Cover

Über dieses Buch:

Sarah hat Appetit – auf gutes Essen, aber auch auf ein Abenteuer. Darum kündigt die erfolgreiche Werbetexterin ihren Job in Wien und beginnt ein Praktikum bei den Schweizer Käsemachern von Jumi – die sie schnurstracks nach London schicken, um dort ausgefallene Gaumenfreuden zu verkaufen. Klingt verrückt? Ist es auch. Und noch dazu aufregend, verlockend köstlich und immer wieder unerwartet!

Eine Frau zieht aus, um das Genießen zu lernen: Begleiten Sie Sarah auf ihrer Reise, schnuppern Sie in Töpfe, Restaurantküchen und Reifekeller und entdecken Sie, wie spannend gutes Essen sein kann, wenn man sich ganz darauf einlässt!

Über die Autorin:

Sarah Krobath, geboren 1987 in Graz, kündigte nach vier Jahren bei internationalen Werbeagenturen ihren Job als Werbetexterin, um in der Schweiz Käse zu machen und diesen in London zu vertreiben. Unter dem Motto „Man kann nicht die ganze Zeit essen, aber darüber nachdenken.“ schreibt sie als Sarah Satt auf dem gleichnamigen Blog über die schönste Hauptsache der Welt: gutes Essen. Darum dreht sich auch alles in dem Masterlehrgang Food Culture and Communications, den die Steirerin im November 2013 an der Universität der Gastronomischen Wissenschaften im italienischen Piemont abgeschlossen hat. Seitdem engagiert sich die freie Werbetexterin mit ihrer Firma SATT GETEXTET für bessere Kommunikation für gute Lebensmittel.

Lernen Sie Sarah Krobath im Internet noch besser kennen.

Die Website der Autorin: www.sattgetextet.com

Der Blog der Autorin: www.sarahsatt.com

Die Autorin bei Facebook: www.facebook.com/sarahsattblog

Die Autorin auf Twitter: www.twitter.com/FrauSatt

***

Originalausgabe Mai 2014

Copyright © 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Christina Seitz

Titelbildgestaltung: Heinz Ploder, Wien.

ISBN 978-3-95520-226-2

***

Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren Lesestoff aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Heidi an: lesetipp@dotbooks.de

Gerne informieren wir Sie über unsere aktuellen Neuerscheinungen und attraktive Preisaktionen – melden Sie sich einfach für unseren Newsletter an: http://www.dotbooks.de/newsletter.html

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.twitter.com/dotbooks_verlag

www.gplus.to/dotbooks

Sarah Krobath

Who the f*** is Heidi?

Die Engländer, die Schweizer, der Käse und ich

dotbooks.

Für meine Mama,

eine Frau mit unstillbarem Appetit aufs Leben.

Inhalt

WIEN

Vom Aussteigen

Kapitel 1 Fluchtwege

Kapitel 2 Terra Madre

Kapitel 3 The Final Countdown

Kapitel 4 Neuland

Kapitel 5 Gebrauchsanweisung für Jumi

BERN

Die Schweizer, ein Volk für sich

Kapitel 6 Stadt, Land, Zug

Kapitel 7 Neu am Märit

Kapitel 8 Sehens- und Essenswertes

Kapitel 9 Marktgeplauder

Kapitel 10 Buffetpremiere

Dreißigkäsehoch

Kapitel 11 Odyssee im Ämmitau

Kapitel 12 Wenn die Chemie stimmt

Kapitel 13 Käsekellergeheimnisse

Kapitel 14 Fleischliche Genüsse

Kapitel 15 Feierabend-Fondue

LONDON

Ein Königreich für Käse

Kapitel 16 Queen of Taxis

Kapitel 17 Morgengrauen

Kapitel 18 Training on the job

Kapitel 19 I’m not a tourist, I live here!

Kapitel 20 Rushhours

Kapitel 21 Betriebsausflug à la Jumi

Mundpropaganda

Kapitel 22 Im Paradies

Kapitel 23 Britische Käsejuwelen

Kapitel 24 Nightmare before Christmas

Kapitel 25 Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?

Kapitel 26 Zwei Gestrandete an der Ostküste

Kapitel 27 Marktverkäuferin: To be or not to be

Verkosten ist Chefsache

Kapitel 28 Cold Calls

Kapitel 29 Bitte keine Werbung!

Kapitel 30 Degustieren ohne Genieren

Kapitel 31 Mister Italy

Kapitel 32 Parallelwelt Restaurantküche

WIEN/BRA

Vom Umsteigen

Kapitel 33 Schillernde Frühlingsboten

Kapitel 34 Auf die alten Zeiten – und auf mein neues Ich!

Kapitel 35 Aperitif in Italien

Kapitel 36 Olivenöl ins Feuer

Danksagung

Lesetipps

WIEN

Vom Aussteigen

Kapitel 1
Fluchtwege

„Du wärst ja blöd, wenn du das nicht machst“, fährt mich mein Sitznachbar, den ich erst seit diesem Samstagmorgen kenne, in der Pause unseres Journalistenseminars an. Genau wie ich und die anderen Kursteilnehmer – ein alteingesessener Gerichtsmediziner, dessen Brille jeden Moment von seiner Nasenspitze abzustürzen droht, eine junge Marketingassistentin in der Verkleidung einer knallharten Geschäftsfrau und ein mausgrauer IT-Spezialist – ist er in diesem Kurs gestrandet, weil ihm sein täglich Brot nicht mehr genügt. Eine frisch inskribierte Literaturstudentin ist auch noch mit an Bord unseres Bootes, das hoffnungsvoll auf eine Zweitkarriere als Journalist zusteuert. Mein Fluchtweg bedeutet für sie bloß eine harmlose Weiterbildung, die sie offenbar von einem Platz in der letzten Reihe aus angehen will. Noch einen Espresso, bevor wir wieder im Frontalunterricht sitzen und uns daran versuchen, im Rahmen einer Schreibübung den bösen Wolf mit Rotkäppchen und seiner Großmutter und unsere Berichte mit den sieben journalistischen Ws (wer, was, wann, wo, warum, wie, welche Quelle) zu füttern. Während wir uns zur Feedbackrunde zurück ins Klassenzimmer begeben, redet mein Kollege, ein Mittdreißiger von der Exekutive, weiter auf mich ein: „So was kann man nur machen, wenn man jung ist.“ Das richtige Argument zur falschen Zeit – jung fühle ich mich nämlich gerade überhaupt nicht. Könnte daran liegen, dass ich die letzten Nächte nicht länger als zwei Stunden am Stück geschlafen habe. Präsenile Bettflucht mit vierundzwanzig. Oder an meinem Magen, der sich beim bloßen Gedanken an die bevorstehende Arbeitswoche verkrampft wie der Unterschenkel eines Marathonläufers. Dass ich an meinem freien Tag freiwillig die Schulbank drücke, statt mich mit literweise Grüntee und Yoga an der frischen Luft generalzusanieren, ist sicher auch nicht hilfreich. Mit einem Burn-out verhält es sich wie mit einer Lebensmittelvergiftung: Erst sieht alles tipptopp aus, mundet ausgezeichnet und dann, wenn man plötzlich merkt, dass etwas faul ist, hat man schon alles in sich hineingefressen.

