Aus dem Amerikanischen von Claudia Rapp

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Life We Bury

erschien 2014 im Verlag Seventh Street Books.

Copyright © 2014 by Allen Eskens

Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig

Lektorat: Katrin Holle – www.lektorat-holle.de

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-642-7

www.Festa-Verlag.de

Ich widme diesen Roman meiner Frau Joely,

weil ich ihrem Rat am meisten vertraue.

Und ich widme diesen Roman

meiner Tochter Mikayla,

weil sie mich fortwährend inspiriert,

und meinen Eltern

Pat und Bill Eskens,

für alles, was ich von ihnen im Leben gelernt habe.

1

Ich erinnere mich noch, dass ich von einem Gefühl der Furcht geplagt wurde, als ich an jenem Tag zu meinem Wagen ging. Niedergedrückt von Wellen düsterer Vorahnungen, die in meinem Kopf herumwirbelten und sich am Abendhimmel brachen. Es gibt Menschen, die dieses vage Gefühl als Warnung bezeichnen würden, als besäßen sie eine Art drittes Auge, das die Zukunft bereits sehen kann, bevor sie um die Kurve gerauscht kommt. Ich habe nie etwas auf solches Gerede gegeben. Aber ich gebe zu, dass es Momente gab, in denen ich an jenen Tag zurückdachte und mich fragte: Wenn das Schicksal mir damals wirklich ins Ohr geflüstert hätte – wenn ich gewusst hätte, dass dieser Besuch so viele Dinge ändern würde –, hätte ich dann einen sichereren Weg gewählt? Wäre ich links abgebogen, wo ich rechts abgebogen bin? Oder hätte ich dennoch den Weg gewählt, der mich zu Carl Iverson geführt hat?

Die Minnesota Twins, meine Mannschaft, sollten an jenem kühlen Septemberabend gegen die Cleveland Indians antreten; es ging um den Sieg in der Central Division, der Abteilung der American Baseball League, deren Teams im Mittleren Westen beheimatet sind. Die Flutlichter des Target Field würden den westlichen Horizont von Minneapolis taghell erleuchten, ihre Strahlen wie Vorboten des Ruhms in die Nacht hinaufsenden, doch ich konnte nicht dabei sein, um mir das anzusehen. Noch eine Sache, die ich mir als College-Student nicht leisten konnte. Ich würde den Abend an der Tür von Molly’s Pub verbringen, Führerscheine auf das Alter ihrer Besitzer kontrollieren und Streitigkeiten von Betrunkenen unterbinden, dazwischen immer wieder verstohlene Blicke auf den Fernseher über der Bar werfen, um dem Spiel wenigstens halbwegs zu folgen. Nicht gerade mein Traumjob, aber man konnte die Miete damit zahlen.

Merkwürdig, die Berufsberaterin an meiner High School hat das Wort College nie erwähnt, obwohl ich mehr als einmal bei ihr war. Vielleicht konnte sie die Hoffnungslosigkeit riechen, die an meinen Secondhand-Klamotten haftete. Vielleicht hatte sie auch gehört, dass ich am Tag nach meinem 18. Geburtstag angefangen hatte, in einer Spelunke namens Piedmont Club zu arbeiten. Oder – und darauf würde ich wetten – vielleicht wusste sie einfach, wer meine Mutter war, und dachte sich, dass man den Klang eines Echos nicht verändern kann. Woran es auch lag, ich konnte es ihr nicht verübeln, dass sie mich nicht als Kandidaten für ein Hochschulstudium sah. Ehrlich gesagt habe ich mich im schäbigen Zwielicht einer Bar wohler gefühlt als in den marmornen Fluren höherer Bildung, in denen ich stolperte, als ob ich meine Schuhe am falschen Fuß trug.

An jenem Tag sprang ich in mein Auto, einen 20 Jahre alten, rostigen Honda Accord, legte den Gang ein und fuhr vom Campus aus nach Süden, fädelte mich in den Feierabendverkehr der I-35 ein und hörte Alicia Keys aus kaputten japanischen Billiglautsprechern. Als ich auf dem Crosstown Highway war, griff ich hinüber zum Beifahrersitz und wühlte in meinem Rucksack herum, bis ich endlich den Zettel mit der Adresse des Altenheims fand. »Nenn es nicht Altenheim«, nuschelte ich vor mich hin. »Es ist eine seniorengerechte Wohnanlage oder irgend so was.«

Ich kurvte durch das verwirrende Straßennetz von Richfield, Minnesota, bis ich das Schild an der Einfahrt zu meinem Ziel erspähte: Hillview Manor. Diese Namensgebung konnte nur ein schlechter Witz sein. Es gab keine Sicht auf Hügel weit und breit, und das Gebäude hatte nicht das geringste bisschen von jener Pracht, die man mit Bezeichnungen wie »Herrenhaus« verbindet. Vorne grenzte das Grundstück an eine viel befahrene, vierspurige Straße, hinten schaute man auf die traurige Rückseite eines alten, heruntergekommenen Mietblocks. Der unpassende Name war aber noch das Freundlichste an Hillview Manor, dessen graue Ziegelmauern von Algen grünlich verfärbt waren. Die das Haus umgebenden, schäbigen Büsche wuchsen, wie sie wollten, und der Schimmel, der die Farbe von angelaufenem Kupfer hatte, überzog das weiche Holz jedes einzelnen Fensterflügels. Das Ungetüm hockte auf seinem Fundament wie ein Verteidiger beim Football und schien ebenso furchterregend.

Als ich die Eingangshalle betrat, schlug mir die abgestandene Luft entgegen. Der stechende Geruch von antiseptischer Salbe und Urin stieg mir in die Nase. Er trieb mir die Tränen in die Augen. Eine alte Frau mit schief sitzender Perücke saß in einem Rollstuhl. Sie starrte an mir vorbei, als würde sie darauf warten, dass ein Verehrer von ganz früher auf dem Parkplatz auftauchte und sie von hier fortriss. Sie lächelte, als ich an ihr vorbeiging, aber das Lächeln galt nicht mir. In ihrer Welt existierte ich gar nicht, genauso wenig wie die Geister ihrer Erinnerung in meiner.

Ich zögerte kurz, bevor ich an den Empfangstresen herantrat, hörte ein letztes Mal das Flüstern der Zweifel in meinem Ohr, jene bockigen Gedanken, die mir rieten, diesen Kurs sausen zu lassen, bevor es zu spät war, und stattdessen etwas Vernünftiges zu belegen, etwa Geologie oder Geschichte.

