Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Last Man

erschien 2012 im Verlag Emily Bestler/Atria Books, Simon & Schuster.

Copyright © 2012 by Vince Flynn

Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Emily Bestler/Atria Books,

ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.

Titelbild: Dead Samed

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-561-1

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Für all meine Lehrer und Trainer

an der Saint Thomas Academy,

die mir beigebracht haben,

dass man im Leben nur dann erfolgreich ist,

wenn man die Messlatte höher legt, nicht niedriger.

1

Jalalabad, Afghanistan

Die vier toten Männer lagen nebeneinander auf dem Boden des Wohnzimmers im sicheren Unterschlupf. Mitch Rapp nahm sich zuerst den Linken vor. Das bärtige Gesicht, die dunklen leblosen Augen und das münzgroße Einschussloch in der Mitte der Stirn passten ins Bild. Eine einzelne Kugel, sauber platziert – genauso hätte Rapp es auch gemacht. Bei den beiden anderen Bodyguards bot sich der gleiche Anblick; inklusive der geröteten Falte zwischen den Brauen. Der vierte Afghane erzählte jedoch eine andere Geschichte: Ihm hatte man einen Schuss in den Hinterkopf verpasst. Ein Viertel seines Schädels hatte sich in einen zerfurchten Krater aus Fleisch, Blut und Knochen verwandelt. Die Austrittswunde verriet, dass der Kerl mit etwas deutlich Stärkerem als einer 9-Millimeter-Waffe erledigt worden war – vermutlich einem Kaliber 45 mit Munition, die aufplatzte und sich großzügig verteilte, um den angerichteten Schaden zu maximieren. Nichts an dieser Schweinerei ließ vermuten, dass alles in Ordnung kam, aber letzteres Detail stieß die Tür in eine besonders unangenehme Richtung auf, mit der er sich lieber nicht beschäftigt hätte.

Rapp verdrängte den beunruhigenden Gedanken für einen Moment und versuchte sich auszumalen, wie es abgelaufen sein mochte. Die ersten Anzeichen deuteten auf einen gut koordinierten Angriff hin. Alle Überwachungsvorrichtungen waren ausgeschaltet worden; Telefonleitungen, Kameras, Bewegungssensoren und selbst die Druckkissen hatten die Eindringlinge aus dem Verkehr gezogen. Die Back-up-Verbindung über die Satellitenschüssel auf dem Dach funktionierte ebenfalls nicht mehr.

Wer immer das Versteck angegriffen hatte, verfügte über Know-how und Fertigkeiten, um zuzuschlagen, ohne einen einzigen Alarm auszulösen. Das hätte unweigerlich die schnelle Eingreiftruppe auf dem weniger als zwei Kilometer entfernten Luftwaffenstützpunkt alarmiert. Laut den Experten in Langley war so etwas gar nicht möglich. Vor vier Jahren hatten sie behauptet, das Safe House sei für jede Bedrohung gerüstet, die sich die Taliban oder andere lokale Milizen einfallen ließen. Rapp machte keinen Hehl daraus, dass er diese sogenannten Experten für ahnungslose Schwachköpfe hielt. Da man solche Verstecke betreten und verlassen musste, traten automatisch Sicherheitslücken auf.

Wie bei den meisten Häusern der CIA ließ auch dieses keine Rückschlüsse auf den Verwendungszweck zu. Weder wehte eine US-Flagge im Vorgarten noch standen schneidige Marines vor dem Eingang auf dem Posten. Es handelte sich um einen Black Site – eine feindlichen Diensten unbekannte Einrichtung, in der man sich den unerfreulichen Begleiterscheinungen des Krieges gegen den Terror widmete. Bei der CIA wollte man unbedingt vermeiden, dass offizielle Aufzeichnungen über das Kommen und Gehen von Drogendealern, Bandenchefs, Waffenhändlern, lokalen Politikern, Polizeikräften und afghanischen Armeeoffizieren existierten, die hier geschmiert wurden.

Das Haus wirkte auf den ersten Blick wie einer der üblichen zweistöckigen Wohnbauten in Jalalabad. Im Inneren machten es einige Modernisierungen ziemlich einzigartig, aber von außen sah es schäbig und heruntergekommen wie alle anderen Gebäude in der Nachbarschaft aus. Die Mauer aus Betonziegeln, die das Grundstück umgab, war mit einem speziellen Harz lackiert, um zu verhindern, dass sie im Fall einer Autobombenexplosion in Millionen von Bruchstücken zerplatzte und das Gebäude zerstörte. Die primitiv erscheinende Eingangstür wurde durch eine zweieinhalb Zentimeter dicke Stahlplatte und einen massiven Rahmen verstärkt. Alle Fensterscheiben bestanden aus kugelsicherem Plexiglas und die Hochsicherheitskameras und Sensoren hatte man so geschickt getarnt, dass sie den übrigen Anwohnern gar nicht auffielen. Langley hatte sogar die seltene Vorsichtsmaßnahme getroffen, die angrenzenden Anwesen zu kaufen und Bodyguards mit ihren Familien dort einziehen zu lassen. All das galt dem Schutz eines einzigen Mannes.

Joe Rickman war eindeutig der gerissenste und begnadetste Agent, mit dem Rapp je zusammengearbeitet hatte. Sie kannten einander seit nunmehr 16 Jahren. Anfangs wusste Rapp nicht, was er von dem anderen halten sollte. Rickman fiel durch jedes Raster. Nichts an seiner äußeren Erscheinung blieb einem in Erinnerung. Mit 1,78 Metern war er weder groß noch klein. Sein unscheinbares braunes Haar passte perfekt zu den trüben braunen Augen. Die wenig markante Kinnpartie vervollständigte das rundliche Durchschnittsgesicht. In den seltenen Momenten, in denen er sprach, klang es seltsam unbeteiligt und extrem monoton – eine Stimme, die selbst das quengeligste Baby in Rekordzeit in den Schlaf lullte.

Rickmans leicht zu vergessender Anblick erlaubte es ihm, mit seiner Umgebung zu verschmelzen und von jenen, die ihn zu Gesicht bekamen, sofort wieder vergessen zu werden. Das kam ihm sehr gelegen. Sein Erfolg beruhte darauf, dass ihn Idioten unterschätzten. Er arbeitete seit 23 Jahren für die CIA, hatte das Hauptquartier in Langley gerüchteweise aber nie betreten. Vor ein paar Monaten stellte Rapp ihm die Frage, ob das Gerücht stimmte. Rickman tat es mit einem leichten Lächeln ab und meinte, man habe ihn eben nie einbestellt.

