Aus dem Amerikanischen von Michael Krug

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Extinction Evolution (The Extinction Cycle, #4)

erschien 2015 im Verlag CreateSpace Independent Publishing.

Copyright © 2015 by Nicholas Sansbury Smith

Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-627-4

www.Festa-Verlag.de

Für unsere verwundeten Krieger.

Stark, tapfer und heldenhaft –

danke für euren Dienst.

Intelligenz basiert darauf, wie effizient eine Spezies in den Dingen geworden ist, die sie zum Überleben braucht.

– Charles Darwin

Prolog

Marine Staff Sergeant José Garcia klappte seine Nachtsichtbrille in Position und beobachtete, wie sich das halbe Dutzend Umrisse der Flugzeugträgerkampfgruppe George Washington entfernte. Darauf war die Heimat inzwischen geschrumpft. Seit Beginn des Ausbruchs des Blutervirus vor über einem Monat. Die George Washington war die letzte intakte Kampfgruppe der Welt und bestand aus einem Flugzeugträger mit Nuklearantrieb, zwei Raketenkreuzern der Ticonderoga-Klasse, zwei mit Lenkflugkörpern bestückten Zerstörern der Arleigh-Burke-Klasse, einem Unterseeboot, einem Trockenfrachtschiff der Clark-Klasse und einem ozeanografischen Vermessungsschiff der Pathfinder-Klasse. Die Kampfgruppe stellte zugleich die beste und letzte Chance dar, die das amerikanische Militär noch hatte, um die Abartigen aufzuhalten.

Garcias Sechs-Mann-Team der Spezialeinheit Force Recon kreuzte in einem wendigen Zodiac-Schlauchboot über das kabbelige Wasser der Florida Keys. Irgendwo im Osten lauerte unter den Wellen das Unterseeboot USS Florida.

Dünne Wolkenfetzen zogen über einen Himmel, der vor funkelnden Sternen wie mit Juwelen besetzt glitzerte. Hier draußen konnte Garcia fast vergessen, dass die Welt den Bach runtergegangen war.

Als die grünstichigen Formen der Kampfgruppe George Washington am Horizont verschwanden, schlichen sich Gedanken an die Familie in Garcias Geist. Seine Frau Ashley, seine Tochter Leslie – mittlerweile tot wie die meisten Menschen auf der Welt, nur noch Ascheflocken in der Wolke des Todes, die über die Landschaft fegte.

So hätte die Scheiße nicht ablaufen sollen. Eigentlich sollte er sein sechs Monate altes Töchterchen auf der Veranda seines Landhauses in North Carolina in den Schlaf wiegen und dabei dem friedlichen Zirpen der Grillen in der Abenddämmerung lauschen. Von dem Haus hatten seine Frau und er immer geträumt. Ein Ort, den man nur über Nebenstraßen erreichen konnte. Wo einem niemand auf den Wecker ging. Garcia hatte vorgehabt, sich dort zur Ruhe zu setzen – um Kinder großzuziehen und vielleicht Pferde zu züchten.

Er umklammerte seinen schallgedämpften M4-Karabiner und knirschte mit den Zähnen. Von seiner Frau und seiner Tochter hatte er nur noch das innen an seinem Helm befestigte Foto. Geblieben war ihm lediglich ein zerplatzter Traum von dem, was hätte sein können.

Die moderne Kriegsführung hatte ihn gelehrt, dass es Grenzen gab, über die sich die meisten Menschen nicht hinwegsetzen würden. Es gab internationale Gesetze gegen Folter und Regeln für die Kriegsführung. Die Höflichkeit gebot es, dem Feind zu gestatten, nach einem Gefecht die Verwundeten vom Schlachtfeld zu bergen. Aber wann hatte sich der Feind zuletzt eine Gelegenheit entgehen lassen, amerikanische Soldaten zu töten? Im Krieg gegen die Abartigen verhielt es sich nicht anders. Garcia diente seit 20 Jahren im Korps und hatte einige schreckliche Dinge gesehen – wahr gewordene Albträume. Im Krieg gegen den Terror hatte er gegen Al-Qaida und die Taliban gekämpft, Feinde, denen jegliche Aspekte der Menschlichkeit fehlten. Er hatte geglaubt zu wissen, was Monster waren – bis er den Abartigen von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte.

Dieser neue Feind hielt sich an keinerlei Regeln, kannte keinerlei Höflichkeit. Die menschliche Rasse kämpfte mit Zähnen und Klauen um das nackte Überleben. Garcia kannte den Wert des Lebens und wusste auch, wie leicht ein Leben genommen werden konnte. Der einzige Trost in der Beklommenheit, die ihn mittlerweile Tag und Nacht begleitete, war sein Glaube an Gott. Er wusste, er würde seine Familie wiedersehen. Bis dahin war sein Plan denkbar einfach: kämpfen und einen guten Tod sterben.

