Cassandra Clare
Robin Wasserman

Die Wiederkehr der Engel

Aus dem Amerikanischen von

Franca Fritz und Heinrich Koop

cover

Cassandra Clare/Sarah Rees Brennan/
Maureen Johnson/Robin Wasserman

Legenden der Schattenjäger-Akademie 10

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Einzeltitel
»Angels Twice Descending« bei
Margaret K. McElderry Books, einem Imprint der Simon & Schuster
Children’s Publishing Division, New York.

Copyright © 2015 by Cassandra Claire, LLC

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2015 Arena Verlag GmbH, Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Aus dem Amerikanischen von Franca Fritz und Heinrich Koop

Cover: © Cliff Nielsen

Gesamtherstellung, Satz und ebook: KCS GmbH, Stelle | www.schriftsetzerei.de

ISBN 978-3-401-80509-2

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Mitreden unter forum.arena-verlag.de

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»Ich finde, wir sollten eine Beerdigung organisieren«, sagte George Lovelace mit zitternder Stimme. »Eine richtige Beerdigung.«

Simon Lewis unterbrach seine Arbeit und starrte seinen Mitbewohner an. George gehörte zu den Typen, die Simon früher auf den ersten Blick nicht hatte ausstehen können. Schließlich hatte er immer angenommen, dass jeder mit solch einem goldbraunen Teint, Waschbrettbauch und sexy (zumindest laut Aussage aller Mädchen und nicht gerade weniger Jungen, die Simon befragt hatte) schottischen Akzent auf jeden Fall ein Hirn von der Größe eines Rattenkötels und einen dazu passenden Charakter haben musste. Aber George widerlegte Simons Vorurteile Tag für Tag. So wie in diesem Moment, als er sich etwas aus den Augen wischte, das verdächtig nach einer Träne aussah.

»Ist das … Weinst du etwa?«, fragte Simon ungläubig.

»Selbstverständlich nicht.« George rieb sich erneut die Augen. »Na ja, zu meiner Verteidigung möchte ich darauf hinweisen, dass der Tod etwas Schreckliches ist«, fügte er hinzu und klang dabei nur leicht beschämt.

»Hier geht’s um eine tote Ratte«, stellte Simon klar. »Eine tote Ratte in deinem Schuh!« Simon und George hatten herausgefunden, dass der Schlüssel zu einer erfolgreichen Mitbewohnerbeziehung in einer klaren Arbeitsaufteilung lag. Deshalb war George dafür verantwortlich, alle Kreaturen zu entsorgen, die in den Schränken oder unter den Betten auftauchten – von Ratten über Eidechsen und Kakerlaken bis hin zu dem einen oder anderen missgebildeten Mischling dieser drei Kreaturen, dessen Vorfahren vermutlich vor langer Zeit einmal einen Hexenmeister beleidigt hatten. Simon wiederum kümmerte sich um alles, was in ihre Kleidung und Schuhe gekrochen war oder unter ihre Kopfkissen – wobei er sich mit Schaudern an den Moment erinnerte, als ihnen sehr plötzlich bewusst geworden war, dass dies ebenfalls zu den anfallenden Aufgaben zählte. »Nebenbei bemerkt, war nur einer von uns beiden früher tatsächlich mal eine Ratte – und wie dir sicher aufgefallen sein dürfte, war das nicht derjenige, der jetzt hier flennt.«

»Es könnte die letzte tote Ratte sein, die wir zusammen finden werden!«, schniefte George. »Denk mal darüber nach, Simon. Das hier könnte die letzte gemeinsame tote Ratte unseres ganzen Lebens sein.«