Anfangs hielt Rapp die Bemerkung für einen leichtfertig dahingesagten Anflug von Selbstironie. Erst im Nachhinein stellte er fest, dass Rickman es todernst meinte. Er gehörte zu den Leuten, die man nur in Krisenzeiten duldete – in der Regel, wenn man Krieg führte. Während der letzten acht Jahre hatte er im afghanischen Untergrund die Interessen Amerikas vertreten. Mehr als eine Milliarde Dollar in bar waren durch seine Hände gewandert. In der Regel setzte er das Geld ein, um Leute zu bestechen, damit sie sich dem richtigen Team anschlossen; allerdings investierte er auch größere Summen, um Feinde töten zu lassen und weitere unschöne Punkte abzuhaken, die in solchen Fällen nun mal zu erledigen waren. Die Leute daheim in Langley legten keinen Wert darauf, Details seiner Arbeit zu erfahren. Für sie zählten nur die Ergebnisse, die Rickman lieferte, und das tat er wie kein Zweiter. Hinter der unspektakulären Fassade lauerte ein raffinierter Verstand, der für die doppelbödige, ausgesprochen komplexe Welt der internationalen Spionage wie geschaffen zu sein schien.

Rapp hatte den Grund für den alarmierten Tonfall seiner Chefin sofort erkannt, als sie ihn vor etwa zwei Stunden anrief. Sobald die Wachposten zur Frühschicht aufgetaucht waren, hatten sie die Leichen und die Abwesenheit von Joe Rickman bemerkt und umgehend Meldung an John Hubbard gemacht, den Chef der CIA-Station in Jalalabad. Hubbard gab den Vorfall an seinen Boss in Kabul weiter und von dort aus rollte die Scheiße weiter den Berg hinauf. Rapp erhielt den Anruf von CIA-Direktorin Irene Kennedy, als er gerade in der großen Kantine der Bagram Air Force Base beim Frühstück saß. Er war erst am Abend zuvor im Rahmen einer Prio-1-Mission in Afghanistan eingetroffen, doch die lag nun zunächst mal auf Eis. Er und seine vier Teamkollegen wurden um kurz vor neun morgens in Jalalabad von Hubbard mit einem Konvoi aus drei SUVs abgeholt und zusammen mit einer Sicherheitsmannschaft zum Safe House gekarrt.

Langley wollte Rickman unbedingt finden, aber Mitch beschlich das merkwürdige Gefühl, dass sie es unter den aktuellen Umständen vorgezogen hätten, den Black-Ops-Chef in einem Leichensack geliefert zu bekommen. Seine Entführung ließ sich unmöglich geheim halten und Rickman verfügte über entschieden zu viel operatives Wissen und Einfluss, um es zu vertuschen. Bei der CIA arbeiteten mehrere Teams rund um die Uhr unter Hochdruck daran, den Schaden einzuschätzen. Wenn Rapp den Kollegen nicht innerhalb kürzester Zeit fand, flogen ihnen komplexe, teure Operationen um die Ohren und Informanten überall im Nahen Osten, in Südwestasien und darüber hinaus drohten in Leichenhallen zu landen. Früher oder später bekam sicher auch der US-Kongress Wind von der Katastrophe und forderte Antworten auf unangenehme Fragen ein. Eine Menge CIA-Leute hielten die Vorstellung, dass Rickman vom Kongress als Zeuge einbestellt wurde, sogar für noch schlimmer, als dass er im Rahmen eines Verhörs geheimdienstliche Erkenntnisse an den Feind weitergab.

Rapp verband eine lange und ziemlich komplizierte Geschichte mit Rickman. Nach anfänglicher Skepsis respektierte er den anderen mittlerweile. Gerade beschäftigte er sich mit dem Gedanken, von seinen Vorgesetzten möglicherweise aufgefordert zu werden, Rickman zu töten, bevor dieser Geheimnisverrat begehen konnte, da tauchte Hubbard bei ihm auf.

»Das ist eine ziemliche Scheiße.«

Rapp nickte. »Schlimmer kann’s kaum werden.«

Hubbard fuhr sich über die Vollglatze. »Wie zur Hölle sollen wir ihn bloß finden?«

»Im Moment habe ich keinen blassen Schimmer.« Rapp wusste, dass ihre Erfolgschancen gering waren, aber irgendwo mussten sie anfangen.

»Auf jeden Fall dürfte es ziemlich unangenehm werden. Falls du damit nicht klarkommst, Hub, schlag ich vor, dass du zur Basis zurückfährst und dich in deinem Büro einschließt.«

Hubbard betrachtete Rapp kritisch, ehe er erwiderte: »Mach dir darüber mal keine Sorgen. Ich bin seit mehr als zwei Jahren hier und hab eine Menge kranken Mist erlebt.«

Den meisten ›kranken Mist‹ hatten allerdings ihre Gegner angestellt. Diesmal mussten sie selbst die rote Linie überschreiten.

»Ich weiß«, meinte Rapp, »aber glaub mir, wenn wir ihn zurückholen wollen, müssen wir deutlich skrupelloser vorgehen, als du’s dir vermutlich vorstellen kannst. Solltest du zwischendurch Bauchschmerzen bekommen, kann ich damit leben, solange du dich einfach davonstiehlst, den Kopf in den Sand steckst und so tust, als wüsstest du von nichts.«

Hubbard reagierte mit einem verkniffenen Lächeln. »Keine Sorge, wenn’s hart auf hart kommt, schalte ich einfach auf Durchzug.«

»Gut.« Rapp hatte da so seine Zweifel.

»Und wo willst du ansetzen?«

Rapp richtete seine Aufmerksamkeit auf die vier Toten auf dem Boden. »Bei den Bodyguards.«

Hubbard hievte seinen imposanten Zweimeterkörper in Richtung der Leichen und verzog das Gesicht.

»Ich denke, die hier können wir außen vor lassen.«

Rapp konzentrierte sich auf den Mann, dessen Gesicht einem Krater glich. Natürlich roch das Ganze nach einem Insider-Job, allerdings waren die Leibwächter allesamt abgehärtete Kämpfer der Nordallianz gewesen. Möglich, dass man einen von ihnen bestochen hatte, um interne Informationen zum Überwachungssystem aus ihm herauszukitzeln; wenn auch eher unwahrscheinlich. Falls doch einer von ihnen auf die andere Seite gewechselt war, durfte man davon ausgehen, dass die Taliban – oder wer immer dieses Massaker verantwortete – den Informanten getötet hatten, sobald sie alles wussten, was sie brauchten. Das Problem an dieser Theorie bestand darin, dass für Rapp eigentlich feststand, dass die Taliban nichts mit der Sache zu tun haben konnten. Er wies auf den Toten, dem ein Teil des Gesichts fehlte: »Konzentrieren wir uns auf den hier. Ich will alles herausfinden, was es über ihn herauszufinden gibt … vor allem über seine Familie. Haben seine Eltern, seine Frau oder seine Kinder gesundheitliche Probleme? War er drogensüchtig? Solche Details brauche ich.«

»Und die anderen acht?«

Ein Team von Verhörspezialisten wurde aus Washington eingeflogen, landete allerdings frühestens in 13 Stunden.