Garcia litt nicht als Einziger. Jeder an Bord des Zodiac-Schlauchboots hatte jemanden verloren. Er klappte seine Nachtsichtbrille hoch, um den Akku zu schonen, und nahm sich einen Moment Zeit, um den Blick über sein Team wandern zu lassen. Tarnfarbe und Schatten verdeckten ihre Gesichter, aber Garcia brauchte ihre Züge nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie bereit für alles waren, was als Nächstes auf sie zukommen mochte.

Sergeant Rick Thomas und Corporal Jimmy Daniels saßen auf der Backbordseite, die Mündungen ihrer schallgedämpften M4-Karabiner ins Wasser gerichtet. Wie Garcia hatten sie beide olivfarbene Haut, kurz geschorenes Haar und dunkle Schnurrbärte. Insgeheim fand Garcia, dass sie mit diesen Schnurrbärten wie Pornodarsteller alter Schule aussahen. Und wie er Thomas und Daniels kannte, würden sie das wahrscheinlich als Kompliment betrachten.

Auf der Steuerbordseite befand sich Corporal Steve »Stevo« Holmes. Er war ein stiller Mann mit einem ehrlichen Gesicht, Dumbo-Ohren und einem M249 SAW mit AAC-Schalldämpfer, das er sich an die Brust gedrückt hielt. Am Heck bemannten Lance Corporal Jeff Morgan und Corporal Ryan »Tank« Talon den Motor. Morgan hatte ein schallgedämpftes MK11-Scharfschützengewehr. Er war dünn, schnell und wendig – alles Gründe, weshalb ihn Garcia als Späher eingeteilt hatte. Tank hingegen war ein massiger Afroamerikaner mit Armen wie ein Holzfäller und mächtiger Brust. Als Funker des Teams trug er einen schallgedämpften M4-Karabiner.

Dies waren die Marines des Teams mit dem Codenamen ›Abartigenjäger‹ oder kurz ›AJ‹. Ein Wissenschaftler, der zehnmal klüger als Garcia war, hatte sie scherzhaft als Monsterjäger bezeichnet, doch das gefiel Garcia nicht. Klang zu sehr nach einem billigen, kitschigen Film.

In dieser Nacht bestand ihre Mission nicht darin, Abartige auszulöschen. Sie sollten die Monster lediglich in Key West aufspüren und observieren. Die jüngsten Informationen deuteten darauf hin, dass sie sich mit besorgniserregender Geschwindigkeit veränderten, vielleicht sogar weiterentwickelten. Garcias Aufgabe bestand darin, zu bestätigen und zu dokumentieren, inwiefern sich die Kreaturen aus wissenschaftlicher Sicht anpassten.

Scheiß auf die Wissenschaft.

Ihn interessierte einen Furz, welche Mutationen die Abartigen durchmachten oder was die Laborheinis taten, um es zu verhindern. Er hatte sein eigenes Heilmittel – einen schallgedämpften M4-Karabiner mit einem Magazin voll Projektilen Kaliber 5,56 mm. Jede Patrone mit den Initialen seiner Tochter und seiner Frau graviert.

Wellen klatschten gegen die Seiten des Zodiac-Boots, als sie auf Key West zuhielten. Garcias Sinne waren in höchster Alarmbereitschaft und sondierten aufmerksam die Umgebung: den salzigen Geruch des warmen Wassers in der Brise, das Brummen des Zodiac-Motors. Unterschwellige Erregung pulsierte durch seine Adern und sorgte dafür, dass die auf seine Haut spritzende Gischt brannte.

Am Horizont gerieten die Inseln in Sicht. Garcia hob die Hand, um Tank zu bedeuten, den Motor zu drosseln. Sie kreuzten weiter, bis sie sich noch ungefähr 150 Meter von der Küste entfernt befanden.

Ihre letzten Vorbereitungen der Ausrüstung konnte man über den Geräuschen des kabbeligen Seegangs kaum hören. Garcia zerlegte seine Nachtsichtbrille und verstaute das optische Gerät in einer Tasche, die er in seinen Hauptrucksack stopfte. Dann setzte er sich auf die Steuerbordseite des Boots und zog seine Schwimmflossen an. Bevor er die Tauchmaske aufsetzte, sagte er: »Funkdisziplin, wenn wir am Ufer ankommen. Haltet unterwegs die Augen offen. Wir wissen alle, dass diese Freaks schwimmen können.«

Fünfmal wurde genickt, dann ließ sich Morgan rückwärts ins Wasser fallen. Sie folgten ihm einer nach dem anderen, Garcia tauchte als Letzter ab.

