image

Udo Tietz

Hans-Georg Gadamer zur Einführung

image

Für Hans-Georg Gadamer
zum 100. Geburtstag

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

Im Internet: www.junius-verlag.de

© 1999 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelfoto: dpa

E-Book-Ausgabe Januar 2019

ISBN 978-3-96060-094-7

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-612-5

3., vollst. überarb. Auflage 2005

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

1.Frühe Einflüsse

Marburg

Natorp und Hartmann

Heidegger

2.Hermeneutik

3.Die Vorstruktur des Verstehens und das Vorurteil

Die Denunziation des Vorurteils durch die Aufklärung

Die Rehabilitierung des Vorurteils durch die Hermeneutik

4.Der hermeneutische Zirkel

5.Der »Vorgriff der Vollkommenheit«

Der inhaltliche Aspekt

Der formale Aspekt

6.Hermeneutisches Vorverständnis und Horizontverschmelzung

Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein und Horizontverschmelzung

Sprache und Spiel

7.Hermeneutik als praktische Philosophie

Phronesis und Techne

Logos und Ethos

8.Hermeneutik und Ideologiekritik – Gadamer versus Apel/Habermas

Der Streit um den Universalitätsanspruch der Hermeneutik

Der Streit um die normativen Grundlagen der Hermeneutik

9.Hermeneutik und Dekonstruktion – Gadamer versus Derrida

Kontext und »différance«

Sinn und Bedeutung

10. Hermeneutik und Ästhetik

Das ästhetische Verstehen

Zur Kritik des ästhetischen Subjektivismus

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

1. Frühe Einflüsse

Hans-Georg Gadamer wurde am 11. Februar 1900 in Marburg geboren. Als Gadamer die Schule verließ und im Frühjahr 1918 sein Studium in Breslau begann, war er »ein schüchterner, unbeholfener, in sich gekehrter Bursche« – also »alles andere als frühreif«. Nichts deutete damals auf die Philosophie. Gadamer liebte Shakespeare, die griechischen und deutschen Klassiker und Lyrik (eine Liebe, der er bis heute die Treue hält). Zwar hatte er während seiner Schulzeit auch schon Theodor Lessings Europa und Asien gelesen, »eine ganz schwungvolle, sarkastische Kulturkritik«, die ihn nach eigenem Bekunden umwarf (eine ähnliche Faszination übten auf ihn Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen und die Gedichte Stefan Georges aus). Der erste philosophische Text jedoch, den Gadamer las, war Kants Kritik der reinen Vernunft – und wenn wir Gadamer Glauben schenken dürfen, dann mit nur mäßigem Erfolg. Denn »es schlüpfte […] nicht der geringste verstandene Gedanke heraus« (PLJ 12).

Dennoch blieb Gadamer bei der Philosophie. Das kurzzeitige Herumnaschen in den Geistes- und Kulturwissenschaften (Germanistik, Romanistik, Geschichte, Kunstgeschichte, Psychologie, Islamistik) brachte dem jungen Studiosus nicht das, was er sich erhoffte: eine Orientierung im Denken. Lediglich in einem Seminar bei Richard Hönigswald ging Gadamer etwas von dem auf, was künftig sein intellektuelles Leben bestimmen sollte. Durch ihn erhielt er dann auch seine »erste Einführung in die Kunst des begrifflichen Denkens«, dessen »wohlziselierte Dialektik mit Eleganz, wenn auch nicht ohne eine gewisse Eintönigkeit die transzendental-idealistische Position des Neukantianismus gegen allen Psychologismus verteidigte«. Hönigswalds Vorlesung über »Grundfragen der Erkenntnistheorie«, die Gadamer mitstenographierte und inzwischen dem Hönigswald-Archiv überlassen hat, waren für ihn eine »gute Einführung in die Transzendentalphilosophie«, so daß er, als seine Familie nach Marburg zog (Gadamers Vater, der die Neigungen des Sohnes »zu Literatur und Theater und überhaupt zu den brotlosen Künsten […] von Herzen« mißbilligte, bekam dort 1919 eine Professur für pharmazeutische Chemie), »schon mit einer gewissen Vorbereitung im Jahre 1919 nach Marburg« kam. (SD 480)

