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Zum Buch

Eines Nachts klingelt es an der Tür, Agnes wird verhaftet. Erst nach einiger Zeit wird ihr klar: Sie wird des Drogenhandels beschuldigt, ihr drohen bis zu zehn Jahre Gefängnis.

Eindringlich berichtet Agnes vom Alltag im überfüllten Frauengefängnis „Dozza“ in Bologna. Sie erzählt, wie die Zustände dort an den Insassinnen zehren. Haben sie durch ihre Verfehlungen das Recht auf Gesundheit verwirkt? Das Recht auf einen anständigen Prozess, auf menschliche Behandlung? Es ist eine Geschichte von Machtlosigkeit und Ohnmacht, aber auch des Sich-wieder-Findens, der Hoffnung und der Rückkehr in die Freiheit.

Ein Beispiel für alle, die nach einem Ausweg aus dem Abgrund suchen.

Tiziana Tomassetti, Therapeutin

Agnes Schwienbacher

UNRECHT

In den Mühlen der italienischen Justiz

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Mit finanzieller Unterstützung der Südtiroler Landesregierung, Abteilung Deutsche Kultur

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Bei den abgedruckten Bildern handelt es sich um Werke von Agnes Schwienbacher, die während ihrer Haftjahre im Malkurs bzw. in der Kunsttherapie entstanden sind. Die Filmstills aus dem Dokumentarfilm „Milleunanotte“ (2012) wurden mit freundlicher Genehmigung des Regisseurs Marco Santarelli abgedruckt. Wir bedanken uns für die Zusammenarbeit.

© Edition Raetia, Bozen 2020

Projektleitung im Verlag: Magdalena Grüner

Korrektur: Helene Dorner, Silvia Oberrauch

Übersetzung Vorwort: Teseo La Marca

Umschlagfoto: iStock, Instants

Gestaltung und Layout: Typoplus, Frangart

Printed in Europe

ISBN: 978-88-7283-714-6

ISBN E-Book: 978-88-7283-722-1

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com.

Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an info@raetia.com.

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort von Tiziana Tomassetti

Vorgeschichte

Meine Festnahme

Zehn Tage isoliert

Die erste Zellengenossin

Mutters Beerdigung

Weihnachten hinter Gittern

Weißer Reis und Heiliger Abend

Hochsicherheitstrakt 2008

Kontakt nach draußen

Hausarrest im „Sorriso“

Es ist zu spät

Strafen ohne Ende

Zurück in die Zelle

Ich bin reich an Zeit

Ein Gefühl von Freiheit

Tausend und eine Nacht

Heimkehr

Meine Entlassung

Das Strafende naht

Wiedersehen

Endlich frei

Danksagung

Die Autorin

VORWORT

von Tiziana Tomassetti, Kunsttherapeutin

Agnes wurde am 13. November 2007 verhaftet, an meinem Geburtstag. Allein dieser Zufall lässt mich denken, dass Menschen oft durch zahlreiche unsichtbare Fäden miteinander verbunden sind, die sich zu einem mächtigen, unzerreißbaren Gewebe verknüpfen.

Ich lerne Agnes im Gefängnis kennen, weil ich eine Pflegerin des SerT, des Dienstes für Abhängigkeitserkrankungen, bin. Ich sehe sie kommen und frage mich, wer diese Frau ist. Verwundert stelle ich fest, dass diese erwachsene, umgängliche, gepflegte Frau mit dem sanften und zugleich ein wenig verlorenen Blick bei mir eine Therapie machen wird. Ein Detail trifft mich besonders: die Hände. Sie erzählen von harter Arbeit, von einem schwierigen Leben, es sind starke Hände. Eine Frau mit solchen Händen kann doch keine Inhaftierte sein! Bald finde ich heraus, dass genau diese Frau in Isolationshaft ist und unter besonderer Überwachung steht. Eine Tatsache, die ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann.

Während der Kunsttherapie-Sitzungen kann ich meine Bekanntschaft mit Agnes vertiefen: Als Isolationsinhaftierte ist sie Teilnehmerin am Projekt der komplementären Therapie, das zum Psychotherapieprogramm gehört. Ich stehe vor einer Frau und Mutter, die reich an Erfahrungen und interessiert am Leben ist, mit der Gabe, aus jedem beliebigen Material etwas Nützliches zu schaffen.

Agnes erweist sich als außergewöhnlich gute Zuhörerin und Beobachterin, sie ist geradezu gierig nach jener seelischen Nahrung, die sie in der Musik, im Schreiben und in der Beschäftigung mit Farbe finden kann. Mit aller Entschlossenheit fordert und verschafft sie sich schließlich auch Gehör im starren System, das für Haftanstalten nun einmal kennzeichnend ist. Eine beharrliche Frau.