»Wenn du genug Leute hast, kannst du sie dir schon mal vornehmen. Ich gehe allerdings davon aus, dass sie sich längst abgesetzt haben. Was würdest du tun, wenn dir jemand einen Haufen Geld in die Hand drückt, um deine Kumpel und einen Mann wie Rick zu verpfeifen?«

Rickman hieß zwar Joe mit Vornamen, doch alle, die mit ihm zusammenarbeiteten, nannten ihn nur Rick.

»Abhauen.«

»Eben.« Rapp deutete auf den Toten mit der Kaliber-45-Verletzung.

»Also konzentrier dich vorerst auf ihn.«

»Meinst du, die Taliban haben ihn umgedreht?«

Rapp ließ die Frage im Raum stehen.

»Wer hat die Leichen bewegt?«

»Wie meinst du das?«

»Die Leichen.« Rapp zeigte auf die Viererreihe. »Sie wurden nicht hier erschossen. Sieh dir das Blut auf dem Boden an. Man hat sie hergeschleift, nachdem sie bereits tot waren.«

Er wies auf die Stufen. »Einen von ihnen hat man aus dem ersten Stock hier runtergezerrt.«

Hubbard zuckte die Achseln. »Sie lagen schon so da, als ich ankam.«

»Haben die Bodyguards sie bewegt?«

»Nicht dass ich wüsste. Soll ich mich mal umhören?«

»Moment noch.« Rapp begutachtete die Vordertür, neben der einer der Leibwächter mit einem AK-47 auf dem Posten stand, das er mit beiden Händen umklammerte.

»Die Nachbarn … Haben die letzte Nacht etwas gehört oder gesehen?«

»Nein. Gar nichts.«

»Keine Anzeichen für einen Einbruch?«

»Wir haben jedenfalls nichts entdeckt. Sollte einer von diesen Typen ihnen geholfen haben, hätten sie sich ja auch nicht gewaltsam Zugang verschaffen müssen.«

»Okay, sie kamen also einfach so rein … vier Bodyguards … vier Kopfschüsse … vier Tote. Fällt dir daran nichts auf?«

Hubbard dachte kurz nach. »Keine Ahnung, worauf du hinauswillst.«

Rapp deutete nacheinander auf die Leichen. »9 Millimeter. 9 Millimeter. 9 Millimeter. 45er-Kaliber. Ich lege die Hand dafür ins Feuer, dass alle Schüsse mit schallgedämpften Waffen abgegeben wurden. Ziemlich saubere Arbeit. Gute Feuerdisziplin. Schau dir die Wände an.«

Hubbard drehte sich einmal im Kreis. »Was soll mit denen sein?«

»Siehst du was?«

»Nein.«

»Eben. Das ist nicht die Handschrift der Taliban. Vier Schüsse, vier Treffer, keine überflüssig verschwendete Munition. Die Taliban stehen drauf, alles mit Blei einzudecken. Du kennst diese Hunde. Sie wären mit drei oder vier Trucks angerückt und hätten alle drei Gebäude mit Panzerbüchsen unter Beschuss genommen. Die Wände wären durchsiebt wie Schweizer Käse. Nein, hier waren Profis am Werk.«

Mit säuerlicher Miene musste Hubbard zugeben: »Stimmt … du hast recht. Die Turbanheinis stehen auf Rumballern. Das sieht eher wie ein Einsatz von unseren Jungs aus.«

Hubbard redete weiter, doch Rapp blendete seine Stimme aus. Die Erklärung, dass amerikanische Spezialkräfte im Spiel gewesen waren, hatte er bisher gar nicht in Betracht gezogen und wollte es auch gar nicht tun. Seit er von Rickmans Verschwinden gehört hatte, rechnete er mit dem Schlimmsten. Rickman beherrschte seinen Job aus einem einfachen Grund so gut: Er war dem Feind immer fünf, zehn, 15 oder sogar 20 Schritte voraus – und allen anderen Beteiligten ebenfalls. Mehr als einmal hatte Rapp überhaupt nicht kapiert, was Rickman gerade ausheckte, weil der Kerl einfach viel zu clever war.

»Wie steht’s mit diesen Arschlöchern vom ISI?«, fragte Hubbard.

Rapp hatte auch schon an den militärischen Nachrichtendienst der pakistanischen Streitkräfte gedacht, für den sicher auch einige weniger loyale Mitarbeiter arbeiteten. Doch es gab noch weitere Verdächtige.

»Vergiss nicht die Iraner, die Russen und die Chinesen.« Er dachte an eine weitere Möglichkeit, aber die wollte er an dieser Stelle nicht erwähnen.

»Ich wette, der ISI steckt dahinter. Das passt zu dem Mist, den sie abziehen.«

Rapp fiel etwas ein. »Wo steckt eigentlich der Hund? Dieses Monster von Rottweiler, das Rick nie von der Seite weicht?«

»Ajax? Der ist vor einem Monat gestorben.«

Diese Neuigkeit überraschte Rapp. »Was war denn los mit ihm?«

»Keine Ahnung. Rick war jedenfalls ziemlich fertig. Der Köter wurde plötzlich krank, er brachte ihn zum Tierarzt nach Jalalabad und musste ihn einschläfern lassen. Er erwähnte was von Krebs oder so.«

Einer von Rapps Leuten, ein blonder, blauäugiger Mann um die 50, kam mit verstörtem Blick die Treppe herunter.

»Nicht gut.« Mehr brachte er nicht heraus.

»Bitte sag mir, dass du damit nicht den Safe meinst«, wandte sich Rapp an Scott Coleman.

»Sag mir, dass niemand den Safe angerührt hat und das Geld, die Festplatten und der Laptop noch drin sind.«

Coleman schüttelte den Kopf. »Alles weg. Sie haben ihn komplett leer geräumt.«

Rapp hatte zwar insgeheim damit gerechnet, sich jedoch an die Hoffnung geklammert, seiner Chefin gute Neuigkeiten übermitteln zu können.

»Shit, ich muss Irene anrufen und ihr das schonend beibringen.«

Rapp griff nach dem Handy, zog die Hand jedoch zurück, als am Eingang ein Tumult ausbrach.

