legte sie sich breitbeinig auf das Sofa, sodass ihr Minirock hochrutschte. Mir lagen Fragen auf der Zunge, doch sie zog mich zu sich herunter. Ich wollte mich wehren und ihr auf den Zahn fühlen oder wenigstens etwas Würde wahren, indem ich etwas sagte wie »Ich steck meinen Schwanz nicht in deine spermaversiffte Fotze«, doch ich hatte seit zwei Wochen keinen Sex mehr gehabt, daher erwiesen sich der Anblick und ihr Geruch als überwältigend. Ich küsste ihre Brüste durch den Baumwollstoff der Bluse und schob eine Hand zwischen ihre Beine. Sonst stöhnte sie, wenn ich das machte, aber jetzt blieb sie still und wartete auf etwas. Na und? Ich machte weiter, zog ihr den Slip aus, schob den Rock weiter hoch und stieß in sie rein. Ich versuchte zu ignorieren, wie teilnahmslos sie wirkte; schließlich hatte ich kein emotionales Geben und Nehmen erwartet. Ich wollte nur abspritzen. Dass ich mich hinterher mit der Leere auseinandersetzen musste, die zwangsläufig folgte, daran war ich gewöhnt.

Doch dann griff ich unter ihren Rock, um einen besseren Halt zu finden, und strich mit der Handfläche über etwas, das nicht da sein sollte. Ein geschwollener, auf dem Kamm unebener Wulst. Ich musste sofort aufhören. Ich zog den Schwanz aus ihr und sah nach. Karen blickte mich durchdringend an.

»Was ist passiert?«

»So kommt man an Autos.«

Eine 30 Zentimeter lange horizontale Narbe, in der noch halb zugewachsene Schlaufen chirurgischer Nähseide zu erkennen waren, erstreckte sich zwischen Hüfte und Rippen von der linken Seite des Bauchs bis zum Rücken.

Ich musste an den Film Die Fliege denken, das Remake mit Jeff Goldblum, wo ihm obszöne, borstenartige Auswüchse aus dem Rücken sprießen.

Aber dies war kein Film, wir waren nicht einmal in Beverly Hills. Diese Verunstaltung hier besaß keinerlei ästhetischen Reiz. Sie war roh und brutal, und Karen wollte, dass ich sie sah.

»Was soll das heißen?«

»Ich habe meine Niere verkauft.«

»Was?«

»Ich habe eine meiner Nieren verkauft. Sieh mich nicht so an, in Indien machen sie das alle.«

»Ich kapier das nicht. Wie kann man denn eine Niere verkaufen?«

»Man hat doch zwei davon.«

»Ich meine … wer kauft sie?«

»Ein Arzt.«

»Der Arzt.«

»Ja, der Arzt.«

Der Kunde, der zuletzt in den Genuss der ganzen Nacht gekommen war. Jemand, mit dem sie sich in den vergangenen paar Monaten immer öfter getroffen hatte.

»Du hast einem Freier eine Niere verkauft? Ist das so eine Art von extremer Sadomaso-Nummer?«

»Ich wusste, dass du deswegen Zoff machen würdest.«

»Herrgott, hast du denn gar keine Selbstachtung?«

»Halt die Klappe, ja? Es ist mein Körper, meine Niere. Genauso, wie es meine Möse ist. Bei 30 Riesen konnte ich einfach nicht Nein sagen.«

Ich erstarrte, einen Moment lang fehlten mir die Worte. Einerseits war es ziemlich bizarr, ein Organ zu verkaufen, andererseits wieder nicht. Nicht in L. A. Nicht für jemand wie Karen. 30.000 Dollar sind schließlich eine Menge Geld.

»Wofür wollte er sie? Ich meine, was kann man mit einer Niere anfangen?«

»Keine Ahnung, einem Krankenhaus geben. Mir doch egal. Willst du was rauchen?«

Als sie in die Jackentasche griff, bemerkte ich, dass sie einen goldenen Armreif trug, den ich noch nie an ihr gesehen hatte. Mit vielen verschnörkelten Verzierungen, offenbar antik.

»Der ist aber hübsch.«

»Vom Doc, um mir gute Besserung zu wünschen.«

»Wie nett.«

Sie seufzte müde. »Willst du jetzt eine rauchen oder nicht?«

Karen besaß nicht das übliche Glasrohr mit etwas Stahlwolle in der Mitte. Die Versuchung wäre groß gewesen, so ein kleines Teil immer mit sich rumzutragen, was wie ein Ausweis gewesen wäre: zu verräterisch, wenn sie beim Anschaffen geschnappt wurde. Sie hatte sich selbst etwas gebastelt.

Sie spannte Alufolie mit einem Gummiband über ein zu drei Vierteln mit Wasser gefülltes Glas; auf einer Seite der Folie befand sich ein kleines Oval aus Nadeleinstichen, auf der anderen ein anderthalb Zentimeter langer Schlitz. Darauf schichtete man Zigarettenasche und ein Stück Crack. Dann zündete man diesen sexy kleinen Vulkan mit einem Einwegfeuerzeug an und sog sich den reinen, weißen Rauch direkt in die Birne.

