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Über »Abfangjäger«:

Eigentlich ist der Ankauf neuer Jagdflugzeuge für das österreichische Bundesheer bereits beschlossen. Nur der Bundeskanzler zögert mit seiner Unterschrift – und ruft damit Kreise auf den Plan, die vor nichts zurückschrecken, um ihr Ziel zu erreichen. Oberstleutnant Peter Zoff, Chef des Morddezernats im LKA Steiermark, ermittelt derweil in einem ganz anderen Fall – und ahnt nicht, wie das alles zusammenhängt – und in welches Wespennest er stechen wird …

Macht. Korruption. Gewalt. Ein schonungslos spannender Politkrimi.

Über »Ultimo«:

Hannes Rieder ist eine schillernde und umstrittene Figur, eiskalter Lebemann und Oberbürgermeister von Salzburg. Nach heftigen internen Streitigkeiten seiner Partei trifft er Vorbereitungen für ein Bündnis mit den Sozialisten. Doch dann erhält er Drohbriefe, sein Sommerhaus wird niedergebrannt und zwei enge Freunde Rieders werden ermordet. Peter Zoff vom Landeskriminalamt Graz nimmt die Ermittlungen auf …

Ein Kriminalroman um Macht, Korruption und den tagtäglichen Ausverkauf politischer Ideale.

Über den Autor:

Hans-Peter Vertacnik, Jahrgang 1957, ist im Hauptberuf Bezirkspolizeikommandant. Außerdem ist er als Kommunikations- und Medientrainer sowie als Autor tätig.

Von Hans-Peter Vertacnik erschienen bereits bei dotbooks der Thriller »Rosentod«.

Die Website des Autors: www.vertacnik.com

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Originalausgabe Mai 2014

»Abfangjäger« erschien bereits 2007 unter dem Titel »Abfangjäger. Zoffs erster Fall« bei Gmeiner-Verlag GmbH, Meßkirch

»Ultimo« erschien bereits 2008 unter dem Titel »Ultimo. Zoffs zweiter Fall« bei Gmeiner-Verlag GmbH, Meßkirch

Copyright © der Originalausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von George Doyle/thinkstockphotos.de

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95520-386-3

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Hans-Peter Vertacnik

Abfangjäger & Ultimo

Zwei Romane in einem Band

dotbooks.

Abfangjäger

Der vorliegende Roman ist eine Fiktion.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären zufällig und

absolut unbeabsichtigt.

Der Autor

Gerechtigkeit

ist eine Illusion

(Lebensweisheit)

1. Kapitel

Die, welche ganz zu dir halten und nicht habgierig sind, musst du ehren und lieben.

(Niccolo Machiavelli: „Der Fürst“)

Es gibt keine Zweifel mehr. Auch kein Zurück. Die Ereignisse haben sich überschlagen und sie müssen es zu Ende bringen. Hier und jetzt. Mit zusammengekniffenen Augen rekapituliert der weißhaarige, elegante Mittfünfziger, der sich ,Mutter Theresa’ nennt, still für sich noch einmal den Plan, ehe er sich laut räuspert.

„Die Zielperson benützt die Westautobahn und gelangt voraussichtlich über die Hadikgasse und die Rechte Wienzeile bis zum Karlsplatz“, erklärt er aus dem streifigen Halbschatten der halb herabgelassenen Jalousien heraus mit heiserer Stimme. „Dort biegt der Mercedes links ab, rollt auf die Ringstraße, passiert Oper und Parlament und fährt zum Burgtheater, wo unser Notarztwagen wartet. Team Anton und Team Berta folgen Dillinger ab dem Parlament. Sie sperren ihn von hinten, sobald er am Burgtheater rechts abbiegt. Zugleich blockiert der bereitgestellte LKW das Ziel von vorne. Cäsar eins mimt den Chauffeur, Cäsar zwo geht zu Dillinger und behauptet, der Motor des LKW sei abgestorben und lasse sich nicht mehr starten. Vergessen wir nicht, dass es Dillinger verdammt eilig hat. Er wird aussteigen und den Weg zu Fuß durch den Volksgarten nehmen. Den kürzesten Weg. Dabei folgt ihm Cäsar zwo, reißt ihn an der ersten Buschgruppe zu Boden und hält ihm den Mund zu. Das Notarztteam verpasst Dillinger die vorbereitete Injektion, transportiert ihn ins Wiener Allgemeine Krankenhaus, übergibt ihn dem nächstbesten Quacksalber und verschwindet. Alles klar?“

„Wir betreten den Park also unmittelbar hinter Cäsar zwo?“

„Ihr wartet genau eine Minute lang.“

„Und was ist mit dem Chauffeur?“

„Was soll schon sein? Dillingers Fahrer muss sich ums Auto kümmern. Der bleibt bei seinem Wagen.“

„Und wenn Dillinger nicht durch den Park geht? Am Ende bleibt er im Wagen und wartet oder er nimmt den längeren Weg durch die Löwelstraße bis zum Ballhausplatz.“

„Unwahrscheinlich. Aber sollte das der Fall sein, verzieht sich Team Cäsar durch den Volksgarten. Sobald die beiden verschwunden sind, erschießt Team Anton Zielperson und Fahrer, überquert die Ringstraße und läuft zum Rathaus. Am Busparkplatz steht ein grauer Renault Laguna. Der Schlüssel steckt. In Richtung Sezession ist mittags nicht viel los. Achtet auf die Ampeln. Da sind Kameras installiert. Gleich nach dem Naschmarkt findet ihr rechter Hand einige stille Quergassen. Lasst den Wagen dort stehen und flüchtet zu Fuß. Team Berta macht sich inzwischen über die Währinger Straße stadtauswärts aus dem Staub, parkt nach zehn Minuten irgendwo am Straßenrand und wechselt auf Bus oder Straßenbahn. Alles klar?“

Die Zuhörer nicken.

Ungerührt hält der Weißhaarige den wechselseitigen Blickkontakt noch ein paar Augenblicke lang aufrecht. „Uhrenvergleich. Es ist exakt 12 Uhr und 31 Minuten. Ihr verlasst diesen Raum in genau vier Minuten und besetzt eure Positionen.“

„Wie steht es mit Zeugen?“, will ein schmaler Blondschopf wissen.

„Bei dieser Hitze? Wir haben vierzig Grad. Da spaziert zu Mittag kaum jemand zum Burgtheater, geschweige denn in den Volkspark. Sollte uns aber tatsächlich jemand beobachten, werden wir uns um ihn kümmern. Später.“

„Und wenn sich jemand aktiv einmischt?“, fragt der Blonde hartnäckig.

„Dann legt ihn um. Noch Fragen?“ Es gibt keine. Leidenschaftslos nickt ‚Mutter Theresa’ den Anwesenden zu und geht.

Vereinbarungsgemäß warten seine Ansprechpartner noch exakt vier Minuten, ehe sie ebenfalls den Raum verlassen.