Für mich stellt die Begegnung mit Agnes eine einzigartige Erfahrung dar. Ich habe sie nie als Suchtabhängige wahrgenommen, sondern als eine Frau, die das Leben bis an seine Grenzen auskostet. Das schließt die Möglichkeit, in gefährliche Situationen zu stolpern, nicht aus. Durch diese Erfahrung hat Agnes ihre Qualitäten unter Beweis gestellt: die Stärke, tief in sich zu gehen und dabei Verantwortung zu übernehmen sowie die Standfestigkeit und Klarheit, Missverständnisse zu akzeptieren, die durch gewisse Sprachbarrieren entstehen können. Ja, Agnes ist ein Bergmensch, sie zeigt diese Ruhe und Zielstrebigkeit, mit der man auch einen Gipfel besteigt, Schritt für Schritt. Sie greift nicht auf Tricks zurück, um irgendwelche Abkürzungen zu finden, sie kennt das Ziel, sie sucht und will den Weg finden, den Weg, der zum Gipfel führt.

Sie ist der lebende Beweis, dass die auf Untätigkeit gegründete Umerziehung nur zu Abgestumpftheit und Langeweile führt und für eine echte Auseinandersetzung mit sich selbst nicht hilfreich ist. Denn um in sich zu gehen, braucht es Mut, einen starken Willen und klares Denken. Das alles wird durch Beziehungen – Agnes führte eine umfangreiche Korrespondenz –, die heilende Kraft der Kunst, durch Experimentieren, Beobachten und letztlich durch die Schönheit des Geschaffenen möglich.

Agnes’ Weg war nicht frei von Enttäuschungen, wahrgenommener Ungerechtigkeit und Ohnmacht. Sie wurde aber ihrerseits in etwas Schönes verwandelt, das Agnes nicht für sich allein behalten will. Ihren Tatendrang, ihre Entschlossenheit und besonders ihre Liebe will sie mit anderen teilen. Sie will ein Beispiel und ein Spiegel für alle diejenigen sein, die nach einem Ausweg aus dem Abgrund suchen.

Del ritorno eri sicura,

hai anche vinto quell’ombra scura,

hai superato un dolore atroce

alla tua storia hai dato voce.

aus „Zirudella per Agnes“

von Biancamaria Cattabriga

Den Menschen, die mich nicht alleine gelassen haben

VORGESCHICHTE

Es war im Juni 2007. Ich war krank.

Ich arbeitete im Gastgewerbe in der Küche als Tellerwäscherin. Ungewöhnliche Bauchschmerzen machten sich bemerkbar. Mein Hausarzt diagnostizierte eine Darmentzündung. Ich arbeitete weiter, in der Hoffnung, das würde schon trotzdem heilen. Man hat doch öfters irgendwo Schmerzen, die dann wieder vergehen. Ich wollte bei der Arbeit nicht fehlen und schon gar nicht während der Saison. Die Schmerzen jedoch verschlimmerten sich von Woche zu Woche und breiteten sich über meine Kreuzgegend aus. Die Tellerstapel, die ich trug, wurden kleiner und kleiner. Beim Orgelspiel in der Kirche wurde das Sitzen immer unerträglicher. Ich nahm 15 Kilo ab. Daraufhin ging ich in die Erste Hilfe ins Meraner Krankenhaus. Dort wurde ich für verschiedene Kontrollen vorgemerkt, krankgeschrieben und mit Schmerzmitteln nach Hause geschickt. Es war mein Abschied für immer von der Spüle. Als die Schmerzmittel nachließen, konnte ich nur noch auf allen vieren vom Divan aufstehen und kaum noch laufen. Ich war verzweifelt. Ich fühlte mich wie ein Wurm, der nur am Boden kriechen kann. „Du musst etwas tun, das können wir uns nicht mehr mit ansehen!“, sagten meine Kinder. „Was soll ich tun, wenn mich die Ärzte nach Hause schicken?!“

Bei einer Kontrolle eine Woche später traf ich zufällig einen Bekannten, einen Chirurgen, dem ich meine Geschichte erzählte, während er beobachtete, wie krumm ich lief. Er kannte mich von der Oberschule und wusste, dass ich nicht wehleidig war. Ihm war es zu verdanken, dass der Sache auf den Grund gegangen wurde. Etwas erleichtert landete ich bald in den Röhren der heutigen Technik, an Schläuchen und Apparaturen, eine Untersuchung folgte auf die andere. Am Abend, ein Ärzteteam um mich herum versammelt, kam die Diagnose: Spondylodiszitis mit vertebralem Abszess. „Sie haben eine Entzündung der Bauchhöhle, eine totale Bandscheibenabnützung, dazu eine Knocheneiterung in einem Lendenwirbel. Er ist zerfressen und durchlöchert wie ein Schwamm. Wenn er bricht, sitzen Sie ihr Leben lang im Rollstuhl …“, erklärte mir die Ärztin geduldig. Sofort wurde ich stationär aufgenommen und es wurde absolute Bettruhe verordnet. Ein wenig durfte ich mich im Rollstuhl bewegen. Ich vertraute mich den Fachleuten voll an und ließ alle Zügel los. Endlich Hilfe! Es folgte eine Einlieferung in die Universitätsklinik Innsbruck. Immer wieder kam ein Arzt und drückte an meinen Beinen herum. Ob ich etwas spürte, fragten sie. Ich spürte alles. Sie konnten nicht glauben, dass ich keine neurologischen Ausfälle hatte. Das Rückenmark im Segment L4/5 war abgedrückt und die Nervenbahnen waren unterbrochen. Ich musste einen Monat im Krankenhaus bleiben, wo auch meine Schwester Maria wegen eines Tumors behandelt wurde. Sie besuchte mich, sie konnte noch laufen. Beide waren wir zuversichtlich.