***

Anfangs war der Job als Werbetexterin ganz nach meinem Geschmack. Schon als Teenager plakatierte ich die Wände meines Zimmers lieber mit Anzeigen von Modelabels und kunterbunten Armbanduhren als mit Starpostern. Nachdem ich in meinem Studium sämtliche Werbebotschaften von Briefkopf bis Fußnote analysiert hatte und sich die vier Ps des Marketings (Product, Price, Place, Promotion) wie die Notrufnummer der Rettung in meinem Kopf eingebrannt hatten, sollte ich während meines ersten Praktikums bei einer internationalen Werbeagentur schließlich auf echte Konsumenten losgelassen werden. Endlich gehörte ich zu den Privilegierten, die dafür bezahlt werden, sich den ganzen Tag geistreiche, nein geradezu dämliche Ideen auszudenken, die anschließend landesweit im Fernsehen laufen und mit zwei gedrückten Daumen sogar einen Preis beim Werbefestival in Cannes gewinnen. Meine Teamkollegen und ich durften als Erste einen Blick auf Produkte werfen, die der Großteil der Menschheit in wenigen Monaten im Badezimmerschrank und der Garage stehen hat oder sich dank unserer Kampagnen zumindest nichts sehnlicher wünschen würde als das. Wer denkt, große Marken werden erst zum Statussymbol, indem man sie besitzt, der hat noch nie für welche gearbeitet. Anstatt meinen Großtanten, die mit englischen Begriffen genauso viel wie mit „diesem Internet“ anfangen können, auf Familienfeiern übersetzen zu müssen, was denn bitte schön ein Copywriter macht, konnte ich einfach ein Magazin aufschlagen und es ihnen zeigen. Wenn ich dann noch eine Anekdote vom letzten Werbespotdreh oder einer Aufnahme im Tonstudio erzählte, waren selbst der Chirurgen-Onkel und mein Stiefbruder, der mit schwererziehbaren Kindern arbeitet, beeindruckt. Wettbewerb ist in der Werbung alles – und alles ist ein Wettbewerb. Die verschiedenen Agenturen wetteifern nicht nur um die finanzkräftigsten Kunden und die Mitarbeiter mit der geringsten Antipathie gegen unbezahlte Überstunden, sondern auch um die pompösesten Räumlichkeiten. Als Werber sucht man sich seinen Arbeitsplatz nach denselben Kriterien wie seinen Hauptwohnsitz aus. Welche Agentur liegt näher am Zentrum? In welcher Agentur ist die modernste Technik vorhanden, wo die größte Terrasse? Wer was auf sich hält, und das tut in der Werbebranche wirklich jeder, lässt bei Besuchen von Freunden und Familie die Innenausstattung seines Arbeitsplatzes für sich sprechen. Falls Sie einmal unter dem Vorwand, jemanden zum Mittagessen abzuholen, in eine Werbeagentur gelockt werden, nehmen Sie eine Sonnenbrille mit. Es könnte sein, dass Sie von den auf Hochglanz polierten Trophäen kreativer Siegeszüge geblendet werden. Die Geschäftsführer sind sich der Bedeutung ihrer Immobilien, pardon, Agenturen durchaus bewusst, wie die Gehaltsverhandlung einer lieben Freundin von mir beispielhaft bewies. Statt ihres Lohns stand plötzlich ihre Wertschätzung zur Diskussion: Sie solle doch froh sein, für so eine großartige Agentur arbeiten zu dürfen. Daran, dass in der Stellenausschreibung etwas von Prestigeprojekt oder Beschäftigungstherapie gestanden hätte, konnte sich meine Freundin allerdings nicht erinnern. Kurzum: Reich wird man mit einem Job in der Werbung nicht. Höchstens an Selbstbewusstsein. Dass es diesem keinen Abbruch tut, wenn man für seine zwar nicht welt-, aber im Idealfall zumindest marktbewegenden Ideen mit goldenen Statuetten ausgezeichnet wird, muss ich wohl nicht gesondert erwähnen. Weil auf den Galaveranstaltungen neben falschen Tränen auch der Alkohol in Strömen fließt, fühlt sich mancher Preisträger dem Rest der Welt tatsächlich überlegen – wenn auch nur um die eineinhalb Meter zwischen Bühne und Parkett.

***

Dem ganzen Glanz und Glamour zum Trotz wurde bei Treffen mit meinen Kollegen aus anderen Agenturen nichts als gejammert. Über den Entzug der Freizeit, die Kreativdirektoren mit der Attitüde von Sklaventreibern und die Kunden, die das Werbewissen mit Löffeln gegessen hatten. Irgendwann jammerte ich nicht mehr. Ich traf mich auch mit niemandem mehr. Wenn ich spätabends nicht gerade aus der Ideenlegebatterie nach Hause kam, dann aus der Körperwerkstatt. Im Fitnessstudio konnte ich meinen ganzen Frust rauslassen, ohne dabei Freundschaften aufs Spiel und meine Wohnung selbstverschuldeten und daher von der Hausratsversicherung nicht gedeckten Schäden auszusetzen. So ein zwei Meter hoher Boxsack hat einen entscheidenden Vorteil: So fest man auch auf ihn einschlägt, er jammert nie. Manchmal verbrachte ich fünf Tage die Woche damit, den Schaum aus ihm herauszuprügeln, ohne einen Piep. Wenn gerade keine Kickboxstunde stattfand, versuchte ich meinen Problemen auf dem Spinningbike davonzuradeln oder ihnen mit den Grimassen, die ich beim Stemmen zunehmend schwererer Gewichte schnitt, Angst einzujagen. Der auf dem Fuße folgende Muskelkater stellte sich als willkommene Abwechslung heraus, lenkte er doch ein wenig von den Beschwerden meines rebellierenden Magens ab. Ich war in Höchstform. Was so viel bedeutete wie: Von nun an konnte es nur noch bergab gehen. Und leider war das auch der Fall. Wenn mir nicht schon beim Aufwärmen schwindlig geworden war, musste ich meist nach weniger als dreißig Minuten am Laufband walkover geben. Als ob sie über Nacht ihre Stretcheigenschaft verloren hätten, wurden meine Jeans immer weiter. Meine T-Shirts und Gürtel beugten sich dem Gruppenzwang, und irgendwann sah ich in ihnen aus, als wollte ich der Oversize-Mode der Achtziger ein Revival bescheren. Wenn es allerdings etwas gibt, das mir abgesehen von besserwisserischen Ernährungsratgebern nicht ins Haus kommt, dann ist das eine Personenwaage. Um zu bemerken, ob man ein paar Kilo zu- oder abgenommen hat, müsse man sich nicht erst wie ein Schinkenaufschnitt an der Fleischtheke abwiegen lassen, habe ich meiner Mama, einer großen Sympathisantin der elektronischen Gewichtskontrolle, schon immer versucht zu erklären. Aufgrund dieser Abneigung hatte ich über die Jahre mein Gewicht aus den Augen verloren. Das Zünglein an der Waage, das mich prompt auf ebendiese katapultieren sollte, war ein Kurzbesuch bei Mama, die mich das erste Mal seit Monaten zu Gesicht bekommen hatte.