Der südwestliche Teil Niederösterreichs ist eine idyllische, waldreiche Gegend. Kurz nach Wiener Neustadt werfen sich die ersten dicht mit Nadelwald bewachsenen Hügeln auf, die gegen die Steiermark zu rasch an Höhe gewinnen, ehe sie sich zu einem veritablen Mittelgebirge auftürmen. Unweit von Rax und Schneeberg liegt in einem anmutigen Talkessel der ehemalige kaiserliche Sommerfrischeort Reichenau.

12.45 Uhr. Verstohlen wirft Oberstleutnant Peter Zoff einen Blick aus dem offenen Fenster und schnuppert. Es riecht nach Tannennadeln und frisch gehacktem Holz. Wunderbar ruhig ist es da draußen. Alles scheint seine Ordnung zu haben, und wenn man die Landschaft nur lange genug betrachtet, stellt sich Dankbarkeit für die Schöpfung, Freude und ein Gefühl von Frieden ein. Da liegt das Paradies, überlegt Zoff und atmet tief durch. Direkt vor seinen Augen. Seufzend dreht er sich um und wendet sich wieder seiner Seminargruppe zu.

„Es ist 12.45 Uhr. Eine Stunde Mittagspause. Mahlzeit.“

Unterdessen steht in Wien der Grazer Kriminalbeamte Ge

 Voss einen knappen Steinwurf vom Parlamentsgebäude entfernt, verdrückt ein Sandwich, trinkt eine Dose Bier und fotografiert.

Dann überquert er die Ringstraße und betritt den Volksgarten, während hinter ihm ein schwarzer Mercedes in Richtung Burgtheater fährt. Nervös legt Generaldirektor Doktor Max Dillinger die großformatige Tageszeitung zur Seite, seufzt und tippt seinem Fahrer auf die Schulter.

„Folgt uns jemand?“, fragt er besorgt.

„Ich glaube nicht“, antwortet der Chauffeur und wirft einen Blick nach hinten. „Jedenfalls ist mir diesbezüglich nichts aufgefallen. Ist etwas nicht in Ordnung, Herr Generaldirektor?“

„Ach was“, murmelt Dillinger mit schmalen Lippen. „Ich bin überreizt, das ist alles.“

„Wahrscheinlich arbeiten Sie zu viel, Herr Generaldirektor“, grinst der Fahrer. „Aber Sie sind gleich beim Kanzler. Und zwar pünktlich.“

Mittlerweile wählt Susanne Dillinger in Krems an der Donau zum dritten Mal die Telefonnummer ihres Manns. „Komm schon, Max“, stammelt sie konfus. „Melde dich, Liebling. Ich muss mit dir reden.“ Aber so sehr sie auch versucht, ihren Gatten mit der Kraft ihrer Gedanken ans Telefon zu zwingen, sie erreicht ihn nicht.

Nie wieder.

16.45 Uhr, Südautobahn, kurz vor der Ortschaft Hartberg. Gerd Voss ist auf dem Rückweg nach Graz. Widerwillig wischt er sich den Schweiß von der Stirn und aus den Augen und steckt das Papiertaschentuch weg. Er hasst diese Besprechungen im Ministerium. Bis vor drei Jahren war das noch anders. Da nahm er diese Leute noch nicht ernst, unterschätzte ihre Gefährlichkeit und ihre Niedertracht. Inzwischen meidet Voss das Innenministerium. Es ekelt ihm vor der Arroganz dieser Leute, vor ihrer Tücke und Gefühllosigkeit. Zähneknirschend hält er den Mund und vermeidet es, aufzufallen. Schließlich hat er keine Lust, an den Arsch der Welt versetzt zu werden oder sonst irgendwelche Schwierigkeiten zu bekommen. Dazu fühlt er sich einfach nicht mehr jung genug.

Er hätte sich nie so in seinen Job verbeißen sollen. Dann wäre alles besser gelaufen. Auch seine Ehe. Behutsam dreht er an den Lüftungsreglern und am Gebläse des blau lackierten Dienstwagens. An der Affenhitze im Innenraum ändert das nichts.

Eigentlich hat er sich gestern vorsorglich den hellen Volvo mit Klimaanlage reserviert, aber irgendein Arschloch hat ihm den Zündschlüssel vom Schreibtisch geklaut und ist mit dem Wagen abgehauen. Und jetzt? Jetzt hat er diesen verdammten Opel am Hals, der vor einem halben Jahr wegen eines angeblichen Totalschadens aus dem Verkehr gezogen und dann doch wieder repariert worden ist. Wieder wischt er sich den Schweiß von der Stirn, gähnt und wirft einen Blick in den Rückspiegel. Ein weißer Streifenwagen überholt einige Fahrzeuge und bleibt etwa fünfzig Meter hinter ihm auf der mittleren Spur. Nicht zu fassen, diese Hitze, überlegt Voss.

Der Streifenwagen hinter ihm holt auf. Was denn? Hinter wem seid ihr denn her, Freunde? Doch nicht etwa hinter mir? Grinsend verringert Voss das Tempo. Längst schon hätte er Kauz anrufen sollen. Der könnte ihn sonntags zum Klassentreffen mitnehmen. Für den liegt er gewissermaßen auf dem Weg. Ihn mitzunehmen, wird Kauz keine Umstände bereiten. Bedächtig nimmt Voss das Mobiltelefon aus der Innentasche seines Sakkos, legt es auf die Konsole zwischen Schaltknüppel und Aschenbecher, wählt und führt das Gerät ans Ohr. „Hallo?“

„Kauz. Guten Tag.“

„Servus, Kurt“, hüstelt Voss und beobachtet misstrauisch den Streifenwagen, der zügig überholt und vor ihm einschert. Das fehlt gerade noch. Telefonieren ohne Verwendung einer Freisprechanlage ist schließlich verboten. Schuldbewusst macht sich Voss so klein wie möglich.

„Was ist denn los, Gerd? Ich hab dienstfrei und bin gerade im Gebirge. Wandern.“

Nervös erkundigt sich Voss, ob Kauz ihn zum Klassentreffen mitnimmt, während der Streifenwagen vor ihm bremst.

Sein alter Schulfreund sagt sofort zu.

„Alles klar“, antwortet Voss noch, ehe vor ihm das Blaulicht aufblitzt, schaltet das Telefon ab und legt es auf den Beifahrersitz. Dann folgt er zähneknirschend dem Einsatzfahrzeug nach rechts auf den Autobahnparkplatz, über dem ein Helikopter kreist.

Unruhig überlegt Voss, wo seine Dienstmarke steckt, kramt in der Hosentasche danach, findet sie und legt sie neben das Handy. Und wieso ist er denn so aufgeregt? Das ist ja auch sonst nicht seine Art.

Der Parkplatz ist schmal, verdreckt und verlassen. Auf dem Boden Papierfetzen und Plastiktüten. Alles in allem eine ausgesprochen trostlose Gegend.

„Und wegen so einer Blödheit verpasse ich die Siebzehnuhrnachrichten“, seufzt Voss, als er hinter dem weißen Mercedes anhält. Zugleich öffnet er die Seitenscheibe, streckt seine Dienstmarke durch das offene Fenster und beobachtet frustriert den Hubschrauber, der gerade nach Osten zu abdreht.

Die beiden Polizisten, die langsam auf ihn zukommen, tragen diese neuen blauen Uniformen, an die sich Voss nicht gewöhnen will.