Um mich wieder aufrecht bewegen zu können, wurde mir ein orthopädisches Korsett angepasst. Mit einer Menge Tabletten wurde ich entlassen und für weitere drei Monate krankgeschrieben. Am 12. November 2007, bei einer Kontrolle in der Universitätsklinik, hieß es „Bandscheibe operieren“. Es kam aber alles anders.

MEINE FESTNAHME

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Am Eingang des Frauengefängnisses „Dozza“ in Bologna (Screenshot aus dem Dokumentarfilm „Milleunanotte“ von Regisseur Marco Santarelli, 2012)

13. November 2007

Um vier Uhr in der Früh weckt mich die Türklingel aus dem Tiefschlaf. Lustlos und benommen stehe ich auf und verlasse mein warmes Bett. „Wer kommt denn um diese Zeit?“, denke ich. „Wer ist da?“, frage ich durch die Gegensprechanlage. „Wir sind von der Quästur und müssen Ihnen Dokumente abgeben.“ Das klingt seltsam. Ich schlüpfe in meine Klamotten, begebe mich die Treppe runter und öffne die Haustür. Zwei Männer mit einem Grinsen im Gesicht und eine Dame, die Kaugummi kaut, alle in Zivil, stehen davor. „Wir müssen eine Hausdurchsuchung machen!“, sagt einer von ihnen. Was soll das, da ist etwas faul, denke ich. „Bitte“, erwidere ich freundlich. Ich begleite sie in meine Wohnung, wo sie mir hinter geschlossener Tür sagen: „Sie müssen ins Gefängnis!“

Oh Gott, ein Schauder durchdringt mich und mit einem Kloß im Hals antworte ich: „Ach so?“ Ich bleibe nach außen hin ruhig und füge mich ohne Widerstand. „Bitte lassen Sie mir ein bisschen Zeit, ich muss erst meine Sachen packen.“ Jede Bewegung, die ich mache, beobachten sie genau. Ich hau schon nicht ab. Ich muss meinen beiden jüngeren Kindern Bescheid geben, die noch bei mir wohnen. Ich kann doch nicht spurlos über Nacht verschwinden. Das wäre diesen Herrschaften wohl egal. Oje, wie soll ich denn das anstellen, wie soll ich ihnen das bloß sagen, um diese Zeit eine solche Schreckensnachricht?! Ich habe keine Wahl. Ich kann nicht warten, nicht lange herumdenken. Ich klopfe an die Zimmertür meiner Tochter, öffne sie einen Spalt und wecke sie behutsam … Mein Sohn, das jüngste meiner vier Kinder, schläft im anderen Zimmer. Sie wird es ihm sagen, bevor sie in die Schule gehen. Ich muss meine Tochter beauftragen, dies und das für mich zu erledigen. Ich bin vielseitig beschäftigt mit meinem Orgelspiel, kleineren Arbeiten und immer ist etwas zu erledigen. Mir fällt natürlich nicht alles sofort ein und schon drängen die Herren: „Wir müssen gehen!“ Die Hausdurchsuchung ist kein Thema mehr. Das war wohl ein Vorwand. Aufgewühlt versuche ich meine Gedanken zu ordnen und überlege, was ich mitnehmen muss. Ich rede meiner Tochter Mut zu. „Es wird alles gut gehen, sag deinen Schwestern und meinen Leuten Bescheid, haltet zusammen, ich komme bald wieder!“ Wir verabschieden uns mit einer Umarmung und unterdrückten Tränen. Mit meinen Klamotten, dem orthopädischen Korsett, das meine kaputte Wirbelsäule hält, und einer Tasche mit dem Allernotwendigsten darin, steige ich in einen unauffälligen, grau-braunen Pkw. Er hat auf dem Dach ein kleines Blaulicht und ist innen komfortabel ausgestattet. Schaut gar nicht nach Polizeiauto aus. Wollen die mich entführen? Die zwei Männer steigen vorne ein, die Dame setzt sich auf den Rücksitz neben mich. Die Kindersicherung wird auf meiner Seite noch betätigt und das Auto startet. Ein Navigationsgerät erklärt dem Fahrer gleich, wohin er fahren muss. Findet er denn nicht aus dem Tal raus?

„Warum kommen Sie mich um diese Zeit holen?“, frage ich während der Fahrt. „Um die Nachbarn nicht zu stören.“ „Und warum muss ich ins Gefängnis?“, frage ich weiter. „Das werden Sie schon wissen!“, meint die Dame mit einer überheblichen Stimme. „Nein, ich weiß es nicht!“, erwidere ich. Nichts wird mir erklärt, sie reden kaum ein Wort.