2

Abdul Siraj Zahir bewunderte sein eigenes Spiegelbild. Mit 48 galt er in seinem Heimatland fast schon als Greis. Selbst im normalen Volk erreichten nur wenige ein solches Alter, in seinem Metier erst recht nicht. Er war ein Krieger, wie sein Vater und dessen Vater vor ihm. Sein Vater und die beiden ältesten Brüder waren von den Sowjets getötet worden, der Tod des dritten ging auf das Konto der Nordallianz. Zahir hatte aus ihren Fehlern gelernt. Afghanistan galt als brutales Land, in dem man nur den Bewohnern des eigenen Dorfes trauen konnte. Jenseits von dessen Grenzen verlagerten sich die Loyalitäten in einem komplizierten Wechselspiel ständig.

Zahir hatte gelernt, durch Brutalität und Wachsamkeit am Leben zu bleiben. Er wusste, dass ihn manche für sadistisch und paranoid hielten, aber diesen Ruf trug er wie einen Orden mit sich herum. Je mehr Menschen Angst vor ihm hatten, desto besser. In Afghanistan regierte die Angst. Schaffte man es nicht, von anderen gefürchtet zu werden, wurde man schnell zur Zielscheibe. Zahir wollte nicht so sterben wie sein Vater und seine Brüder, deshalb schürte er Ängste. Es fiel ihm zwar nicht immer leicht, aber er beherrschte es wie kaum ein Zweiter.

Zahir zupfte an der grauen Uniformjacke herum, schnippte mit den Fingern und streckte fordernd die Arme aus. Sein Untergebener eilte mit dem glänzenden schwarzen Ledergürtel herbei, fädelte ihn um die weitläufige Hüfte seines Herrn, überprüfte den korrekten Sitz und trat aus dem Weg, damit Zahir sich erneut im Spiegel anhimmeln konnte. Er lächelte die Reflexion an. Seine Waffe war eine noch nie abgefeuerte Smith & Wesson, Kaliber 40. Dass die Amerikaner sie ihm im Tausch gegen Land überlassen hatten, erschien ihm wie eine Ironie des Schicksals. Immerhin hatte er das letzte Jahrzehnt damit verbracht, Amerikaner zu töten, und nun stand er plötzlich auf deren Gehaltsliste.

Zahir fiel auf, dass etwas mit seinem Bart nicht stimmte, und er trat näher an die Scheibe heran. Seine Irritation galt einer grauen Stelle, die er beim Rasieren übersehen hatte. Er griff nach einem Behälter mit schwarzer Tinte und schob einen kleinen Pinsel hinein. Mit ein paar schnellen Strichen verschwand das Grau. Zahir lächelte dem nunmehr perfekten Bart entgegen und stemmte die Hände in die Taille. Er gefiel sich in Uniform. Sie saß um die Hüfte zwar etwas eng, aber in Afghanistan galt ein kleines Bäuchlein nicht als Makel, sondern als Zeichen von Wohlstand.

Afghanistan war ein einzigartiges Fleckchen Erde. Ein eigener Kosmos, in dem nur die Tapfersten überlebten. Historisch betrachtet hatten es die Menschen hier seit jeher schwer gehabt; glutheiße Sommer, eiskalte Winter und die zerklüftete Landschaft ließen sie im Laufe der Geschichte extrem abhärten. In den letzten drei Jahrhunderten trugen nahezu pausenlose Kampfhandlungen weiter zum Ausleseprozess bei. Körperlich stark zu sein genügte nicht. Man musste sich darauf verstehen, die ständig neu geschmiedeten Allianzen richtig zu deuten, die die Machtverhältnisse in diesem isolierten Land regelten. Erst mussten die Sowjets besänftigt werden, danach die Amerikaner und ihre pakistanischen Verbündeten, die die durchgeknallten Wahhabiten-Truppen auf der anderen Seite des Persischen Golfs unterstützten. Das wiederum mündete in einen ausgedehnten Bürgerkrieg zwischen den Taliban und ihren Feinden von der Nordallianz. Das Auftauchen der Amerikaner und ihrer Bündnispartner hatte die Taliban innerhalb weniger Monate von den Schalthebeln der Macht entfernt.

Abdul Siraj Zahir hatte an diesem Tag vor über einem Jahrzehnt in die Zukunft geblickt und fest damit gerechnet, dass die Taliban irgendwann zurückkehrten. Die Kampfstärke der amerikanischen Luftwaffe und ihre fortschrittliche Technik hatten zwar kurzzeitig Zweifel aufkommen lassen, aber Zahir kannte das afghanische Volk – und vor allem die tiefgläubigen Muslime, die als Basis der Taliban-Bewegung dienten. Sie stürzten sich lieber kollektiv in den Tod, als den Triumph des gottlosen Feindes aus dem Westen mitzuerleben. Zahir wusste außerdem, dass die Amerikaner zu viele Skrupel hatten, um die Taliban zu jagen wie die Hunde, die sie waren, und sie endgültig auszulöschen.

Deshalb spielte Zahir alle Seiten gegeneinander aus und behielt dabei stets das Schicksal seines Vaters und seiner Brüder im Hinterkopf. Er klammerte sich an diese kleine Enklave südöstlich von Jalalabad und wechselte so oft die Seiten, wie es nötig war, um zu überleben. Weder liebte noch hasste er sein Land. In solchen Begriffen dachte er nicht. Er lebte, wie die meisten seines Volks, schlicht in diesem Teil der Welt, weil er hier aufgewachsen war. Er hielt sich für eine überdurchschnittlich intelligente Person, die genau verstand, was Leute motivierte und – fast noch wichtiger – was sie fürchteten.

Trotz seines Talentes, das Fähnchen in den Wind zu hängen und Machtverschiebungen zu wittern, hatte selbst er die jüngste gewaltige Umwälzung nicht vorhergesehen. Nachdem er unzählige Amerikaner getötet und ihnen ihr Geld abgenommen hatte, waren diese Narren mit einem Jobangebot zu ihm gekommen – einem ernst gemeinten. Es ging nicht, wie so oft in der Vergangenheit, um den Tausch einer Tasche voller Geld gegen gewisse Informationen. Nein, sie wollten, dass er die Leitung der örtlichen Polizei übernahm. Zunächst hielt er es natürlich für eine Falle, aber dann erfuhr er, dass man anderen Kämpfern wie ihm ähnliche Posten angeboten hatte. Die Amerikaner selbst bezeichneten das Ganze als Reintegrationsprogramm.

Er bekleidete den Posten erst seit sechs Wochen, doch schon jetzt füllten sich seine Taschen mit Bestechungsgeldern örtlicher Geschäftsleute. Letztlich funktionierten auch die Taliban nach dem Prinzip eines Wirtschaftsunternehmens. Irgendwann würden sie wieder an die Macht gelangen, allerdings nicht innerhalb der nächsten Jahre. In der Zwischenzeit gedachte Zahir beide Seiten gegeneinander auszuspielen, indem er für die Amerikaner arbeitete und ihr Geld kassierte, während er umgekehrt die Taliban über alles auf dem Laufenden hielt, was sie wissen mussten.