„Wie die Eisenbahner“, murmelt er verstohlen und grinst. „In diesen Uniformen sehen die doch alle aus wie Eisenbahner. Und diese Sonnenbrillen. Entsetzlich.“

Wortlos tritt der größere Beamte an den Opel heran, ergreift mit seiner behandschuhten Linken die blanke Dienstmarke und steckt sie ein. Im dunklen Glas der Sonnenbrille des hageren muskulösen Manns sieht Voss einen Augenblick lang sein eigenes erstauntes Gesicht.

„Ihr habt eine eigenartige Art, jemanden anzuhalten, Kollegen“, bringt er noch über die Lippen, ehe er stutzig wird.

Gefahr.

Instinktiv zuckt seine rechte Hand zum Schulterholster, umfasst den Kolben der Dienstpistole, und zieht die Waffe mit jener fließenden Bewegung, die er schon seit Ewigkeiten beherrscht. Da fasst ihm der Hagere aber auch schon mit beiden Händen ins Haar, reißt ihn hoch, und fixiert seinen Kopf am Fensterrahmen. Verzweifelt krallt Voss die Nägel seiner linken Hand in den Unterarm des Angreifers und drückt seine Pistole gegen die Tür, um durch das Blech zu feuern, als sich der stämmigere Uniformierte wie ein Schatten vom Kotflügel des Opel löst, mit einem ruhigen Schritt an die Fahrertür tritt und ihm die Klinge seines Kampfmessers durch das Kinn bis ins Gehirn treibt.

Der Hagere hält Voss so lange fest, bis sich das krampfartige Zucken seines Leibes und das dumpfe Gurgeln aus dem Mund erledigt. Dann zieht der Mörder das Messer aus der Wunde, steckt es in einen durchsichtigen Nylonbeutel und stößt den Kopf der Leiche zurück ins Fahrzeuginnere, wo der schlaffe Körper seitlich verdreht zwischen Lenkrad und Armaturenbrett zusammensackt. Ohne Eile öffnet der Hagere einstweilen die linke hintere Tür und nimmt den dort abgelegten Fotokoffer vom Rücksitz, bevor der Stämmige zur Beifahrertür schreitet, sie öffnet und das Mobiltelefon in eine Plastiktüte packt. Ein Blick ins Handschuhfach. Da ist nichts. Zufrieden greift der Mörder nach links, zieht den Zündschlüssel aus dem Zündschloss und geht zum Kofferraum. In kürzester Zeit durchsucht er ihn, schließt den Deckel, wirft den Zündschlüssel in Richtung Autobahn und eilt zum Streifenwagen, in dem der Hagere bereits Platz genommen hat.

Eilig startet der Hagere den Motor und schaltet das Blaulicht aus. Keine zwanzig Sekunden darauf nimmt der Wagen Fahrt auf, während ein kurzer, heftiger Windstoß die Nylonsäcke und Papierfetzen auf dem Asphalt wie Spielbälle vor sich her treibt. Eine heftige Bö noch, gefolgt von Windstille.

Dann ist der Mercedes verschwunden.

So, als hätte er nie existiert.

Peter Zoff ist total entkräftet und auch Marlene ist erschöpft. Schweißnass tastet sie sich an seiner Brust entlang, berührt mit ihrem Haar seinen Nabel und reibt ihre kleinen, festen Brüste an seinem Hals und seinen Lippen, ehe sie über ihn greift und nach dem schwarzen Seidenslip sucht, der neben dem umgestürzten Stuhl am Boden liegt. Endlich erhascht sie ihn, rappelt sich hoch und schlüpft hinein. Auf dem Tisch findet sie ihr Unterhemd. Lächelnd nimmt sie es hoch, glättet es und zieht es sich über. Unterdessen liegt Zoff weiter am Teppich, betrachtet argwöhnisch die kleine Bisswunde an seiner linken Schulter, flucht leise vor sich hin und wischt sich Spuren von Lippenstift von der Haut. Das Mädchen registriert es mit nachsichtigem Lächeln und steigt über Zoffs ausgestreckten nackten Körper zur Stereoanlage. Dort legt sie eine CD ins Abspielgerät ein und versenkt ihren hungrigen Blick in Zoffs glasklare Augen.

Across the universe. Zoff kennt den Text und singt ihn leise mit, bis Marlene sich bückt, ihn noch einmal küsst und lautlos wie ein Schatten im Badezimmer verschwindet.

Zoff ist immer noch heiß. Schwitzend dreht er den Kopf zur Seite und lässt den Blick über Marlenes geschmackvoll eingerichtete Wohnung schweifen. Längst hat er die Räume innerlich abgespeichert, abgelegt und archiviert, verborgen in einem der hintersten Winkel seines Gehirns. Jedes Möbelstück ist tief verankert. Er wird keines davon vergessen.

„Hast du ein Blatt Papier?“

„Auf dem Regal liegt ein Block. Gleich neben der Stereoanlage.“

„Danke.“ Gähnend erhebt sich der Oberstleutnant, kleidet sich an, setzt seine runde Nickelbrille auf, holt Block und Kugelschreiber, setzt sich an den Tisch und schreibt.

„Hallo.“

„Was tust du da? Ich bin noch nicht so weit", wehrt er sich ein wenig hilflos, als sie ihm von hinten ins Haar greift. „Also sei lieb und gib noch ein paar Minuten lang Ruhe.“

„Ruhe? Aber klar doch“, nickt Marlene, küsst ihn auf die Wange und reibt sich an seinem Körper. „Du bist der Chef hier. Schreib, so lange du willst.“

„Während du meinen Nacken küsst?“, protestiert er schwach und genießt den Schauer, der ihm über Arme und Rücken rinnt, als sie ihre Zunge in sein Ohr steckt. Schön.

Irgendwann reicht es. Da taumelt er hoch, drückt Marlene an die Tischplatte, küsst ihr Haar und ihren Nacken und ihren Mund und dann wieder ihren Hals und das Tal zwischen ihren Brüsten, bis sie ihn mit funkelnden Augen ans Fenster drängt und gegen das Glas presst.

„Ich begehre dich.“

„Und ich dich erst“, seufzt Zoff, küsst ihre Ohrläppchen und lässt seine Zunge in ihrem Mund kreisen. Ungestüm tasten ihre Finger an seinen Jeans und er drückt ihren Körper gerade noch so weit von sich weg, dass er sich mühsam ihrer Umarmung entziehen kann.

„Komm“, flüstert sie heiser. „Komm jetzt.“

„Ich will dich ja auch. Aber lass mich zwischendurch auch einmal wieder zu Atem kommen.“

„Zu Atem kommen? Also atme. Atme doch.“

„Das versuche ich“, brummt er verlegen und fährt sich mit den Fingern durchs Haar.

„In Ordnung. Wir machen eine Pause“, lacht das Mädchen. „Ausnahmsweise. Im Kühlschrank ist Weißwein.“

Erleichtert holt Zoff die Flasche, stellt sie auf den Tisch und nimmt wieder den Stift zur Hand. ‚Wortlos stehen wir einander gegenüber’, schreibt er, ‚und all die Ersparnisse meines Herzens gehen über den Ladentisch.’ „Nina.“ Ein Flüstern. Unhörbar fast.