Einen Monat zuvor hatte ich mein Zuhause in Austin, Minnesota, verlassen, hatte mich davongeschlichen wie ein Halbstarker, der wegläuft und sich dem Wanderzirkus anschließt. Keine Diskussion mit meiner Mutter, denn ich wollte ihr nicht die Gelegenheit geben, zu versuchen, meine Meinung zu ändern. Ich packte einfach eine Tasche, sagte meinem jüngeren Bruder, dass ich verschwinden würde, und ließ eine Nachricht für meine Mutter da. Als ich im Büro des Registrars der Universität aufschlug, waren alle annehmbaren Kurse in Englisch bereits komplett belegt, also trug ich mich für einen Kurs über Biografien ein, auch wenn dieser von mir verlangte, einen vollkommen Fremden zu interviewen. Tief in mir drin war mir nur allzu bewusst, dass der kalte Schweiß, der mir an jenem Tag von den Schläfen perlte, von dieser Aufgabe herrührte. Einer Hausaufgabe, die ich nun schon viel zu lange vor mir hergeschoben hatte. Ich wusste einfach, dass es ätzend werden würde.

Die Frau mit dem breiten Gesicht an der Rezeption beugte sich über den Tresen und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?« Sie hatte markante Wangenknochen, straff zurückgebundenes Haar und tief liegende Augen, was ihr das Aussehen einer Vorsteherin im Arbeitslager verlieh.

»Ja«, antwortete ich. »Ich meine, das hoffe ich. Ist Ihr Vorgesetzter da?«

»Vertreterbesuche sind hier nicht erlaubt«, erwiderte sie. Ihr Gesicht wirkte noch herrischer, als sie mich direkt ansah.

»Vertreter?« Ich zwang mich zu einem amüsierten Lachen und hob bittend die Hände. »Ma’am«, sagte ich. »Ich könnte nicht mal einem Höhlenmenschen Feuer verkaufen.«

»Nun, Sie sind kein Bewohner und auch kein Besucher, und arbeiten tun Sie hier ganz sicher auch nicht. Was bleibt da noch übrig?«

»Ich heiße Joe Talbert. Ich studiere an der University of Minnesota.«

»Und?«

Ich warf einen schnellen Blick auf ihr Namensschild. »Und … Janet … ich würde gern mit dem Manager über ein Projekt sprechen, das ich für die Uni machen muss.«

»Wir haben keinen Manager«, gab Janet zurück, die Augen zusammengekniffen. »Wir haben eine Leiterin, Mrs. Lorngren.«

»Ich bitte um Entschuldigung«, entgegnete ich und bemühte mich, weiterhin freundlich auszusehen. »Kann ich mit Ihrer Leiterin sprechen?«

»Mrs. Lorngren hat sehr viel zu tun und jetzt ist Abendessenszeit …«

»Es dauert auch nur eine Minute.«

»Wieso erzählen Sie mir nicht kurz, worum es in Ihrem Projekt geht, dann kann ich entscheiden, ob ich Mrs. Lorngren deswegen stören soll.«

»Es ist eine Aufgabe für die Uni«, erklärte ich, »für meinen Englischkurs. Ich muss einen alten Menschen interviewen … ich meine, einen Senioren … und dann eine Biografie über diese Person schreiben. Sie wissen schon, die Kämpfe und Weggabelungen beschreiben, die ihn zu dem Menschen gemacht haben, der er ist.«

»Sie sind Autor?« Janet betrachtete mich von oben bis unten, als wäre meine Erscheinung bereits die Antwort auf ihre Frage. Ich stand automatisch gerader, präsentierte meine gerade mal 1,78 Meter Körpergröße. Ich war 21 Jahre alt und hatte mich damit abgefunden, dass ich nicht mehr wachsen würde. Vielen Dank auch, Joe Talbert senior, wo zum Teufel du auch sein magst. Ja, ich arbeitete als Türsteher, war aber keinesfalls so ein Schrank, wie man ihn normalerweise an der Tür einer Bar erwartete. Was den Türsteher anging, gehörte ich eher zur mickrigen Sorte.

»Nein«, gab ich zurück. »Kein Autor, bloß Student.«

»Und die wollen, dass Sie für die Uni ein ganzes Buch schreiben?«

»So ziemlich, ja«, sagte ich mit einem Lächeln. »Ich muss ein paar Kapitel zur Einleitung schreiben, etwas über einen zentralen Wendepunkt, dann noch einen Höhepunkt und einen zusammenfassenden Schluss … insgesamt mindestens 120 Seiten.«

Janet zog die platte Nase kraus und schüttelte den Kopf, als wäre der schiere Umfang meines Projekts ein persönliches Ärgernis. Immerhin hatte ich sie anscheinend davon überzeugt, dass ich nichts verkaufen wollte, denn sie nahm den Telefonhörer ab und sprach mit gedämpfter Stimme hinein. Kurze Zeit später kam eine Frau in einem grünen Kostüm aus einem Korridor hinter dem Empfangstresen und stellte sich neben Janet.

»Ich bin die Leiterin. Lorngren mein Name.« Sie hielt den Kopf hoch erhoben und ganz ruhig, als balancierte sie eine Teetasse darauf. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Das hoffe ich.« Ich atmete tief ein und erklärte die Sache erneut.

Mrs. Lorngren hörte sich meine Geschichte mit verdutztem Gesicht an und überlegte. Dann sagte sie: »Warum sind Sie hierher gekommen? Haben Sie keine Eltern oder Großeltern, die Sie interviewen können?«

»Ich habe keine Verwandten in der Nähe«, antwortete ich.

Das war gelogen. Meine Mutter und mein Bruder lebten zwei Stunden südlich von Minneapolis-St. Paul, aber selbst ein kurzer Besuch im Haus meiner Mutter glich einem Spaziergang durch ein Distelfeld. Meinen Vater hatte ich nie kennengelernt. Ich hatte keine Ahnung, ob er überhaupt noch lebte. Seinen Namen kannte ich allerdings. Meine Mutter hatte die brillante Idee, mich nach ihm zu benennen, in der Hoffnung, dass ihn das dazu bringen würde, eine Weile zu bleiben, sie womöglich sogar zu heiraten und finanziell zu unterstützen, wo sie doch jetzt den kleinen Joey junior hatte. Es hat nicht funktioniert. Mom hatte dasselbe versucht, als mein jüngerer Bruder Jeremy auf die Welt kam. Wieder nichts. Als Kind musste ich ständig erklären, wieso meine Mutter Kathy Nelson hieß, während mein Name Joe Talbert war und der meines Bruders Jeremy Naylor.

Was meine Großeltern anging, hatte ich nur den Vater meiner Mutter kennengelernt, meinen Opa Bill – und den habe ich geliebt. Er war ein stiller Mann, der sich nur mit einem kurzen Blick oder Nicken Aufmerksamkeit verschafft hatte, ein ebenso starker wie sanfter Mann, der beides nicht wie eine mehrschichtige Rüstung getragen hatte, weiches Polster unter hartem Panzer, sondern wie eine Jacke aus feinem Leder, aus einem Guss. An manchen Tagen, wenn ich seine Weisheit brauchte, um mit den regelmäßig wiederkehrenden Widrigkeiten meines Lebens fertigzuwerden, beschwor ich seine Erinnerung herauf. Es gab aber auch Nächte, in denen der Klang von Regen, der gegen eine Fensterscheibe prasselte, in mein Unterbewusstsein drang und er mich in meinen Träumen heimsuchte. Diese Träume endeten damit, dass ich schweißnass und mit zitternden Händen in meinem Bett hochschreckte, weil ich ihm erneut beim Sterben zugesehen hatte.