Als sie nicht mehr konnte, gab sie das Teil an mich weiter. Ich streute frische Asche darauf und lud nach. Kühler Rauch strömt ein, der Mund wird taub, die Lungen sind bis zum Platzen gespannt; ein klein wenig rauslassen, dann noch mehr inhalieren. Die Glut mit einem Tröpfchen Spucke löschen. Und Luft anhalten, Luft anhalten … Und dann schön langsam ausatmen. Bequem hinlegen und die Augen schließen. Nichts existiert mehr. Nur du selbst, und du schwebst in einer vollkommen schmerzfreien Leere. Besser als Smack, besser als Sex. Eine göttliche, lustvolle Übelkeit. Vor die Wahl gestellt, würde man dieses Gefühl jedem anderen auf der Welt vorziehen.

Maximal zehn Minuten, mehr kriegt man nicht, dann folgt die Bruchlandung auf dem Boden, und nichts hat sich verändert. Krämpfe in den Eingeweiden, zusammengebissene Zähne, galoppierende Paranoia. Nicht der optimale mentale Zustand, um über wegoperierte Nieren zu sprechen.

Wir redeten auch nicht gleich weiter, da wir beide wussten, wir waren zu aufgekratzt dazu. Stattdessen zappelten wir im Zimmer herum. Aufstehen, hinsetzen, wieder aufstehen. Glotze an- und ausschalten. Alk aus dem Kühlschrank. Sinnloses, oberflächliches Geschwätz.

Dann Sex wie eine ungestüme Explosion. Ein paar Minuten Ablenkung von der Rache des Kokains. Über den Tisch gebeugt, stoße ich von hinten in sie rein, und beide grunzen wir wie die Tiere. Der schwache Scheißegeruch ihres Arschs liegt in der Luft. Als wir fertig sind, fühlen wir uns einander nicht näher als zuvor.

Sie lag von der Taille abwärts nackt auf dem Bett, und ihre achtlose Haltung zeigte mir hier und jetzt frisch und unerträglich, wie wenig ich ihr wirklich bedeutete. Sie schien mir regelrecht zuzuschreien, dass es ihr vollkommen am Arsch vorbeiging, wie ich sie sah, dass sie es nicht einmal mehr nötig fand, in meiner Anwesenheit ein Mindestmaß an Anstand zu wahren.

Ich spürte das Kribbeln der Wut in den Armen, als ich wieder mit ihr redete, aber 30 Sekunden später sollte ich noch viel wütender sein.

»Das Auto ist dein erstes Geschenk für mich.«

»Ich weiß.«

»Wiedergutmachung für vergeudete Zeit?«

Sie rollte sich vom Bett und zog ihren Slip an.

»Es ist ein Dankeschön, Jack. Und ein Abschiedsgeschenk. Ich gehe.«

»Was?«

»Wir sind fertig miteinander. Ich hab jetzt ein bisschen Geld, ich kann weiterziehen. Dieses Leben tut uns beiden nicht gut.«

»Ich fass es nicht.«

»Mir gefällt es, wenn ich abhängen und mich zudröhnen kann. Ich ficke gern für Geld. Das ist wenigstens real. Du lebst in deiner beschissenen Filmstarfantasiewelt. Wir passen einfach nicht zusammen.«

Alles um mich herum schien seitlich wegzukippen, die Gegenstände sahen plötzlich zweidimensional aus und übertrieben scharf konturiert, wie ihre eigenen hochauflösenden Fotografien, man erkannte sie fast nicht wieder. Ich stand mit gelähmten Nerven da und machte eine Bestandsaufnahme meiner Dummheit.

Ich hatte sie vor der Selbstzerstörung durch Drogen bewahrt, ihr ein Dach über dem Kopf gegeben, sie ernährt und eingekleidet. Und während sie herumhurte, lag ich ein Jahr lang nachtsüber wach, stellte mir das unendliche Gerammel und die Sturzbäche von Sperma vor und hielt trotzdem durch, weil ich dachte, dass es irgendwann einmal zu Ende sein müsste und ich dann eine treue und feste Partnerin fürs Leben hätte.

Natürlich wusste ich gleichzeitig, dass meine Hoffnung absurd war. Jeder, der unsere Beziehung beobachtet hätte, hätte mir auf den Kopf zugesagt, dass sie vorher längst in die Brüche gegangen war. Aber wenn man mit der Einsicht lebt, dass etwas wirklich und wahrhaftig schlecht ist, redet man sich gern ein, dass es in Zukunft nur besser werden kann.

Vielleicht lag es daran, dass sie sich gerade jetzt dazu entschied, wo sie endlich ein wenig Geld auf der hohen Kante hatte. Vielleicht lag es auch am Koks. Ich weiß es nicht. Vielleicht war es nur die Angst davor, verlassen zu werden. Wie auch immer, als ich wieder zu mir kam, verlor ich irgendwie die Beherrschung und klebte ihr eine.

Sie schrie mich an, ich schrie zurück, wir packten einander, torkelten durchs Zimmer, und aus Verzweiflung und Wut schlug ich nochmals auf sie ein. Es war eine unangenehme Episode, sogar eine durch und durch üble, die damit endete, dass sie mit blutenden Lippen aus dem Apartment rannte. Ich versuchte nicht einmal, sie aufzuhalten.

»Die Scheißkarre kannst du behalten.«

Das waren die letzten Worte, die sie an mich richtete.

Ich stand unter einer nackten, auf einmal viel zu grellen Glühbirne mitten in dem plötzlich stillen und leeren Zimmer. Durch die offene Tür wehte der nächtliche Wind herein und bewegte etwas zu meinen Füßen mit der Brise. Ich hob es auf. Ein zusammengeknülltes, rosarotes Stück Papier, auf dem mein Name stand – die Quittung für das Auto. Da fühlte ich mich erst recht beschissen.