Wie so oft war es am Wichtigsten, sichtbaren und unsichtbaren Feinden stets einen Schritt voraus zu sein. Zahir umgab sich seit Langem mit Menschen, die ihm blind ergeben waren. In seinem engsten Umfeld gab es nicht einen Mann, den er nicht mindestens seit zehn Jahren kannte; und jeder Einzelne stammte aus seinem Heimatdorf. Sie gehörten zu seiner Sippe; und als Gegenleistung für ihre Loyalität beschützte er ihre Familien. Zahir blieb nie länger als zwei Nächte am selben Ort und hielt trotz seines neuen Postens an dieser Gewohnheit fest. Das lag unter anderem an den vier Ehefrauen, um die er sich wechselweise kümmern musste, aber nicht nur an ihnen. Die Grundregel, an die er sich hielt, war denkbar simpel: Weiß der Feind nicht, wo du bist, kann er dich nicht töten. Die Dunkelheit bereitete ihm die größten Sorgen, weil die amerikanischen Killer dann auf die Jagd gingen. Sie nutzten ihre Nachtsichtgeräte, um Landsleute zu drangsalieren und zu meucheln.

Seit Jahren verzichtete Zahir darauf, nachts zu schlafen. Zwischen Mitternacht und Sonnenaufgang tat er kein Auge zu, weil es die bevorzugte Beutezeit der amerikanischen Hurensöhne war. Er blieb wach und auf der Hut, schlief vormittags und erledigte seine Geschäfte nachmittags und am Abend. Am heutigen Morgen lief es jedoch anders. Nach nur wenigen Stunden Schlaf hatte ihn Pamir, einer seiner wichtigsten Vertrauten, mit beunruhigenden Neuigkeiten geweckt. In den Hinterhöfen von Jalalabad kursierten Gerüchte, wonach man einen berühmt-berüchtigten Amerikaner aus seiner Festung entführt hatte. Mr. Rickman galt in der Stadt als bedeutende Persönlichkeit, die zum Reichtum vieler Freunde von Zahir beigetragen hatte. Bedauerlicherweise hatte dieser Rickman auch eine Menge Zeit und Geld auf Bemühungen verwendet, ihn töten zu lassen. Oft war er seinem Schicksal nur knapp entkommen, dem Gegner aber stets einen Schritt voraus gewesen. Nun, wo sich Zahir endlich auf einem Posten wiederfand, auf dem er selbst von dem großzügig verteilten Geld des Amerikaners hätte profitieren können, war dieser plötzlich geschnappt worden.

Zahir machte sich stumme Vorwürfe, nicht selbst auf diese Idee gekommen zu sein. Mit dem neu erworbenen Einfluss hätte er eine solche Entführung problemlos organisieren können. Da ihm jemand zuvorgekommen war, musste er seine Strategie ändern. Wenn er in den letzten 30 Jahren etwas gelernt hatte, dann, dass sich aus solchen überraschenden Entwicklungen Kapital schlagen ließ – vor allem, wenn man skrupellos vorging und kein Risiko scheute.

Beim Blick in den Spiegel sah Zahir, wie Pamir den Raum betrat. Er trug nicht die Uniform der örtlichen Polizei, sondern gehörte zu den Leuten, die lieber im Schatten lauerten.

»Was hast du rausgefunden?«

Pamir neigte den Kopf leicht zur Seite. »Es sind weitere Amerikaner im Haus eingetroffen. Angeblich wurden sie heute Morgen aus Kandahar eingeflogen und von ihrem groß gewachsenen Landsmann hingefahren.«

»Hubbard?«

»Ja.«

Zahir schnaubte abfällig. Der hiesige CIA-Vertreter war kein ernst zu nehmender Gegner. Jemanden wie ihn bekam er mit Leichtigkeit in den Griff.

»Hat Mr. Sickles sie begleitet?«

»Nein.«

Das überraschte Zahir. Er empfand die Zusammenarbeit mit Sickles als äußerst angenehm. Dass Rickman und Sickles nicht miteinander klarkamen, hatte er schnell erkannt. Sickles hatte ihn sogar explizit vor Rickman gewarnt. Er hielt ihn für unkontrollierbar. Das änderte nichts daran, dass Sickles der führende CIA-Vertreter in Kandahar war. Warum blieb er also außen vor?

»Diese amerikanischen Neuankömmlinge … Hast du eine Ahnung, wer sie sind?«

»Nein«, musste Pamir zugeben. »Ich weiß nur, dass sie zu sechst sind.«

»Begleitschutz?«

»Drei Geländewagen. Einer mit Kaliber-50-Drehringlafette, einer mit Granatenwerfer.«

»Wie viele Männer?«

»Insgesamt acht. Sie sichern beide Enden der Straße.«

Zahir schnaubte erneut. Zu wenig, um seine Polizeifahrzeuge aufzuhalten. Er könnte einfach an ihnen vorbeifahren. Er wandte sich an Raashid, seinen Lieutenant, und fragte: »Sind die Männer bereit?«

»Ja, Sir.«

»Gut. Sie sollen alle in die Fahrzeuge einsteigen. Ich will denen eine kleine Machtdemonstration liefern.«

Pamir fragte: »Und was soll ich in der Zwischenzeit machen?«

»Nach Mr. Rickman Ausschau halten und mir Bescheid geben, sobald du etwas Nützliches erfährst.«

Pamir verbeugte sich kurz und verließ den Raum. Im Vorraum des Büros beobachtete Zahir mehr als ein Dutzend Männer beim Anlegen der neuen kugelsicheren Westen und dem Check ihrer Waffen – eine freundliche Gabe der Vereinigten Staaten von Amerika.

Diese Narren!, dachte er. In den kommenden Monaten standen den Amerikanern einige unerfreuliche Lektionen bevor.

3

Eine Gruppe von Männern in Uniformen der afghanischen Polizei kämpfte sich zum Haus vor. Rapp betrachtete verärgert, wie ein Mann mit öligem, schwarzem Bart die Personenschützer der CIA beschimpfte. Der Bart war eindeutig gefärbt, wodurch er aussah wie ein Stummfilmstar, der einen Piraten mimte. Rechts von sich hörte er Hubbard leise fluchen. Das Einzige, was Rapp aufschnappte, waren die Worte: »Das ist gar nicht gut.«

»Wer ist das?«, erkundigte sich Rapp.

»Commander Abdul Siraj Zahir von der ALP.«

ALP stand für Afghanische Lokale Polizei.