„Was?“

Still, tadelt er sich. Kein Wort mehr, du Idiot. „Nichts. Gar nichts.“ Verlegen bringt er den Text zu Ende. ‚Lächelnd öffnest du die Knöpfe deines Kleides und wieder einmal schnappen die Fallen meines Kopfes weithin hörbar zu.’

Stumm zündet Marlene eine Kerze an. „Schön. Wunderschön. Ein Bulle, der Gedichte schreibt. Ich bin nicht umsonst so verrückt nach dir.“

Als sie vom Wein kosten, küsst sie ihn so zart, als würden sich ihre Lippen zum ersten Mal um die seinen schließen. Unglaublich, dass ein 24-gjähriges Ding wie Marlene mich so mag, sinniert Zoff. Da läutet sein Mobiltelefon.

Marlene will nicht, dass er abhebt.

Zu spät.

„Zoff.“ Der Anrufer spricht rasch. Er ist sehr aufgeregt. Routiniert greift der erfahrene Kriminalbeamte nach dem Schreibblock, dreht ihn um und notiert mit. „Voss? Ermordet? Unglaublich. Und Big Boss will, dass ich die Ermittlungen leite? Von mir aus. Ich komme, so schnell ich kann. Weiß der Staatsanwalt Bescheid? Erkundige dich, wer von der Tatortgruppe zur Verfügung steht. Das Wichtigste ist, dass niemand ohne Erlaubnis der Spurensicherung den Tatort betritt. Kümmere dich persönlich darum. Und sorge dafür, dass bis morgen jemand meine Seminargruppe in Reichenau übernimmt. Bis später.“

„Was ist passiert?“

„Mein Stellvertreter war dran. Der Leiter unserer Observationsgruppe ist tot. Erstochen. Ich muss ganz schnell weg. Entschuldige.“

„Wieso? Du kannst ja nichts dafür.“

Zoff ist mit den Gedanken schon ganz wo anders. Still schnappt er sich die schwarze Lederjacke plus Mobiltelefon und verzieht sich.

Sein Hotel liegt beinahe um die Ecke. Noch vom Hotelzimmer aus ordnet er telefonisch eine Nachrichtensperre an, ehe er packt, das Zimmer bezahlt und hektisch abreist.

Soll er Marlene noch ein paar liebe Worte sagen? Telefonisch? Er spielt mit dem Gedanken, solange er den malerischen Ort Gloggnitz passiert. Dann ist ihm aber plötzlich doch nicht mehr danach, und seine Gedanken wandern von Marlene zu seiner Frau und weiter zu Voss. Zum Mord an Voss. Vor ein paar Wochen hat er ihn zufällig im Schießkeller des Landeskriminalamts getroffen. Der Mann war so still. Direkt auffallend geistesabwesend und bedrückt.

„Glücklich schien Voss nicht zu sein“, brummt Zoff. „Es ist halt schon ein Elend, wenn einem die Frau abhaut.“

Das Ortsgebiet ist zu Ende. In zwei Linkskurven führt die Straße eine Anhöhe hoch. Es folgt eine Kreuzung. Zoff stoppt, biegt nach rechts ab und gibt dem BMW tüchtig die Sporen. Ein paar Wimpernschläge später ist er auch schon auf der Schnellstraße und fährt zügig nach Südosten. Im Rundfunk diskutiert gerade eine Expertenrunde über neue Anschaffungen für das Heer und Zoff schaltet das Gerät ein wenig lauter, als drei Jagdflugzeuge vom Grenzland kommend über die Autobahn fliegen, kreischend wie wütende Steinadler hochziehen und über ihre rechten Tragflächen abkippend aus seinem Blickfeld verschwinden.

„Fliegen. Allen Problemen einfach davonfliegen“, lamentiert Zoff traurig, denkt an Marlene und gleich darauf wieder an Nina. Er mag seine Frau, aber Marlene ist auch schon weit mehr für ihn als bloß eine Affäre. Also was tun?

So vergeht die Zeit. Nach einer Viertelstunde erreicht Zoff das Autobahnkreuz Sebenstein, hält sich rechts und rast auf der Südautobahn in Richtung Graz.

Ein Blick auf die Armbanduhr.

Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, ist er in vierzig Minuten am Tatort.

Schneller geht es aber beim besten Willen nicht.

Achim Grünberg ist Fotograf.

Achim Grünberg ist Künstler.

Die Art, wie er mit Licht und Schatten spielt, mit Perspektive experimentiert und aus den Details banaler Motive Bilder von Weltruf schafft, ist unverwechselbar. Diese Gabe hat ihn reich gemacht.

Die Hitze des Tages ist gebrochen und ein leiser Wind streicht durch die Wiener Innenstadt, als er nach einem guten Abendessen im Restaurant ‚Levante’ über den Kohlmarkt zum Graben und dann in Richtung Stefansplatz spaziert. Es riecht nach Kaffee, und die Tragetasche mit seiner Kamera und den drei Objektiven ist federleicht. Er ist an sie gewöhnt, so wie andere an ihre Beine oder an ihre Arme gewöhnt sind. Langsam schlendert Grünberg an den Schaufenstern der noblen Geschäfte vorbei. Porzellan, Wein, Damenunterwäsche. Eine junge Frau steht auf der anderen Straßenseite, zieht ein Mobiltelefon aus ihrer Handtasche und wählt. So, wie sie sich kleidet und wie sie ihr Haar trägt, hat sie eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Tochter.

Muss Eva denn unbedingt in Linz studieren, grübelt er. In Linz, diesem von der Stahlindustrie ganz und gar zugrunde gerichteten Drecksnest. Dieser faden, gesichtslosen Provinzstadt. Wirtschaftswissenschaften studiert man in Wien. Das hat er Eva gesagt. Natürlich hat sie sich trotzdem an der Linzer Universität einschreiben lassen.

„Was findet sie bloß an Linz?“, motzt er. „Nicht einmal ein ordentliches Theater gibt es da.“ Aber wie auch immer: Eva hat heute schon angerufen und versprochen, ein paar Tage heimzukommen. Also hat er Karten für das Theater in der Josefstadt besorgt. Eva liebt die Josefstadt und er liebt sie auch.

„Wir werden einen schönen Abend haben“, grinst der Alte. „Endlich wieder.“

Im Handumdrehen steht Grünberg am Stefansplatz. Viele seiner bekanntesten Arbeiten entstanden hier, auf der Fläche zwischen dem ,Haashaus’ mit seiner modernen Glasfassade und dem alten Dom. Schade, dass ihm keiner seiner hochempfindlichen, grobkörnigen Spezialfilme mehr zur Verfügung steht, aber die hat er heute gegen Mittag schon im Volksgarten verbraucht.

Eigenartig. Wann immer er im Volksgarten arbeitet, denkt er an die Fotos mit Klara zurück. Er schoss sie vor 25 Jahren und es war die beste Fotosession seines Lebens.

Klara. Mit feuchten Augen dreht sich der Alte um, trottet gedankenverloren die wenigen Meter zum Abgang der Untergrundstation und tastet sich über die steilen Treppen nach unten.