Mrs. Lorngren vergewisserte sich: »Ihnen ist klar, dass es sich hier um ein Altenpflegeheim handelt, oder?«

»Deswegen bin ich ja hergekommen«, erklärte ich. »Sie haben hier Leute, die unglaubliche Zeiten erlebt haben.«

»Das ist wahr«, gab sie zu, als sie sich über den Tresen beugte, der zwischen uns stand. Von Nahem konnte ich die Fältchen sehen, die sich um ihre Augenwinkel herum ausbreiteten und ihre Lippen wie ein ausgetrocknetes Flussbett umgaben. Auch den Hauch von Scotch roch ich jetzt in ihrem Atem, während sie sprach. Sie fuhr mit gesenkter Stimme fort: »Die Bewohner leben hier, weil sie sich nicht mehr selbst um sich kümmern können. Die meisten leiden unter Alzheimer, Demenz oder anderen neurologischen Störungen. Sie erinnern sich nicht einmal mehr an ihre eigenen Kinder, geschweige denn an Details ihres Lebens.«

Das hatte ich nicht bedacht. Ich sah meinen Plan ins Wanken geraten. Wie sollte ich die Lebensgeschichte eines Kriegshelden aufschreiben, wenn der Held sich nicht mehr daran erinnern konnte, was er getan hatte? »Haben Sie denn niemanden mit intaktem Gedächtnis?«, wollte ich wissen. Ich klang erbärmlicher, als mir lieb war.

»Wir könnten ihn mit Carl reden lassen«, meldete sich Janet zu Wort.

Mrs. Lorngren warf ihr einen Blick zu, wie ich ihn für einen Kumpel reserviert hätte, der gerade meine perfekt glaubwürdige Lüge hatte auffliegen lassen.

»Carl?«, fragte ich.

Mrs. Lorngren verschränkte die Arme vor der Brust und trat einen Schritt vom Tresen zurück.

»Wer ist Carl?«, hakte ich nach.

Janet sah Mrs. Lorngren an, wartete auf deren Einverständnis. Als die Leiterin schließlich nickte, war es wieder an Janet, sich über den Tresen zu lehnen. »Er heißt Carl Iverson. Ein verurteilter Mörder«, verriet sie mir im Flüsterton, wie ein Schulmädchen, das nicht an der Reihe ist. »Die Gefängnisbehörde hat ihn vor etwa drei Monaten hergeschickt. Sie haben ihn unter Vorbehalt aus der Haft entlassen, weil er Krebs hat und im Sterben liegt.«

Mrs. Lorngren fügte verärgert hinzu: »Offenbar ist Bauchspeicheldrüsenkrebs neuerdings ein sinnvoller Ersatz für Strafvollzug und Resozialisierung.«

»Er hat jemanden umgebracht?«, vergewisserte ich mich.

Janet sah sich um, ob auch sicher niemand außer mir mithören konnte. »Vor 30 Jahren hat er ein 14 Jahre altes Mädchen vergewaltigt und ermordet«, flüsterte sie. »Ich habe das alles in seiner Akte nachgelesen. Nachdem er sie umgebracht hatte, versuchte er es zu vertuschen, indem er die Leiche in seinem Werkzeugschuppen verbrannte.«

Ein Mörder und Vergewaltiger. Ich war auf der Suche nach einem Helden nach Hillview gekommen und hatte stattdessen einen Schurken gefunden. Der hatte ganz sicher eine Geschichte zu erzählen, aber war das auch eine, die ich aufschreiben wollte? Während meine Kommilitonen mit Erzählungen von Oma, die ihre Kinder auf dem gestampften Lehmboden einer Hütte zur Welt gebracht hatte, aufkreuzen würden, oder von Opa, der einmal John Dillinger in einer Hotellobby begegnet war, würde ich über einen Mann schreiben, der ein Mädchen vergewaltigt, ermordet und ihren Leichnam dann in einem Schuppen verbrannt hatte. Zunächst gefiel mir der Gedanke gar nicht, einen Mörder zu befragen, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr konnte ich mich damit anfreunden. Ich hatte dieses Projekt schon viel zu lange aufgeschoben. Der September war fast vorbei und die ersten Kapitel waren in ein paar Wochen fällig. Meine Kommilitonen lagen in diesem Rennen weit vorn, während meine Mähre immer noch im Stall stand und Heu fraß. Carl Iverson würde Gegenstand meiner Arbeit werden, wenn er denn einverstanden war.

»Ich glaube, ich würde Mr. Iverson gern interviewen«, verkündete ich.

»Der Mann ist ein Monster«, erwiderte Mrs. Lorngren. »Ich würde ihm die Genugtuung nicht geben. Ich weiß, dass das nicht sehr christlich klingen mag, aber es wäre am besten, wenn er einfach in seinem Zimmer bleiben und ohne Aufhebens sterben würde.« Mrs. Lorngren erschrak über ihre eigenen Worte, nachdem sie sie ausgesprochen hatte. So etwas konnte man denken, durfte es jedoch niemals laut aussprechen, schon gar nicht vor einem Fremden.

»Na ja, wenn ich diese Geschichte aufschreiben kann … ich weiß nicht … vielleicht kann ich ihn dazu bringen, einzugestehen, dass es falsch war, was er getan hat.« Ich war wohl doch ein Vertreter, der den Leuten etwas aufschwatzen wollte, dachte ich im Stillen. »Außerdem hat er doch sicher auch ein Recht auf Besucher, oder nicht?«

Mrs. Lorngren sah mich an, als wäre ich beim Dame-Spiel gerade quer über das Spielbrett gehüpft und hätte sie aufgefordert, mich zur Dame zu machen. Sie hatte keine Wahl. In Hillview war Carl kein Insasse wie im Gefängnis, sondern ein Bewohner mit denselben Besuchsrechten wie alle anderen. Sie löste ihre immer noch verschränkten Arme und legte die Hände auf den Tresen zwischen uns. »Ich muss ihn zuerst fragen, ob er Besuch wünscht«, sagte sie. »Seit er hier ist, hatte er nur einen Besucher, der ihn sehen wollte.«

»Darf ich selbst mit Carl reden?«, bat ich. »Vielleicht kann ich …«

»Mit Mr. Iverson.« Mrs. Lorngren war bemüht, wieder die Oberhand zu gewinnen, daher korrigierte sie mich.

»Natürlich.« Ich zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Ich könnte Mr. Iverson erklären, worum es bei meinem Projekt geht, und viel…«

Ein Bimmeln elektronischer Glocken unterbrach mich. Mein Handy. »Tut mir leid, ich dachte, ich hätte es ausgeschaltet.« Ich bekam rote Ohren, als ich das Telefon aus der Hosentasche zog und die Nummer meiner Mutter sah. »Entschuldigen Sie mich.« Ich drehte Janet und Mrs. Lorngren den Rücken zu, als würde mir das ein wenig Privatsphäre verschaffen.