»Was hat’s mit ihm auf sich?«

»Bis vor sechs Monaten kämpfte er aufseiten der Aufständischen. Eine Art Gangsterboss. Der hat so ziemlich alle Dörfer zwischen hier und der Grenze geplündert und Bewohner verschleppt. Bis diese Genies in Kabul auf die Idee kamen, ihn im Rahmen des neuen Reintegrationsprogramms zum örtlichen Polizeichef zu ernennen.«

Rapp verarbeitete das Gehörte. Jetzt wusste er, woher er den Namen Zahir kannte. Er zeichnete mit seiner Bande für eine Vielzahl von Bombenexplosionen in der Region verantwortlich.

»Stand er auf Ricks Gehaltsliste?«

»Zumindest war er ein Kandidat.«

Hubbard gab dem Posten am Eingang ein Zeichen, den Neuankömmling passieren zu lassen. »Schon okay. Er darf rein.«

Mit einem betont gelangweilten Gesichtsausdruck schob sich Zahir an den Wachen vorbei und kam zu ihnen. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf Hubbard und ließ eine Flut von Schimpfwörtern los, die wenig Zweifel daran ließen, dass er von den Fähigkeiten des CIA-Stationschefs wenig hielt – genau wie von den Amerikanern im Allgemeinen.

Rapp trat einen Schritt zurück und sezierte mit seinen dunklen Augen den komischen Typen, der sich so brüsk Zugang zum Safe House verschafft hatte. Sein pompöses Auftreten und das Herumgepoltere überraschten ihn weniger; etwas anderes dagegen schon: dass Hubbard zuließ, sich von diesem Stück menschlichen Abfalls derart auf der Nase herumtanzen zu lassen.

Rapp rief sich in Erinnerung, dass Hubbard im Gegensatz zu ihm nicht unterhalb des Radars segelte, sondern gegenüber seinem Boss in Kabul, Darren Sickles, Rechenschaft ablegen musste. Für Sickles zählte das Einhalten von Vorschriften mehr als Ergebnisse, denn er schlug sich mit einer Vielzahl von US-Behörden und Institutionen herum, auf deren Mist dieses gefühlsduselige Reintegrationsprogramm gewachsen war. Die Fußtruppen der Geheimdienste hielten ihm vor, dass er ihnen ständig in den Rücken fiel. Rapp ging davon aus, dass Zahirs geringschätzige Art und mangelnde Kooperationsbereitschaft nicht zuletzt auf Sickles’ Konto gingen.

Nachdem er Hubbard noch eine Weile zur Schnecke gemacht hatte, wandte sich der Polizeichef an Rapp und Coleman.

»Wer bitte schön sind diese beiden? Und warum hat mich niemand über die Morde informiert?«

Rapp schreckte nie vor Auseinandersetzungen zurück, also brachte er sich in Schlagdistanz zu Zahir und beäugte ihn kritisch. Obwohl der andere aussah, als hätte er die 50 längst hinter sich gelassen, war er vermutlich wie Mitch selbst erst Anfang 40. Im Gegensatz zu Rapp wirkte er jedoch pummelig und außer Form. Das kleine Bäuchlein und der lächerlich nachgefärbte Schuhcreme-Bart machten ihn nicht gerade zu einer Autoritätsperson.

Hubbard wollte gerade antworten, da schoss Rapps Arm vor und bremste ihn aus. Rapp richtete seinen durchdringenden Blick auf den Afghanen.

»Wer ich bin, geht dich einen feuchten Kehricht an. Und warum du nicht informiert wurdest, liegt auf der Hand: Du bist ein Gauner und ein Scheißkerl.«

Zahirs Gesicht rötete sich vor Zorn und er stammelte wütend drauflos.

Hubbard hob die Hand und bemühte sich um Schadensbegrenzung.

»Commander … er will damit sagen, dass wir einen ziemlich anstrengenden Morgen hatten und Sie in Kürze benachrichtigt hätten.«

Rapp fokussierte unverändert Zahir, seine Wut richtete sich jedoch gegen den Stationschef.

»Hub, halt den Mund. Das war ganz und gar nicht das, was ich sagen wollte. Vielmehr wollte ich diesem Haufen Exkremente gerade zu verstehen geben, dass ich durchschaue, was für ein Typ er ist. Sollte auch nur ein Funken Verstand in seinem aufgequollenen Körper stecken, rate ich ihm, schleunigst zu verschwinden, bevor ich ihn erschieße.«

»Wie können Sie es wagen, so mit mir zu reden?« Zahir straffte seine Haltung und tastete am schweren ledernen Seitenholster nach dem Griff seiner Waffe.

Rapp ließ die Glock 19 mit einer fließenden, tausendfach geübten Bewegung aus der rechten Innenseite der Jacke gleiten. Zahir mühte sich noch mit der Klappe des Holsters ab, da sah er sich beim Aufblicken bereits mit dem Visier von Rapps Pistole konfrontiert.

»Hör mir gut zu«, verkündete Rapp im Plauderton, »und halt die Klappe, bis ich fertig bin.«

Coleman hatte ebenfalls die Waffe gezogen, eine massive H & K .45, und verstellte mit seinem Körper gezielt den beiden Polizeibeamten im Eingangsbereich die Schussbahn. Er hatte den Sicherungshebel gelöst und forderte die zwei Männer auf Paschtu auf, ihre Hände schön dort zu behalten, wo er sie sehen konnte.

Rapp rammte Zahir den Lauf der Pistole direkt unter die Nase.

»Ich erklär dir jetzt mal, was Sache ist. Ich bin kein Duckmäuser von der Regierung oder ein Zweisternegeneral, der glaubt, seiner Karriere am besten auf die Sprünge zu helfen, indem er dir den Terroristenarsch küsst und danach von hier verschwindet, damit sich jemand anderes in 20 Jahren erneut mit euch Arschlöchern rumärgern muss. Ich bin der Typ, den man holt, wenn die Kacke so richtig am Dampfen ist. Ich bin der Typ, der Ergebnisse liefert, weil ich auf die üblichen Regeln pfeife.

Ich weiß, wer du bist. Ich weiß, dass du eine Menge GIs auf dem Gewissen hast und deine eigenen Mitbürger kidnappen und foltern ließest, um Kapital draus zu schlagen. Du bist ein Tyrann und ein mieses Dreckschwein. Leute wie dich zu töten macht mir besonders Spaß. Normalerweise mach ich mir keinen großen Kopf drum, wen ich abknalle, aber du gehörst in eine besondere Kategorie. Ich finde, ich tu der menschlichen Rasse einen Gefallen, wenn ich deinem armseligen Leben ein vorzeitiges Ende setze. Dazu kommt, dass ich heute verdammt mies gelaunt bin. Genau genommen bin ich dermaßen angepisst, dass eine Kugel in deinen Kopf vermutlich das Einzige ist, wonach es mir besser geht.«

Rapp musterte den Mann noch eine Weile, dann kippte er den Kopf in Richtung rechte Schulter, als wäre ihm gerade eine spontane Idee gekommen, wie sich das Problem noch besser lösen ließe.