Marburg

Marburg, das war seinerzeit die »Marburger Schule«, eine der wichtigsten und wohl auch einflußreichsten Kant-Schulen des 20. Jahrhunderts. Hermann Cohen gilt als ihr Begründer. Das Ziel dieser antipsychologistisch ausgerichteten Kant-Schule bestand darin, die kritischen Intuitionen Kants unter den Bedingungen der Gegenwart zu erneuern, so daß der Kritizismus wieder Anschluß an die Wissenschaften fände. Im Gegensatz jedoch zur südwestdeutschen, stärker auf die Kultur- und Geisteswissenschaften orientierten Kant-Schule von Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert war der Marburger Neukantianismus an den mathematischen Wissenschaften und an ihren Methoden orientiert. Diese wissenschaftstheoretische Ausrichtung gab dem Marburger Neukantianismus seine spezifische Ausprägung.1

Im Selbstverständnis der Marburger hat es nämlich »die transcendentale Erkenntnis […] gar nicht mit ›Gegenständen‹ zu thun, ›sondern nur mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll‹«2. Die transzendentale Untersuchung ist »nicht auf den objektiven Inhalt der Erkenntnis«, sondern »auf die Methode« gerichtet.3 Was als Gegenstand zum Objekt der neukantianischen Erkenntnistheorie wird, setzt für Cohen schon ein Wissenschaftsverständnis voraus, so daß der Gegenstand nur unter der Voraussetzung seiner logisch-konstruktiven Erzeugung zu einem Gegenstand der Wissenschaften wird. Dieser Methodologismus der Gegenstandserzeugung, den man auch als einen transzendentalen Erzeugungsidealismus bezeichnen kann, steht im Zentrum des Marburger Neukantianismus und wurde zum beherrschenden Moment dieser Schule. Auch die Arbeiten von Paul Natorp und Nicolai Hartmann waren diesem Ansatz anfänglich verpflichtet.4

Natorp und Hartmann

Nach der Emeritierung von Cohen waren es vor allem Natorp und Hartmann, die Marburg das Gepräge gaben. In der Philosophie waren sie Gadamers erste Lehrer. Im Unterschied zu Cohen, der zeit seines Lebens einen strikten Methodologismus vertrat, begann Natorp, sich mehr und mehr von dieser Fixierung auf die Methode zu befreien, bis er schließlich Wege betrat, »die mit Diltheys geisteswissenschaftlicher Psychologie wie mit Husserls Phänomenologie konvergierten«. Dieses Interesse an Dilthey galt zwar noch nicht dem Projekt, dem Gadamer später seine Aufmerksamkeit widmen sollte: dem einer Grundlegung der philosophischen Hermeneutik. Natorp ging es um den »systematischen Einheitsgedanken der Philosophie überhaupt, der sich ihm in der Korrelation von Objektivierung und Subjektivierung, das heißt in der vollen Herrschaft des Gedankens der Methode, des Prozesses, des fieri auch noch über das factum der Wissenschaft darstellt« (PLJ 62).

Gerade hier deutete sich jedoch eine entscheidende Differenz zu Cohen an, die eine Neufassung des Theorieprogramms erforderlich machen sollte. Wenn nämlich das transzendentale Programm nicht auf die Wissenschaften und auf ihre apriorischen Grundlagen begrenzbar ist, wenn es statt dessen die weit grundsätzlichere »Korrelation von Denken und Sein« ist, »die den unendlichen Fortgang des methodischen Bestimmens trägt und begründet« (PLJ 63), und wenn schließlich auch diese Korrelation in einer ursprünglich unzerstückten Einheit gründet, dann muß die Wirklichkeit selbst als das Urkonkrete gedacht werden. Mehr und mehr richtete sich Natorp daher auf den Logos im Sinne eines transsubjektiven und transobjektiven Indifferenzpunktes, in dem alles Denken und jedes Seiende wurzelt – womit er den Neukantianismus wieder an den spekulativen Idealismus in der Nachfolge Kants anschloß. »Also nicht ›ich denke, also ich bin‹, auch nicht wie Lichtenberg sagt: ›ich denke, also ist es‹, sondern schlechthin ›es ist‹5 Auf diese Weise bewegte sich Natorp jenseits der Idee von Methode auf eine Philosophie des Seins zu, die nicht ohne Einfluß auf Heidegger blieb.6

