„Noch einen Whisky.“

Epilog

Nachwort

Das Duell im O. K. Corral und die Clanton-Gang

Johnny Behan – Sheriff im Zwielicht

Der Autor

Vorschau

 

WESTERN LEGENDEN

 

 

img1.jpg

In dieser Reihe bereits erschienen:

 

9001 Werner J. Egli Delgado der Apache

9002 Alfred Wallon Keine Chance für Chato

9003 Mark L. Wood Die Gefangene der Apachen

9004 Werner J. Egli Wie Wölfe aus den Bergen

9005 Dietmar Kuegler Tombstone

Dietmar Kuegler

 

TOMBSTONE

 

Historischer Western

 

 

 

img2.png

© 2014 by BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-405-3

„Noch einen Whisky.“

„Keinen Whisky mehr, Doc. Sie hatten heute schon genug.“

„Wer sagt das?“

„Kate hat das gesagt.“

„Zum Teufel mit Kate.“ Der hagere, mittelgroße Mann mit dem schmalen, eingefallenen Gesicht, das ganz von einem sauber gestutzten, dunkelblonden Oberlippenbart und von tief liegenden düsteren Augen beherrscht wurde, lehnte sich hinter dem mit grünem Samt bespannten Tisch zurück. Er rückte den tadellos sitzenden, eleganten Prince-Albert-Rock gerade und griff mit seinen schlanken Fingern nach einem Päckchen Spielkarten, das er mit atemberaubendem Geschick auseinanderfächerte.

Der Keeper hinter der Theke grinste dünn und wandte sich den Gläsern im Spülbecken zu. Die Schwingtür des Saloons ging auf. Ein Schwall kühle Luft drang herein. Ein Mann in tropfnassem Umhang trat ein und blickte sich im leeren Schankraum um. Ohne den Keeper zu beachten, schritt er auf den Spieltisch zu, an dem der hagere Mann begann, eine Patience zu legen.

Von der Bahnstation klang das Schrillen einer Dampfpfeife. Auf der Straße polterten Wagengespanne vorbei, das Muhen von Rindern war zu vernehmen. Regenschleier klatschten an die Fenster. Dazwischen waren schemenhaft die Umrisse von Cowboys zu erkennen, die eine kleine Herde vorbeitrieben.

„Holliday?“ Der Mann nahm den Hut mit der triefenden Krempe ab, warf ihn auf einen Nebentisch und öffnete das durchnässte Cape. Er war ein mittelgroßer, bulliger Mann mit struppigem Kinnbart und buschigen Brauen, unter denen hervor er den Spieler anfunkelte.

„John Henry Holliday, Doktor der Zahnmedizin.“ Der Spieler blickte den anderen gleichgültig an. „Was kann ich für Sie tun?“

„Lassen Sie das Theater“, sagte der Mann. „Sie sind kein Doktor, auch wenn Sie sich so nennen. Sie sind ein kleiner Dentist, der bei anderen zugeschaut hat, wie man einem Menschen mit einer Zange im Mund herumfuhrwerkt. Ich kenne Sie, Holliday. Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Sie waren Gehilfe bei einem Zahnarzt in Texas. Das war alles. In Wirklichkeit sind Sie nur ein mieser kleiner Kartenhai.“

„Meinen Sie?“ Der Spieler verzog den Mund in gut gespielter Überraschung und setzte ein ironisches Lächeln auf.

„Ich bin Ferlow“, sagte der andere. „Gus Ferlows Vater.“

„Ich erinnere mich nicht.“

„Sie erinnern sich verdammt gut. Sie haben Gus Ferlow in einer einzigen Nacht zehntausend Dollar abgenommen. Geld, das er für eine Rinderherde erhalten hat, die er für mich verkaufen sollte.“

„Ich wundere mich immer, wie wenig Verantwortungsbewusstsein die Söhne reicher Männer haben“, antwortete Holliday.