Kaum befand er sich unter Wasser, zog er seine Klinge und strampelte hinter den anderen her. Die Marines teilten sich paarweise auf und schwammen mit modifiziertem Seitenschlag, die Köpfe knapp über Wasser.

Garcia konnte einen Scheißdreck sehen. Mit der Finsternis unter Wasser setzte ein kleiner Anflug von Angst ein. Als Kind hatte er es gehasst, in trüben Teichen zu schwimmen. Als er zu den Marines gegangen war, hatte sich diese Angst größtenteils gelegt, war aber nie völlig verschwunden. Das Wissen, dass die Abartigen schwimmen konnten, half auch nicht gerade dagegen.

Gib einfach alles, was du hast, Marine.

Das Motto trug immer dazu bei, ihn daran zu erinnern, aus welchem Holz er geschnitzt war. Wie viel er wegstecken konnte. Mentale und physische Schmerzen stellten bloß vorübergehende Ablenkungen dar. Bei jedem zweiten Schwimmzug holte er Luft und schnitt mühelos durch das kabbelige Wasser. Alle 30 Meter nahm er sich eine Sekunde Zeit für einen Blick, den er über das Wasser zur Insel dahinter wandern ließ, um nach Feindkontakt Ausschau zu halten. Sie hatten die halbe Strecke zum Smathers Beach zurückgelegt, wo die Wedel von Palmen in einer leichten Brise wogten.

Als sie die Brandung erreichten, hielt Daniels Wache, während Garcia seine Nachtsichtbrille wieder auspackte, seine Ausrüstung anlegte, seine Flossen an seinem Rucksack befestigte und ein Magazin in seinen M4 einlegte. Dann wechselten sie. Die anderen Männer taten dasselbe. Garcia benutzte die Minuten, um mit dem Zielfernrohr das Terrain abzusuchen.

Das rosa Sheraton Hotel ragte über dem Nathan Lester Highway hinter dem Strand auf. Verwahrloste Autos übersäten die Straße. Sonnenschirme und Plastikstühle ragten wie nicht gezündete Raketen in jede Richtung aus dem Sand. Ein Windstoß wehte Müll über den Boden. Das Paradies hatte sich in die Hölle verwandelt.

Der Strand sah aus wie ein Kriegsgebiet.

»Sarge«, meldete sich Daniels über die Funkverbindung. »Sehen Sie das?«

Garcia folgte der Mündung von Daniels’ M4 zu zwei in der Brandung ungefähr 30 Meter rechts gestrandeten Leichen. Strähnige Ranken von Seetang umgaben die Kadaver.

»Sieht so aus, als hätten wir Tote«, brummte Garcia. Er setzte seine Nachtsichtbrille auf und klappte sie in Position. Die kleinen Kadaver gerieten grünstichig in Sicht. Bei der Erkenntnis, dass es sich um Kinder handelte, geriet seine Fassung ins Wanken.

Garcia gab ein Handzeichen und die sechs Mann des Teams wateten durch die Brandung. Kaum erreichte Garcia den losen Sand, erfasste ihn ein Luftzug, in dem ein fauliger Geruch mitschwang. Der Gestank erinnerte an eine Mischung aus Schlachthaus und einem abgelegenen Sumpf in der drückenden Hitze des Sommers. Garcia ignorierte den Mief und eilte weiter über den Strand. Seine Mannschaft verteilte sich in Gefechtsabständen.

Er stieg über eine zerbrochene Flasche Bud Light hinweg und bedeutete dreien seiner Männer, in der Nähe einer Betonmauer, die den Eingang zum Strand entlang verlief, Stellung zu beziehen. Dann folgte er Daniels und Morgan zu einer Strandbar, hinter der sie in Deckung gingen.

Obwohl Stille herrschte, konnte sich Garcia die Phantomgeräusche vorstellen, die es hier noch vor knapp mehr als einem Monat gegeben haben musste – das Grölen betrunkener Urlauber, das Dröhnen der Motoren teurer Autos, die prahlerisch über die Küstenstraße rollten. Er hatte nie verstanden, warum jemand an Orten wie diesen leben wollte. Vielleicht war er altmodisch, aber er bevorzugte es ruhig und friedlich. Was er nun hatte. Zu hören waren nur das leise Pfeifen des Windes und das Flüstern der Brandung in der Ferne.