Das Display der gläsernen Elektrowaage verriet uns, was meine um zwei Nummern zu groß gewordenen Hosen längst wussten. „45 Kilo“, leuchtete da in schwarzen Digitalziffern auf. An das Ergebnis meiner letzten Waagenvisite konnte ich mich nicht erinnern. Genauso wenig wie daran, dass Mama jemals dermaßen besorgt ausgesehen hätte. 45 Kilo bei 1,63 Meter. Und das, obwohl ich nie sonderlich auf mein Gewicht oder meine Kalorienzufuhr geachtet hatte. Vor allem nicht in letzter Zeit – wenn der eigene Magen auf eine klare Suppe plötzlich gleichermaßen zickig reagiert wie auf eine XL-Portion gebackene Champignons mit Sauce Tatar, wird man einer gesunden Ernährung schnell überdrüssig. Dabei ist Essen, solange ich denken kann, immer eine meiner Lieblingsbeschäftigungen gewesen.

Das Highlight eines jeden Schwimmbadbesuchs waren für mich als Kind nicht etwa die extralangen Wasserrutschen mit ihren Loopings und Haarnadelkurven, sondern vielmehr die obligatorischen Pommes mit Ketchup, nach denen ich mir die mit Salz überzogenen Schrumpelfinger leckte. Beim Schulwandertag waren es das Jausenbrot und die Banane im Rucksack, im Urlaub die drei Hauptmahlzeiten, denen sich Besichtigungen und Strandaktivitäten strikt unterzuordnen hatten, und in der Agentur die Mittagspausen. Dafür nahm ich mir meist Gemüse von zu Hause mit und versuchte, im Hochglanzbüro mit dem Kochlöffel den Schnitzelsemmeln und Dönern, denen meine Kollegen verfallen waren, den Kampf anzusagen. Wenn dann allerdings gegen Mitternacht alle nach Pizza lechzten, wurde dieser dann doch wieder gegen den Telefonhörer getauscht.

So gerne, wie ich gute Gerichte aß, las ich auch darüber. Neben meinem Bett türmten sich Kochbücher unterschiedlichsten Formats, die Biographien der größten Chefköche und die Memoiren der Restaurantkritiker, die sie dazu gemacht hatten. Die eigenen vier Wände sagen angeblich eine Menge über einen aus. Bei mir hätte hingegen schon ein Blick aufs Nachtkästchen genügt. Jamie Oliver, Bill Buford, Ferran Adrià und mein Liebling Yotam Ottolenghi Buchrücken an Buchrücken gedrängt … Doch sie alle waren während der letzten Monate ins Bücherregal übersiedelt, um Platz für Magenschoner, pflanzliche Beruhigungsmittel und homöopathische Nervenkügelchen zu machen. Kautabletten und Tropfen als Betthupferl. Packungsbeilagen als Abendlektüre. Statt mich mit meinen Freunden zu treffen, die mich in ähnlichen Abständen wie mein Augenarzt zu Gesicht bekamen, verbrachte ich meine Abende nun in der zweidimensionalen Gesellschaft von Fernsehmoderatoren und -schauspielern und suchte im Internet nach Weiterbildungen, wobei ich schließlich auf dieses Journalistenseminar stieß. Lieber über wahre Ereignisse schreiben, als Werbetexte über das neue Fondssparpaket formulieren, von dem ich weniger Ahnung habe als der Verbraucher, der den Infofolder später lesen wird. Lieber den Samstag mit Pauken verbringen, als ständig daran denken zu müssen, dass ich nach zweimal Schlafengehen – wohlgemerkt, ohne zu schlafen – wieder ins Büro muss.

Lieber schnell zurück in den Konferenzraum, bevor sich der Kursleiter mit dem minutiös durchgeplanten Lehrplan in den bösen Wolf aus unseren Berichten verwandelt. Wir kippen unseren Kaffee hinunter und sind wieder zehn Jahre alt, als wir uns in den bereits begonnenen Kurs schleichen. „Du wärst wirklich blöd, wenn du das nicht machst“, verwarnt mich der Vertreter der Exekutive noch einmal nachdrücklich und verdonnert mich damit dazu, den restlichen Nachmittag über das Praktikumsangebot zu grübeln, von dem ich ihm in der Pause erzählt habe.

Kapitel 2
Terra Madre

„Du hast dich auch bei Jumi beworben?“, fragt mich die kleine Philippinin, mit der ich am Slow-Food-Infostand arbeite. Ein weiterer Versuch von mir, meinen Hauptberuf durch etwas Sinnvolles aufzuwerten. Diesmal geht dafür kein Wochenende drauf, nein, diesmal habe ich mir extra freigenommen, um auf der Terra Madre Austria, der Messe für Produzenten und Genießer von handwerklich hergestellten Lebensmitteln aus der Region, im Wiener Rathaus aushelfen zu können, ehrenamtlich versteht sich. Wozu soll ich meine Urlaubstage auch weiter horten? Um nach zwei Wochen Atempause erst recht unter der liegengebliebenen Arbeit zu ersticken? Vielmehr stellt sich die Frage, was ich meinem Kreativdirektor als Nächstes zum Unterzeichnen vorlegen werde – ein weiteres Urlaubsformular, mein Kündigungsschreiben oder die Krankmeldung durch meinen Hausarzt. Im zweiten Fall könnte sich mein beinahe unangetastetes Urlaubskontingent doch noch als nützlich erweisen. Meiner Meinung nach sollte man ein unbefriedigendes Arbeits-, ähnlich wie ein ebensolches Liebesverhältnis, möglichst kurz und schmerzlos beenden. Wenn man mit seinem Lover Schluss gemacht hat, geht man bei ihm ja auch nicht vier Wochen länger aus und ein, macht seinen Abwasch und bügelt seine Hemden, bis er eine Neue gefunden hat, oder? Aber ganz so einfach ist es wohl doch nicht, wie der Beziehungsstatus „Es ist kompliziert“, in dem sich auf Facebook jeder Zweite zu befinden scheint, verrät. Damit lässt sich auch mein aktueller Berufsstatus treffend zum Ausdruck bringen. Kompliziert ist es wirklich, zwischen mir und meinem einstigen Traumjob, deshalb auch die eintägige Beziehungspause, vorerst.