Gegen fünf Uhr früh in der Quästur in Bozen angelangt, wird mir eine 111 Seiten lange Anklageschrift, alles auf Italienisch geschrieben, überreicht und es heißt warten und warten. Ich blättere währenddessen ein wenig darin und sehe meine Telefongespräche und Kurzmitteilungen der letzten Monate mit genauer Zeit- und Ortsangabe aufgelistet. Was soll das? Meine ganzen privaten Angelegenheiten gehen niemanden etwas an! Ich schließe die Anklageschrift wieder.

Aus dem Hintergrund höre ich eine Stimme: „Rovereto occupato (besetzt), Verona occupato, … Bologna!“

Mir fällt ein, dass ich meinem Bruder versprochen hatte, heute Früh seine Kühe zu melken. Ich möchte den Bruder anrufen, jedoch haben die Herren meine SIM-Karte beschlagnahmt. Höflich frage ich sie: „Darf ich mit meinem Bruder telefonieren? Ich müsste seine Stallarbeit machen, ich muss ihm sagen, dass ich nicht kommen kann. Oder könnten Sie ihn bitte benachrichtigen?“ „Nachher“, ist ihre Antwort. Ich warte und warte, frage wieder und wieder und merke, dass sie mein Anliegen überhaupt nicht ernst nehmen. Immer wieder bekomme ich dieselbe interesselose Antwort „Nachher!“ Ich kann mir vorstellen, dass sie von Kühen nichts verstehen. Oder ist einer von ihnen vielleicht ein Bauer? Ich werde lästig, erkläre ihnen, dass man Kühe nicht einfach so lassen kann und dass mein Bruder den ganzen Tag fort sein wird. Ich bestehe auf einem Anruf und endlich hören sie auf mich. Sieben Uhr, mein Bruder Gust ist in der Leitung. Mir ist zum Weinen, dass ich kaum mehr ein Wort herausbringe: „Hallo, … ich kann heute nicht kommen, ich muss ins Gefängnis und weiß nicht, wann ich wiederkomme …“ Er sagt nicht viel, wenige Worte, ruhig und zuversichtlich. Seine Worte geben mir Mut. Das sind die letzten Worte von zu Hause, wie auf einem Tonband in mir gespeichert. Ich schlucke die Tränen. Kopf hoch!

Ich frage dann, ob meine Verhaftung in die Medien kommt. „Keine Sorge!“, antworten die Beamten. „Bitte geben Sie mir schriftlich, dass das nicht gemacht wird, ich habe das Recht darauf!“, sage ich. „Das ist nicht nötig, es wird nichts passieren“, wird mir in einem Ton versichert, so als ob eine Verhaftung etwas ganz Normales und Alltägliches wäre. Ich glaube ihnen nicht und bekomme nichts Schriftliches.

Die lange Fahrt geht weiter, direkt nach Bologna. Die schweren Berge verschwinden allmählich und ich präge mir noch die schöne, weite Landschaft ein. So weit von zu Hause weg war ich schon lange nicht mehr, obwohl ich gerne reise. Ich bin etwas ruhiger und überzeugt, dass ich nur eine kurze Zeit im Gefängnis sein werde, ich habe nichts verbrochen. Ich werde mich bei dieser Gelegenheit von meiner versteckten Fessel, der Heroinabhängigkeit, befreien.

Meine Augen werden nach und nach empfindlicher gegen das Tageslicht. Ich kneife sie zu. Ich werde schwächer und schlapper, so wie jeden Tag, an dem ich keinen Stoff bekomme. Die Beamten der Quästur sprechen fast kein Wort während der ganzen Fahrt. Im Auto herrscht Stille, man hört nur den Motor und das gedämpfte Rauschen der vorbeifahrenden Autos. Allein das Navigationsgerät unterbricht immer wieder diese Stille, so als würde es mit sich selber sprechen: „Fahren Sie gerade aus … fahren Sie gerade aus …“ Zehnmal dasselbe, immer im gleichen Ton. Ich führe in Gedanken Selbstgespräche, während ich beobachte, wie die Dame neben mir ununterbrochen an ihrem Kaugummi kaut. Das muss ein langweiliger Beruf sein, stelle ich mir vor. Was würde ich an ihrer Stelle machen, frage ich mich. Ich möchte niemals einen Menschen ins Gefängnis bringen müssen.

Um die Mittagszeit erreichen wir die meterhohen, dicken Eisengitter des Gefängnisses „Dozza“ in Bologna. Durch diese hindurch geht die Fahrt weiter in ein Labyrinth aus Mauern und Straßen, hin und her, von einer Sackgasse in die andere. Keiner kennt sich aus, und das Navigationsgerät ist verstummt. Irgendwann finden sie dann doch die „matricola“, das Aufnahmebüro im Gebäude des Männergefängnisses. Es folgt eine längere Prozedur, Durchsuchungen und Anmeldungen, ich werde fotografiert und meine Fingerabdrücke werden abgenommen. Weitere Daten werden notiert.