Die Ruhe wirkte allerdings nicht beruhigend. Je länger Garcia dastand, desto stärker wurde das Gefühl, beobachtet zu werden. Als hätte ihn jemand oder etwas ins Visier genommen. Ein drittes Mal ließ er den Blick aufmerksam über den Strand, die Straße und das Sheraton wandern. Das unangenehme Gefühl verging und Garcia schaute zurück zu den Leichen.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Die Abartigen ließen selten Fleisch zurück. Nirgendwo sonst am Strand lag auch nur ein einziger verwesender Kadaver, warum also ausgerechnet hier? In der Regel nahmen die Abartigen ihre Beute mit in ihre Behausungen oder rissen sie gleich dort in Stücke, wo sie getötet wurden, ließen nur Knochen zurück. Diese Körper waren zwar verstümmelt, wiesen aber keine Anzeichen von den Bissspuren oder tiefen Schnitten auf, an deren Anblick sich Garcia gewöhnt hatte.

Er zeigte auf seine Augen, dann auf Morgan und Daniels, schließlich zu den Kindern in der Brandung. Garcia schluckte, als er den Marines zu den Leichen folgte. Bei beiden handelte es sich um Jungen im Alter von höchstens acht oder neun Jahren. Sie trugen Shorts und etwas, das nach zerfetzten Schwimmshirts aussah. Seetang hatte sich um ihre Beine verheddert und sie lagen mit den Gesichtern nach unten im nassen Sand, während die Wellen gegen ihre zierlichen Körper klatschten. Garcia klappte seine Nachtsichtbrille hoch und benutzte die Stiefelspitze, um den ersten Jungen auf die Seite zu drehen. Im Schein des Mondlichts untersuchte er den Leichnam.

»Heilige Scheiße«, flüsterte Garcia.

Der Junge war nicht menschlich. Es handelte sich um einen Abartigen mit aufgedunsenen Lippen und großen, gelben Regenbogenhäuten, wo sich unschuldige Augen hätten befinden sollen. Hervortretende blaue Venen überzogen kreuz und quer den Bauch und die Brust.

Die Erkenntnis, dass es die Kadaver von Monstern waren, erleichterte Garcia den nächsten Schritt.

Er griff nach seiner Tasche mit medizinischem Material und holte eine Ampulle daraus hervor. Die Labortypen liebten Gewebeproben. Ob frisch oder verwest war ihnen egal.

Mit dem Messer in der Hand setzte er gerade dazu an, ein Stück aus der Brust des Jungen zu schneiden, als er etwas sah, das ihn innehalten ließ.

Er beugte sich vor und drückte mit der Klinge gegen den Hals des Kindes, um etwas freizulegen, das wie Kiemen unter dem linken Ohr aussah.

»Morgan, sieh dir die Scheiße an«, flüsterte Garcia.

Der Marine eilte zu ihm und kauerte sich hin. Garcia benutzte die Handschuhe, um die rosafarbenen, fleischigen Kiemen zu spreizen. Wasser blubberte mit einem grässlichen, schmatzenden Geräusch heraus, das ihm den Magen umdrehte.

»Etikettieren und eintüten?«, fragte Morgan.

»Nein. Wir können sie nicht mitnehmen. Schieß Bilder und nimm eine Probe.« Garcia stand auf und reichte Morgan die Ampulle.

Dann lief er zu Daniels hinüber, während sich Morgan an die Arbeit machte. Die anderen drei Marines hielten die Stellung an der knapp 100 Meter entfernten Stützmauer.

Wenige Minuten später stieß Morgan mit der Probe zu ihnen. Garcia verstaute sie in seiner medizinischen Tasche und bedeutete dem Team, zur Landstraße vorzurücken. Genau dafür waren sie hier, doch sie brauchten schon mehr als ein, zwei Proben, um die hohen Tiere zufriedenzustellen. Sie brauchten mehr Dokumentation darüber, wie sich die Monster veränderten und warum.

Irgendwo am Himmel hörte er die Geräusche der Rotoren einer Drohne. Der beruhigende Klang der militärischen Muskeln Amerikas erinnerte ihn daran, dass ein Team überwachte und beobachtete, wie seine Männer vorrückten. Hilfe befand sich nur Minuten entfernt, falls sie Unterstützung bräuchten.

Natürlich konnten hier draußen Minuten den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.

Garcia setzte seinen M4-Karabiner an der Schulter an und bahnte sich den Weg über den Strand. Die anderen Marines schwärmten mit geduckten Köpfen aus. Da es in der Nähe kaum Deckung gab, wollte Garcia so schnell wie möglich weg aus diesem offenen, ungeschützten Bereich. Er folgte Morgan auf die Landstraße in Richtung eines Ford F-150 auf einer Hebebühne. Daniels ging mit Stevo und Thomas hinter einem liegen gebliebenen Transporter in Stellung. Tank kauerte sich hinter einen Mini Cooper, doch der Wagen erwies sich als kaum groß genug, um ihn zu verbergen. Sein Helm ragte über das Dach wie ein Geschützturm. Alle hielten inne, um nach Feindkontakt Ausschau zu halten und zu lauschen.

Morgan spähte zurück zu Garcia, wartete auf Befehle, doch Garcia rührte sich ein paar weitere Sekunden lang nicht. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte, obwohl ihm seine Augen und Ohren nichts Ungewöhnliches offenbarten. Keine Spur von den Abartigen.

Schließlich nickte Garcia in Morgans Richtung und gab das Zeichen zum Vorrücken. In langsamem Trab setzte sich das Team in Bewegung, geduckt und dicht bei den Fahrzeugen, um sie als Deckung zu nutzen. Schweiß lief Garcia über die Stirn, aber er wischte ihn nicht weg. Sein M4 schwenkte über das umliegende Terrain.

Mitten in der Bewegung stieg Garcia der Geruch von saurem, faulendem Obst in die Nase. Ein plötzlicher Anflug von Beklommenheit nistete sich in seiner Magengrube ein. Jäh blieb er stehen und sank auf ein Knie. Die anderen folgten seinem Beispiel.

Sie wurden definitiv beobachtet. Er konnte es fühlen.

Seine Instinkte hatten das Leben seiner Männer schon öfter gerettet, also hatte er nicht vor, sie zu ignorieren. Sie waren kompromittiert. Er konnte die Abartigen zwar nicht sehen, aber er wusste, seine Leute und er wurden von ihnen beobachtet. Zusätzliche Informationen waren nicht das Leben seiner Männer wert.

Garcia gab das Zeichen zum Rückzug. Morgan verengte die Augen, als wollte er dagegen protestieren. Doch der Moment des Zögerns verflog. Gleich darauf setzte er sich in Bewegung. Das Team schaffte nur wenige Schritte, bevor eine panische Frauenstimme die Stille der Nacht zerschmetterte.

»Hilfe!«

Morgans zur Faust geballte Hand schnellte hoch, bevor Garcia Gelegenheit hatte, die Straße abzusuchen. Alle sechs Männer kauerten sich hin und gingen hinter dem nächstbesten Fahrzeug in Deckung. Garcia spähte über die Motorhaube eines blauen BMW, bevor er zur Tür auf der Fahrerseite eines Minivans vorrückte, um besser zu sehen.

»Irgendjemand … bitte …« Die Stimme der Frau klang so rau und heiser, als wäre sie ihr gesamtes Leben lang Kettenraucherin gewesen.

Garcia krümmte sich innerlich bei ihrem Flehen um Hilfe. Sofern sie zuvor noch nicht kompromittiert gewesen waren, jetzt mit Sicherheit. Er klappte sich sein Mini-Mikrofon an die Lippen und verstieß gegen die Funkdisziplin. Verstohlenheit spielte keine Rolle mehr. Die Frau hatte sie auffliegen lassen. Jeder Abartige in Key West würde sie gehört haben. Somit hatten sie genau zwei Optionen: der Frau helfen und sich zum Zodiac zurückziehen – oder ohne sie verschwinden.

Garcia fluchte innerlich, als er seinem Team Befehle erteilte. »Daniels, hol sie. Morgan, Stevo, ihr geht mit Daniels. Tank, Thomas, ihr kümmert euch um die Sicherheit. Danach ziehen wir uns zurück.«

Die drei Marines setzten sich in geducktem Trab in Bewegung und verschwanden hinter einem Donut-Lieferwagen. Garcia rückte vor den Minivan vor und sah sie. Die Frau schleifte den Körper über den Asphalt und zog eine Blutspur hinter den verstümmelten Füßen her.

»Helft mir …«

Morgan näherte sich der Frau und kauerte sich neben ihr hin, die Waffe immer noch in die Dunkelheit gerichtet. Mit der anderen Hand legte er einen Finger an die Lippen, während sich Stevo sein SAW über den Rücken schlang und sich auf ihre andere Seite hockte. Daniels fasste nach unten, um sie mit dem linken Arm zu packen, aber die Frau schlug nach ihm, stöhnte und kreischte dann so laut, dass Garcia erneut zusammenzuckte.

Scheiße. Scheiße. Scheiße.