Er ist oft hier. Er kennt den Weg. Mit sicheren Schritten folgt Grünberg dem Wegweiser zur U3, weicht betrunkenen Obdachlosen und grölenden Jugendlichen aus und erreicht den Bahnsteig. Es ist kurz nach 20 Uhr und er wunderte sich, wie viele Menschen heute noch auf die Untergrundbahn warten. Manchmal kommen ihm ganze Touristenschwärme entgegen und er achtet sorgsam darauf, an niemanden anzustoßen. Eine Berührung durch Fremde macht ihm Angst. Schon von Kindheit an.

Eigenartig, diese dumpfe Müdigkeit in den Beinen, grübelt er. So zerschlagen wie heute war er schon lange nicht mehr. Ein Sitzplatz wäre jetzt gut. Ein ruhiger Sitzplatz.

Nächster Zug in 1 Minute, liest er von der schwarzen Anzeigetafel ab und sieht die rote Leuchtschrift wieder verblassen. Nervös senkt er den Blick, um nicht in Erbrochenes zu treten, und hält sich ein ganzes Stück hinter der gelben Sicherheitslinie, die den Gefahrenbereich des Bahnsteigs markiert. Die beiden Herren, die ihn ruhig mustern und sich schweigend direkt hinter ihn stellen, sind ganz offensichtlich Fahrscheinkontrolleure. Das erkennt er an ihrer unauffälligen Kleidung und ihrem betont gleichgültigen Verhalten. Offensichtlich sind sie auf der Jagd nach Schwarzfahrern. Grünberg hält nicht viel von solchen Typen. Menschen, die Menschen kontrollieren, sind ihm suspekt. „Halten Sie Abstand“, protestiert er gereizt, als sie ihm zu nahe kommen, und registriert zufrieden, dass sie sich sofort kommentarlos zurückziehen. Na also. Als Kind eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter lernt man früh, Flagge zu zeigen. Grünberg hat Erfahrung mit Beamten. Jahrelange Erfahrung. Er könnte ein Buch über Beamte schreiben. Einen Bestseller.

Nichts findet der Alte so abstoßend wie diese überfallsartigen Kontrollen auf den Bahnsteigen und in den Zugabteilen der Wiener Linien, nichts lächerlicher als diese verkleideten Wichtigtuer, die bei ihrer Jagd nach Ticketsündern einen derart heiligen Eifer entwickeln, als gehe es um die Festnahme von Schwerverbrechern. Das sind doch Psychopathen. Spinner. Leute, die ihr Leben lang darunter leiden, es nie zum Kriminalbeamten gebracht zu haben.

Immer mehr Fahrgäste versammeln sich hinter Grünberg. Bald steht man dicht an dicht und der Fotograf wird unruhig. Der zunehmende Druck von hinten ist ihm unangenehm. Plötzlich zittert der Boden. Ein Dröhnen ertönt. Immer stärkerer Lärm. Grünberg freut sich auf seine Tochter.

„Drängen Sie nicht so“, schnauzt er die beiden Herren an, die schon wieder an seinen Rücken stoßen.

Mit einem stummen Nicken entschuldigt sich der Weißhaarige und tritt einen Schritt zurück.

Der Fotograf schaut schon wieder nach vorne, als der einfahrende Zug geräuschvoll bremst und ihn ein heftiger Stoß nach vorne taumeln lässt. Für ein Erschrecken bleibt ihm keine Zeit mehr, bloß noch für ein Staunen. Wenige Meter vor dem Triebwagen knallt der alte Mann kopfüber vom Bahnsteig auf die Gleise, während sich die Schreie der entsetzten Menge an den Wänden der Station brechen.

Aber das hört Grünberg schon nicht mehr.

Die Hitze des Tages verebbt, aber der Asphalt glüht nach und es riecht nach frischem Teer und Hundedreck.

Müde stellt Zoff den BMW an den Parkplatzrand, schaut der Feuerwehr beim Aufbau der Scheinwerfertürme zu und nickt zufrieden, als er die straff gespannten Kunststoffbänder registriert, die den Tätigkeitsbereich der Spurensicherung abgrenzen. Chefinspektorin Britta Seitz wartet bereits an der Innenseite der Absperrung, und unterhält sich mit dem Kommandanten der beiden Einsatzzüge, die mit schwarzen Overalls bekleidet den frei zugänglichen Parkplatz nach Gegenständen abkämmen. Unterdessen arbeiten vier Spurensicherer am abgesperrten Tatort. So wie Britta tragen sie weiße Schutzkleidung mit Kapuze und Mundschutz, sowie blaue Einweghandschuhe, und ihre Schuhe stecken in Plastiküberzügen, um direkten Bodenkontakt zu vermeiden.

„Eigenartiger Aufzug“, grinst Zoff. „Erinnert einen immer wieder an Ärzte auf dem Weg zum Operationssaal oder an Astronauten bei der Mondlandung.

Aus den Augenwinkeln heraus registriert ihn Britta, unterbricht ihr Gespräch mit dem Kommandanten der Uniformierten, nimmt den Mundschutz ab und winkt Zoff zu. Sie wirkt ziemlich erschöpft.

„Ich habe eine Garnitur Schutzkleidung für dich vorbereitet, Peter“, sagt sie leise und deutet auf den weißen VW-Sharan, der mit offener Heckklappe keine 5 Meter entfernt abgestellt ist.

Zoff nickt bloß, trabt zum Wagen, zieht den Schutzanzug über und schlüpft durch die Absperrung. Plötzlich ist ihm speiübel. „Servus, Britta.“

„Grüß dich. Gut, dass du da bist.“

„Ja. Vielleicht. Ich weiß nicht. Gehen wir?“

„Wenn du willst. Also komm.“ Errötend senkt sie den Blick, fasst sich wieder, dreht sich um und marschiert entlang des Absperrbands nach links. Zoff tut es ihr gleich.

„Was hast du denn? Du bist so still“, knurrt er nach den ersten zehn Metern.

„Was ich habe? Nichts. Gar nichts. Oder ja, vielleicht doch. Ich habe es satt. Ganz fürchterlich satt. Seit langem schon. Aber lassen wir das.“ Nach einem prüfenden Blick geht sie noch zehn Schritte weiter, biegt im rechten Winkel ab und pirscht sich jetzt ziemlich frontal an den Opel heran.

Zoff folgt exakt ihrer Spur. Jetzt ist die auch noch angeschlagen, überlegt er besorgt. Dieser verdammte Stress. Ein Stich im Magen. Zoff taumelt.

„Vorsicht“, zischt Britta. „Wir müssen uns ganz behutsam bewegen.“

„Aber klar doch. Ich bin kein Anfänger. Brauchst du Hilfe?“

„Hilfe? Von wem? Von dir?“

„Warum nicht?“

„Weil du selbst genug Probleme hast, mein Lieber, oder? Nein, nein. Ich komme schon zurecht.“

„Bist du sicher?“

„Bin ich. Auch wenn mir die vielen Leichen langsam auf die Nerven gehen. Voss ist übrigens kein schöner Anblick.“

„Sehr schlimm?“, fragt er mitfühlend.