Diese systematischen Thesen waren es auch, die eine grundsätzliche Revision seines Plato-Buches nötig machten. Vertrat Natorp anfangs noch die Auffassung, daß die Platonischen Ideen von den Naturgesetzen her zu verstehen seien, so wie sie der Galileischen und der Newtonschen Wissenschaft zugrunde liegen – Gadamer bezeichnete diese These später als eine der »paradoxesten Thesen […], die je in der historischen Forschung aufgestellt worden sind« (PLJ 66) –, so erkennt der späte Natorp, »daß die Idee nicht nur Methode ist, sondern daß aller Vielfältigkeit der Ideen die jenseitige Einheit des Einen, Urkonkreten zugrunde liegt«. »Und so hat Natorp in hohem Alter sein 1903 erschienenes vielumstrittenes Platowerk in einem metakritischen Anhang vom Jahre 1921 selbst kritisiert und die Perspektive eines angemessenen Platoverständnisses ausgearbeitet.« (PLJ 66)

Von diesem Plato-Verständnis blieb Gadamers Dissertation, die er auf Anraten von Hartmann bei Natorp schrieb, nicht unberührt. Denn das Dissertationsthema Das Wesen der Lust in den platonischen Dialogen geht direkt auf Natorp zurück. Dieser schlug Gadamer zwar zunächst vor, eine Arbeit über Fichte zu schreiben. Und Gadamer versuchte sich zunächst auch in Fichte einzulesen, wobei er mit Fichtes Briefwechsel mit seiner Frau begonnen haben soll. Bald schon gestand er aber: »Ach, Herr Geheimrat, ich würde doch lieber über Plato arbeiten.«7

Natorp kam dieser Wunsch nicht ungelegen. Ging er doch nicht unberechtigterweise davon aus, daß Gadamer Motive aufgreifen und weiterdenken würde, die er selbst in seinem metakritischen Kommentar zu seinem Plato-Buch als Defizite der Forschung benannt hatte: voran »der Begriff der Lust bei Plato«. Und tatsächlich ist die Arbeit ganz im Geiste von Natorp verfaßt.8 Auf 116 in schlampiger Typographie geschriebenen Seiten mit nicht mehr als insgesamt fünf Fußnoten stellt Gadamer Platos Widerlegung des Hedonismus vor und versucht dem Problem der Lust gerechtzuwerden9 – womit Gadamer ein Problem formuliert hatte, das ihn bis in die neunziger Jahre beschäftigte. (Vgl. IG)

Die ganze Argumentation verblieb jedoch noch innerhalb eines Rahmens, der durch den Neukantianismus vorgegeben war. Dieser Rahmen begann sich allerdings bereits merklich aufzulösen – wovon nicht nur der »musische Enthusiasmus« Zeugnis ablegt, »mit dem der scharfe Methodologe der Marburger Schule, Paul Natorp, auf seine alten Tage in die mystische Unsagbarkeit des Urkonkreten einzudringen suchte und außer Plato und Dostojewskij, Beethoven und Rabindranath Tagore, die mystische Tradition von Plotin und Meister Eckhart – bis zu den Quäkern – beschwor« (SD 482). Und in Gadamers Dissertation finden sich ja auch Spuren dieser eigentümlichen Form der Geistigkeit, die durch großangelegte Synthesen inspiriert war. Insgesamt aber vermochte es der Zweiundzwanzigjährige noch nicht, sich aus der erkenntnistheoretischen Enge des Neukantianismus zu befreien.

Aber nicht nur Natorp, sondern auch der um achtzehn Jahre ältere Nicolai Hartmann hinterließ bei Gadamer einen bleibenden Eindruck. Hartmann, der 1922 den Lehrstuhl von Natorp übernahm, bewegte sich ebenfalls auf Konfrontationskurs zu Cohen. Nach eigenen Aussagen stand Gadamer, als er seine »Plato-Dissertation schrieb und 1922 promoviert wurde, viel zu jung, […] vorwiegend unter dem Einfluß Nicolai Hartmanns, der zu Natorps Systematik idealistischen Stils in Opposition getreten war« (SD 482f.). Analog zum späten Natorp, bei dem Hartmann 1909 habilitiert hatte, brach auch letzterer mit dem transzendentalen Erzeugungsidealismus und vollzog so die »Selbstauflösung der Marburger Schule« mit. (PLJ 222) Orientiert an einer realistischen Ontologie der Werte, lehnte er die Auffassung ab, daß die Erkenntnis »ein Erschaffen, Erzeugen oder Hervorbringen des Gegenstandes« sei, und vertrat ein erkenntnistheoretisches Programm, welches davon ausging, daß das Erkennen ein »Erfassen von etwas« ist, »das auch vor aller Erkenntnis und unabhängig von ihr vorhanden ist«10.