»Bewegung«, befahl Garcia. Die Sache gefiel ihm kein Stück. Wie zum Teufel konnte jemand hier draußen im Feindgebiet überlebt haben? Noch dazu mit Füßen, die wie Hackfleisch aussahen?

Wieder bestürmte ihn das Gefühl, beobachtet zu werden. Beinah konnte er spüren, wie sich ihm Blicke in den Rücken brannten. Seine Magensäure brodelte. Er schwenkte von der Straße weg, hob das Gewehr an und ließ die Mündung in weitem Bogen über die weißen Balkone auf der Meerseite des Sheraton Hotels wandern. Dort sichtete er am Eingang eines Zimmers im zweiten Stock eine schlanke, in Schatten gehüllte Gestalt. Gleich darauf huschte die Erscheinung durch die offene Tür hinein.

»Schwingt die Ärsche!«, brüllte Garcia. »Das ist eine verfickte Falle!« Die Worte klangen so seltsam, er konnte sie selbst kaum glauben. Abartige stellten keine Fallen.

Garcia richtete sich auf und beobachtete angespannt, wie Morgan und Stevo die Frau hochzerrten und Daniels halfen, sie sich über den Rücken zu hieven. Tank und Thomas rannten bereits auf den Strand zu. Garcia überprüfte ein letztes Mal das Sheraton, bevor er sich davon abwandte, um ebenfalls loszulaufen.

Der hohe Schrei eines Abartigen übertönte das Kreischen der verzweifelten Frau und Daniels’ fruchtlose Versuche, sie zu beruhigen. Der schrille Laut schwoll wie eine Sirene an und ab und beschleunigte Garcias Puls. Er stürmte durch das Labyrinth der Autos, warf alle paar Schritte Blicke über die Schulter zurück. Ein Aufblitzen von Bewegung auf dem Parkplatz des Sheraton ließ ihn mitten im Rennen erstarren. Die Geräusche klickender Gelenke bestätigten, dass jenes schrill kreischende Monster nicht allein war.

Die unförmigen Schatten langer Gliedmaßen und ausgemergelter Körper bewegten sich über den Beton. Einen Herzschlag später galoppierten drei Abartige aus der grünstichigen Dunkelheit hervor. Wie Kaninchen benutzten die Ungeheuer die Hinterbeine, um sich sprunghaft fortzubewegen.

Es bestand keinerlei Aussicht darauf, dass die Abartigenjäger ihnen davonlaufen konnten. Garcia stellte den Wahlschalter an seinem M4 auf Einzelschuss, zielte und eröffnete das Feuer, als die Kreaturen auf die Landstraße preschten.

Er traf eines der Monster in die Schulter und ein anderes ins Bein, bevor die drei hinter ein Fahrzeug huschten. Garcia schwenkte nach rechts und feuerte eine kurze Salve ab, die Metall durchschlug, Glas zerspringen ließ und einen der verwundeten Abartigen tötete, als er auf die Motorhaube des Wagens sprang.

Daniels schleppte sich von den Kreaturen weg, während Morgan und Stevo anhielten, um ihm Feuerschutz zu geben. Der Lärm von Stevos SAW setzte ein und Projektile Kaliber 5,56 zerfetzten die zwei verbliebenen Monster. Trotz AAC-Schalldämpfer erwiesen sich die Schüsse als laut, doch das Todeskreischen der Abartigen war noch lauter. Innerhalb von Sekunden hatte Stevo die Kreaturen erledigt. Rot spritzte es über die Straße, als ihre Körper auf dem Asphalt zusammenbrachen.

Allerdings hatten die Sterbenden lediglich die Vorhut gebildet. Die Haupthorde schwärmte aus den offenen Fenstern des Hotels hervor wie eine Armee wutentbrannter Ameisen aus einem zertretenen Haufen. Sie sprangen von Balkonen und rutschten die Seiten des Gebäudes herunter. Andere zwängten sich aus Kanalöffnungen und strömten schneller auf die Straße, als Garcia Magazine wechseln konnte.

»Lauft!«, brüllte er. »Zieht euch verflucht noch mal zurück! Tank, funk die Zentrale an!« Garcia hastete auf den Eingang zum Smathers Beach zu. Seine Lungenflügel verlangten brennend nach mehr Luft.

»Zentrale, Abartigenjäger. Wir haben eine Überlebende und werden von Abartigen verfolgt. Brauchen umgehend Evakuierung!«, funkte Tank.