Statt die Besucher der Terra Madre mit den Blockbuchstaben gewichtiger Headlines zu erschlagen und ihnen Ohrwürmer einzuhämmern, die sich nur durch den Kauf des besungenen Produktes auskurieren lassen, informiere ich sie zur Abwechslung. Über die Slow-Food-Bewegung, ihren Einsatz für gute, saubere und faire Lebensmittel und die verschiedenen Programmpunkte der Veranstaltung. Viel interessanter finde ich aber, was meine Kollegin zu erzählen hat. „Ich kenne die Chefs von Jumi, weil ich letzten Sommer für sie gearbeitet habe“, plaudert sie fröhlich drauflos, nicht wissend, dass sie damit eine Flut von Selbstzweifeln in mir lostritt. „Ich bin übrigens Anna.“ Als sie mich dann auch noch wissen lässt, wie viele sich für das Praktikum beworben haben, klopft mir mein Optimismus resigniert auf die Schulter und verlässt das Gelände. Hätte ich mir eigentlich denken können, bei dem Angebot, das sich zwei Wochen zuvor über den Slow-Food-Youth-Verteiler in meinen elektronischen Posteingang verirrt hatte:

Schweizer Käsemacher suchen abenteuerlustige/-n Praktikantin/Praktikanten zur Unterstützung in der Käseherstellung und auf Londoner Märkten. Ab November 2011. Flüge, Kost und Logis inklusive.

Nun, wer zuerst kommt, käst zuerst. Und was Anna angeht, komme ich wohl mehr als 365 Tage zu spät. Es sei denn, sie brauchen noch jemanden mit ordentlich Muskelschmalz für die besonders schweren Arbeiten. Ich könnte ja noch ein paar Tage im Fitnessstudio schwitzen, mich mit Proteinshakes volltanken, vom am weitesten entfernten Supermarkt täglich einen Sechserpack Mineralwasser nach Hause schleppen und … wäre immer noch eine Werbetexterin am Limit ihrer Kräfte. Noch dazu eine, die immer wieder demselben, auf der Packung als fein-würzig prophezeiten Bergkäse erliegt, von Blauschimmel schlechte Laune und von Ziegenkäse schlichtweg Alpträume bekommt. Zwar kann ich einen negativen Laktoseintoleranztest vorweisen und Raclette praktizieren, ohne mit Brandwunden in der Notaufnahme zu landen – mit der Erzeugung, Lagerung und richtigen Verkostung des gelben Runds habe ich genauso viel am Hut wie die Schweizer mit der Europäischen Union. Käse gegenüber bin ich neutral. Was Anna angeht, inzwischen nicht mehr.

Anna geht mir bis zum Kinn, und wirklich kräftig sieht sie auch nicht aus. Das Wissen, das sie sich während ihres letzten Jobs bei Jumi angeeignet hat, werde ich schon noch aufholen. Ach was, rasant überholen werde ich sie! Alleine in den letzten Tagen habe ich die Suchmaschinenanfragen der Begriffe Jumi und Käse in die Höhe schnellen lassen wie eine Kardinalschnitte den Blutzuckerspiegel eines Diabetikers. 2005 von Jürg und Mike gegründet, versorgt das Unternehmen neben ausgewählten Vertriebspartnern in Österreich und Deutschland inzwischen auch die Cheddar-verliebten Engländer mit echtem Schweizer Rohmilchkäse. Alles, was ich über die Käsemacher auskundschaften konnte, stammt aus Zeitungsartikeln. Meine potenziellen neuen Arbeitgeber haben zwar auch eine eigene Website, die wirre Aneinanderreihung von Chs, Üs und Äs sieht für mich allerdings so aus, wie ein kaputtes Modem klingt. Wenn ich als im Dialekt versierte Steirerin schon über die Sprachbarriere stolpere, kann Anna in der Schweiz gleich bei Pantomimen anheuern. Wie die meisten Österreicher tappe ich geradewegs in die Vorurteilsfalle und verwechsle das Hochdeutsch meiner Mitstreiterin mit Hochmut. Nach einem ganzen Vormittag Knochenarbeit – nicht weil das Überreichen der Programmhefte und das Informieren der Passanten so kräftezehrend wären, sondern weil wir in dem zugigen Zelt bis auf die Knochen frieren – ist mir meine deutsche Leidensgenossin sogar ganz sympathisch geworden. Anna hat die Ärmel ihres Strickpullovers bis zu den Fingerspitzen gezogen und mümmelt mit einer Andacht an ihrem Kornspitz, wie es sonst nur Atkins-Anhänger vor ihrem bevorstehenden Pilgerweg des Kohlenhydratfastens tun. Fröstelnd erzählt sie mir von ihrer Großmutter auf den Philippinen. Anna verbringt jedes Jahr ein paar Wochen bei ihr, isst Fischkopfsuppe und trinkt aus frischen Kokosnüssen. Das würde ich jetzt auch gerne machen. Ich schließe kurz die Augen und beame mich in eine Postkarte mit weißem Sand, Palmen und meinetwegen auch Fischköpfen, die wie Luftmatratzen auf einem Meer aus Gemüsebrühe treiben. Am Strand schlürfe ich Kokoswasser und esse – Grünkohl mit Kartoffeln und Speck? Aha, wir sind jetzt nicht mehr im Pazifik, sondern inzwischen bei Annas Eltern und ihren beiden Geschwistern in Deutschland angekommen. Bevor ich mich entscheiden kann, ob ich mir ihre Geschwister mit langen schwarzen Haaren und dunklen Mandelaugen oder blauäugig mit Sommersprossen vorstellen soll, sind wir auch schon wieder zurück in Wien. Hier hat sich Anna, damit sie gar nicht erst Gefahr läuft, sich einsam zu fühlen, in einer neunköpfigen WG eingemietet.

In Verbindung mit „Räuberbande“ oder „Ungeheuer“ hätte das Wort neunköpfig bei mir kein größeres Unbehagen auslösen können. Ich wohne alleine und fühle mich schon durch gelegentliche Couchsurfer aus meinem Freundeskreis meiner Privatsphäre beraubt. Einmal Einzelkind, immer Einzelkind.