„Hören Sie auf, Holliday. Sie haben Gus betrunken gemacht. Er ist jung und unerfahren. Er hat sich von Ihnen dazu bringen lassen, am Spieltisch sitzen zu bleiben, wenn erfahrenere Männer längst aufgestanden wären. Sie haben ihn ausgenommen wie eine Weihnachtsgans, und ich kann Ihnen zwei Zeugen nennen, die bestätigen werden, dass Sie Gus betrogen haben.“

Mit einer leichten Handbewegung wischte Doc Holliday die Patience beiseite. Sein hohlwangiges Gesicht war starr wie eine Maske. „Seien Sie vorsichtig, Sir“, sagte er. „Vermutlich meinen Sie die beiden Gentlemen, die ebenfalls am Tisch gesessen und versucht haben, Ihrem Sohn die Dollars abzunehmen. Sie hatten nicht so viel Erfolg damit. Ihr Sohn war ganz wild darauf, aller Welt zu beweisen, was für ein toller Bursche er ist. Er hat mit den Dollars nur so um sich geschmissen. Bevor Sie einen Mann des Falschspiels beschuldigen, sollten Sie sich über die Folgen im Klaren sein.“

„Ich glaube Ihnen kein Wort“, sagte Ferlow. „Sie sind vor zwei Jahren aus Santa Fe ausgewiesen worden, weil Sie drei Männer erschossen haben. Man hat Sie aus Las Vegas verjagt, weil Sie einen Mann umgebracht haben. Sie haben in Dallas einen Mann abgeknallt und in Fort Griffin auch. Was Sie in Dodge City getrieben haben, weiß ich nicht, aber überall, wo Sie waren, hat es Tote und Verletzte gegeben. Ich werde …“

„Sie werden jetzt gehen, Sir“, sagte Holliday. „Es ist bitter, einen Sohn zu haben, dem man seinen Besitz anvertraut und der dann ohne lange zu überlegen zehntausend Dollar in einer einzigen Nacht durchbringt. Das berechtigt Sie aber nicht, andere zu beschimpfen. Ich spiele ehrlich. Vielleicht spiele ich ein bisschen besser als andere, aber das ist kein Verbrechen. Scheren Sie sich raus, bevor ich böse werde.“

„Sie geben mir auf der Stelle das Geld zurück!“, brüllte Ferlow.

Doc Holliday lachte. Er blickte Ferlow mitten ins Gesicht. Der Rancher beugte sich vor. Da schwang der Lauf eines vernickelten 45er-Peacemaker-Colts unter dem Tisch hoch. Die große, drohende Mündung befand sich im nächsten Moment kaum eine Handbreite vom Gesicht des anderen entfernt.

„Sie sind ein Killer“, keuchte Ferlow. „Sie werden bezahlen, Holliday. Ihnen lege ich das Handwerk.“ Er drehte sich um und hastete zur Tür, den Hut in der Hand. Als er die Schwingarme aufgestoßen hatte und auf der Schwelle stand, wirbelte er unvermittelt herum. In seiner rechten Faust lag ein kurzläufiger Colt. Als er schoss, fauchte ihm bereits ein orangefarbener Blitz entgegen. Holliday hatte seine Waffe gesenkt und schoss unter der Tischplatte hindurch.

Die Kugel des Ranchers bohrte sich in eine Stuhllehne. Der Aufprall von Hollidays Projektil schleuderte ihn herum. Er kippte gegen den linken Schwingflügel der Tür und klammerte sich daran fest. Sein Gesicht war verzerrt, die Augen unnatürlich geweitet. Er ließ seine Waffe fallen, umfasste mit der linken Hand seinen rechten Oberarm und torkelte in den Regen hinaus. Die Schwingtür pendelte hin und her.

Doc Holliday erhob sich und ließ den vernickelten Revolver im Holster unter dem Prince-Albert-Rock verschwinden.

„Es war Notwehr, Doc“, sagte der Keeper. „Ich habe alles gesehen. Ich werde darauf schwören.“

„Danke, Sam.“ Holliday ging zur Theke. „Gib mir jetzt doch einen Whisky.“

Der Keeper nickte und schob dem Spieler ein Glas hin. „Nur einen kleinen, Doc.“

Holliday stürzte den Whisky hinunter. Als er sich umwandte, sah er Kate Elder in der Tür zum hinteren Teil des Saloons stehen. Von ihrer breithüftigen, üppigen Figur und dem herb geschnittenen Gesicht mit der etwas zu großen Nase ging eine ungeheure Sinnlichkeit aus. Doc Holliday schritt zu ihr hinüber. Sie lächelte ihn an, sodass der Keeper es sehen konnte, ihre Augen aber glitzerten kalt.