Simon seufzte. Da der Tag der Aszension immer näher rückte – der Tag, an dem sie offiziell vom Schüler zum ausgebildeten Schattenjäger aufstiegen –, machte George ihn neuerdings in zunehmend wehklagendem Ton auf jedes Ereignis aufmerksam, das sie vermutlich zum letzten Mal gemeinsam erlebten. Und jetzt, da der Mond über ihrer letzten Nacht an der Akademie aufging, hatte George offenbar endgültig den Verstand verloren. Gegen etwas Nostalgie hätte Simon ja gar nichts einzuwenden gehabt. Noch am Morgen, bei ihrer letzten Trainingsstunde, hatte Delaney Scarsbury ihn zum letzten Mal als spaghettiarmigen, brillenschlangigen, o-beinigen, zukünftigen Dämonensnack bezeichnet … und Simon hätte sich fast bei ihm bedankt. Später beim Abendessen hatte die letzte Schüssel Pudding mit »Fleischgeschmack« dafür gesorgt, dass alle mit einem leichten Kloß im Hals am Tisch gesessen hatten.

Aber wegen einer Ratte mit Leichenstarre und Fußpilz zu heulen? Das ging eindeutig zu weit.

Simon nahm den abgerissenen Buchdeckel seines alten Dämonologielehrbuchs und schaufelte die Ratte damit aus dem Schuh. Dann entsorgte er sie in einem der Plastikbeutel, die er sich speziell für diesen Zweck von Isabelle hatte mitbringen lassen, verschloss den Beutel mit einem Doppelknoten und warf ihn – zu den gesummten Klängen eines Trauermarschs – in den Mülleimer.

»Ruhe in Frieden, Jon Cartwright der Vierunddreißigste«, sagte George feierlich.

Simon und George hatten all ihre Ratten »Jon Cartwright« getauft – ein Umstand, der den richtigen Jon Cartwright in den Wahnsinn trieb. Beim Gedanken daran musste Simon lächeln. Er sah es förmlich vor sich: die zornrote Stirn ihres nervtötend großspurigen Klassenkameraden, die pulsierende Ader an seinem widerwärtig muskulösen Hals. Vielleicht hatte George ja doch recht.

Vielleicht würden ihnen eines Tages sogar die Ratten fehlen.

Simon hatte sich nie näher mit dem Tag seiner Abschlussfeier befasst, vom Abend davor ganz zu schweigen. Genau wie der Schulball und ähnliche Veranstaltungen war auch das ein Ritual, das für eine ganz andere Art von Schüler bestimmt zu sein schien – für all die Sportlertypen und Cheerleader, die mit Schulemblemen und Trikotnummern bestickte Kleidung trugen und die Simon hauptsächlich aus schlechten Highschool-Filmen kannte. Für Simon hatte es keine Bierpartys mit der Footballmannschaft gegeben, keine tränenreichen Abschiede oder unkluge, durch Nostalgie und billigen Fusel bedingte One-Night-Stands. Noch vor zwei Jahren wäre Simon davon ausgegangen – wenn er überhaupt darüber nachgedacht hätte –, dass er den Abend wie die meisten seiner Abende in Brooklyn verbringen würde, zusammen mit Eric und seinen anderen Kumpels im Java Jones, mit Unmengen von Kaffee und auf der ständigen Suche nach einem Namen für ihre Band. (Dead Sneaker Rat, überlegte Simon aus alter Gewohnheit. Oder Rodent Funeral.)

Natürlich hatte sich das alles zu einer Zeit abgespielt, als er noch angenommen hatte, dass auf die Highschool der Besuch eines Colleges folgen würde und danach eine Karriere als Rockstar … oder zumindest ein halbwegs cooler Job bei einer halbwegs coolen Plattenfirma. Lange, bevor er erfahren hatte, dass es Dämonen gab und ein Kriegergeschlecht mit Engelsblut und Superkräften, das geschworen hatte, diese Dämonen bis in alle Ewigkeit zu bekämpfen – und noch viel länger, bevor er sich freiwillig dafür gemeldet hatte, einer davon zu werden.

Also hockte Simon nun nicht im Java Jones, sondern im Aufenthaltsraum der Akademie, blinzelte im dämmrigen Kerzenschein, nieste den Staub von zwei Jahrhunderten aus und versuchte, den einschüchternden Blicken edler Schattenjägergenerationen auszuweichen, die aus den Bilderrahmen an den Wänden auf ihn herabstarrten. Ihre Mienen schienen ihn zu fragen: Wie bist du nur auf die Idee gekommen, dass du einer von uns sein könntest? Statt mit Eric, Matt und Kirk, die er seit dem Kindergarten kannte, saß er jetzt mit Freunden zusammen, die er vor weniger als zwei Jahren kennengelernt hatte und von denen einer eine besondere Zuneigung für Ratten hegte und ein anderer den gleichen Namen wie die Nager trug. Ihre Gespräche drehten sich nicht um ihre Zukunft als Rockstars, sondern um die Vorbereitung auf ein Leben im Kampf gegen eine Vielzahl von Unheilstiftern. Immer vorausgesetzt, dass sie die Aszension überlebten.

Wovon man nicht mit Sicherheit ausgehen konnte.

»Was glaubt ihr, wie das Ganze abläuft?«, fragte Marisol Garza, die sich in Jon Cartwrights kräftigen Arm schmiegte und fast den Eindruck erweckte, als wäre sie gern dort. »Ich meine die Zeremonie. Was müssen wir wohl dabei tun?«

Jon stammte genau wie Julie Beauvale und Beatriz Mendoza aus einer alten Schattenjägerfamilie. Deshalb war der morgige Tag für die drei nichts Besonderes – einfach nur der offizielle Abschied von ihrer Schulzeit, nach der sie nicht länger nur trainieren, sondern aktiv ins Kampfgeschehen eingreifen durften.

Aber für George, Marisol, Simon, Sunil Sadasivan und eine Handvoll anderer irdischer Schüler rückte der Tag ihrer Aszension bedrohlich näher.

Keiner von ihnen wusste, was das genau bedeutete – ganz zu schweigen davon, was es beinhaltete. Man hatte ihnen nur vage Informationen gegeben: Sie würden aus dem Engelskelch trinken. Genau wie Jonathan Shadowhunter, der Urahn dieses Kriegergeschlechts, würden sie das Blut eines Engels trinken. Wenn sie Glück hatten, würden sie dadurch auf der Stelle in echte Vollblutnephilim verwandelt werden. Sie würden sich für immer von ihrem irdischen Dasein verabschieden und zu einem furchtlosen Leben im Dienste der Menschheit verpflichten.

Wenn sie jedoch sehr viel Pech hatten, würden sie einen sofortigen und vermutlich qualvollen Tod erleiden.

Diese Aussichten sorgten nicht gerade für ausgelassene Partystimmung.

»Ich frage mich, was der Kelch enthält«, überlegte Simon laut. »Meint ihr, es handelt sich um echtes Blut?«

»Ist das nicht dein Spezialgebiet, Lewis?«, höhnte Jon.

George seufzte wehmütig. »Das letzte Mal, dass Jon einen blöden Vampirwitz reißt.«

»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, murmelte Si-
mon.

Marisol versetzte Jon einen Knuff gegen die Schulter. »Klappe, du Idiot«, sagte sie – allerdings viel zu liebevoll für Simons Geschmack.

»Ich wette, das ist nur Wasser«, wandte Beatriz ein, wie immer bemüht, Frieden zu stiften. »Wasser, von dem man dann vorgeben soll, dass es Blut sei. Oder vielleicht verwandelt der Kelch es auch in Blut oder etwas Ähnliches.«

»Es spielt keine Rolle, was der Kelch enthält«, verkündete Julie auf ihre typisch besserwisserische Weise, obwohl sie eindeutig nicht mehr wusste als die anderen. »Der Kelch ist magisch. Wahrscheinlich könnte man Ketchup daraus trinken und er würde noch immer funktionieren.«