»Mom, ich kann gerade nicht reden, ich …«

»Joey, du musst mich abholen kommen«, krächzte meine Mutter ins Telefon. Das betrunkene Lallen ließ die Wörter ineinanderfließen, sodass es schwer war, sie zu verstehen.

»Mom, ich muss jetzt …«

»Die haben mich mit Handschellen gefesselt.«

»Was? Wer …«

»Die haben mich festgenommen, Joey … die … diese Wichser. Die verklage ich. Ich werd mir einen verkackten Schießhund von einem Anwalt nehmen.« Sie schrie jemanden an. »Hast du gehört, du … du Wichser?! Ich will deine Dienstnummer. Deinen Job bist du los.«

»Mom, wo bist du?« Ich sprach laut und langsam, um meine Mutter daran zu erinnern, dass sie mit mir telefonierte.

»Die haben mir Handschellen angelegt, Joey.«

»Ist da ein Officer bei dir?«, wollte ich wissen. »Kann ich mit ihm sprechen?«

Sie ignorierte meine Frage und schimpfte weiter unzusammenhängend und kaum verständlich drauflos: »Wenn du mich lieben würdest, dann würdest du mich abholen kommen. Ich bin verflucht noch mal deine Mutter, Scheiße noch mal. Die haben mir Handschellen … Beweg deinen Arsch … Du hast mich nie geliebt. Ich habe … ich hab nie … ich sollte mir einfach die Pulsadern aufschneiden. Mich liebt eh niemand. Ich war fast zu Hause … Verklagen werde ich die.«

»Okay, Mom«, bremste ich sie. »Ich komme dich holen, aber ich muss erst mit dem Officer sprechen.«

»Du meinst Mr. Wichser?«

»Ja, Mom. Mr. Wichser. Ich muss erst mit Mr. Wichser sprechen. Gib ihm einfach kurz das Telefon, dann komme ich dich holen.«

»Na gut«, nörgelte sie. »Hier, Wichser. Joey will mit dir reden.«

»Mrs. Nelson«, antwortete der Beamte, »Sie sollten einen Anwalt kontaktieren, nicht Ihren Sohn.«

»Hey, Officer Wichser, Joey will mit Ihnen reden.«

Der Officer seufzte. »Sie haben gesagt, dass Sie mit einem Anwalt sprechen wollen. Die Zeit müssen Sie dazu nutzen, einen Anwalt anzurufen.«

»Officer Wichser will nicht mir dir reden.« Mom rülpste ins Telefon.

»Mom, sag ihm, ich bitte darum.«

»Joey, du musst jetzt …«

»Verdammt, Mom!«, unterbrach ich sie in einer Mischung aus Flüstern und Brüllen. »Sag ihm, ich bitte darum.«

Einen Moment lang herrschte Stille, dann bellte sie: »Schön!« Meine Mutter hielt das Telefon von sich weg und ich konnte sie kaum noch verstehen. »Joey sagt Bitte.«

Erneut wurde es still, doch dann nahm der Officer das Telefon und meldete sich.

»Hallo.«

Ich sprach schnell und leise. »Officer, mir tut das Ganze sehr leid, aber ich habe einen autistischen Bruder. Er lebt bei meiner Mutter. Ich muss wissen, ob meine Mom heute entlassen wird, denn wenn nicht, dann muss ich mich um meinen Bruder kümmern.«

»Ich sage Ihnen, wie es aussieht. Ihre Mutter wurde wegen Alkohol am Steuer verhaftet.« Ich konnte sie im Hintergrund fluchen und heulen hören. »Ich habe sie hier im Strafvollzug der Polizeidirektion von Mower County, wo sie einen Atemtest machen muss. Sie hat sich auf das Recht auf einen Anwalt berufen, bevor sie in den Test einwilligt, also sollte sie diese Zeit jetzt dazu nutzen, einen Anwalt zu kontaktieren, statt Sie anzurufen, damit Sie sie rausholen.«

»Ich verstehe«, erwiderte ich. »Ich muss bloß wissen, ob sie heute Abend noch entlassen wird.«

»Negativ.« Der Officer antwortete absichtlich so knapp, damit meine Mutter nicht hörte, was ihr bevorstand. Ich spielte mit.

»Kommt sie in den Entzug?«

»Ja.«

»Wie viele Tage?«

»Zwischen zwei und drei.«

»Und dann entlassen Sie sie?«, wollte ich wissen.

»Nein.«

Ich ließ das kurz sacken. »Vom Entzug in den Knast?«

»Korrekt, bis zu ihrem ersten Erscheinen vor Gericht.«

Mom hörte das Wort Gericht und fing wieder zu brüllen an. In ihrem Zustand, besoffen und erschöpft, klangen die Worte wie eine wacklige Seilbrücke. »Verdammt, Joey … komm hier runter. Du liebst mich nicht … du undankbarer … Ich bin deine Mutter. Joey, die … die haben … komm einfach her. Hol mich raus.«

»Danke«, sagte ich zu dem Beamten. »Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen. Viel Glück mit meiner Mutter.«

»Ihnen auch viel Glück«, gab er zurück.

Ich legte auf und drehte mich um. Janet und Mrs. Lorngren sahen mich an, als wäre ich ein Kleinkind, das soeben gelernt hat, dass Hunde beißen können. »Bitte entschuldigen Sie das«, sagte ich. »Meine Mutter … sie ist … es geht ihr nicht gut. Ich kann Carl … ich meine Mr. Iverson … heute nicht treffen. Ich muss mich um etwas anderes kümmern.«

Der Blick in Mrs. Lorngrens Augen wurde weicher, ihr strenges Gesicht zerfloss in Mitleid. »Schon gut«, beruhigte sie mich. »Ich werde mit Mr. Iverson darüber sprechen. Lassen Sie Janet Ihren Namen und Ihre Nummer da, dann lasse ich Sie wissen, ob er einverstanden ist, Sie kennenzulernen.«

»Das weiß ich wirklich zu schätzen«, bedankte ich mich. Dann schrieb ich meine Kontaktdaten auf einen Zettel. »Kann sein, dass ich mein Telefon für eine Weile ausschalte. Wenn ich also nicht rangehe, hinterlassen Sie mir einfach eine Nachricht und lassen mich wissen, was Mr. Iverson gesagt hat.«

»Mache ich«, versprach Mrs. Lorngren. Wir schüttelten einander die Hände und ich verließ Hillview.

Ich fuhr um den nächsten Block, bog auf einen leeren Parkplatz ein, wo ich das Lenkrad mit aller Kraft packte und fluchend daran rüttelte. »Verdammte Scheiße!«, brüllte ich. »Verdammt, verdammt, verdammt! Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?!« Die Knöchel meiner Hand wurden weiß und zitterten, als die Welle der Wut durch mich hindurchrollte. Ich atmete tief ein und wartete darauf, dass das Pochen in meinem Hals nachließ und meine Augen wieder klar sahen. Als ich mich beruhigt hatte, rief ich als Erstes Molly an und erklärte ihr, dass ich an diesem Abend nicht arbeiten konnte. Sie war nicht froh darüber, aber sie verstand es. Als ich aufgelegt hatte, schaltete ich das Handy aus und machte mich auf den langen Weg nach Süden, um meinen Bruder abzuholen.