Zu Hartmann, der Gadamers »Sinn für Nuancen« schätzte, hatte Gadamer ein ganz besonders inniges Verhältnis:

»Er übte auf uns alle damals eine starke Wirkung aus. Zwar war ich seinen Schemata gar nicht hold, mit denen er die Subjektsphäre und die Objektsphäre und die Kategoriensphäre und was nicht alles an die Tafel malte […]. Doch faszinierte mich bald die kühle Würde und der grüblerische Scharfsinn des neuen Lehrers, und wenn Nicolai Hartmann, als er sich mir freundschaftlich zuwandte, nach der Vorlesung mit mir ins Kaffee Vetter oder Markees ging und dort auf den ehrwürdigen Marmortischen noch viel wildere Schemata entwickelte, in denen sogar die ontologische Determinationskraft der Werte, in Fortsetzung der determinationsstärkeren Kategorien, ihre Abbildung fand – Dinge, die er nur dieser abwaschbaren Festhaltung anvertraute –, und vor allem, wenn er meinen kindlich-scharfsinnigen Einwendungen oder Weiterdenkungen Beifall zollte, fühlte ich mich doch sehr erhoben. Es war schon etwas ungewöhnlich, daß er einen mit Vornamen nannte, daß man jederzeit in sein Haus kommen konnte, von ihm wie von seiner Frau stets wie ein halber Sohn aufgenommen.« (PLJ 21)

An diesem »Denker und Lehrer«, der im Begriff war, »seine eigene idealistische Vergangenheit durch kritische Argumentation abzustreifen«, schätzte Gadamer also nicht nur den kühlen Scharfsinn, sondern auch die unprätentiöse und fast schon freundschaftliche Art, die Hartmann gegenüber dem Jüngeren an den Tag legte. So berichtete dieser ihm dann auch »ganz unbefangen, daß Natorp ein sehr schönes Gutachten geschrieben habe«. Und als Hartmann dann »in allen Punkten das Gegenteil behauptet habe«, einigte man sich auf dieser Basis auf »summa cum laude«. (PLJ 23) Mit dem Abstand von einem Vierteljahrhundert meinte Gadamer jedoch, daß gleich »beide unrecht hatten«. Denn in Wahrheit hätte er bis dahin noch »nichts gelernt«, wenn man von »einer allgemeinen Übung in scharfsinnigen Argumentationen und ein bißchen Plato-Lektüre« einmal absieht. Erst die Begegnung mit Martin Heidegger brachte für den jungen Doktor der Philosophie die Wende.

Heidegger

»Von Heidegger ging das Raunen in studentischen Kreisen schon länger um. Marburger, die nach Freiburg gegangen waren, berichteten von der seltsamen Ausdrucksweise und suggestiven Macht des jungen Assistenten Husserls, und als Heidegger ein Manuskript an Natorp sandte, das zur Grundlage seiner Berufung nach Marburg wurde, und ich dieses Manuskript kennenlernte, war ich sofort wie gebannt. Wie dort die Ausarbeitung der hermeneutischen Situation einer Aristoteles-Interpretation aufgebaut wurde, Luther und Gabriel Biel, Augustin und das Alte Testament ins Spiel kamen und damit das griechische Denken in seiner Sonderart und in seiner Anfänglichkeit sich abzeichnete – ich weiß nicht, wieviel ich eigentlich verstand. Schließlich war ich meinem Doktortitel zum Trotz ein 22jähriger Junge, der mehr dunkel ahnte und auf Dunkles ahnungsvoll reagierte, als daß er wirklich wußte, worum es ging.« (PLJ 24)

Die Begegnung mit Heidegger wurde für Gadamer und für das Marburg jener Tage zu einem »elementaren Ereignis«. Die Radikalität seiner Fragen und die schlichte Kraft seines sprachlichen Ausdrucks waren von einer Energie, daß so manchem das in Marburg erworbene »Scharfsinnspiel mit den Kategorien oder Modalitäten verging«. Plötzlich erschien Gadamer alles bisher Erlebte matt und glanzlos. Heidegger brachte die Bestätigung, daß das, was Gadamer »in den abstrakten Denkübungen unter der Leitung Nicolai Hartmanns mit spielerischer Leidenschaft und nur halber Befriedigung betrieben hatte, noch nicht das war«, was er in der Philosophie suchte. (PLJ 34)

Gadamer hatte Heidegger bereits im Sommersemester in Freiburg kennengelernt, wo er auf Anraten von Hartmann bei Richard Kroner seine Studien fortsetzen sollte. Deshalb galt er im Heidegger-Kreis anfänglich auch als Kroner-Schüler. Gadamer drängte es jedoch zu Heidegger, von dem er bereits viel gehört und sogar schon einen unpublizierten Text über Aristoteles gelesen hatte. Diesen Text, den sich Natorp aufgrund der beständig wachsenden Popularität des Freiburger Husserl-Assistenten von Heidegger erbeten hatte (Natorp betrieb daraufhin sofort dessen Berufung nach Marburg, die Heidegger im Sommersemester 1923 dann auch annahm), überließ Natorp dem gerade promovierten Gadamer, weil er davon ausging, daß dieser daraus seinen Nutzen ziehen würde – und weil der Text ohnehin bald schon im siebten Band von Husserls Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung erscheinen sollte. Zu dieser Publikation ist es jedoch nie gekommen. Dennoch kann man sagen, daß ebendieser Text Gadamers Denken nachhaltig beeinflußte. Gadamer war nämlich von diesem Heidegger-Manuskript so beeindruckt, daß er mit einem Schlag zum Konvertiten wurde.

Heidegger machte hier nicht nur vor, wie man Aristoteles und die Griechen als Zeitgenossen und als Bündnispartner im Kampf gegen den Bewußtseinsidealismus im allgemeinen und gegen den erkenntnistheoretischen Formalismus des Neukantianismus im besonderen zu lesen hatte. Er zeigte auch, wie die Philosophie nach den langen methodologischen Präludien wieder zu den »Sachen selbst« gelangt – nach einer damaligen Parole kann man nämlich nicht beständig Messer und Gabel wetzen, ohne zu essen. Hier also war sie, die wirkliche Philosophie, die sich nicht in methodologischen Vorspielen erschöpft.

Zwar besuchte Gadamer in Freiburg auch Vorlesungen und Seminare bei Husserl, der ihn wie einen »Abgesandten der Marburger Schule und als Schüler seines verehrten Gönners Paul Natorp mit Ehren« empfing. (PLJ 30) Der eher bieder wirkende Husserl, dessen Vortrag Gadamer später als »flüssig und nicht ohne Eleganz« (wenngleich ohne jede rhetorische Wirkung) bezeichnete, machte auf Gadamer aber keinen größeren Eindruck. Der Begründer der Phänomenologie, dessen Seminare stets gigantischen Monologen glichen, hatte etwas von dem an sich, was Fedor Stepun einen »wahnsinnig gewordenen Uhrmacher« genannt hatte (PLJ 31) – völlig unbeeindruckt von all dem, was um ihn herum vor sich ging.

So waren es in Freiburg vor allem Heideggers Seminare und Vorlesungen, die Gadamer besuchte. Wenn wir Gadamer folgen, dann handelte es sich hierbei um die Vorlesung über »Ontologie (Hermeneutik der Faktizität)«, zwei Proseminare über das VI. Buch der Nikomachischen Ethik und über die Logischen Untersuchungen, ein weiteres Seminar über Aristoteles, ein Seminar über Kants Religionsschrift, das Heidegger zusammen mit Julius Ebbinghaus leitete, und schließlich um eine weitere Lehrveranstaltung, in der Heidegger privat mit Gadamer die Substanzbücher der Aristotelischen Metaphysik und verschiedene andere Texte las. Diese Begegnungen bildeten für Gadamer die »erste praktische Einführung in die Universalität der Hermeneutik« (SD 486).

»Es war ein eigentümlich aktuell gewordener Aristoteles. Heidegger bevorzugte die Ethik, die Rhetorik, kurz Disziplinen des Aristotelischen Lehrprogramms, die sich ausdrücklich von der Prinzipienfrage der theoretischen Philosophie abgelöst präsentierten. Vor allem die Kritik an der Idee des Guten, dem obersten Prinzip der Platonischen Lehre, die ihm dort begegnete, schien ihm sein eigenes Anliegen, das Anliegen der zeitlich-geschichtlichen Existenz und der Kritik an der Transzendentalphilosophie auszusprechen.« (GP 299)

Durch Heideggers Aristoteles-Interpretation wurde Gadamer auf den Weg der hermeneutischen Phänomenologie gebracht. Es faszinierte ihn, wie Heidegger die Sachhaltigkeit des Aristoteles gegen das erkenntnistheoretische Primat des theoretischen Bewußtseins kehrte und dieses gegenüber dem faktischen menschlichen Dasein als abkünftig auswies. Das war wirklich neu. Zwar berief sich auch schon Hartmann auf Aristoteles – was seinerzeit in Marburg eine Sensation gewesen sein dürfte. Während es Hartmann jedoch lediglich um eine erkenntnistheoretische Absicherung des Realismus ging (er vertrat das Primat des Erkenntnisgegenstandes gegenüber dem transzendentalen Erzeugungsidealismus der Marburger), ging es Heidegger um das Primat der Faktizität des Menschen gegenüber allen idealistischen Begriffskonstruktionen der Neuzeit, die aufgrund ihrer Abstraktheit und Bodenlosigkeit einer radikalen Destruktion ausgesetzt werden sollten. In der Perspektive von Heidegger erschien Hartmanns realistische Erkenntnistheorie wohl eher als Teil des allgemeinen Debakels denn als Lösung des Problems. Auch diese Theorie mußte Heidegger daher als Ausdruck jener Selbstentfremdung des Geistes betrachten, gegen die er mit Aristoteles die Faktizität des Daseins in einer geschichtlichen Welt aufbot.11

Dieses Projekt trug den Titel »Ontologie«. Und insofern es innerhalb dieser Ontologie um das menschliche Dasein geht, das sein Sein »immer schon« versteht, handelt es sich hierbei um eine »Hermeneutik der Faktizität«. Diese Formel, die den Einfluß von Wilhelm Dilthey auf Heideggers Hermeneutik-Projekt verrät, wird zum Inbegriff einer destruierenden Rückkehr zu den verdeckten »Sachen selbst« und damit zu einer Abrechnung mit dem Bewußtseinsidealismus der Neuzeit, der mit seiner Ausrichtung am Selbstbewußtsein und an der Idee der Methode den Kontakt zu den lebendigen Menschen in einer gemeinsam geteilten Lebenswelt verloren hatte.

Heidegger, der sich in seiner Kritik an der Geschichtsfremdheit des Neukantianismus und der Husserlschen Phänomenologie positiv auf Dilthey berief, ging es jedoch nicht um eine »Kunstlehre des Verstehens«, mit der die verstehenden Geisteswissenschaften in Abgrenzung zu den erklärenden Naturwissenschaften eine eigenständige Legitimation erhalten sollten, sondern um eine »Hermeneutik des Daseins«. Ihm zufolge muß nämlich die Hermeneutik auch noch jene Voraussetzungen hinterfragen, die Dilthey bereits als gültig akzeptiert hat. Indem Dilthey gegen seine eigene Intuition, daß das geschichtliche Leben sich als verstehendes immer schon selbst auslegt, sich letztendlich doch wieder an der Methode und damit am Paradigma der Naturwissenschaften orientiert, »überspringt« er das in ursprüngliche Verstehensvollzüge eingebettete Dasein.

Anders Heidegger: »Im Titel der folgenden Untersuchung ist Hermeneutik nicht in der modernen Bedeutung und überhaupt nicht als noch so weit gefaßte Lehre von der Auslegung gebraucht. Der Terminus besagt vielmehr im Anschluß an seine ursprüngliche Bedeutung: eine bestimmte Einheit des Vollzugs des hermeneuein (des Mitteilens), d.h. des zu Begegnung, Sicht, Griff und Begriff bringenden Auslegens der Faktizität. […] Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein.«12

Dieses Hermeneutik-Projekt hat sich Gadamer 1923 in Freiburg zu eigen gemacht. Auch er vertrat nun die Ansicht, daß »Heideggers Wendung zur Hermeneutik der Faktizität […] eine Abkehr von dem Bewußtseins-Idealismus neukantianischer Prägung« erzwang, dem selbst noch Husserl, der Begründer der Phänomenologie, bei allem antiidealistischen Furor gefolgt war. (EH 465) Denn bei Husserl fand lediglich die Durchführung des neuzeitlichen Erkenntnisprojektes seit Descartes und Kant ihre Kritik, nicht aber das Projekt selbst.

Dies gilt ebenso für Hartmann. Auch er verblieb mit seiner Phänomenologie innerhalb des durch die neuzeitliche Bewußtseinsphilosophie vorgegebenen Rahmens, den Gadamer, gerade in Freiburg angekommen, einer an Heideggers Hermeneutikprojekt orientierten Kritik unterzieht. Diese Kritik, die Kroner im Logos veröffentlichte, fiel ungewöhnlich scharf aus. Zwar begrüßt es Gadamer, daß der ehemalige Lehrer den Weg zur Phänomenologie gefunden hat – und damit Anschluß an ein sachorientiertes Philosophieren. Gleich darauf wirft er ihm jedoch das vor, was Heidegger bereits Husserl vorgeworfen hatte: daß der dazu gewählte erkenntnistheoretische Ansatz nicht radikal genug sei. Präsentiert sich doch Hartmanns Phänomenologie als standpunktfreie Phänomenologie, die mit der Ansetzung eines standpunktfreien Subjekts geradezu zwangsläufig jene skandalösen Scheinfragen reproduziert, die nach Gadamer destruiert werden müssen. Mit der Art und Weise, »wie Hartmann die Frage ansetzt: wie kommt das Subjekt zum Objekt? (auf diese Fragestruktur läßt sich die Hartmannsche ›Phänomenologie‹ bringen), ist der Boden des Phänomens eigentlich verlassen oder besser: noch gar nicht gewonnen« (ME 349). Nach Gadamer gibt es keine Möglichkeit, an die »Sachen heranzukommen, die nicht durch die Besonderheit des eigenen Standortes entscheidend bestimmt wären« (ME 341) – ein Argument, das inzwischen wohl allgemein akzeptiert ist. Ein standpunktfreier Standpunkt kann wohl nur ein Gottesstandpunkt sein.

Nun fällt in diesem Logos-Aufsatz nicht ein einziges Mal das Wort »hermeneutisch«. Dennoch »dürfte klar sein, daß Gadamer bereits unter der Wirkung der Hermeneutik von Heidegger, aber auch Diltheys stand, als er seinen Aufsatz zum Druck brachte. Von der Erkenntnistheorie zur Hermeneutik: So läßt sich in etwa die Wachablösung von Hartmann zu Heidegger […] zusammenfassen.«13

Für Hartmann, der Gadamer einst »wie einen halben Sohn aufgenommen« hatte (PLJ 21), war dies sicher eine herbe Enttäuschung, zumal auch andere talentierte Schüler zu Heidegger überliefen. Und man hat den Eindruck, daß Gadamer, der auch später nie einen Zweifel an der Richtigkeit dieses Schrittes laut werden ließ, stets ein ungutes Gefühl, wenn nicht gar ein schlechtes Gewissen dabei hatte. Aber wie dem auch sei, Gadamer, der mit diesem Aufsatz die Brücke zum Neukantianismus endgültig hinter sich abgebrochen hatte, wollte nun jedenfalls nicht mehr bei Hartmann, sondern bei Heidegger habilitieren. Das war aber gar nicht so leicht. Heidegger, der bereits eine Reihe von talentierten jungen Leuten um sich versammelt hatte, war bei weitem nicht so begeistert von Gadamer wie dieser von ihm. Auf Heidegger wirkten Gadamers Arbeitsergebnisse absolut enttäuschend.

In einem Brief an Karl Löwith hat Heidegger Gadamer wie folgt charakterisiert: »Ursprünglich Hönigswald-Natorp- jetzt begeisterter Hartmannanhänger – in diesem Semester bei mir angeschlossen – sein Vater Ordinarius in Marburg – er will sich bei Hartmann habilitieren – dazu über Aristoteles arbeiten – vorläufig sehe ich gar nichts Positives bei ihm. Redet Begriffe und Sätze nach – ist aber genau so hilflos wie sein ›Meister‹ –. Ich werde mich hier unbedingt dazwischen stellen, wenn es zu einer schnellen Habilitation kommen sollte. Er schreibt jetzt eine Rezension über Hartmanns ›Metaphysik‹ – die Gedanken hat er von mir – von Philosophie hatte er bislang nicht die leiseste Ahnung.«14

An dieser Einschätzung sollte sich auch in den nächsten zwei Jahren nicht allzuviel ändern. Heidegger machte kein Hehl daraus, daß er mit den Leistungen von Gadamer alles andere als zufrieden war. Und Gadamer selbst hat dies durchaus ähnlich gesehen: In seiner Selbstdarstellung aus dem Jahr 1975 spricht er davon, daß es sich bei seinen beiden Publikationen, dem bereits erwähnten Aufsatz über Hartmanns Metaphysik der Erkenntnis und dem Aufsatz in der Festschrift zu Paul Natorps siebzigstem Geburtstag (Zur Systemidee in der Philosophie), um »recht vorlautes Zeug« gehandelt habe, das es seinerzeit kaum wert war, gedruckt zu werden. (SD 483)