„Der Mord an dem 16-jährigen Mädchen vor zwei Wochen war ärger. Der war bestialisch. Das hier ist ganz anders, finde ich. Aber bilde dir selbst ein Urteil. Ich will dir nichts einreden.“

Er nickt. Den Blick zu Boden gerichtet, trottet Zoff weiter hinter Britta her, bis sie vorm Opel anhalten, und als dabei ihre Hand seine Hand streift, ist das zwar bloß der Hauch einer Berührung, aber trotzdem zuckt ein Blitz durch Zoffs Körper und sein Mund wird ganz trocken.

In diesem Moment bemerkt er Voss.

„Verdammte Scheiße“, krächzt er hilflos.

„Man hat ihm ein Messer durchs Kinn gerammt“, raunt Britta und senkt den Blick.

„Ein Messer?“, presst Zoff hervor. „Welches Messer?“

„Eines mit einer ziemlich langen Klinge.“

„Und wo ist das Ding?“ Immer noch starrt Zoff fassungslos auf das viele Blut an Kinn und Hals der Leiche.

„Keine Ahnung. Wir haben es noch nicht gefunden.“

„Es muss hier irgendwo liegen“, meint Zoff nachdenklich. „Kein Profi würde die Tatwaffe mitnehmen.“

„Wer sagt, dass der Mörder ein Profi war?“

„Niemand. Es könnte auch ein Amateur gewesen sein, aber immerhin war Voss Polizist.“

„Jeder hat einmal einen schlechten Tag.“

„Stimmt. Jedenfalls wäre uns sehr geholfen, wenn man das Messer rasch fände.“

„Die Kollegen stöbern den ganzen Parkplatz durch“, antwortet Britta zerstreut. „Früher oder später wird jemand die Waffe entdecken.“

„Wieso hat der Mörder das Ding überhaupt aus der Wunde gezogen? Das tut doch keiner.“

„Es sei denn, es hätte seinen Zweck“, führt Britta Zoffs Gedanken weiter.

„Interessante Idee.“

„Willst du wissen, was wir sonst noch alles festgestellt haben?“

„Selbstverständlich.“

„Also, da wären zunächst einmal Haare auf dem Asphalt vor der Fahrertür und an der Dichtung des Fensterrahmens. Außerdem ein wenig Blut unter den Fingernägeln der linken Hand. An der linken Stirnseite des Schädels befindet sich Gummiabrieb, der wahrscheinlich von der Gummidichtung des Fensterrahmens stammt. Es sieht so aus, als hätte jemand Voss an den Haaren dorthin gezogen. Etwa so. Siehst du?“

„Jetzt schon“, bestätigt Zoff heiser. „Tatsächlich. Die Spur ist ganz deutlich. Habt ihr Fingerabdrücke gefunden?“

„Mehr als genug. Der Wagen wurde recht häufig eingesetzt. Ich darf gar nicht daran denken, wie schwierig es sein wird, die Finger aller Kollegen auszuschließen. Ein weiterer interessanter Punkt ist die Dienstpistole. Sie liegt zwischen Fahrertür und Fahrersitz. Sieht so aus, als hätte Voss versucht, sich zu wehren.“

„Da war er wohl nicht schnell genug. Hat ihn der Arzt schon gesehen?“

„Der sitzt im Kombi der Autobahnpolizei und wartet.“

„Dann gehen wir.“

Kaum haben sich Zoff und Britta vom Opel zurückgezogen, kniet sich ein Spurensicherer vor die Beifahrertür, pinselt Pulver aufs Blech und nimmt die zutage tretenden Fingerabdrücke mithilfe von Klebefolie ab. Währenddessen leuchtet ein weiterer Experte mit einer Speziallampe den Boden ab. Alles läuft lautlos und systematisch. Wieder einmal erinnert Zoff die Arbeitsweise an ein gut eingespieltes Ärzteteam.

„Wie lange dauert das noch, Britta?“, fragt er, nachdem sie wieder an der Absperrung angekommen sind. „Wann kann ich die Leiche wegbringen lassen?“

Die schlanke, 32-jährige Leiterin der Tatortgruppe schiebt eine vorwitzige blonde Locke unter ihre Kapuze zurück, runzelt die Stirn und überlegt. Die unmittelbare Umgebung des Wagens ist abgesucht. Als Nächstes nehmen sie sich den Innenraum vor.

„In ein bis zwei Stunden.“

Seufzend geht Zoff zu Brittas Dienstwagen, entledigt sich seiner Schutzkleidung und wirft das Zeug angewidert in einen Plastiksack.

„Hallo, Zoff.“

„Sie haben mich ganz schön erschreckt, Dottore“, tadelt Zoff den Polizeiarzt und dreht sich um. „Was haben Sie festgestellt?“

„Nicht viel“, seufzt der Mediziner. „Leider. Dem Opfer wurde ein ungewöhnlich langes Messer mit großer Wucht durch Kinn und Kiefer getrieben. Die Tatzeit liegt zwischen 17 und 18 Uhr. Alles andere wird die Obduktion zeigen. Der Staatsanwalt wird wohl auch bald eintreffen. Meinetwegen können Sie ihm vorschlagen, die Leiche nach Freigabe des Tatorts wegbringen zu lassen. Ich bin hier fertig.“

„Danke.“

Die Dämmerung bricht herein und es wird windig. „Schaltet die Scheinwerfer ein“, befiehlt Zoff und nickt zufrieden, als das Licht aufflammt.

„Jede Menge Erleuchtung. Genau das, was wir brauchen“, knurrt auf einmal jemand hinter ihm.

„Grüß dich, Bruno.“ Müde dreht sich Zoff um und schüttelt seinem Stellvertreter die Hand. „Bist du allein?“

„Paul ist mitgekommen.“

„Wo sind die anderen?“

„Willi ist bei einem Rockkonzert in der Wiener Stadthalle. Hätte keinen Sinn gehabt, ihn herzuholen. Den Professor konnte ich telefonisch gar nicht erreichen.“

„Und morgen?“

„Da sind wir wieder komplett.“

Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich frage mich schon die ganze Zeit, wo Voss da hineingeraten ist.“

„In nichts Gutes, fürchte ich“, brummt Chefinspektor Bruno Polli und knöpft das Sakko seines eleganten grauen Sommeranzugs zu. „Hoffentlich hat er die Sache nicht mehr so richtig mitgekriegt.“

„Keine Ahnung. Aber das ging wohl eher schnell, denke ich“, antwortet Zoff finster, schlägt den Kragen seiner Lederjacke hoch und schließt den Reißverschluss. Auf einmal sind seine Magenschmerzen verschwunden. Dafür ist ihm jetzt kalt.

Inzwischen setzt sich Paul Billek in das Leitfahrzeug der Einsatzeinheit und verhört das Paar, das die Leiche entdeckt hat. Die junge Frau ist ziemlich verstört und es braucht eine Weile, bis sie die notwendigsten Fragen beantworten kann. Unterdessen spazieren Zoff und Polli vor dem Wagen auf und ab und plaudern über die Fußballbundesliga, bis ein dunkler Audi vor ihnen anhält.