„Inzwischen sind wir wie eine Familie“, schwärmt sie, ohne sich von meiner Skepsis beeindrucken zu lassen. „Ist ganz angenehm, wen zum Quatschen zu haben, wenn man vom Unistress mal ’ne Pause braucht.“ Moment mal. „Uni?“, hake ich nach. „Ja, ich studiere Ernährungswissenschaften. Dafür bin ich nach Wien gegangen.“ Mein Optimismus kehrt soeben von seinem Ausflug zurück. „Beginnt da nicht bald das Wintersemester?“, bohre ich weiter und versuche dabei möglichst unaufgeregt zu klingen. Richtig, das täte es. Deshalb wolle sie auch die Semesterferien abwarten und plane, erst im Frühjahr in die Schweiz zu gehen. Mir fällt ein Stein vom Herzen und gleichzeitig der Stapel Programmhefte aus der Hand. Erleichtert darüber, dass ich nicht mit Anna in den Ring steigen muss, besorge ich für jede von uns eine Tasse beruhigenden Kräutertee. Kämpfen muss ich später trotzdem.

Besagter Ring stellt sich als rustikales, mit Holzregalen und Hanftüchern verkleidetes Standgerüst heraus. Ich komme genau im richtigen Moment zum Verkaufsstand von Jumi, gerade findet eine Fütterung statt. Eine junge rotwangige Frau jongliert gekonnt mit Anekdoten, während sie der sich stetig vergrößernden Meute Kostproben in den Rachen wirft. Bei Li, die eigentlich Anna-Lena heißt und extra für die Veranstaltung aus der Schweiz angereist ist, soll ich zur Probe arbeiten und mein Talent als Käseverkäuferin unter Beweis stellen. Ihre Bekanntschaft hatte ich bereits am Abend zuvor gemacht.

Als Vorbereitung auf meine Bewährungsprobe hatte ich meinen Kickbag versetzt, um ihn vorsätzlich mit 45 Prozent Fett zu betrügen. Im Rahmenprogramm der Terra Madre konnte man sich nämlich unter professioneller Anleitung durch die Spezialitäten unterschiedlicher Produzenten kosten. Bei diesem Termin sollte sich alles, wie unschwer am Titel der Veranstaltung Ä cheib vou Chäsli usem Ämmitau zu erkennen war, um die Raritäten von Jumi drehen. Offenbar war ich nicht die Einzige, der das Schwyzerdütsch zu schaffen machte, denn die nicht annähernd sinngemäße Übersetzung daneben lautete: Lustige Käse aus dem Emmental.

Imposant sahen sie aus, wie sie da auf dem weißen Porzellantellerchen, das vor jedem Teilnehmer auf dem Tisch stand, thronten. Blickte man von oben auf die strahlenförmig am Tellerrand angeordneten Käseschnitze, bescherten sie dem eigenen Spiegelbild sogar eine Art Glorienschein. Zunächst sollten sie aber weniger die Geschmacksnerven als vielmehr die Beherrschung der Verkostungsteilnehmer auf eine harte Probe stellen. Das Bedürfnis, sich etwas Essbares und dann auch noch so hübsch Angerichtetes sofort in den Mund zu stecken, ist bei einem Vierzigjährigen kein bisschen geringer als bei einem Vierjährigen. Der einzige Unterschied: Ein Vierjähriger tut es einfach. Der Vierzigjährige hingegen riecht daran, dreht den Teller hin und her, macht mit seinem Smartphone ein, zwei, zehn Fotos und lässt seinen Blick umherschweifen, um dann doch wieder auf dem Teller seines Sitznachbarn kleben zu bleiben. Viel hätte nicht gefehlt, und ein paar ungeduldige, besonders käsegierige Teilnehmer wären desertiert. Als endlich ein schlankes Fräulein mit durch ein Haarband gebändigten Locken am Podium Platz nahm und alle Gäste mit „Grüezi!“ willkommen hieß, wurden auch die Brotscheiben, an die sich die meisten hilfesuchend geklammert hatten, erlöst. Nachdem Li uns in einer Mischung aus Schweizer Deutsch und deutschem Schweizerisch kurz etwas über Jumi erzählt hatte, was ich dank meiner Internetrecherche schon wusste, stellte sie uns jeden Käse einzeln vor. Zumindest einem von ihnen war ich schon einmal begegnet – worauf ich mir aber nichts einbildete. Um Emmentaler, den Lieblingspassagier eines jeden belegten Brotes, herauszukennen, muss man schließlich kein Sommelier sein. Aber selbst ein solcher hätte sich an den lustigen Namen, auf die Jumi seine Kunstwerke tauft, die Zähne ausgebissen. Den Anfang machte ein Crème Chevrè, ein dreimonatiger Ziegen-Weichkäse und ein Jungspund im Vergleich zu den Hartkäsen, die nach ihm an die Reihe kommen sollten. Ziege also. Aber da musste ich durch. So groß war das Stück nun auch nicht, außerdem gab es reichlich Weißwein, um den für mich erfahrungsgemäß an Körperverletzung grenzenden Geschmack zu neutralisieren. Ich nahm also allen Mut zusammen, legte mir den weißen Schnitz auf die Zunge und wollte schon nach dem Weinglas greifen, als … frisch, milchig und keine Spur von Ziege. Die penetrante Note, die ich erwartet hatte, blieb aus. Vom Wein machte der Großteil der Teilnehmer dafür beim nächsten Verkostungsexemplar Gebrauch. Ich bin mir nicht sicher, ob es an der dreijährigen Reifung lag oder daran, dass die Rinde von Milben abgeknabbert worden war, jedenfalls verschluckten sich bei Lis Erläuterung des Cironé sämtliche Besucher zeitgleich und spülten die unappetitliche Vorstellung mit einem großen Schluck hinunter. Ich konnte die ganze Aufregung gar nicht nachvollziehen, machte der nächste Kandidat – ein Blauschimmelkäse namens Summerhimu mit wolkig durchzogenem Teig – auf mich doch einen wesentlich ungemütlicheren Eindruck. Nach dem positiven Ziegenkäseerlebnis hatte ich aber alle Scheu abgelegt und war bereit, den Sprung ins kalte Wasser, beziehungsweise den kalten Sandsteinkeller, in dem der Käse vier Monate lang gereift war, zu wagen. Zum Glück, denn das hässliche Käslein sollte sich als regelrechtes Gaumenkino entpuppen. Zu Beginn cremig, der Höhepunkt würzig – und was für ein Abgang!

Wenn ich Kinder beobachte, frage ich mich manchmal, wie es wohl sein muss, etwas zum allerersten Mal zu essen. An meinen ersten Apfel, meine erste Karotte oder mein erstes Stück Schokolade kann ich mich nicht mehr erinnern. An meinen ersten Käse sehr wohl. Den hatte ich nämlich eindeutig an diesem Abend gegessen. Auch den letzten in der Runde, den geknebelten Feigling, würde ich so schnell nicht vergessen. Der im Holzring gereifte, besonders cremige Rotschmierkäse ließe sich mit einem Vacherin vergleichen, unterrichtete uns Li. Mit vollem Mund und ohne den blassesten Schimmer, was sie damit meinte, nickte ich.