Jedes Cent-Stück, das ich noch habe, und meine letzten 50 Euro werden auf mein Gefängnis-Konto gelegt. Mein Mobiltelefon wird im Büro für Wertsachen hinterlegt. Irgendwo lese ich „Casa di Grazia e Giustizia“. Hinter einem auffallend gepflegten Park mit Sträuchern und Bäumen befindet sich der versteckte Eingang des Frauengefängnisses. Eine dunkelblaue, schwere Eisentür öffnet sich und die unfreundlichen Beamten übergeben mich den Gefängniswärterinnen.

ZEHN TAGE ISOLIERT

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Innenhof des Frauengefängnisses „Dozza“ in Bologna (Screenshot aus „Milleunanotte“)

Über einen glatt polierten, dreckig grauen Zementboden durch leere Gänge hindurch bringen mich die Gefängniswärterinnen in einen kleinen Raum. Darin ist ein großes Fenster, mit Eisenstangen vergittert, ein Schrank aus Metall mit Schiebetüren und ein kleiner Holztisch. Die Luft riecht nach Schimmel und Moder. Meine allerletzten Sachen werden mir abgenommen, meine Ledertasche, mein Hausschlüssel, das wenige Schreibzeug, die Haarbürste, Zigaretten und die leere Geldtasche. Auch die Jacke und die Schuhbänder, alles wird registriert und im „casellario“ (Magazin) deponiert. Eine Wärterin durchsucht mich. „Zieh dich aus!“, befiehlt sie. Sie duzt mich, obwohl sie mich nicht kennt. Ich ziehe mich langsam aus, entferne behutsam mein orthopädisches Korsett. Jedes Kleidungsstück tastet sie ab, ebenso das Korsett. Sie will es mir nicht mehr geben und auch deponieren. Sie meint wohl, dass ich es nur zum Spaß trage. Die Schmerzen, die ich ohne Korsett empfinde, spürt sie natürlich nicht. Sie sieht jedoch, dass ich mich mit Mühe aufrecht halte und mich am Tisch abstützen muss. Ich erkläre ihr, dass ich im Krankenstand bin, Probleme mit meinen Bandscheiben habe und operiert werden muss und dass der Arzt mir das Korsett verschrieben hat. Sie befiehlt weiter: „Unterhemd ausziehen … BH, auch die Unterhose! Die Beine auseinander! … in die Hocke! … wieder rauf! … wieder runter! …“, so noch ein paarmal. Ich befolge ihre demütigenden Befehle. Was will die denn von mir?!

Ich darf mich wieder anziehen, bekomme zwei durchsichtige Plastiksäcke, darin zwei Leintücher, ein Kissenüberzug, zwei blecherne Teller, ein Löffel und eine Gabel, zwei Plastikbecher, Seife, Zahnpasta und Zahnbürste, einige Briefchen Shampoo und zwei Rollen Toilettenpapier, dazu noch eine verwaschene, schwere Decke. Ich fühle mich zerschlagen und unglaublich schwach. Von der Wärterin eine Treppe rauf in den ersten Stock, Abteilung A, Zelle 19, begleitet, trage ich mit Mühe diesen Kram und meine Anklageschrift. Jede Kleinigkeit bereitet mir Rückenschmerzen. Warum muss ich das selbst tragen? Warum befolge ich ihre Befehle? Der Arzt hat mir doch ausdrücklich aufgetragen, nichts Schweres zu tragen …

Um 13 Uhr fällt eine dicke Panzertür ohne Klinke hinter mir laut ins Schloss, so als müssten sie einen Elefanten einsperren. Die Zelle ist ekelhaft, feucht und kalt. Der Boden ist dreckig, alles voller Staub, mit Rotz, Kaugummi und Zahnpasta verschmierte Wände, darauf Namen, Jahreszahlen und Sätze in verschiedensten Sprachen. Die Zelle hat ein großes Fenster mit Eisenstangen und zusätzlich einem dichten Gitterrost, der nicht mal einen Finger durchlässt. Dieses Gitter macht die Zelle fast ganz dunkel. Zum Hinausschauen muss ich nahe rangehen. Zwei verrostete, am Boden verankerte Betten, eine schimmelige Schaumstoffmatratze und ein zerbröselndes Kissen sind da, ebenso ein kleiner Tisch und ein Hocker, zwei an die Wand geschraubte Kleiderkästchen und ein lauwarmer Heizkörper. Ein kleiner Fernseher mit ausschließlich italienischen Sendern befindet sich oberhalb der Panzertür, geschützt hinter einer dicken Glasscheibe. Ich verfolgte nie italienische Programme. Außerdem interessiert mich jetzt kein Fernseher. Alles klingt leer und kalt in diesem Raum. Durch eine Eisentür erreiche ich eine Toilette mit Bidet und Waschbecken mit kaltem, nach Chlor riechendem Wasser, dem Trinkwasser. Kraftlos lasse ich mich auf das Bett fallen, das ich mit aller Mühe mit dem Leintuch überziehe. Mein Kreuz schmerzt, ich zittere, mir ist kalt und alles ekelt mich an. Ich möchte mich nur in ein warmes Federbett hüllen und einschlafen. Vom Federbett kann man hier jedoch nur träumen. Ich muss mich mit der harten Decke begnügen und meine warme Winterjacke liegt im „casellario“.