„Schlohmeier“, zischt Polli. „Kannst du ihm ein paar Übersichtsaufnahmen zeigen?“

„Die hab ich vergessen“, gesteht Zoff leise. „Britta hat aber sicher welche.“

Stumm macht sich Polli auf die Socken und holt sie.

„Guten Abend, Herr Zoff.“

„Guten Abend, Herr Staatsanwalt.“

„Ich hatte Karten fürs Theater.“

„Ist nicht wahr. Welches Stück?“

„Irgendetwas von diesem Bernhard.“

„Großartiger Schriftsteller. Wäre wohl ein schöner Abend geworden.“

„Das sagen Sie, weil Sie Bernhard schätzen. Meine Gattin verehrt ihn ja auch. Bloß ich kann mich nicht so recht mit ihm anfreunden.“

Polli wieselt mit den Bildern in der Hand heran.

„Aha. Lassen Sie mal sehen“, lächelt  Schlohmeier jovial, flucht unwillkürlich, als er die erste Aufnahme sieht und fährt sich mit der linken Hand nervös durch das rote, borstige Haar. Dann fasst er sich wieder und schaut kurz auf. „Seltsame Art, jemanden umzubringen, nicht wahr? Der Mann war Kriminalbeamter?“

„Der Leiter unserer Observationsgruppe.“

„Sauerei. Wer tut denn so etwas? Übrigens wundert mich das Fernbleiben der Presse. Wieso sind die eigentlich noch nicht da?“

„Nachrichtensperre.“ Mit ernster Miene schildert Zoff die vorläufigen Erkenntnisse der Spurensicherung und die getroffenen Maßnahmen.

„Passt so“, quittiert Schlohmeier den Bericht, zieht unter seinem Sakko die Schultern hoch und nestelt nervös an seiner Krawatte. „Dann bringt die Leiche in die Gerichtsmedizin. Brauchen Sie mich noch?“

Stumm schüttelt Zoff den Kopf.

„Um diesen Fall beneide ich Sie nicht, Zoff“, murmelt der Staatsanwalt bedrückt. „Wer einen Kriminalbeamten auf diese Art und Weise umbringt, ist ein schweres Kaliber. Der ist nicht leicht zu kriegen. Auch nicht gefahrlos. Also Vorsicht.“ Mit sorgenvollem Gesicht reicht er Zoff die Hand.

„Gute Nacht.“

Nachdenklich schaut Zoff dem Audi nach, bis er hinter einer Gruppe von Uniformierten verschwindet. Dabei fällt ihm Marlene ein. Muss er sich eigentlich schämen, dass er sich als verheirateter Mann in ein so junges wildes Ding verknallt? Auf diese Frage hat er noch keine Antwort.

„Tut mir leid. Bei diesen Sichtverhältnissen hat die Suche nach der Tatwaffe keinen Sinn mehr“, holt ihn der Kommandant der beiden Einsatzzüge in die Realität zurück. „Wir suchen morgen weiter.“

„Und wer bewacht solange den Parkplatz?“

„Wir natürlich. Fünf Mann reichen für den Job.“

Zoff ist einverstanden. Hintereinander erledigt er noch eine Reihe von Telefonaten. Dazwischen nimmt Paul Billek die Angaben der beiden Polizisten zu Protokoll, die als Erste am Tatort waren. Gegen 23 Uhr bringt man die Leiche weg und kurz darauf ruft der Journalbeamte der Observationsgruppe an.

„Hallo, Zoff. Man sagte mir, Voss sei tot.“

„Stimmt.“

„Er war in Wien und hatte eine Besprechung im Ministerium.“

„Ach so. Na ja, jetzt ist er auf dem Weg in die Gerichtsmedizin. Hast du eine Ahnung, wer ihn umgebracht haben könnte?“

„Ich? Wieso?“

„Ich frage ja bloß. Woran habt ihr gearbeitet?“

„An einer ganzen Reihe von Fällen“, erwidert der Kollege zögernd. „Einer davon betrifft Menschenhandel. Die Täter sind Slowenen. Außerdem beschatten wir Kolumbianer, die falsche Dollarnoten in Umlauf bringen und Kokain verkaufen. Jede Menge organisierte Kriminalität, aber nichts, bei dem sich Voss einen Todfeind eingehandelt haben könnte.“

„Bist du sicher?“

„So einigermaßen. Bringst du es seiner Frau bei? Ich kann das nicht so gut.“

„Big Boss hat es ihr schon gesagt. Angeblich war sie sehr gefasst.“

„Kunststück. Die beiden lebten getrennt.“

„Ist bekannt. Jedenfalls besucht dich morgen einer meiner Kollegen. Ihr geht alle eure laufenden Fälle durch und auch die alten, an denen Voss beteiligt war. Vielleicht gibt es dabei doch jemanden, der für den Mord in Frage kommt.“

Gedankenverloren legt Zoff auf und steckt das Mobiltelefon weg.

Hinter Zoffs Rücken wird gerade der Opel auf einen Tieflader gehievt und weggeschleppt. Jetzt packen auch die Spurensicherer endlich ihre Sachen und verabschieden sich.

„Bruno?“

„Hier“, meldet sich Zoffs Stellvertreter und löst sich von den vier Feuerwehrleuten, mit denen er sich unterhalten hat. Zoff geht ihm entgegen.

Paul Billek wartet bei der Autobahnpolizei. Polli soll ihn einsammeln und zusehen, dass sie noch ein wenig Schlaf bekommen. Morgen heißt es fit sein.

„Die Feuerwehr beleuchtet das Gelände bis morgen früh.“

„Großartig. Dann braucht sich unsere Wache ja nicht zu fürchten. Adieu.“

Eine Dreiviertelstunde später erreicht Zoff Graz.

Die Stadt empfängt ihn mit der Gleichgültigkeit einer schläfrigen Nutte. Kaum Fußgänger. Ganz wenig Fahrzeugverkehr. So ruhig ist es hier ganz selten. Müde parkt er den BMW vor dem vierstöckigen, neu renovierten Mietshaus, betritt das Parterre und fährt mit dem Lift in die zweite Etage. Die Wohnungstür öffnet er mit großer Vorsicht. Schließlich will er niemanden stören.

In seinen vier Wänden ist alles ruhig. Frau und Tochter liegen zusammen im Ehebett. Beide schlafen tief und rühren sich nicht. Also schleicht er in die Küche und trinkt noch ein Glas Wasser, ehe er durch den dunklen Flur ins Arbeitszimmer schlurft, sich auszieht und in seinem alten Schlafsack aufs Sofa legt.

Seltsam. Einerseits ist er hundemüde, andererseits auch wieder hellwach.

Der Tatort ist so eigenartig, überlegt er. Was wollte Voss dort? War er verabredet? Ist er in eine Falle getappt? Oder war die Sache bloß ein dummer Zufall? Was wäre passiert, wenn sich auf diesem Parkplatz Unbeteiligte aufgehalten hätten?

Irgendwo im Haus rauscht eine Wasserspülung und reißt ihn aus seinen Gedanken. Im Grunde ist das ganz gut so. Er muss jetzt schlafen. Dieses nächtliche Nachdenken verwirrt ja nur. Es bringt nichts. Voss hatte Routine. Der war in Ordnung. Keiner, den man so leicht umbringt.