„Wir müssen verschwinden“, sagte sie leise.

„Es war Notwehr“, sagte Holliday. „Sam wird es dem Marshal bestätigen.“

„Wird er ihm auch bestätigen, dass du hier gesessen hast, als die Express-Kutsche vor zwei Tagen überfallen worden ist?“

„Was soll das?“

„Das erkläre ich dir später.“ Sie drehte sich um.

Holliday folgte ihr. In dem dunklen Gang zum Hof wurde er plötzlich von einem Hustenanfall geschüttelt und lehnte sich an die Wand. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. Er zückte ein Taschentuch und betupfte seine Lippen. Das Tuch hatte danach dunkle Flecke. Kate Elder stützte ihn. Sie drängte ihn zur Hoftür. Vor dem Stall sah er zwei Pferde stehen, die bereits gesattelt waren. An den Sätteln hingen prall gefüllte Reisetaschen.

„Wo warst du vor zwei Tagen?“, fragte Kate.

„Ich bin in die Berge geritten.“ Holliday atmete rasselnd. „Das weißt du. Ich habe mich schlecht gefühlt.“

„Ich weiß es. Du weißt es. Aber einige Leute haben dich aus der Stadt reiten sehen, und danach ist die Postkutsche überfallen worden. Du weißt, dass du in Santa Fe keine Freunde hast.“

„Woher hast du das erfahren?“

„Eins von den Mädchen aus Pearls Bordell hat es mir erzählt. Der Marshal will dich noch heute verhaften. Und jetzt schießt du auch noch einen Mann über den Haufen …“

„Er hat zuerst geschossen.“ Holliday blieb neben dem Pferd stehen. „Wo sollen wir hin?“

„Hast du das Telegramm vergessen, das Wyatt dir vor ein paar Tagen geschickt hat? Du hast gesagt, du wolltest dir die Sache überlegen. Jetzt gibt es nichts mehr zu überlegen.“

„Wie heißt das Nest noch, wo er jetzt steckt?“

„Tombstone“, sagte Kate.

„Grabstein.“ Doc Holliday hüstelte wieder. Er lachte gequält. „Was für ein Name! Arizona soll um diese Jahreszeit schon sehr warm sein, zumindest so tief im Süden. Vielleicht tut es mir gut.“

„Es wird uns bestimmt guttun.“ Sie blickte ihn drängend an. „Du hast Wyatt Earp und seine Brüder dort.“

„Die Brüder können mich nicht leiden“, sagte Holliday. „Aber Wyatt ist mein Freund … vielleicht mein einziger.“ Er schwang sich in den Sattel und schlug den Kragen des Prince-Albert-Rocks hoch. Kate reichte ihm einen Umhang hoch, den er sich folgsam um die Schultern legte. Er spähte durch die feinen Nieselregenschleier zu den Bergen hoch, die Santa Fe umgaben.

„Ich habe Santa Fe nie leiden können“, sagte er. „Die Leute halten sich für etwas Besseres, bloß weil der Gouverneur hier residiert. Dazu die alte Mission … Pah! Einen Dreck ist das wert. Keine Ahnung von Kultur. Keiner von denen weiß, wie es in Georgia gewesen ist. In Valdosta hat es schon ein Opernhaus gegeben, als hier noch die Sandflöhe um die Wette gesprungen sind. Dort gibt es sogar eine Holliday-Straße.“

„Ich weiß, John.“ Kate bestieg ihr Pferd. „Ich kenne die alten Geschichten. Dafür gibt dir in Santa Fe niemand auch nur einen Cent. Hier hängen sie dich auf, wenn sie dich erwischen.“

„Das ist es ja, was ich meine. Zum Teufel mit Santa Fe.“ Er trieb sein Pferd an, stülpte den Hut auf, den Kate ihm reichte und zog ihn tief in die Stirn. Sie ritten nebeneinander aus dem Hof des Saloons, schwenkten in eine Seitengasse und ritten an der Bahnstation vorbei zum Stadtrand. Auf der Main Street sahen sie den Marshal, einen bulligen, hünenhaften Mann, der von zwei Deputys begleitet wurde. Er schritt nach vorn gebeugt durch die Regenschleier zum Saloon.

Holliday wandte den Kopf und sagte: „Du hast mir schon wieder aus der Patsche geholfen.“ Er dachte daran, dass Kate Elder einmal fast eine ganze Stadt angezündet hätte, um ihn davor zu retten, von einer wütenden Menge gelyncht zu werden.

„Ich bin deine Frau“, sagte sie einfach und zog die Kapuze ihres Umhangs tiefer in ihr Gesicht. Niemand achtete auf sie, als sie an der Bahnlinie entlang nach Westen ritten und am Stadtrand nach Südwesten schwenkten. Ein kühler Wind traf sie, der ihnen den Regen entgegentrieb. Doc Holliday spürte den Schmerz in seiner kranken Lunge, einen Schmerz, der ihn seit Jahren auszehrte. Er wusste, dass er den Tod in sich trug, und manchmal wünschte er sich, dass einer der Männer, die ihren Revolver gegen ihn zogen, schneller war und besser traf als er. Dann würde alles vorbei sein, die ständigen Schmerzen, die immer schlimmer werdenden Hustenanfälle, die teuflische Schwäche und die langen Nächte, in denen die Angst und die Qual unerträglich wurden. Zugleich aber war noch immer genug Kraft in ihm, gegen den eigenen Körper anzukämpfen, um weiterleben zu können.

„Tombstone“, murmelte er leise vor sich hin. Seine Frau hörte es nicht. Das Rauschen des Regens und des Sturms waren zu laut. Es übertönte sogar den Hufschlag der beiden Pferde.

 

*

 

Er beobachtete den Cowboy schon eine Weile. Er lungerte vor dem Alhambra Saloon herum und hielt eine Flasche mit billigem Fusel in der Hand. Ab und zu setzte er sie an den Mund und nahm einen großen Schluck. Dabei schwankte er bereits so stark, dass es manchmal aussah, als würde er gleich umkippen. Immer wieder hob er den Kopf und starrte die Fenster des Alhambra Saloons an.

Irgendwann war die Flasche leer, und der Cowboy stieß einen wilden Fluch aus. „Ich bin genauso gut wie diese dreckigen Stollenkratzer aus den Silberminen!“, brüllte er.

Das war der Moment, in dem sich der hochgewachsene, schlanke, athletische Mann in Bewegung setzte. Er erreichte den Cowboy gerade, als dieser die Flasche gehoben hatte, um sie mit Schwung in eine der mit Goldbuchstaben beklebten Scheiben des Saloons zu schleudern.

„Zur Hölle mit euch!“, schrie der Cowboy. Da wurde sein rechtes Handgelenk von hinten gepackt. Er verlor die Flasche und wurde mit einer harten Drehung zu Boden geschleudert.

Obwohl er betrunken war, war er sofort wieder auf den Beinen und stand taumelnd vor dem großen Mann, dessen kantig geschnittenes Gesicht von einem wuchtigen, sichelförmigen Schnauzbart beherrscht wurde. Der Mann hatte ungewöhnlich helle, graublaue Augen, die wie geschliffene Kiesel schimmerten. Er trug einen breitrandigen, flachkronigen Hut und einen erstklassig geschnittenen, schwarzen Gehrock, auf dessen Aufschlag ein silbernes Abzeichen steckte.

„Du hast deinen Spaß gehabt“, sagte der Mann. „Jetzt habe ich ein feines Zimmer für dich, wo du bis morgen früh schlafen kannst.“

„Geh zum Teufel!“, schrie der Cowboy. „Die haben mich rausgeschmissen.“ Er deutete auf den Alhambra Saloon. „Weil ich ein Kuhtreiber bin, haben sie gesagt. Ich werde es denen zeigen, ich …“

„Du wirst gar nichts“, sagte der große Mann. „Vorwärts!“

Der Cowboy drehte sich halb und griff unvermittelt zum Revolver. Obwohl er betrunken war, war er ziemlich schnell.

Der Deputy Sheriff ließ seine Faust ansatzlos vorschnellen. Sie grub sich in den Leib des Mannes. Der krümmte sich ächzend zusammen. Der nächste Schlag traf seinen linken Kinnwinkel und riss ihn wieder hoch. Er stürzte rücklings in den Staub. Der Deputy bückte sich und nahm den Revolver an sich.

Der Cowboy hatte die Hände auf den Leib gepresst, wälzte sich herum und übergab sich mit gequältem Keuchen. Als er sich mühsam auf die Knie aufrichtete, packte ihn der hochgewachsene Mann am Kragen, zerrte ihn hoch und stieß ihn vor sich her, ohne sich um die neugierigen, hier und da auch feindseligen Blicke der Zuschauer zu kümmern, die sich auf den Stepwalks angesammelt hatten.

Er erreichte das Office des County Sheriffs, trieb den Cowboy, der jetzt leise stöhnte, hinein, brachte ihn in den Zellentrakt und schloss eine der Gittertüren hinter ihm. Dann kehrte er ins Office zurück, wo ein gedrungener, kantiger Mann hinter dem Schreibtisch saß.

„Ein betrunkener Randalierer“, sagte der große Mann und setzte sich an einen anderen Tisch, zog ein Formular heran und füllte es mit der Tintenfeder aus.

„Mir fällt auf, dass es immer Cowboys oder Ranchhelfer sind, die Sie als Randalierer hier anschleppen, Wyatt“, sagte der gedrungene Mann.

„Er hat versucht, eine leere Whiskyflasche in ein Fenster des Alhambra Saloons zu werfen.“ Wyatt Earp blickte den Sheriff ruhig an.

„Welch ein Zufall“, sagte Charles Shibell. „Ich wollte ohnehin mit Ihnen darüber reden. Stimmt es, dass Sie einen Anteil am Alhambra Saloon gekauft haben?“

„Die Hälfte, um genau zu sein“, erwiderte Earp.

„Sie vernachlässigen die anderen Etablissements von Tombstone“, sagte Shibell. „Jeder in der Stadt hat Anspruch auf unseren Schutz, nicht nur Ihre eigenen Besitzungen.“

„Wollen Sie damit sagen, dass ich meine Pflicht nicht erfülle?“

„Ich will damit sagen, dass ich in letzter Zeit den Eindruck habe, dass Sie es vor allem auf Cowboys und Farmhelfer abgesehen haben.“

„Sie wissen, dass das nicht stimmt“, sagte Earp. „Ich trage nicht zum ersten Mal den Stern. Ich weiß sehr wohl zwischen meinem Amt und meinen privaten Geschäften zu unterscheiden. Oder wollen Sie mir verbieten, mein Geld gewinnbringend anzulegen?“

„Es macht keinen guten Eindruck, wenn der Deputy Sheriff Mitinhaber einer der größten Spielhöllen der Stadt ist.“

„Der Alhambra Saloon ist ein erstklassig geführtes, seriöses Geschäftsunternehmen“, antwortete Wyatt Earp.

„Mag sein. Aber Sie sind nicht mehr unparteiisch. Die Situation in der Stadt erfordert es, dass wir so neutral wie möglich sind.“

„Wollen Sie mich entlassen?“, fragte Wyatt Earp scharf.

Die Office-Tür ging auf. Ein mittelgroßer, schlanker Mann mit sorgfältig gestutztem Kinnbart trat ein. Er warf Earp einen schiefen Blick zu und sagte: „Es soll Ärger vor dem Alhambra Saloon gegeben haben.“

„Wir reden gerade darüber, Behan“, sagte Shibell. Der Sheriff wich Wyatt Earps Blicken aus.

„Die Leute reden darüber, dass sich der Alhambra Saloon einen eigenen Deputy Sheriff leistet“, sagte Johnny Behan.

„Wer sagt das?“, fragte Wyatt Earp und richtete sich auf. „Heraus mit der Sprache, Behan!“

„Wollen Sie mich bedrohen, Earp?“ Behan saß wie ein kleiner, gespreizter Hahn auf seinem Stuhl. Er war blass, in seinen Augen flackerte es. Ihm war anzusehen, dass ihm nicht wohl in seiner Haut war, aber er versuchte, es nicht zu zeigen, was nicht gelang. „Ich weiß, dass Sie einen gewissen Ruf haben.“ Seine Blicke glitten immer wieder zu dem blank gewetzten Griff des schweren 45er-Revolvers im rechten Holster Wyatt Earps.

„Was für einen Ruf, Behan? Na los, warum reden Sie immer nur in Andeutungen?“

„Ich lasse mich nicht provozieren!“

„Zu was? Dass Sie Ihren Revolver ziehen?“ Earp lachte. „Da müssten Sie erst mal eine Stunde üben gehen. Oder haben Sie Angst, dass ich auf einen Mann schieße, der nicht mal ein Scheunentor trifft? Für wen halten Sie mich?“

„Wyatt!“ Shibell erhob sich ebenfalls. „Johnny Behan wird voraussichtlich mein Nachfolger sein. Sie können nicht so mit ihm reden.“

„Ich habe verstanden.“ Wyatt Earp nahm das Abzeichen ab und warf es auf den Schreibtisch. „Viel Glück, Behan. Wenn Sie wirklich Sheriff vom Cochise County werden, sollten Sie vielleicht doch ab und zu mit dem Revolver üben.“ Er ging zur Tür. „Ach so, Behan, stimmt es, dass Sie Anteile am Dexter-Corral-Mietstall gekauft haben? Anscheinend machen auch andere Leute Geschäfte in Tombstone.“

„Moment, Wyatt!“, rief Shibell. „So habe ich das nicht gemeint. Was haben Sie jetzt vor?“

„Das, was jeder anständige Bürger tut“, sagte Earp. „Ich werde mir einen neuen Job suchen.“ Er schloss die Tür hinter sich.

Behan sprang auf, trat ans Fenster und blickte der hohen Gestalt nach, die die Straße hinunter schritt. „Er ist ein Mann der Minenbesitzer“, sagte er. „Ich weiß es genau. John Clum und seine Freunde haben ihn und seine Brüder hierhergeholt. Die Minenbesitzer haben ihre Beziehungen spielen lassen, um dafür zu sorgen, dass Virgil Earp Deputy US-Marshal wird. Jetzt ist er auch noch City Marshal von Tombstone. Er ist mächtiger als jeder Sheriff. Die Earps sind Revolvermänner, Shibell. Wenn sie hierbleiben, bedeutet das Krieg!“

„Was glauben Sie, weshalb ich Wyatt den Deputy-Stern angeheftet hatte, Johnny?“ Shibell seufzte und ließ sich wieder am Schreibtisch nieder. „Um ihn unter Kontrolle zu halten. Ich hätte ihn nicht entlassen, aber ich vermute, dass er schon eine Weile darauf gewartet hat, sich absetzen zu können.“

„Am Tag meiner Wahl zum Sheriff des Cochise County hätte ich ihn ohnehin rausgeworfen“, sagte Behan.

„Wenn Sie in Earp nur einen Revolvermann sehen, irren Sie sich“, sagte Shibell. „Der Mann ist viel gefährlicher. Er ist klug, und er hat gute Beziehungen.“

„Wenn wir nicht aufpassen, zerquetschen die Minenbesitzer diese Stadt wie einen faulen Apfel“, sagte Johnny Behan. „Wir müssen die Viehzüchter und Farmer unterstützen. Von ihnen muss Tombstone noch leben, wenn es kein Silber mehr hier gibt.“

„Ich bin froh, dass ich diese Probleme bald alle los bin“, sagte Shibell. „Der Sheriffstern wird mit jedem Tag schwerer. Ich hoffe, Sie überheben sich nicht daran.“

Behan antwortete nicht.

 

*

 

Mattie stand am Fenster, als Wyatt Earp das kleine Haus betrat, das er gemietet hatte. Er verharrte auf der Türschwelle des Raums.

„Du hast wieder getrunken“, sagte Earp. Sein Gesicht wirkte starr. Er bewegte sich mit der Sicherheit eines Jägers durch den Raum, hob die Lampenschirme an, zog die Sofakissen zur Seite und fand die halb volle Flasche Bourbon hinter dem Kaminholz. Er öffnete das Fenster und schüttete den Inhalt hinaus. Mattie sah ihm mit glasigen Augen zu. Unvermittelt stieß sie einen Schrei aus und hob die Fäuste, um auf ihn einzuschlagen. Er wich blitzschnell aus, packte ihre Handgelenke und warf sie auf die Couch, wo sie hemmungslos schluchzend liegen blieb. Er stand vor ihr und wartete, bis der krampfartige Anfall vorbei war.

„Ich habe Shibell den Stern zurückgegeben“, sagte Earp, als sie mit verweinten Augen hochschaute.

„Damit du noch mehr Zeit für dieses … Flittchen hast? Wie heißt sie gleich noch? Josephine Marcus? Wie nennst du sie, wenn du bei ihr im Bett liegst? Josie?“

„Du bist betrunken“, erwiderte er.

„Ja, ich bin betrunken!“, schrie sie. „Weil ich es nüchtern nicht mehr ertrage. Seit wir in Tombstone sind, d…“

„Du irrst dich“, unterbrach er sie. „Es hat schon nicht mehr gestimmt, als wir noch in Fort Griffin waren.“

„Weil du nur immer deine Geschäfte im Kopf hast.“ Ihre Stimme klang jetzt jämmerlich. „Ich kann es schon nicht mehr hören. Dies ist ein gutes Geschäft, das bringt eine Menge Dollars. Wir brauchen Einfluss in den Stadtverwaltungen und in den Zeitungen. Und dazu noch deine verdammten Nutten!“ Jetzt brüllte sie wieder.

„Vergiss nicht, wo du herstammst“, sagte Wyatt Earp kalt. „Ich habe dich aus dem Dreck geholt. Du bist jetzt nicht mehr die Hure Mattie Blaylock, sondern Mistress Earp, die ehrbare Ehefrau eines angesehenen Geschäftsmanns.“

„Dass ich nicht lache! Angesehener Geschäftsmann … Was für Geschäfte betreibst du denn? Glücksspiel, Handel mit Fusel, Bordelle.“

„Silberminen“, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. „Wir haben uns in Tombstone beträchtlich verbessert. Und es wird noch besser werden.“ Er beugte sich drohend vor. „Benimm dich entsprechend. Wenn ich dich noch einmal mit einer Flasche erwische, prügel ich dich windelweich!“

Sie starrte ihn aus wässrigen Augen an, aber ihre Stimme klang klar, als sie sagte: „Und wenn ich dich mit Josie Marcus erwische, kratze ich ihr auf offener Straße die Augen aus.“

„Frag dich selbst, warum ich manchmal freundlichere Gesellschaft suche, als ich sie hier finde“, sagte Wyatt Earp.

Er hörte die Haustür und warf einen Blick in den Gang. Ein mittelgroßer, bulliger Mann mit mächtigem Seehundsbart hatte das Haus betreten. Er trug ein wappenförmiges Abzeichen aus schwerem Silber auf seinem Rockaufschlag. Seine Krawatte war tadellos gebunden.

„Was ist bei Shibell passiert?“, fragte Virgil Earp. Er nahm den Hut ab und trat ins Wohnzimmer. „Guten Tag, Mattie.“

Sie antwortete nicht. Wyatt Earp nickte ihm zu und verließ das Haus durch die Hintertür. Er blieb im Hof stehen und blinzelte in die brennende Sonne. Über den Bretterzaun hinweg konnte er in das weite, ausgedörrte Land sehen, das sich bis zur Mexiko-Grenze erstreckte.

„Sie hat wieder getrunken“, sagte er, als sein Bruder ihm gefolgt war. „Sie wird sich zu Tode saufen, wenn das so weitergeht. Ich habe es satt.“

„Glaubst du, dass sie uns Ärger bereiten wird?“

„Wenn sie könnte … Andererseits weiß sie, dass sie ohne mich verhungert oder zurück in ein Bordell muss.“ Earp schüttelte sich, als streife er alle Probleme wie lästige Wassertropfen von sich ab. „Ich habe den Stern hingeschmissen. Shibell hat es darauf angelegt. Wie es aussieht, ist in spätestens einem halben Jahr Johnny Behan neuer Sheriff des Cochise County, dann hätte ich ohnehin nicht bleiben können.“

„Du hättest trotzdem bleiben sollen“, sagte Virgil. „Wir müssen unsere Finger überall drin haben, auch wenn weder Shibell noch Behan viel zu sagen haben. Sheriff zu sein, ist im Cochise County ein schöner Titel, aber die Musik wird nur in Tombstone gemacht, und hier bin ich der Chef der Stadtpolizei. Kein Sheriff kann mir reinreden. Und ich bin Deputy US-Marshal und zuständig für alle Verstöße gegen das Bundesgesetz.“ Er schnippte mit den Fingern und grinste unter seinem Walrossbart hervor. „In einem Territorium der USA ist ein Sheriff nicht viel wert. Der US-Marshal ist alles. Ich werde dich zum Assistant Marshal ernennen, dann platzt Behan vor Wut in tausend Stücke.“