Oh, mein Gott, wo bin ich nur gelandet?

Zehn Tage verbringe ich in dieser Isolationszelle, Tag und Nacht – alleine. Hätte ich doch ein Klavier da! Musik hat mich immer aufgebaut. Ich fühle mich einsam und verlassen, ausgeraubt und leer. Die Tränen laufen über mein Gesicht. „O Traurigkeit, o Herzeleid!“ Ich darf mit keinem Menschen reden und niemanden sehen – warum, weiß ich nicht. Meine eigene Stimme wird mir fremd. Ich rede mit einer Spinne, die ihr Netz in eine Ecke am Oberboden gebaut hat. Wenn ich so klein wäre wie sie, würde ich sofort abhauen, durch dieses engmaschige Gitter, hinaus ins Freie. Draußen ist alles grau, der Himmel, die Mauern und ein leeres, verlassenes Gewächshaus. Ein Wächter schreitet Tag und Nacht mit gleichmäßigen Schritten auf einer langgezogenen Mauer hin und her. Meine Kinder, was werden sie machen? Sie fehlen mir so sehr. Sie brauchen mich und ich brauche sie! Ich müsste zu Hause etwas tun, die Sonntagsmesse spielen, an der Orgel üben, arbeiten. Wer macht das alles für mich? Ich kann doch nicht alle und alles einfach so im Stich lassen! Ich muss nach Hause!

Die Wärterinnen kontrollieren mich ab und zu durch eine kleine Öffnung in der Tür, dem „blindo“, wie sie sie nennen, und reichen mir etwas zum Essen. Zum Trinken gibt es in der Früh warmen Kaffee und sonst den ganzen Tag über ausschließlich das kalte Chlorwasser vom Wasserhahn. Ich kann das fast nicht trinken. Magenschmerzen quälen mich Tag für Tag. Die Teller spüle ich mit kaltem Wasser und einem kleinen Schwämmchen, das sie mir noch gegeben haben. Das Fett vom Essen bleibt überall kleben. Ich habe kein Spülmittel, auch kein Papier, außer dem wenigen Toilettenpapier. Mit einem Tuch auswischen, überlege ich, jedoch habe ich kein Tuch. Ich probiere es mit Seife und spüle gut nach, geht auch nicht, die Teller riechen nach Seife. So arm war ich noch nie!

Ich sollte meinem Orgellehrer dringend die Unterrichtsstunde absagen, ebenso meine Termine im Krankenhaus, fällt mir ein. Automatisch greife ich immer wieder in meine Hosentasche nach meinem Handy, umsonst, da ist kein Handy mehr. Das einzige Kommunikationsmittel mit der Außenwelt ist die Post. Mein Adressbuch haben sie mir abgenommen, und bis ein Brief ankommt, kann es lange dauern. Wenige Adressen weiß ich auswendig. Ich muss doch die Termine absagen! Wer macht das sonst für mich? Wer verständigt das Krankenhaus? Es lässt mir keine Ruhe. Ich habe keine Möglichkeit, das „Wenige“ in Ordnung zu bringen. Meiner Ärztin schreiben? Wohin? Name, Krankenhaus, Stadt, in der Hoffnung, dass der Brief rechtzeitig ankommt? Um Gottes Willen, ist das alles kompliziert.

Die Zeit scheint stehen zu bleiben. So vieles geht durch meinen Kopf. Mir fallen die Tiere ein, die auch in Käfigen leben, die müssen sich doch schrecklich fühlen. Dann sehe ich das Grinsen der Beamten der Quästur vor mir, als sie an meiner Haustür standen, so als hätten sie sagen wollen: „Ha, jetzt haben wir dich!“ Ihr könnt mich nicht haben, ich habe keine Angst. Allen Schmerz verdrängend raffe ich mich auf und putze die Zelle, den Dreck der anderen. Ich wasche die bis zu eineinhalb Meter hoch lackierten Wände ab, Stück für Stück. Ihre Farbe, die schwer zu definieren ist, ein Gemisch aus beige, rosa und grau, hellt sich ein wenig auf. Der obere Teil der Wände ist dreckig weiß, eher grau-gelb. Er ist sicher jahrzehntelang nicht mehr gestrichen worden. Ich reinige den dunkelgrauen, glatten Betonboden und jede Ecke mit kaltem Wasser und Bodenreiniger. Den gibt es hier flaschenweise, gratis, auch einen neuen Putzlappen für den Boden, mit dem ich auch die Wände putze. Warum gibt es hier nur Betonböden? Die sind doch äußerst schädlich für die Füße und ich finde sie richtig hässlich.