Ein Knistern ertönte in Garcias Ohrstöpsel, dann zischte ihm eine Stimme ins Ohr. »Roger, Abartigenjäger, das Auge am Himmel hat euren Standort bestätigt. Delta 4, 5 und 6 sind unterwegs zu eurer Absetzstelle.«

»Verstanden«, gab Garcia zurück. Er blieb auf dem Sand stehen und winkte seinen Männern wild zu. Tank und Thomas stießen in der Nähe der Strandbar zu ihm, aber Daniels, Morgan und Stevo rannten immer noch die Landstraße entlang. Drei Dutzend Abartige hetzten hinter ihnen her, sprangen auf Autos, rasten den Bürgersteig entlang und kamen durch die zerschmetterten Schaufenster von Surfläden heraus.

Sie waren überall und Garcia beobachtete voll Grauen, wie hungrige Mäuler mit aufgedunsenen Saugnapfmündern durch die Luft schnappten. Er war an den Anblick Abartiger mit langen, muskulösen Gliedmaßen gewöhnt. Nun jedoch wirkten ihre stängelartigen Arme dürr, beinah zerbrechlich, und ihre verhornten Fingernägel waren noch länger. Sie griffen an, kletterten über Fahrzeuge hinweg und huschten auf allen vieren über die Straße. Ihre Klauen kratzten über Metall und Beton.

»Feuerschutz!«, rief Garcia. Er stellte den Wahlschalter auf Automatik, setzte die Waffe an der Schulter an, stemmte die Stiefel bestmöglich in den nachgiebigen Sand, um festen Halt zu finden, und jagte eine Salve in die anstürmende Horde. Projektile schnellten quer über den Strand auf die Flutwelle aus bleichem, von Venen durchzogenem Fleisch zu. Sein Fuß rutschte im Sand. Die Kugeln zerfetzten Autotüren und zerschmetterten Fenster, bevor er endlich ein Ziel fand. Eines der Geschosse riss die Schädeldecke einer Abartigen weg. Sie schlitterte über die Straße, während sich ihre Gehirnmasse über den Asphalt verteilte. Garcia erledigte vier weitere Kreaturen, bevor sein Magazin leer klickte. Die Monster strömten weiter auf die Straße, unerbittlich und unbeirrt. Als Daniels den Eingang zum Strand erreichte, verfolgten bereits Hunderte Abartige die Mannschaft.

»Magazinwechsel!«, rief Tank.

»Volle Deckung!«, brüllte Thomas nach hinten. Er warf eine M67-Granate über den Strand. Sie landete auf der Straße und rollte unter den Ford F150 auf der Hebebühne. Zwei qualvolle Herzschläge später stieg eine feurige Pilzwolke in die Luft auf und Granatsplitter schwirrten mitten hinein in die Meute der Ungeheuer. Die Explosion verschaffte Daniels, Stevo und Morgan die Chance, auf den Sand zu flüchten.

»Zu mir!«, brüllte Garcia. Er rannte auf die Brandung zu, hielt jedoch inne, als seine Stiefel das Wasser erreichten. Der Platz für den Rückzug war erschöpft und sie konnten es unmöglich zurück zum Zodiac schaffen. Obwohl seine Männer und er Flossen hatten und ausgebildet waren, konnten die Abartigen schneller schwimmen.

Mal ganz abgesehen davon, dass sie mittlerweile anscheinend Kiemen besaßen.

Daniels legte die Frau in den Sand und hob sein Gewehr an. Zwischen ihrem gequälten Stöhnen murmelte sie etwas.

»Wir können nicht …«, zischte sie leise. »Bitte, wir können nicht …«

»Wir verschwinden gleich von hier, Ma’am«, sagte Daniels.

»Nein«, widersprach sie mit einem weiteren Stöhnen. »Sie verstehen nicht. Sie werden uns nicht gehen lassen. Werden sie nicht!« Die Frau brach auf den Rücken zusammen. Ihre Worte wurden mit jedem Atemzug undeutlicher.

Garcia erhaschte im Mondlicht einen flüchtigen Blick auf sie. Die Frau war jung, vielleicht im Alter einer Studentin. Blonde, ungepflegte Zöpfe. Vermutlich wirklich eine Studentin, die vor dem Ausbruch die Ferien genossen hatte. Ein einziger Blick genügte, um zu erkennen, in was für einem üblen Zustand sie sich befand.

Beide Füße waren völlig zerschnitten. Das Gewebe hing nur noch lose an den Knochen. Der leere Blick ihrer jungen, blauen Augen war starr auf den Mond über ihnen geheftet. Die Marines bildeten einen Schutzkreis um sie, verteidigten ihr Leben mit dem eigenen. Das Team hatte seit einer Woche keine Überlebenden mehr gefunden. Jede noch verbliebene Seele galt als kostbar.