Am Ende der fast zweistündigen Verkostung wollte ich meine Chance nutzen und gleich als neue Praktikantin vorstellig werden. Kein einfaches Vorhaben, angesichts der Menschentraube, die sich in kürzester Zeit um Li gebildet hatte. Mehr als ein kurzes „Hallo“ und „ich komme dann morgen zum Probearbeiten“ war leider nicht drin. Aber was sollte schon schiefgehen? Wenn ich während meiner Zeit in der Werbung etwas gelernt habe, dann verkaufen. Über Anti-Falten-Cremes und Marken-Katzenfutter könnte ich den Leuten allerdings mehr erzählen als über die wertvollen Lebensmittel, die mir bis zu diesem Wochenende entgangen waren.

Auch wenn ich Li ständig nach der genauen Reifungsdauer fragen muss und mir die elektronische Waage geradezu spanisch vorkommt, schlage ich mich bei meinem ersten Versuch als Marktverkäuferin ganz gut. Statt wie geplant eine Stunde lang auszuhelfen, rühre ich mich nicht von der Stelle, bis das letzte Stück Käse fein säuberlich in Klarsichtfolie verpackt, bezahlt und von einem Einkaufskorb verschluckt worden ist. Vier Stunden später ist es so weit. Wir sind ausverkauft. Als Dankeschön für meinen Einsatz bekomme ich von Li zwei ansehnliche Stücke Käse überreicht und werde in den Feierabend entlassen. Zurück in der Schweiz, will sie mit Jürg und Mike sprechen und sich in spätestens zwei Wochen bei mir melden. Mit meiner Leistung gleichermaßen zufrieden wie von ihr erschöpft, falle ich in mein Bett, überspringe das Schäfchenzählen und schlafe das erste Mal seit Monaten die ganze Nacht durch. Nicht einmal die mit einem Zahnarztbesuch gleichzusetzende Aufgabe, die mir am kommenden Montag bevorsteht – mein Kündigungsgespräch –, kann mich diesmal um meine wohlverdiente Nachtruhe bringen.

Kapitel 3
The Final Countdown

Bestürzung. Betretenes Schweigen. Und dann eine Demonstration der Überredungskünste, mit deren Hilfe sich selbst einem Ureinwohner Australiens der Floh einer Dampfbügelstation ins Ohr setzen lässt. Vielleicht sogar glänzende Augen: Mit all dem habe ich gerechnet. Stattdessen reagieren mein Kreativdirektor und die Kontaktchefin mit schierem Unglauben, als ich ihnen am Montagmorgen meine Kündigung auf den Tisch lege. Wer wird denn drei Monate nach einer reichhaltigen Gehaltserhöhung und ausgerechnet kurz vor der Übernahme eines Kreativteams seinen Job kündigen? Die Floskel, ich solle doch noch einmal darüber schlafen, kostet mich fast einen Lacher, den ich, um die Glaubwürdigkeit meiner Entscheidung nicht zu gefährden, so gut es geht, unterdrücke. Schließlich habe ich die letzten Monate jede Nacht aufs Neue versucht, mich Morpheus in die Arme zu werfen. Erst nach dem Markttag mit Li ist es mir zum ersten Mal wieder gelungen.

Aber: Wer weniger schläft, hat dafür mehr Zeit zum Nachdenken. Statt zu träumen, hatte ich in meinem Kopf sämtliche Szenarien mindestens einmal durchgespielt. Szenario eins: Ich nehme das Angebot meines Arztes an und lasse mich erst einmal krankschreiben. Kaum zurück aus dem Krankenstand, zehrt die Agentur an meinen neugewonnenen Kräften wie wir von den Trzesniewski-Brötchen, mit denen man uns stets erfolgreich ins Monatsmeeting lockt. Szenario zwei: Ich wechsle die Agentur. Ich übersiedle von einem durchdesignten Schauraum in den nächsten, tausche viel Arbeit gegen wenig Freizeit und ersetze meine Magenschoner durch etwas Härteres. Damit weiter zu Szenario drei: Ich bin Persephone und schließe einen Pakt – nicht mit dem Gott der Unterwelt, sondern mit meinem Kreativdirektor. Meine Seele für eine mehrmonatige Auszeit. Für ein Praktikum bei Jumi. Krankschreiben, krank bleiben, rückfällig werden – die Wahl der Qual. Am besten, so beschloss ich, höre ich auf mein Bauchgefühl. Noch besser auf die Eröffnungswehen, die jedes Mal einsetzen, wenn ich mich auf weniger als drei Kilometer der Agentur nähere.

Als ich mich dann vergangene Woche am Ende eines Vierzehnstundentages mit Magenkrämpfen als Letzte in der Kreation zur Tür hinauskrümmte, waren sich mein Bauch, mein Kopf und mein Herz schließlich einig: Sie haben die Kündigung, die ich meinem Kreativdirektor soeben über seinen Schreibtisch zugeschoben habe, unwiderruflich unterschrieben. Kein Kleingedrucktes. Kein Sternchen. Nichts verweist darauf, dass meine Kündigung durch mehr Geld – das in so einer Situation freilich keine Rolle spielt – oder zusätzliches, mich entlastendes Personal ungültig werden könnte.

Aber genau damit können meine Vorgesetzten nichts anfangen. Ich könne doch nicht so einfach kündigen. Falsch: Ich kündige, weil ich einfach nicht mehr kann. Während meine Kollegen meine Entscheidung nicht nur respektieren, sondern mir sogar dazu gratulieren, hat sich mein mehr schlechter als rechter Gesundheitszustand offenbar noch nicht bis zur Chefetage durchgesprochen. Bin ja noch nie umgekippt. Und Rettung war auch noch keine da.

Was dann kommt, ist der Deal meines Arbeitslebens: drei aussichtslose Unterredungen zum Preis von einer. Nach einem vormittagsfüllenden Vieraugengespräch mit meinem Kreativdirektor und einem weiteren mit der Personalmanagerin nehme ich schließlich auch noch gegenüber unserer Kontaktchefin Platz. Was von Frau zu Frau beginnt, endet von ehemaliger Vorgesetzten zu zukünftiger Nachbesetzten. In meinem Nachlass befinden sich neben zwei ideenschwangeren Ordnern, die ihre Aufgabe gehörig vermasselt haben, und den paar herrenlosen Kugelschreiben, derer ich mich angenommen habe, außerdem vierundzwanzig Urlaubstage. In knapp drei Wochen würde ich hier rausspazieren. Auf Nimmerwiedersehen, Agentur. Weil ich aber nicht will, dass einer meiner Kollegen meine Rolle in A Nightmare on Ad Street übernimmt, willige ich ein, im Falle eines kurzfristigen Engpasses von zu Hause aus für die Agentur zu texten – als würde sich mein Magen von einem derartigen Tapetenwechsel so einfach am Nabel herumführen lassen.