2

Die meisten Leute haben noch nie von Austin, Minnesota, gehört. Und wer davon gehört hat, der kennt die Stadt wegen Spam, dem gesalzenen Schweinefleisch in Dosen, das niemals schlecht wird und mit dem Soldaten und Flüchtlinge auf der ganzen Welt ernährt werden. Spam ist das Kronjuwel der Produktpalette der Hormel Foods Corporation und hat meiner Heimatstadt zu ihrem Spitznamen Spam Town verholfen. Wenn das der Stadt nicht bereits einen Stempel aufgedrückt hätte, der ähnliche Assoziationen weckt wie eine Tätowierung aus dem Knast, dann gab es ja immer noch den Streik.

Das Ganze geschah vier Jahre vor meiner Geburt, aber wenn man in Austin aufwächst, lernt man in der Schule alles über den Streik, so wie andere Kinder etwas über Lewis und Clark lernen, oder über die Unabhängigkeitserklärung. Eine Rezession in den 80er-Jahren hatte der fleischverarbeitenden Industrie erhebliche Einbußen beschert, weswegen Hormel die Gewerkschaft darum bat, einem ordentlichen Lohnverzicht zuzustimmen. Das kam natürlich ebenso gut an wie ein Tritt in die Eier, und der Streik begann. Aus dem Gedränge in der Streikpostenkette wurden rasch Unruhen, und die Gewalt rief die Fernsehanstalten auf den Plan. Eine Fernseh-Crew ging drauf, als ihr Helikopter in ein Maisfeld bei Ellendale stürzte. Am Ende schickte der Gouverneur die Nationalgarde, doch bis dahin hatten Feindseligkeiten und Gewalt bereits Spuren in der Stadt hinterlassen. Manch einer würde sagen, das habe ihr Charakter verliehen, aber ich sah nur eine hässliche Narbe.

Wie jede Stadt hatte Austin auch gute Seiten, obwohl die meisten Menschen die glatte Haut neben den Pickeln gar nicht mehr wahrnahmen. Es gab Parks, ein Schwimmbad, ein ordentliches Krankenhaus, ein Karmeliterkloster, einen eigenen städtischen Flughafen, und es war nur ein Katzensprung zur berühmten Mayo-Klinik in Rochester. Es gab sogar ein Community College, an dem ich Kurse belegt hatte, während ich gleichzeitig in zwei Teilzeitjobs arbeitete. Nach drei Jahren hatte ich genug Geld gespart und anrechenbare Kurse gesammelt, um ins dritte Studienjahr – also als Junior – an die University of Minnesota wechseln zu können.

Austin verfügte außerdem über 13 Bars und Hotelbars, darin waren Clubs mit Bedienung nicht eingerechnet. Bei einer Einwohnerzahl von etwa 23.000 besaß die Stadt damit eine der höchsten Bardichten in ganz Minnesota. Ich kannte diese Bars gut, denn in jeder von ihnen war ich schon irgendwann einmal gewesen. Ich habe zum ersten Mal eine Bar betreten, als ich noch ein kleiner Steppke war, kaum älter als zehn, schätze ich. Meine Mutter ließ mich mit Jeremy allein zu Hause, damit ich ein Auge auf ihn hatte, während sie auf einen oder zwei Drinks ausging. Da ich zwei Jahre älter als mein Bruder und er Autist war, was ihn zu einem stillen, zurückgezogenen Kind machte, fand meine Mom, dass ich längst alt genug zum Babysitten war.

An jenem Abend saß Jeremy im Wohnzimmer in einem Sessel und schaute sein Lieblingsvideo, den König der Löwen. Ich hatte Erdkundehausaufgaben zu erledigen, also schloss ich mich in dem winzigen Zimmer ein, das ich mir mit ihm teilte. Die meisten der Zimmer, die wir uns über die Jahre geteilt hatten, habe ich nicht mehr vor Augen, aber an dieses erinnere ich mich genau: Die Wände waren dünn wie Knabbergebäck und in demselben grellen Blau gestrichen, das den Boden eines jeden öffentlichen Schwimmbeckens der Welt bedeckt. Man hörte jedes noch so leise Geräusch aus dem benachbarten Raum, und selbstverständlich auch die Lieder aus König der Löwen, die Jeremy immer und immer wieder abspielte. Ich saß auf unserem Stockbett – ein Stück Scheiße aus zweiter Hand, dessen Sprungfedern so nutzlos waren, dass unsere Matratzen auf Sperrholzplatten lagen – und hielt mir die Ohren zu, um den Lärm auszublenden. Aber das half kaum, die unaufhörliche Wiederholung der Musik zu dämpfen, die auf die poröse Mauer meiner Konzentration eintrat. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob der nächste Teil der Geschichte wahr oder eine schuldgeborene Ausschmückung meiner Erinnerung ist, aber ich bat Jeremy, den Fernseher leiser zu machen. Ich schwöre, dass er ihn stattdessen noch lauter gedreht hat. Und irgendwann platzt jedem der Kragen.

Ich stürmte ins Wohnzimmer und schubste Jeremy aus dem Sessel, sodass er mit Wucht gegen die Wand knallte. Durch den Aufprall löste sich ein Bild von der Wand, auf dem ich ihn als Dreijähriger im Arm hielt. Das Bild sprang vom Nagel, fiel von der Wand und krachte auf Jeremys blonden Schopf, sodass das Glas in Hunderte scharfe Splitter zersprang.

Nachdem er sich die Überbleibsel von Armen und Beinen gewischt hatte, blickte er mich an. Ein Stück Glas steckte oben in seinem Kopf fest wie eine übergroße Geldmünze im zu kleinen Schlitz eines Sparschweins. Er verengte die Augen, aber nicht aus Wut. Er war eher verwirrt. Jeremy sah mir nur selten direkt in die Augen, aber an jenem Tag starrte er mich an, als wäre er kurz davor, ein großes Rätsel zu lösen. Dann wurde sein Blick abrupt weich, als hätte er seine Antwort gefunden, und er schaute zu der Stelle auf seinem Arm, wohin das Blut seiner Kopfwunde tropfte.

Ich schnappte mir ein Handtuch aus dem Badezimmer und entfernte vorsichtig die Scherbe aus seinem Kopf, die nicht so tief eingedrungen war, wie ich befürchtet hatte. Danach wickelte ich es ihm wie einen Turban um. Mit einem Waschlappen wischte ich ihm das Blut vom Arm und wartete darauf, dass die Blutung aufhören würde. Nach zehn Minuten löste ich das Handtuch, um nachzusehen. Es tröpfelte immer noch. Das weiße Handtuch war voller großer hellroter Flecken. Ich wickelte es ihm wieder um den Kopf, legte seine Hand auf das Ende des Turbans, um alles an seinem Platz zu halten, und rannte aus dem Haus, um unsere Mutter zu suchen.