Verwundete Abartige wankten auf den Strand. Aus den von Granatsplittern verursachten Verletzungen strömte üppig Blut. Sie schlitterten über den Sand und verteilten sich. Ihre ausgemergelten Körper streckten sich im Mondschein. Gelbliche Augen hefteten sich auf die Abartigenjäger. Garcia musste sich in Erinnerung rufen, dass sein Team und er die Jäger sein sollten, nicht die Beute.

Daniels warf eine weitere Granate und beugte sich anschließend über die Frau, um sie mit seinem Körper abzuschirmen. Ein Geysir aus Sand und Körperteilen stob in den Himmel, dennoch stürmten die Monster weiter an. Mitten hinein in den Beschuss durch die Marines.

Zwischen dem Lärm knisterte Garcias Ohrstöpsel. Er bekam nur einen Teil des Funkspruchs mit, bevor das Chaos ihn übertönte.

»Abartigenjäger, achten Sie auf …«

In der Ferne hörte Garcia das leise, mechanische Geräusch von Helikoptern. Die beruhigenden Laute der nahenden Rettung jagten einen weiteren Adrenalinschub durch seine Adern. Er löste den Blick im Zielfernrohr nicht von der Horde, mähte mit kurzen Salven eine Kreatur nach der anderen um. Hätte er sich umgedreht, er hätte vielleicht die Abartigen bemerkt, die unter den Wellen schwammen. Vielleicht hätte er ihre fahlen, nackten Körper gesehen, als sie aus dem Meer hervorkamen und über die Brandung hinwegsprangen.

Vielleicht hätte er Daniels und die Frau retten können, bevor sie von den Ungetümen ins Wasser gezerrt wurden.

Garcias Herz überschlug sich förmlich und der Anflug von Erleichterung kippte in einen Anflug von Angst und Entsetzen. Als er schließlich begriff, was vor sich ging, war auch Morgan bereits tot, die Hälfte des Gesichts von Klauen weggefetzt. Ein Dutzend der Kreaturen hatte sie aus dem Meer von den Flanken her angegriffen, nachdem sie nahezu unsichtbar unter den Wellen geschwommen waren.

Er duckte sich, als Raketen von einem Apache-Helikopter über sie hinwegzischten. Zwei Blackhawks näherten sich, ließen mit an der Tür montierten M240-Maschinengewehren Sand aufspritzen und teilten Tod aus. Für Morgan, Daniels und die Frau kamen die Vögel eine Minute zu spät, doch für den Rest der Abartigenjäger konnten die Helikopter noch die Rettung verheißen.

Projektile schlugen rings um Garcia, Tank, Stevo und Thomas in den Sand ein. Sie kauerten sich zusammen, um den umherspritzenden Geschossen zu entgehen. Abgetrennte Gliedmaßen und Gewebebrocken prasselten um ihre Phalanx herum überall auf den Strand.

Garcia schaute über die Schulter und beobachtete, wie die Maschinen am Himmel kreisten. Grüne Leuchtspurgeschosse fetzten durch das Wasser, verwandelten die Abartigen in wenig mehr als treibendes Fleisch in den rot verfärbten Fluten.

Eine weitere Raketensalve zischte von einem Apache auf die Straße. Abartige traten rennend, kreischend und krächzend den Rückzug an.

Innerhalb von Minuten war es vorbei. Das Gebrüll der Artillerie verstummte, wurde ersetzt vom Geheul sterbender Monster. Mittlerweile glich Smathers Beach wirklich einem Schlachtfeld, übersät von rauchenden Einschlagskratern und verstümmelten, grotesken Körpern, die überall im Sand lagen.

Garcia atmete tief die nach verkohltem Fleisch stinkende Luft ein. Mit einem Klingeln in den Ohren und leicht benommen richtete er sich langsam auf und suchte das Wasser nach seinen verlorenen Männern und der Frau ab, die sie zu retten versucht hatten. Die Blackhawks kreisten weiter und feuerten auf zuckende Abartige unter ihnen, während der Apache nach Westen abdrehte, um sich um etwaige Überlebende der Kreaturen zu kümmern.

Als die Blackhawks letztlich herabsanken, um Garcia und die Überreste seines Teams zu evakuieren, konnte Garcia nur daran denken, wie falsch er gelegen hatte. Hätte er der Wissenschaft mehr Beachtung geschenkt und sich mit der Anpassung der Kreaturen beschäftigt, wären seine Männer vielleicht noch am Leben. Die Monster hatten die Kinder in der Brandung und die Frau auf der Straße als Köder benutzt. Diese Toten gingen auf Garcias Kappe. Damit würde er genauso leben müssen wie mit all den anderen.

Verfluchte Köder.