Trotz alledem nehme ich mir vor, einen Schlussstrich unter meinen Drogenkonsum zu ziehen und diese unwürdige Situation dafür zu nutzen. Ja, eingesperrt in einer Zelle ist jede Möglichkeit, sich Stoff zu besorgen, unterbunden. Ich überlege, wie viel ich im Grunde spare, wenn ich nichts ausgebe. Mein Schuldenberg wird zumindest nicht größer. Mein Geld reichte ja nirgendwo mehr und meine Gesundheit ist angefressen. Der Gefängnisarzt hat mir Methadon, eine chemische Ersatzdroge, verschrieben, um einem kalten Entzug auszuweichen. Ich will jedoch nicht von einer Sucht in die andere fallen. Ich weiß, wie gefährlich diese Droge ist. Also nur als Übergangslösung! Ich will mich von allem wieder befreien. Ich war doch mein Leben lang gesund und nur für kurze Zeit in diesem Schlamassel.

Ich lese wieder in der Anklageschrift, verstehe nichts von dieser abstrusen Sprache der Justiz.

Plötzlich wird die Zelle aufgesperrt. „Zum Anwalt kommen!“, heißt es. Innerhalb von fünf Tagen nach der Festnahme muss der Gefangene vom Staatsanwalt verhört werden und kann vielleicht schon frei gehen, wenn die Anklage nicht haltbar ist. Vielleicht schicken sie mich nach Hause?

Gleich befinde ich mich in einem kleinen Raum, dem Verhörraum, mein Anwalt neben mir, der Staatsanwalt mir gegenüber. Kommuniziert wird nur in italienischer Sprache. Der Staatsanwalt meint: „Es geht um ein halbes Kilogramm Heroin, da werden wir nicht viel tun können.“ Mein Anwalt nickt, ohne viel zu sagen. Und das wars schon? Mir stellt niemand eine Frage. Mein Anwalt weiß doch nicht, was passiert ist, der hat noch nicht mal mit mir gesprochen! Ich kenne mich überhaupt nicht aus. Ich hatte doch nie im Leben mit einer solchen Menge zu tun. Das ist eindeutig eine falsche Anschuldigung! Außer für meinen eigenen Gebrauch hatte ich überhaupt nichts, und Eigenkonsum ist nicht strafbar. Ich kann konsumieren, was ich will. Ich habe das Gefühl, gar nicht wahrgenommen zu werden. Warum befragt mich keiner zu meiner Anklage? Sollte mein Anwalt mich nicht verteidigen? Ich bin enttäuscht von ihm und muss mich selbst trösten. Er wird dann schon alles aufklären, nur Geduld, ich versuche ihm zu vertrauen, ich komme sicher bald nach Hause! Ich muss jetzt mal gesund werden. Zurück in der Zelle suche ich eine Beschäftigung und spiele mit meinem Schatten an der Wand, so wie früher, als Kind. Den bellenden Hund und den fliegenden Adler kann ich noch.

Für knapp eineinhalb Stunden am Tag darf ich in den Hof gehen, alleine und unbeaufsichtigt. Auch da ist Betonboden, umgeben von vier bis fünf Meter hohen, grauen Betonmauern, keine Blume, keine Pflanze, keine Erde, nur in einer Ecke ganz oben ragen ein paar Äste von einem wundervollen Baum von der anderen Seite herüber. Ich kann sie zwar nicht berühren, nicht an ihnen hochklettern, aber sie betrachten. Mir gefallen Bäume, und dieser erst recht, da er der einzige ist, den ich noch sehen kann. Ich laufe die Mauern entlang, immer dieselbe Runde, so als müsste ich dringend irgendwo hin. Ich fühle mich klein und machtlos. Ich laufe, unruhig, so als müsste ich rückgängig machen, was passiert ist. Ich lese einen Satz, der auf die Mauer geschmiert ist: „Non è forte chi non cade mai, è forte chi cade e si rialza“ (Nicht derjenige ist stark, der nie fällt, sondern der, der fällt und wieder aufsteht). Sonst sind die Mauern leer, eintönig und grau. Man könnte sie wirklich freundlicher gestalten! Ich würde riesige Bilder darauf malen. Mein Blick wandert die Mauern entlang nach oben. Der Himmel, von grau-weißem Nebel bedeckt, zeichnet sich ab. Zu ihm hinauf flehe ich. Die Luft ist frisch und ich höre das Rauschen der Autos in der Ferne. Flugzeuge donnern mit einer unglaublichen Wucht ab und zu ganz nahe über mir vorbei. Der Flughafen muss in der Nähe sein. Man sieht sie hochsteigen, so wie Riesen. Es würde nicht viel fehlen und sie würden die Gefängnismauern streifen. Ich habe das Gefühl, sie fliegen so nahe, dass ich die Menschen darin sehen kann. „Nehmt mich mit, lasst mir ein Seil runter oder rattert diese Mauern nieder!“ Ich glaube, das wäre die einzige Möglichkeit, auszubrechen. Niemand hört mich, die Flugzeuge entfernen sich und das Dröhnen verhallt.