Die letzten Tage in der Agentur fühle ich mich nach diesem Kraftakt wie im falschen Film. Besser gesagt eher so, als wäre ich nach jahrelanger Fehlbesetzung endlich im richtigen gelandet. Statt mir Aufgaben zu erteilen, fragen mich die Kontakter, ob ich mich eventuell diesem oder jenem Projekt annehmen möchte. Selbst Korrekturschleifen, die üblicherweise mehrere Tage in Anspruch nehmen, kürzen sich wie durch einen magischen Shortcut ab. STRG+ALT+Freigabe. Vom ewigen Krampf mit uneinsichtigen Kunden werde ich weitestgehend verschont, und sogar mein Magen beweist auf den letzten Metern Sportsgeist. So vergehen diese zwei Wochen mit einer Geschwindigkeit, die sonst verlängerten Wochenenden, Strandurlauben und Abschlussbällen vorbehalten ist. In meiner letzten Arbeitswoche setzt die Nervosität ein. Ich zähle die Tage. Nicht die paar zerquetschten Werktage, die es noch abzuarbeiten gilt, sondern jene, die ich bisher ohne Rückmeldung von Jumi durchleiden musste.

Es soll ja nicht wenige Menschen geben, die bei Vorstellungsgesprächen Ungeduld als Schwäche nennen, um damit ihre schnelle Auffassungsgabe und effiziente Arbeitsweise hervorzuheben. Im Gegensatz dazu ist Geduld wirklich nicht meine Stärke. Der Beweis dafür ist drei Zeilen lang und wurde, wie mir der Computer mitteilt, erfolgreich an den Empfänger versandt. Es dauert keine zwei mit Wortwitzen gespickten Headlines, da macht sich ein Grinsen in meinem Gesicht breit. Der Kalauer, den ich dem wehrlosen Plakatmodel gerade in den Mund gelegt habe, hat damit nichts zu tun. Ich muss mich sehr beherrschen, damit mein plötzlich zu neuem Leben erwachter Körper nicht auf den Schreibtisch klettert und Rad schlagend durch die Kreationsräumlichkeiten tänzelt. Sonst denken meine Kollegen noch, ich wäre durch ein Wunder wieder zu Kräften gekommen und könne sie noch zwei, drei Wochen länger von der Arbeit freischaufeln, die unaufhaltsam mit meiner Kündigung auf sie zurollt.

Alles ein Missverständnis. Eigentlich hätte die E-Mail von Jumi schon vor Tagen an mich rausgehen sollen. Drin wäre gestanden, dass sie sich gleich für zwei Praktikanten entschieden haben, Clemens – vermutlich einer mit Muskelschmalz – und mich.

Es tue ihm leid, aber es sei eben gerade alles ein wenig chaotisch, versichern mir die Zeilen, die Mike mit Morsegeschwindigkeit in die Tastatur geklopft haben muss. Chaotisch? Halb so wild. Ach was, alles ganz phantastisch! Für die paar Tage Verspätung muss er sich doch nicht entschuldigen. Es ist ja nicht so, als ob ich alle fünf Minuten mein E-Mail-Postfach aktualisiert und die Funktionstauglichkeit meines Handys überprüft hätte. Höchstens alle fünfzehn Minuten. Jegliche Gewissensbisse und Selbstzweifel wandern jetzt zusammen mit dem Infofolder vom Arbeitsamt, den ich mir vorsorglich besorgt habe, in den Papierkorb. Bald würde ich also selbst Teil von diesem Chaos sein. Sehr bald!

Und plötzlich ist er da, mein allerletzter Arbeitstag. Das Ende vom Ende. Der Anfang von meinem Neuanfang. Ich suche noch ein letztes Mal das Büro meines Kreativdirektors auf, das so farblos und steril wirkt, als wäre es von einem Jahresvorrat Persil weiß gewaschen worden. Zum Abschied überreiche ich ihm eine Klarsichtfolie mit Ideen, die ich für das nächste Goldideen-Meeting gesammelt habe. „Vielleicht ist ja etwas Brauchbares dabei.“

Zum besseren Verständnis für alle Seligen, die nie eine Werbeagentur von innen gesehen haben: Als „Goldideen“ bezeichnet man im Werbejargon Ideen, die nicht für die Öffentlichkeit, sondern eigens für Kreativwettbewerbe kreiert werden und statt auf die Zielgruppe des Produkts auf die Damen und Herren in der Fachjury zugeschnitten sind. Um das Einreichkriterium einer einmaligen Veröffentlichung zu erfüllen, flimmern sie um drei Uhr morgens auf irgendeinem Regionalsender über den Bildschirm und bringen – abgesehen von einem weiteren goldenen Staubfänger fürs Regal – keinem etwas. Nicht einmal dem kreativen Kopf, der sie erdacht hat. Denn was in der Agentur passiert, bleibt in der Agentur. So auch die Werbe-Oscars, die unser Team über die letzten Jahre zusammengetragen hat. Macht nichts, es lässt sich bestimmt ein anderer Briefbeschwerer auftreiben. Lieber würde ich ein paar Exkollegen zusammen mit meinem restlichen Hab und Gut hinausschleusen. Das Glück, das sie mir für meinen weiteren Weg wünschen, können sie garantiert besser gebrauchen.

Erleichtert schwebe ich dann die Treppe hinunter, höre, wie die Tür hinter mir ins Schloss fällt, und fühle mich, als wäre ich gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden. Nach einer ganzen Weile Final Countdown auf Endlosschleife schaltet mein Kopf von Europe schließlich um auf R. Kelly. The storm is over.

***

Der wolkenlose Himmel mit den für einen Herbsttag fast ein wenig zu aufdringlichen Sonnenstrahlen passt zu meiner Vorfreude wie der bananenfarbige Expeditionsrucksack zu den Streifen auf meiner Jacke. Braun-gelb, erinnert ein wenig an Biene. Eher Hummel. Weil ich ja nicht weiß, wie sich der November in der Schweiz und in England anfühlt, wo ich mich in nächster Zeit im Wechsel von je ein bis zwei Wochen aufhalten werde, trage ich, zusätzlich zu dem Kleiderschrank in meinem Trolley, auch noch eine ganze Winterkollektion am Körper. Rucksack auf dem Rücken, Trolley an der Hand und meinen Schlafsack, über den ich später noch heilfroh sein werde, lässig über die Schulter geworfen, trudle ich auf Bahnsteig acht ein. Vor mir liegen zehn Stunden Zugfahrt, die ich mir selbst eingebrockt habe, weil ich einen guten ersten Eindruck machen und meinem neuen Arbeitgeber ein teures Flugticket ersparen wollte. Während ich angestrengt überlege, ob ich auch nichts vergessen und meinen Koffer mit einer Zahnbürste und der dazugehörigen Paste gefüttert habe, setzt sich der Zug in Bewegung. Im Gegensatz zu dem alten Ehepaar, das mir gegenübersitzt, bin ich ausgerüstet. Die haben nur sich. Ich dagegen kann mit zwei telefonbuchdicken Wälzern – einem auf Deutsch und einem auf Englisch –, einem Magazin und einem MP3-Player aufwarten. Vorstädte, Vorgärten, Vorarlberg. Draußen vor dem Fenster gibt es viel zu sehen. Auf meinem mit Serien beladenen Notebook allerdings noch mehr. Erst nach halber Strecke werden Bildschirm und Bücher das erste Mal zugeklappt, damit ich meine ganze Aufmerksamkeit dem selbstgemachten Bulgursalat widmen kann.

Statt unterwegs schnell irgendein Fast Food aufzugabeln, habe ich mir dafür extra viel Zeit genommen. Ich bin über den Markt – den unter freiem Himmel und ohne ein Super- vorne dran – spaziert, habe meine Leinentasche mit buntem Gemüse gefüllt und bei dem netten Türken nebenan zum Abschied noch einmal Bulgur und Fetakäse gekauft. Wenig später waren Paprika, Tomaten und Lauch in mundgerechte Stücke geschnitten, die Bulgurkörner prächtig aufgequollen, und ich war so entspannt, dass ich mich frage, warum in modernen Spas neben Yoga- und Meditationsstunden keine Kochkurse angeboten werden.

Als hätte ich sie darin mit konserviert, stellt sich die innere Zufriedenheit, die ich beim Zubereiten verspürt habe, beim Öffnen der Tupperdose gleich wieder ein. Jetzt kommt schließlich das Beste am Reisen: Der Reiseproviant. Ich lass mir doch nicht die längste Zugfahrt meines Lebens von labbrigem Käse zwischen zwei Scheiben Styropor vermiesen. Den kann sich der Herr vom Bordservice zusammen mit dem spröden Frühstückskipferl getrost in die gelgetränkten Haare schmieren. Halt! Doch nicht. Die männliche Hälfte des Ehepaars begeht den Fehler eines Styropor-Sandwichs. Jetzt schmeckt der Bulgur mit Fetakäse und Kirschtomaten noch besser. Das weiß der Styroporesser freilich nicht, wahrscheinlich kennt er das Getreidegericht aus Weizen nicht einmal und hält es für eine Mittelmeerregion.

Zwar nicht in Bulgur, aber in Bern muss ich umsteigen. Anderes Land, andere Sitten. Und andere Fahrkartenautomaten. Zum Glück habe ich in der Heimat sicherheitshalber ein paar Euro in Schweizer Franken gewechselt, die für mich eher wie die quietschbunten Scheine von Monopoly und nicht wie legitime Zahlungsmittel aussehen. Nachdem ich endlich die von Mike beschriebenen „gelben Zügli“ ausfindig gemacht habe – man beachte die farbliche Abstimmung auf meiner Jacke und mein Gepäck –, will ich Jumi von meiner kurz bevorstehenden Ankunft in Kenntnis setzen und rufe in der Zentrale an. Es klingelt. Das ist aber auch schon die einzige Reaktion, die vom nur noch wenige Kilometer entfernten anderen Ende der Leitung kommt.

Kapitel 4
Neuland

Kurz nach zwanzig Uhr hält der Zug in Boll, einer kleinen Ortschaft zehn Kilometer von Bern entfernt. Und mein Telefonterror zeigt Wirkung. Irgendwann hebt irgendwer ab und sagt irgendwas, von dem ich glaube, dass es so viel wie „Es kommt gleich jemand“ bedeutet.

Jemand hat dunkelblonde Locken, die ihm chaotisch ins Gesicht springen, und eine Brille mit kreisrunden Gläsern, wie sie John Lennon bestimmt gefallen hätte. Gedankenverloren kommt er mir am Bahnsteig – es gibt hier nur diesen einen – entgegengestürmt und begrüßt mich mit zwei, nein, drei Küsschen auf die Wange. Anschließend geleitet mich Mike, das Mi von Jumi, in die Zentrale der Firma. Bevor ich mich fragen kann, wie weit ich mein Gepäck wohl werde schleppen müssen, sind wir bereits beim zwanzig Meter entfernten Altschweizer Gasthof, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat, angekommen.

Perfektes Timing ist etwas anderes. Um uns herum geht es zu wie beim Weihnachtsmann am Nordpol. Vorausgesetzt, der Weihnachtsmann hat den großen Spielzeugherstellern gekündigt und beschlossen, artige Kinder dieses Jahr mit Käse und Fleisch zu überraschen. Mein Gepäck lasse ich daher erst einmal links liegen. Die Jacke behalte ich aber besser an, während mich Mike von einem Kühlraum in den nächsten führt. Die Orientierung habe ich zwischen den vielen Paletten, Kartons und den sich darin stapelnden Spezereien längst verloren. Mir die zwanzig abstrusen Namenskürzel der Menschen zu merken, die mir Mike im Vorbeisprinten vorstellt, erfordert meine ganze Konzentration.

Mit Kosenamen verhält es sich bei den Schweizern anscheinend wie mit Racletteöfen: Jeder hat einen.

Dass sich Anna-Lena Li nennt, weiß ich ja schon, aus Christian wird Chrigu, Fine heißt eigentlich Finnian, Andrea wird Andle genannt, zu Heinz sagen alle Hene und zu Nadja nur Nadu. Fleischerin Heidi hat den einfachsten Namen, dafür aber den am schwierigsten dekodierbaren Dialekt. Ich vermute, sie hat mich mit „Hallo und willkommen“ begrüßt, bin mir aber ob ihres ausgeprägten Berndeutschs nicht ganz sicher.

Die Hand bekomme ich auf unserer Vorstellungsrunde nur von wenigen geschüttelt. Die meisten haben ihre gerade in Faschiertem vergraben, in der Schweiz und Deutschland Hackfleisch genannt, zwischen den Rippen eines Rindes oder in einem Bottich mit Innereien. Schnell schicke ich ein Stoßgebet Richtung Käsehimmel: Bitte lass mich kein Tier zerstückeln müssen! Dass ich Vegetarierin bin, weiß hier ja niemand. War bisher auch bei keinem Vorstellungsgespräch ein Thema. Es könnte aber durchaus sein, dass in diesem Betrieb andere Regeln gelten als in einer Werbeagentur, wo Fleisch maximal per Photoshop veredelt wird.