»Da ich allerdings ein fairer Mann bin, gebe ich dir natürlich die Chance, mich vom Gegenteil zu überzeugen.«

Zahirs Brustkorb bebte, während er sich abmühte, nicht komplett die Beherrschung zu verlieren. Seine Augen zuckten nervös zwischen Hubbard und diesem verrückten Kerl hin und her, der ihm eine Pistole ins Gesicht drückte. Er hatte oft genug mit Mördern zu tun gehabt, um die Blender von denen unterscheiden zu können, die es ernst meinten. Mit diesem Mann war definitiv nicht zu spaßen. Als einzige Rettung fiel ihm der Amerikaner ein, der sich dafür eingesetzt hatte, Zahir trotz seiner verbrecherischen Vergangenheit eine neue Chance zu geben.

»Mr. Sickles ist ein guter Freund von mir«, brachte er heraus. »Ein sehr guter Freund sogar. Und er ist ein wichtiger Mann. Wenn er erfährt, wie Sie mit mir umgehen, wird er davon überhaupt nicht begeistert sein.«

Rapps Bauchgefühl hatte ihn nicht getrogen. Der Stationschef aus Kabul trug die Verantwortung dafür, dass dieser Gauner jetzt ein hohes Amt bei der örtlichen Polizei bekleidete.

»Darren Sickles«, verkündete Rapp mit triefendem Hohn, »mag sich selbst für wichtig halten, aber da ist er auch schon der Einzige.«

»Er ist der mächtigste CIA-Vertreter in meinem Land.«

»Er ist ein Idiot, was man allein schon daran erkennt, dass er dich in eine Polizeiuniform gesteckt hat. Also lass dir was Überzeugenderes einfallen, als mir mit Darren Sickles zu kommen.«

Zahir leckte sich über die trockenen Lippen und suchte verzweifelt nach etwas, womit er diesem Amerikaner seine abscheulichen Drohungen austreiben konnte. Nach einer unangenehm langen Pause war ihm nach wie vor nichts eingefallen. Also zwang er sich ein Lächeln aufs Gesicht und wich einen Schritt zurück.

»Nun, ich geh dann wohl besser.«

Rapp hielt ihn an der Uniform fest. »Das kommt nicht infrage. Entweder lässt du dir etwas einfallen, wie du mir nützlich sein kannst, oder ich verteile gleich den kläglichen Inhalt deines Gehirns auf dem Boden.«

Etwas wie Hoffnung blitzte in Zahirs Gesicht auf. »Nützlich?«

»Ganz genau.«

»Ich bin ein extrem wertvoller Verbündeter.«

»Lass mal hören.«

»Ich kenne viele Leute … und bekomme viel mit. Ich kann Ihnen alles besorgen, was Sie brauchen.«

Zahirs natürliche Gier meldete sich zu Wort. »Natürlich nur, wenn der Preis stimmt«, schob er hinterher.

»Wenn der Preis stimmt?« Rapp musste sich bemühen, ernst zu bleiben.

»Ich sag dir mal, wie das laufen wird, allerdings nur, wenn du mich wirklich überzeugen kannst, dich am Leben zu lassen. Du wirst keinen mickrigen Cent bekommen. Der einzige Lohn, der dir winkt, ist deine kümmerliche Existenz. Ich vermute, dass die dir ziemlich viel bedeutet.«

»Natürlich bedeutet sie mir viel, aber ich bin kein reicher Mann.«

»Hör auf, ständig von Geld zu reden. Das langweilt mich. Solltest du mich zu sehr langweilen, brech ich diese Verhandlung ab und leg dich um.«

»Sagen Sie mir, was Sie brauchen. Ich werde alles tun.«

Rapp ließ sich die Umstände von Rickmans Verschwinden durch den Kopf gehen. In Wahrheit wussten nur wenige Leute, was dieser Mann ausheckte. Okay, Kennedy und einige andere Eingeweihte kannten die grobe Marschroute, aber über die Details ließ Rickman sie im Dunkeln. Zahir mochte in der Lage sein, den Schleier ein wenig zu lüften.

»Der Mann, der hier wohnt, kennst du ihn?«

»Mr. Rickman … natürlich. Sehr gut. Wir waren gute Freunde.«

»Übertreib nicht immer so. Warum bist du heute Morgen hergekommen?«

»Ich fuhr zufällig am Haus vorbei und habe Mr. Hubbards Söldner gesehen. Sie wirkten, als wäre etwas nicht in Ordnung, also hielt ich an, um der Sache auf den Grund zu gehen.«

»Hältst du mich für bescheuert, Abdul?«

»Nein«, kam hastig die Antwort. »Auf keinen Fall.«

»Dann nenn mir den wahren Grund, warum du angehalten hast.«

Rapp beobachtete, wie der andere mit sich rang. Offenkundig suchte er nach einer Ausrede. Rapps Geduld war allmählich erschöpft, also klopfte er Zahir mit der Pistole gegen die Stirn.

»Ich weiß, dass Lügen für dich so normal ist wie Atmen.«

Er schüttelte den Kopf, als würde er ein Kind tadeln. »Dagegen musst du ankämpfen, sonst bringt es dich irgendwann noch um.«

Zahir fuhr sich mit der rechten Hand über die Stirn.

»Ich habe ein Gerücht gehört.«

»Was für ein Gerücht?«

»Dass Mr. Rickman etwas zugestoßen ist.«

»Red weiter.«

»Dass etwas sehr Schlimmes passiert ist und er vermisst wird.«

»Und wie hast du davon erfahren?«

Informationen preiszugeben, ohne dafür entlohnt zu werden, war für Zahir etwas gänzlich Ungewohntes. Deshalb log er.

»Einer meiner Männer hat beobachtet, wie Mr. Hubbard die Basis panisch verließ. Ich telefonierte ein bisschen herum und fand bald heraus, dass in Mr. Rickmans Haus etwas vorgefallen ist.«

»Du hast dir also Sorgen um Mr. Rickman gemacht?«

»Ja.«

»Und deshalb bist du hier aufgetaucht, hast dich wie ein Vollidiot benommen und Leuten gedroht?«

»Nur weil ich beunruhigt bin.«

Rapp sah auf die Uhr. Schon acht Minuten nach zehn, und die Liste der Punkte, um die er sich kümmern musste, wurde ständig länger. Zahir mochte zwar ein Gauner sein, aber einer von der nützlichen Sorte. Er traf eine Entscheidung.