Nach einer Phase des Zweifels am eigenen Talent (PLJ 32) begann Gadamer daher im Frühjahr 1925 ein planmäßiges Studium der klassischen Philologie bei Paul Friedländer – Griechischlehrer würde man schließlich immer brauchen können. Je weniger er sich der Philosophie der Gegenwart gewachsen fühlte, um so mehr suchte er mit den antiken Quellen eine sichere Grundlage zu bekommen. Gadamer rühmte sich in dieser Zeit, »grundsätzlich nur Bücher zu lesen, die mindestens zweitausend Jahre alt sind« (PLJ 47) – worin man die ersten Anklänge für die spätere normative Auszeichnung des Klassischen sehen kann. Bei Friedländer, der selbst gerade an seinem Plato-Buch arbeitete, lernte er nicht nur die Platonischen Dialoge unter Absehung von ihrem dogmatischen Lehrcharakter zu lesen, für Gadamers Plato-Verständnis eine kaum zu unterschätzende Erfahrung. Bei Friedländer wird er sich auch seiner eigenen Leistungsfähigkeit bewußt, die letztendlich dann auch die Anerkennung von Heidegger fand, der schließlich selbst auf eine schnelle Habilitation drang.

Nach Abgabe eines Essays über den Protrepticus wird Gadamer am 20. Juli 1927 im Fach klassische Philologie bei Friedländer, Heidegger und Ernst Lommatzsch geprüft. Mit der »Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen« hat er sich als Philologe ausgewiesen, so daß er nun auf zwei Gebieten mit den Besten seines Faches konkurrieren konnte: in der Philosophie und der klassischen Philologie. Dies ist auch Heidegger nicht entgangen. Als Heidegger nach der Abschlußprüfung von Friedländer erfuhr, daß dieser Gadamer die Habilitation anbieten würde, beeilte er sich, Gadamer mitzuteilen, daß er sich auch bei ihm habilitieren könne. Zwar war Eile geboten, weil Heidegger bereits einen Ruf als Husserls Nachfolger nach Freiburg in Aussicht hatte, den er dann auch im Wintersemester 1928 annahm. Wenn Gadamer sich jedoch etwas beeilen würde, dann könnte er es noch zusammen mit Karl Löwith und Gerhard Krüger schaffen.

Gadamer war erfreut und erstaunt zugleich. Heidegger, der all die Jahre nie ein gutes Wort zu ihm gesagt hatte, bot ihm plötzlich die Habilitation an. Ohne zu zögern, stürzte er sich in die Arbeit. Im Sommer 1928 konnte er die fertige Habilitation vorlegen. Sie trug den nüchternen Titel Interpretation des platonischen Philebus. Diese Habilitation, die ursprünglich als eine Vorarbeit für eine Studie über die Ethik des Aristoteles geplant war, besteht aus zwei Teilen: einer Analyse der Platonischen Dialektik des Gesprächs und einer philosophischen Deutung des Philebus, dessen vorbereitende Interpretation der Entfaltung eines Widerspruchs zwischen zwei verschiedenen Deutungen der Lust in der Nikomachischen Ethik dienen sollte. Zur Ausführung dieser Idee ist es jedoch nicht gekommen. Gadamer, der unter Zeitdruck stand, begnügte sich mit dem Plato-Teil. So gesehen ist Gadamers Habilitationsschrift ein »steckengebliebenes Aristoteles-Buch« (SD 487). Gleichwohl war der Start mit dieser Arbeit mehr als gelungen. Nicht nur deshalb, weil Gadamer mit der Interpretation des Philebus seine bei Husserl und Heidegger erlernte phänomenologische Deskriptionskunst unter Beweis stellen konnte, sondern vor allem deshalb, weil Gadamers »erstes Plato-Buch« bereits die Grundzüge seiner später weiter ausgebauten Plato-Interpretation erkennen läßt, in deren Zentrum die »Dialektik des Gesprächs« steht – und das hieß schon damals »die Verständigung über die Sache« (PDE 30).

Der PhilebusPraktisches Wissen