Mom brauchte keine Spur aus Brotkrumen zu hinterlassen, damit ich sie finden konnte. Unser Auto stand mit zwei platten Reifen in der Einfahrt unserer Doppelhaushälfte. Mom musste also in der Nähe sein, wenn sie zu Fuß gegangen war. Das ließ nur wenige Bars zu. Zu jener Zeit kam es mir gar nicht merkwürdig vor, dass meine Mutter mich mit meinem autistischen Bruder allein ließ, damit ich auf ihn aufpasste, ohne mir auch nur zu sagen, wohin sie ging, oder dass ich automatisch wusste, dass ich sie in den Bars suchen musste. Aber im Nachhinein erscheint mir so vieles vollkommen kaputt, was ich in meiner Kindheit für ganz normal hielt. Ich fand sie auf Anhieb in der Odyssey Bar.

Die Leere traf mich völlig überraschend. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass meine Mutter davoneilte, um sich einer Armee schöner Menschen anzuschließen, die scherzten, lachten und tanzten wie die Gestalten in alten Werbespots. Aber hier drinnen knisterten und knackten schlechte Country-Songs aus billigen Lautsprechern. Der Boden war uneben und alles signalisierte Inkompetenz und Mittelmäßigkeit. Meine Mutter hatte ich sofort erspäht. Sie saß auf einem Barhocker und schwatzte mit dem Kerl hinter der Theke. Im ersten Moment hätte ich nicht sagen können, ob Zorn oder Sorge in ihrem Blick lag, doch als sie mich viel zu fest am Arm packte und aus der Bar zerrte, war diese Frage rasch beantwortet. Wir gingen schnellen Schrittes zu unserer Wohnung zurück und fanden Jeremy vor dem Fernseher, vertieft in seinen Film, die Hand immer noch so auf dem Handtuch, wie ich sie platziert hatte. Als Mom das blutige Handtuch sah, flippte sie aus.

»Was zur Hölle hast du getan?! Um Himmels willen, sieh dir diese Schweinerei an!« Sie zog ihm das Handtuch vom Kopf, zerrte Jeremy am Arm vom Boden hoch und schleifte ihn mit sich ins Bad, wo sie ihn in die leere Wanne setzte. Das feine blonde Haar auf seinem Kopf war verklebt vom Blut. Mom warf das blutige Handtuch ins Waschbecken und ging wieder ins Wohnzimmer, um drei winzige Flecken aus dem rostbraunen Teppich zu schrubben.

»Du musstest mein gutes Handtuch benutzen!«, schrie sie mich an. »Konntest nicht einfach einen Lappen holen? Sieh dir das Blut auf dem Teppich an. Wir könnten unsere Kaution deswegen verlieren. Hast du darüber mal nachgedacht? Nein. Du denkst nie nach. Du macht bloß immer eine Riesensauerei und ich muss dann sauber machen.«

Ich ging ins Badezimmer, um meiner Mutter zu entkommen, aber auch um bei Jeremy zu sein, für den Fall, dass er Angst bekam. Er fürchtete sich nicht, das tat er nie. Oder wenn er es tat, dann zeigte er es nie. Er sah mich eine Sekunde lang mit ausdruckslosem Blick an, doch ich bemerkte den Schatten meines Verrats, der hinter seinem Blick vorüberhuschte. Sosehr ich auch versucht habe, diesen Abend zu vergessen, ihn irgendwo tief in mir zu vergraben und sterben zu lassen, die Erinnerung daran, wie Jeremy aus der Wanne zu mir hochsah, atmet immer noch.

Inzwischen war Jeremy 18 und damit alt genug, um ein paar Stunden allein in der Wohnung zu bleiben, aber nicht mehrere Tage. Als ich an diesem Abend in die Einfahrt vor Moms Apartment einbog, herrschte zwischen den Twins und den Indian Gleichstand. Beide hatten einen Homerun im dritten Inning geschafft. Ich öffnete die Tür mit dem Ersatzschlüssel und fand Jeremy im Wohnzimmer. Er schaute Fluch der Karibik, seinen neuen Lieblingsfilm. Er wirkte nur eine Sekunde lang überrascht, dann blickte er auf den Boden zwischen uns.

»Hey, Kumpel«, begrüßte ich ihn. »Wie geht’s meinem kleinen Bruder?«

»Hallo, Joe«, erwiderte er.

Als Jeremy auf die Middle School kam, hatte ihm der Bezirk eine Lehrassistentin zugewiesen, die sich mit Autismus auskannte. Ihr Name war Helen Bollinger. Sie verstand sein Bedürfnis nach Mustern und Routine, seine Vorliebe für Einsamkeit, seine Abneigung gegen das Anfassen oder Angefasstwerden und seine Unfähigkeit, Dinge zu verstehen, die über die Grundbedürfnisse und simplen Unterricht in Schwarz-Weiß-Kategorien hinausgingen. Während Mrs. Bollinger sich nach Kräften bemühte, Jeremy aus seiner Dunkelheit herauszuholen, drängte meine Mutter darauf, dass man ihn zwar sehen, aber nicht hören durfte.

Der Ringkampf dauerte sieben lange Jahre und Mrs. Bollinger gewann dabei häufiger, als dass sie verlor. Als er die High School beendete, hatte ich einen Bruder, der beinahe eine halbwegs normale Unterhaltung führen konnte, obwohl es ihn große Überwindung kostete, mich anzusehen, wenn wir miteinander sprachen.

»Vielleicht habe ich gedacht, du bist am College«, erklärte Jeremy, dessen stakkatoartige Betonung sich anhörte, als legte er jedes Wort eins nach dem anderen auf ein Fließband.

»Ich bin zurückgekommen, um dich zu sehen«, erwiderte ich.

»Oh, okay.« Jeremy wandte sich wieder seinem Film zu.

»Mom hat mich angerufen«, fuhr ich fort. »Sie hat ein Meeting und kommt eine Weile nicht nach Hause.«

Es war leicht, Jeremy zu belügen, da er mit seinem zutraulichen Wesen nicht in der Lage war, eine Täuschung zu durchschauen. Ich log ihn nicht aus Gemeinheit an, es war schlicht meine Art, ihm Dinge zu erklären, ganz ohne die Komplexitäten oder Zwischentöne der Wahrheit. Das erste Mal, als meine Mutter im Entzug landete, dachte ich mir die Lüge aus, dass sie in einem Meeting war. Danach erzählte ich Jeremy jedes Mal, dass Mom ein Meeting hatte, wenn sie zu einem der Indianer-Casinos fuhr oder bei irgendeinem Kerl übernachtete. Jeremy fragte niemals nach, fragte sich nie, wieso einige Meetings nur ein paar Stunden dauerten und andere mehrere Tage, wunderte sich nie, dass die Meetings so plötzlich stattfanden.