»Okay, wir machen Folgendes: Du wirst für mich arbeiten. Finde raus, wer Mr. Rickman mitgenommen hat. Ich gebe dir 48 Stunden, um mir Antworten zu besorgen. Solltest du keine liefern, bist du ein toter Mann.«

Zahirs Reflex zum Rückzug schlug erneut an. Er brauchte dringend Zeit zum Nachdenken, und die hatte er nicht, solange ihm jemand mit einer Waffe im Gesicht herumfuchtelte. Allerdings hatte er kein Glück, denn der Amerikaner folgte ihm stur. Zahirs Augen bettelten Hubbard an, ihm einen Aufschub zu verschaffen. Als dieser ihn ignorierte, wechselte er erneut zu der Taktik, die er am besten beherrschte: »Wie viel werden Sie mir zahlen?«

Rapp lachte erneut, diesmal jedoch merklich unentspannter.

»Ich zahl dir einen Scheiß. Ganz im Gegenteil: Sollte ich rausfinden, dass du mich auf den Arm nimmst, schick ich dein Foto an jeden Söldner in dieser Stadt … ach was, auch gleich an alle Kollegen auf der anderen Seite der Grenze. Ich werde eine Prämie von 50.000 Dollar auf deinen Kopf aussetzen. Und vergiss die Idee, dich durchs Hügelland davonzustehlen, denn ich werde rund um die Uhr einen Scharfschützen für dich abstellen. Sobald du jemanden anrufst oder dich auch nur eine Sekunde aus der Deckung wagst, jagt der dir eine Hellfire in den Arsch und pustet dich schnurstracks in die Hölle.«

Zahir empfand diese Bedrohung als überaus real. Er hatte die CIA in der Vergangenheit benutzt, um die Reihen seiner Feinde zu dezimieren, indem er den Amerikanern ihre Aufenthaltsorte und Kontaktnummern zuspielte. Nach kurzer Überlegung entschied Zahir, dass ihm zumindest für den Moment keine andere Möglichkeit blieb, als auf die Forderungen des Amerikaners einzugehen. Langsam nickte er: »Ich werde sehen, was ich tun kann.«

»Wenn du überleben willst, reicht das nicht.« Rapp senkte die Waffe. »Gib mir dein Telefon.«

Zahir förderte sein Handy aus der Brusttasche des blau-grauen Uniformhemds zutage und reichte es Rapp, der das Gerät an Hubbard weitergab.

»Bringe es rauf zu Sid. Sie soll das Übliche damit anstellen und unsere Freunde in den Staaten darauf ansetzen. Außerdem brauch ich eine Kopie der SIM-Karte.«

Hubbard verschwand, woraufhin sich Rapp erneut an Zahir wandte.

»Wir werden jedes deiner Gespräche mithören. Solltest du etwas probieren, das uns nicht gefällt, blasen wir den Deal sofort ab.«

»Und das heißt?«

»Das heißt, dass du gegen meine Regeln verstoßen hast und stirbst.«

»Und wenn ich mich nicht darauf einlasse?«

Rapp hob die Pistole und zielte mit der Mündung auf das Gesicht seines Gegenübers.

»Ganz einfach, dann blas ich dir jetzt und hier das Gehirn weg und du darfst den vier Jungs auf dem Boden Gesellschaft leisten.«

Rapp deutete auf die toten Bodyguards.

»Sie lassen mir gar keine Wahl!«

»Lässt du den Menschen, die du aus den Dörfern entführst, um Lösegeld zu erpressen, etwa eine Wahl?«

Zahir weigerte sich rundheraus, die Frage zu beantworten.

»Mir ist klar, dass dir das nicht gefällt, Abdul. Der Grund liegt auf der Hand. Du bist ein brutaler Kerl, der es gewöhnt ist, andere Leute zu schikanieren. Du drohst ihnen und ihren Familien Gewalt an, um zu bekommen, was du willst. Nun bist du zur Abwechslung mal derjenige, der schikaniert wird, was dir überhaupt nicht gefällt. Weißt du was? Das ist mir total egal. Für mich gibt’s nur eins, was zählt. Dass du kapierst, worum es bei unserem Deal geht, und ihn akzeptierst. Haben wir uns verstanden?«

Als sich die Mündung einer Waffe in seine Stirn bohrte, wusste Zahir, dass ihm nur eine Alternative blieb: klein beizugeben. Sobald ihm dieser Verrückte nicht länger im Nacken hing, konnte er sich immer noch irgendwie aus der Sache herauswinden.

»Sie lassen mir keine andere Wahl.«

»Gut. Ich würde dir sogar die Hand geben, wenn ich nicht genau wüsste, dass du mich bei der erstbesten Gelegenheit hintergehen wirst. Ich sag dir, was wir machen …«

Rapp angelte mit der Rechten nach seinem Mobiltelefon, tippte auf dem Touchscreen herum und hielt es dann vor Zahirs Gesicht, um ihn zu fotografieren.

»Bitte recht freundlich. Das wird das Fahndungsfoto für dein 50.000-Dollar-Kopfgeld.«

»Aber Sie sagten doch …«

»Ganz ruhig. Ich weiß, was ich gesagt habe. Wenn du mir lieferst, was ich haben will, geschieht dir nichts. Mit etwas Glück bekommst du sogar die 50 Riesen. Sollte ich allerdings auch nur den geringsten Grund zur Annahme haben, dass du mich verarschst, war’s das für dich. Du hast ohnehin schon genug Feinde. Wenn noch eine Prämie obendrauf kommt, werden die Leute Schlange stehen, um dich um die Ecke zu bringen. Vermutlich ist das sogar preiswerter, als dir eine Rakete in den Arsch zu jagen.«

Hubbard kam mit Zahirs Telefon zurück und reichte es dem Polizeichef. Rapp bekam ein schmuckloses, schwarzes Klapphandy und hielt es in die Höhe.

»So werden wir uns verständigen. Wir können dich mit beiden Handys orten, aber dieses hier benutzen wir, um miteinander in Kontakt zu treten.«

Rapp gab ihm das Gerät.

»Ich werd dich in zwei Stunden anrufen. Falls du nicht abnimmst, bist du tot. Falls du rangehst und mir erzählst, du wüsstest noch nichts Neues, bist du ebenfalls tot. Verstehst du, wie das laufen wird?«

Zahir steckte das Handy zögernd ein und nickte. »Wie soll ich Sie am Telefon nennen?«

»Harry«, nannte Rapp einen seiner Tarnnamen.

»Und jetzt mach dich vom Acker und find raus, was mit Joe Rickman passiert ist.«