Beherzt löscht er das Licht.

Stille. Unangenehme Stille. Manchmal kann man Stille direkt hören.

Als Zoff beschließt, über das Phänomen der Stille heute nicht mehr intensiver nachzudenken, fallen ihm die Augen zu.

Ohne Unterbrechung pennt er bis zum Morgen.

Der neue Tag riecht nach Kaffee.

Mit geschlossenen Augen genießt Zoff den Morgen, ehe er seinen Kopf in Ninas noch warme Decke steckt. Sie duftet nach Parfum. Riecht gut, räumt er ein. Riecht verdammt gut. Aber wenn er sich vorstellt, wie Marlene ihn jetzt aufwecken würde, ist ihm Ninas Parfum ja so was von egal. Gähnend zieht er sich hoch, springt aus dem Bett und hastet nackt ins Arbeitszimmer. Dort legt er seinen Schlafsack zusammen, verstaut ihn in der Lade unterm Sofa und trägt Unterwäsche und Jeans ins Bad.

Ist seine Kleidung in Ordnung?

Alles bestens.

Somit stellt er sich beruhigt unter die Dusche und lässt zuerst eiskaltes, dann heißes und dann wieder eiskaltes Wasser über seinen straffen, gut trainierten Körper laufen. Für seine 42 Jahre ist er noch ziemlich gut in Schuss. Sein harmonisches Gesicht zeigt noch fast keine Falten, das brünette, in die Stirn frisierte Haar ist noch voll und gesund und seine runde Nickelbrille, hinter der vorwitzig seine blauen Augen hervorblitzen, verleiht ihm den Anschein einer gewissen Intellektualität. Laut prustend, aber mit dem Ergebnis seines allmorgendlichen Rituals durchaus zufrieden, verlässt er die Dusche und trocknet sich ab. Die Bisswunde an seiner Schulter überklebt er sorgfältig mit einem Heftpflaster. Dann vergräbt er Jeans, Hemd und Unterwäsche tief unten im Wäschekorb, trabt nackt durch den Flur zum Schrankraum, wählt neue Unterwäsche, ein hellblaues Kurzarmhemd, eine hellgraue Sommerhose und einen schwarzen Ledergürtel. Er zieht sich an und eilt in die Küche, wo Nina und Julia schon beim Frühstück sitzen.

„Wieso bist du schon da?“, fragt Nina beiläufig, trinkt ihren Kaffee aus und blättert kurz in einer Akte, die sie gleich darauf in ihrer schwarzen Aktentasche verstaut.

„Gute Frage. Störe ich?“

„Willst du eine ehrliche Antwort?“

„Nur heraus mit der Wahrheit. Tu dir keinen Zwang an.“

„Super“, faucht Julia. „Geht das schon wieder los? Vertragt euch doch wenigstens, solange ich in der Nähe bin. Seid lieb.“ Das sitzt.

Augenblicklich herrscht Ruhe.

Na eben. Geht doch. Verdrossen packt die 16-jährige Tochter des Hauses ihren Lederrucksack, schließt ihn, prüft das Gewicht, öffnet ihn noch einmal und entfernt fluchend zwei Bücher.

„Gewichtsprobleme?“

„Das siehst du doch.“

„Du schminkst dich recht heftig in letzter Zeit. Und diese kurzen Röcke. Muss das sein?“

Wütend schüttelt Julia ihr schwarzes Haar, verbeißt sich aber eine Antwort. Was verstehen Männer in diesem Alter von solchen Dingen? Nichts.

„Gott sei Dank beginnen in ein paar Tagen die Ferien“, murmelt Zoff.

„Das registrierst du? Erstaunlich.“

Mit sarkastischem Lachen nimmt Julia ein Stück Kuchen vom Teller, stopft sich damit den Mund voll und geht. Derweil trinkt Nina ein Glas Mineralwasser, schaut zum Fenster hinaus und schweigt.

„Ein Kollege wurde ermordet. Ich musste das Seminar abbrechen und die Ermittlungen übernehmen“, erklärt Zoff ernst.

„Jemand, den ich kenne?“ Mit versteinerter Miene erhebt sie sich und räumt ihr Geschirr weg.

„Gerd Voss“, erwidert Zoff leise. „Ich glaube nicht, dass du ihn kennst.“

„Ein Schauspieler heißt so.“

„Der, den ich meine, ist Kriminalist.“ Verärgert greift Zoff nach der Kaffeekanne und schenkt ein. Dann bestreicht er eine Toastscheibe mit Butter und Marmelade und isst. Er liebt diesen Geruch nach Kaffee und warmem Weißbrot. Das hat etwas von Wärme und Geborgenheit.

„Also dann. Tschüss, Mama“, schreit Julia im Flur.

„Tschüss, Mama. Bis später, Mama“ äfft der Oberstleutnant seine Tochter nach. Die Wohnungstür fällt ins Schloss. Dann ist es still.

„Willst du mir nicht sagen, was euch beiden so die Laune verdorben hat?“

Keine Antwort.

„Also rede doch.“

Nina schweigt.

„Na gut.“ Lustlos schmaust Zoff weiter, nimmt die Zeitung von Julias Platz, breitet sie vor sich aus und liest, während seine Frau den Geschirrspüler einräumt.

„Wusstest du, dass der Vorstandsdirektor der Österreichischen Industrie-AG an einem Herzanfall verstorben ist? Schade. Der schien ganz kompetent zu sein.“

„So?“, antwortet Nina gleichgültig, klappt den Geschirrspüler zu und setzt sich wieder.

„Entschuldige. Ich merke schon, es interessiert dich nicht.“ Mürrisch schiebt Zoff die Kaffeetasse weg und überfliegt die restlichen Überschriften. Dann faltet er die Zeitung zusammen, trinkt noch ein Glas Wasser und räumt den Rest der Teller, Gläser, Tassen und des Bestecks in den Spüler.

„Wie lange arbeitest du heute?“, fragt er so nebenbei.

„Heute ist Freitag“, antwortet Nina leise. „Da arbeite ich grundsätzlich von 8 bis 16 Uhr. Und zwar seit Jahren.“

„Tatsächlich? Dann entschuldige bitte. Verzeih. Willst du nicht mehr mit mir reden? Konversation betreiben, sozusagen. Was passt denn schon wieder nicht?“

Schweigend steht Nina auf und tritt ans Fenster. Leicht ist ihr Gang, ein Schweben fast. „Nichts passt mehr, Peter“, entgegnet sie traurig. „Gar nichts. Seit langem schon. Bloß spürst du es anscheinend nicht. Oder du spürst es und es ist dir egal.“

„Egal?“ Zoff schluckt. „Wieso egal?“

„Also sag schon“, beharrt Nina und dreht sich wieder um. „Registrierst du ab und zu wenigstens, wie wenig wir drei noch miteinander anfangen können?“

„Ob ich das registriere?“

„Du spielst Papagei und findest keine Antwort“, spottet sie. „Das ist schwach, mein Lieber. Ziemlich schwach.“