»Dieses Meeting ist eins von denen, die länger dauern«, erklärte ich. »Also kannst du ein paar Tage bei mir bleiben.«

Jeremy hörte auf, den Film zu verfolgen, und fing an, seinen Blick über den Boden gleiten zu lassen, während sich eine dünne Falte über seinen Augenbrauen bildete. Ich wusste, dass er sich darauf vorbereitete, mich direkt anzusehen. Das war eine Aufgabe, die ihm nicht leichtfiel. »Vielleicht bleibe ich hier und warte auf Mom«, gab er zurück.

»Du kannst nicht hierbleiben. Ich muss morgen in meine Vorlesungen. Ich muss dich mitnehmen, in meine Wohnung.«

Meine Antwort war nicht das, was er hören wollte. Das war offensichtlich, denn er gab den Versuch auf, mir in die Augen zu sehen. Ein Hinweis darauf, dass seine Unruhe wuchs. »Vielleicht kannst du hierbleiben und morgen in deine Vorlesungen gehen.«

»Meine Vorlesungen sind am College. Das ist ein paar Stunden weg von hier. Ich kann nicht über Nacht bleiben, Kumpel.« Ich blieb ruhig, aber standhaft.

»Vielleicht bleibe ich allein hier.«

»Du kannst nicht hierbleiben, Jeremy. Mom hat gesagt, ich soll dich holen kommen. Du kannst in meiner Wohnung beim College bleiben.«

Jeremy fing an, sich mit dem linken Daumen über die Knöchel der rechten Hand zu reiben. Das tat er immer, wenn seine Welt am wenigsten Sinn ergab. »Vielleicht kann ich hier warten.«

Ich setzte mich neben ihn auf die Couch. »Das wird lustig«, versicherte ich ihm. »Nur du und ich. Ich nehme den DVD-Player mit, dann kannst du alle Filme schauen, die du möchtest. Du kannst eine ganze Tasche nur mit Filmen packen.«

Jeremy lächelte.

»Aber Mom kommt erst in ein paar Tagen zurück, also musst du mit mir in meine Wohnung kommen. In Ordnung?«

Jeremy dachte eine Weile angestrengt nach, bevor er vorschlug: »Vielleicht kann ich Fluch der Karibik mitnehmen?«

»Klar«, ermunterte ich ihn. »Das wird lustig. Wir machen ein Abenteuer daraus. Du kannst Captain Jack Sparrow sein und ich bin Will Turner. Was meinst du?«

Jeremy sah zu mir auf und ahmte seine Lieblingsszene nach. Er sagte mit Captain-Jack-Stimme: »Ihr werdet diesen Tag nie vergessen, an dem ihr Captain Jack Sparrow beinahe geschnappt hättet.« Dann lachte er, bis er ganz rote Wangen bekam, und ich lachte mit ihm, wie ich es immer tat, wenn Jeremy einen Witz machte. Ich holte einige Müllsäcke und gab Jeremy einen, den er mit DVDs und Klamotten füllen sollte. Ich achtete darauf, dass er genug einpackte, dass es für eine Weile reichen würde, nur für den Fall, dass Mom nicht auf Kaution rauskam.

Als ich aus der Einfahrt fuhr, brütete ich über meinem Stundenplan, suchte nach Lücken zwischen Arbeit und Vorlesungen, die es mir erlauben würden, ein Auge auf ihn zu haben. Als wäre das nicht kompliziert genug, stolperte mein Hirn immer wieder über Fragen, die mich vom Wesentlichen ablenkten. Wie würde Jeremy in der fremden Welt meiner Wohnung zurechtkommen? Woher sollte ich die Zeit oder das Geld nehmen, meine Mutter auf Kaution aus dem Knast zu holen? Und wie zur Hölle sollte ich der Erwachsene sein, der dieses Wrack von einer Familie über Wasser hielt?

3

Auf der Fahrt zurück nach Minneapolis-St. Paul beobachtete ich, wie die Unruhe auf der Stirn meines Bruders arbeitete. Er zog die Brauen zusammen und lockerte sie wieder. Sein Hirn verarbeitete nur langsam, was geschah. Während wir die Meilen hinter uns brachten, freundete sich Jeremy immer mehr mit unserem Abenteuer an, bis er sich schließlich mit einem tiefen Aufatmen entspannte. Das glich dem Seufzen eines Hundes, wenn die Wachsamkeit sich dem Schlaf hingab. Jeremy, der Junge, der im Stockbett immer unten schlief, der 18 Jahre lang das Zimmer, den Schrank und die Schubladen der Kommode mit mir geteilt hatte, war wieder ganz bei mir. Unser Leben lang waren wir nie länger als einen oder zwei Tage voneinander getrennt gewesen, bis vor einem Monat. Da war ich auf den Campus gezogen und hatte ihn mit einer Frau zurückgelassen, die sich mühsam im Chaos über Wasser hielt.

Solange ich mich erinnern kann, hatte meine Mutter immer wieder heftige Stimmungsschwankungen. Hatte sie gerade noch gelacht und war durchs Wohnzimmer getanzt, schleuderte sie keine Minute später Geschirr durch die Küche. Klassisches bipolares Verhalten, soweit ich weiß. Natürlich hatte es nie eine offizielle Diagnose in dieser Richtung gegeben, weil sie sich weigerte, sich testen zu lassen. Sie lebte ihr Leben lieber mit den Fingern in den Ohren, als gäbe es die Wahrheit nicht, solange niemand die Worte laut aussprach und sie sie nicht hören musste. Und in diesen Hexenkessel kam mit der Zeit immer mehr billiger Wodka hinzu, eine Form von Selbstmedikation, die zwar den inneren Schrei zu unterdrücken half, aber die von außen sichtbare Verrücktheit nur umso deutlicher hervortreten ließ. Das war in etwa die Mutter, die ich zurückgelassen hatte.

Es war ihr allerdings nicht immer so schlecht gegangen. Als wir noch klein waren, hatte sie sich mehr im Griff und eine ordentliche Wohnung, die uns die Nachbarn und das Jugendamt vom Hals hielt. Manchmal hatten wir sogar richtig Spaß. Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir zu dritt ins Technische Museum, zum Mittelaltermarkt und in den Valleyfair-Freizeitpark gegangen sind. Ich erinnere mich, wie sie mir bei den Mathe-Hausaufgaben half, als ich Schwierigkeiten hatte, zweistellige Zahlen zu multiplizieren. Gelegentlich fand ich einen Spalt in der Mauer, die zwischen uns in die Höhe gewachsen war, dann erinnerte ich mich daran, wie sie mit uns lachte, dass sie uns liebte. Wenn ich mich anstrengte, konnte ich mich an eine Mutter erinnern, die auch warm und weich sein konnte, zumindest an den Tagen, an denen die Welt sie in Ruhe ließ.

All das änderte sich an dem Tag, als mein Opa Bill starb. Eine Rastlosigkeit wie die von wilden Tieren senkte sich auf unser kleines Trio, als hätte sein Tod die einzige Verbindung gekappt, die meiner Mutter Halt gab. Nachdem er fort war, ließ sie die wenigen Hemmungen fallen, die sie besessen hatte, und ließ sich von da an nur noch von ihren Launen treiben. Sie weinte mehr, brüllte mehr und rastete aus, wann immer ihr die Welt zu viel wurde. Sie schien wild entschlossen, die scharfen Kanten ihres Lebens zu finden und sie sich zu eigen zu machen. Abgründe waren von nun an Alltag.

Schläge waren die erste Regeländerung. Das fing schrittweise an, aber irgendwann war sie so weit, dass sie mir jedes Mal eine Ohrfeige verpasste, wenn ihr Dampfkessel von einem Hirn zu kochen begann. Als ich älter wurde und mir die Schläge weniger ausmachten, zielte sie genauer und traf mich wirklich aufs Ohr. Ich hasste das. Manchmal benutzte sie Gerätschaften wie Kochlöffel oder Fliegenklatschen aus Draht, um ihre Ansicht durchzusetzen. In der siebten Klasse musste ich einen Wettkampf im Ringen sausen lassen, weil die Striemen auf meinen Oberschenkeln im Ringer-Outfit deutlich zu sehen gewesen wären. Da zwang sie mich, zu Hause zu bleiben. Jahrelang blieb Jeremy von unseren Kämpfen unbehelligt und sie ließ ihren ganzen Frust vorzugsweise an mir aus, als ob das ein tief sitzendes Bedürfnis befriedigen konnte, es mir oder dem Schicksal heimzuzahlen. Aber mit der Zeit verlor sie auch bei ihm immer häufiger die Kontrolle, schrie ihn an und verfluchte ihn, obwohl sie wusste, dass er nicht verstand, wieso sie sich so verhielt.

Und dann ging sie eines Tages zu weit.

Ich war 18 und mit der Schule fertig. Ich kam nach Hause und meine Mutter war völlig besoffen. Sie schlug Jeremy mehrfach mit einem Tennisschuh gegen den Kopf. Ich zerrte sie von ihm weg, ins Schlafzimmer, wo ich sie aufs Bett stieß. Sie stand wieder auf und versuchte mich zu schlagen. Ich packte ihre Handgelenke, drehte sie mit einem Ruck um und warf sie wieder aufs Bett. Sie versuchte noch zwei weitere Male mich anzugreifen, und beide Male endete sie mit dem Gesicht voran auf der Matratze. Nach dem letzten Versuch holte sie kurz Atem und schlief dann übergangslos ein. Am nächsten Morgen verhielt sie sich, als wäre nichts geschehen, als würde sie sich gar nicht an ihren Wahnsinn erinnern, als ob unsere kleine, kaputte Familie nicht unweigerlich vor dem Zusammenbruch stünde. Ich spielte mit, aber ich wusste, ich wusste einfach, dass sie einen Punkt erreicht hatte, an dem sie es für sich rechtfertigen konnte, Jeremy zu schlagen. Und ich wusste auch, dass es höchstwahrscheinlich noch schlimmer werden würde, wenn ich wegzog und aufs College ging. Mein Brustkorb zog sich bei diesen Gedanken zusammen. Also tat ich es meiner Mutter gleich, die nach ihrem Blackout vorgegeben hatte, dass alles in Ordnung war: Ich vergrub meine Gedanken ganz tief in mir drin, versteckte sie an einem Ort, wo sie Staub ansetzen konnten.

Als wir an jenem Abend zu meiner Wohnung fuhren, war die Welt in Ordnung. Jeremy und ich verfolgten das Baseballspiel im Radio, oder vielmehr verfolgte ich es. Jeremy hörte zu, konnte aber kaum länger als eine Minute folgen. Ich plapperte auf ihn ein, erklärte ihm Dinge über das Spiel, während wir durch den Abend fuhren, aber er reagierte nur selten. Wenn er etwas erwiderte, klang es, als hätte er gerade den Raum betreten und wüsste nicht, worum es bei der Unterhaltung eigentlich ging. Als ich die I-35 in der Nähe des Campus verließ, hatten die Twins ihre Gegner aus Cleveland ganz schön in Bedrängnis gebracht. Nachdem wir vier Homeruns in der zweiten Hälfte des vorletzten Innings geschafft hatten, führten wir 6:4 gegen die Indians. Ich stieß bei jedem Homerun einen Freudenschrei aus, Jeremy tat es mir nach und lachte über meine Begeisterung.

Als wir mein neues Zuhause erreicht hatten, führte ich Jeremy die Treppe hinauf zu meiner Bude im zweiten Stock, seine prall gefüllten Müllsäcke in der Hand. Wir sprangen gerade noch rechtzeitig durch die Tür, um den Fernseher einzuschalten und zu sehen, wie die Twins den Ball ins finale Out warfen und das Spiel damit gewannen. Ich hob die Hand, um Jeremy abzuklatschen, doch er bemerkte es gar nicht. Sein Verstand funktionierte immer nur eingleisig. Jetzt war er damit beschäftigt, die Enge meiner Wohnung zu verarbeiten. Küche und Wohnzimmer waren bloß zwei Seiten des gleichen Raums, das Schlafzimmer kaum größer als das Einzelbett darin. Ein Badezimmer gab es nicht, jedenfalls nicht innerhalb meiner Wohnung. Ich sah Jeremy zu, wie er sich in meiner Bude umschaute, den Blick immer wieder durch den Raum schweifen ließ, als könnte die nächste Runde eine verborgene Badezimmertür enthüllen.

»Vielleicht muss ich auf die Toilette«, sagte Jeremy.

»Komm mit«, lud ich ihn mit einer Handbewegung ein. »Ich zeige dir, wo.«

Mein Bad befand sich gegenüber meiner Wohnungstür, einmal über den Flur. Das Haus stammte aus den 20er-Jahren und war für eine dieser Großfamilien der Jahrhundertwende erbaut worden, die ständig Kinder bekamen, um die Kindersterblichkeitsrate auszugleichen. In den 70ern hatte man es renoviert und umgebaut. Im Erdgeschoss waren eine Dreizimmerwohnung und oben zwei Einzelapartments entstanden, von denen nur eines groß genug für ein innen liegendes Bad war. Wenn man also die enge, steile Treppe heraufkam, führte die rechte Tür zu meiner Wohnung, die linke zu meinem Bad und die Tür in der Mitte zur Wohnung eines Mädchens namens L. Nash.

Ich wühlte in einem der Müllsäcke und brachte Jeremys Zahnbürste und Zahnpasta mit Geschmack zum Vorschein, bevor ich den Flur durchquerte, während mein Bruder mir vorsichtig mit einigem Abstand folgte. »Hier ist das Bad«, erklärte ich. »Wenn du musst, schließt du einfach die Tür ab.« Ich zeigte ihm, wie man den Riegel vorschob.