Ab und zu zeigt sich eine Inhaftierte an einem der Fenster über mir, so kann ich ein paar Worte austauschen, solange keine Aufseherin in Sicht ist, und um eine Zigarette betteln. „Soll ich sie anzünden oder hast du Feuer?“ „Habe ich keines, das wäre nett, ganz herzlichen Dank!“ Eine schon angezündete Zigarette lässt sie vom Fenster zu mir runter fallen. Wie wunderbar, endlich eine rauchen und Bekanntschaft machen. Die Tauben, die so scheu sind wie ich, leisten mir Gesellschaft und ich laufe, bis mein Körper angewärmt ist und sich die Schwere etwas legt, auch wenn es kalt ist oder regnet. Mit herumliegenden Papierstückchen rolle ich Bällchen und lerne damit jonglieren. Das wollte ich früher schon immer lernen, als meine Kinder einen Zirkuskurs besuchten.

Wieder in der Zelle höre ich gedämpfte Frauenstimmen, die durch die gepanzerte Tür zu mir dringen, dazu das andauernde laute Auf- und Zuschließen der Eisentüren und das Geklapper der großen Gefängnisschlüssel. Ich bin neugierig, was für Frauen hier inhaftiert sind. Plötzlich wird meine Zellentür wieder aufgesperrt und eine Genossin zieht mit Sack und Pack bei mir ein. Ihre Muttersprache ist Italienisch.

DIE ERSTE ZELLENGENOSSIN

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In der „Sala cinema“ des Gefängnisses (Screenshot aus „Milleunanotte“)

23. November 2007

Meine Zellengenossin Erna (Name geändert) und ich begrüßen uns. Sie legt ihr Gepäck ab. Mit dabei hat sie einen auffallend großen, durchsichtigen Sack voll mit Keksen. Das sieht aus, als würde der heilige Nikolaus zu mir kommen. Langsam ordnet sie ihre Sachen ein, während wir ein wenig voneinander erzählen. Sie wirkt zerschlagen, ist trotzdem nett zu mir und hat auch zehn Tage Isolationshaft hinter sich. Vorsichtig frage ich sie: „Du hast Kekse mit, darf ich mal in die Tüte riechen?“ Ich bin so ausgehungert nach Süßem. Das gibt es hier nicht, außer mit Geld oder wenn jemand zu Besuch kommt. „Natürlich“, sagt sie. „Du darfst dann auch essen, nur nicht alle auf einmal!“ Wir lachen. Ich rieche in die Tüte: Unbeschreiblich, noch nie fand ich den Geruch von Keksen so gut. „Vielen Dank!“ Ich würde am liebsten den ganzen Sack gleich aufessen! Wie kann man so verrückt nach Keksen sein? Meine Abstinenz bewirkt ein ununterbrochenes Verlangen nach Zucker. Den ganzen Tag würde ich nur Süßes essen, wenn ich es nur hätte.

Jeden Abend teilt Erna mit mir ein paar dieser leckeren Kekse mit einem warmen Kamillentee, den sie auf ihrem Campingkocher zubereitet. Ich kann die Abende kaum erwarten. Sie ist besser ausgerüstet als ich und sie ist sehr großzügig. Sie kennt sich auch mit Gerichtsangelegenheiten und Gefängnisleben aus. Sie war schon im Gefängnis und sie erzählt mir gleich davon. Hier hört man sonst von niemandem, wie alles läuft. Sie redet sehr viel und ich verstehe nur die Hälfte und muss immer dreimal nachfragen. Meine Italienischkenntnisse sind schlecht, ich habe alles verlernt. Sie ist in dieselbe Geschichte verwickelt wie ich und wurde im Rahmen derselben Operation festgenommen. Wir kennen uns aber nicht.

Mit Geduld erklärt sie mir ein wenig meine Anklageschrift. Wir sind „unter Hochsicherheit“, klärt sie mich auf. Diesen Trakt gibt es im Frauengefängnis von Rovereto und Verona nicht, sonst hätten sie uns dorthin gebracht, weil diese näher an unseren Heimatorten liegen. Erna kommt nämlich aus dem Trentino. „Aber wir haben doch niemanden umgebracht!“, sage ich zu ihr. „Kriminelle Vereinigung, Art. 74, und Drogenhandel, Art. 73, werden uns vorgeworfen. Wir können froh sein, wenn wir nicht zehn Jahre bekommen“, meint sie. Die Mörderinnen sind im normalen Trakt, stelle ich fest. Was geht denn da vor sich? Ich bin wohl am falschen Platz! Wenn ich es gewollt hätte, dann hätte ich es sicher nicht geschafft, hierher zu kommen.

Erna hat eine Tageszeitung abonniert. Sie streitet mit den Aufseherinnen, wenn die nicht jeden Tag mit richtigem Datum bei ihr ankommt. Sie besteht darauf, bis es klappt. Hier klappt vieles nicht. Ich bewundere ihr Verhalten. Die hat Mut. „Die Aufseherinnen müssen ihre Arbeit machen, wir haben unsere Rechte!“ Ich kenne mich mit unseren Rechten und ihren Pflichten nicht aus. Ich lasse alles über mich ergehen. Außerdem duldet sie es nicht, wenn sie die Aufseherinnen duzen. „Warum sprechen Sie mich mit Du an, wir kennen uns doch nicht!“, sagt sie ganz energisch zu ihnen. „Schau!“ Erna zeigt mir einen Zeitungsartikel vom 14. November 2007: