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Markus Wild

Tierphilosophie zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Frankfurt a.M. †

Für Susi und Hobbes

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
www.junius-verlag.de

© 2008 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Thinking Chimpanzee
E-Book-Ausgabe Januar 2019
ISBN 978-3-96060-088-6
Basierend auf Printausgabe
ISBN 978-3-88506-651-4
3., korrigierte Aufl. 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Inhalt

I. Einleitung: Was ist Tierphilosophie?

1. Wer denkt?

2. Die drei Felder der Tierphilosophie

3. Tierphilosophie als Programm: Sechs Thesen

II. Vier Stationen der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte

1. Antike: Aristoteles und die Krise der Rationalität

2. Neuzeit: Descartes versus Montaigne

3. Darwin: Evolution und Kontinuität

4. Die kognitive Ethologie

III. Begriffliche und methodologische Probleme

1. Anthropomorphismen: naiv oder notwendig?

2. Assoziation oder Rationalität?

3. Denken ohne Sprache?

4. Begriffe und Analogien für Geistiges?

IV. Der Geist der Tiere

1. Davidsons Differentialismus: Eine Münchhausenperspektive auf Tiergedanken

2. Teleosemantischer Assimilationismus: Eine Froschperspektive auf Tiergedanken

3. Haben Tiere Bewusstsein?

4. Welches Modell des Tiers? Welches Modell des Geistes?

V. Der Mensch als Tier, das eine Welt hat

1. Heideggers »Welt«

2. Soziales Lernen und kulturelle Evolution

3. Nischenbau: Der Mensch als Tier, das eine Welt hat

4. Derrida und das »Tierwort«: Jenseits der anthropologischen Differenz?

Anhang

Anmerkungen

Ausgewählte Literatur

Über den Autor

Vorwort

»Da gibt es immer die große Diskussion, für das Tier, gegen das Tier,
und speziell für den Hund, gegen den Hund, da hat jeder so seine
Meinung, und ich sage, warum nicht, Meinungen muss es auch geben.
Ich weiß es nicht, fällt mir das jetzt selber ein, oder hat das irgendein
gescheiter Mann einmal gesagt, die Meinung ist es sogar, die uns als
Mensch vom Tier unterscheidet.« (Wolf Haas, Wie die Tiere)

Der Mensch ist das einzige Tier, das philosophiert. Und nicht zuletzt philosophiert es über Tiere, sei es über sich selbst, sei es über andere Tiere. Von der Antike bis in die Gegenwart sind Tiere Gegenstand und Bestandteil der Philosophie. Die Pythagoreer lebten den Vegetarismus, Aristoteles betrachtete den Menschen als politisches Tier, die Skeptiker sahen einen Hund Schlüsse ziehen, Seneca sinnierte über Spinnennetz und Schwalbenflug, Albertus Magnus verfasste ein großes zoologisches Werk, Descartes betrachtete Tiere als Maschinen, Hobbes bezeichnete staatliche Gemeinwesen als Wölfe, Schopenhauer begründete eine Mitleidsmoral auch für Tiere, Hegel erinnerte daran, dass Tiere nicht denken, Nietzsche führte einen eigenen symbolischen Zoo, Heidegger zufolge sind Tiere arm an Welt, Wittgenstein fragte, ob Hunde hoffen können, Derrida meinte, er habe stets über das Tier nachgedacht, und Davidson stellte in Abrede, dass sprachlose Wesen Gedanken haben können. Zwischen diesen großen Namen tummeln sich zahllose andere Philosophen, die ganze Werke über das Tier verfasst haben.

Obwohl nur wenige dieser Überlegungen in das Gebiet der Ethik gehören, kommt im Bewusstsein der Öffentlichkeit die Philosophie häufig nur über die Ethik zum Tier, nämlich in der Tierethik. Die meisten der soeben angeführten Thesen fallen jedoch in den Bereich der theoretischen Philosophie, handelt es sich doch um Fragen danach, ob Tiere ein Bewusstsein haben, was Tiere von Menschen unterscheidet, ob man ohne Sprache denken kann, oder wie und ob man etwas über das geistige Leben der Tiere in Erfahrung bringen kann. Zwar existiert bereits eine veritable Kleinbibliothek deutschsprachiger Einführungen, Sammelbände oder gut zu lesender Monografien zur Tierethik. Es gibt aber keine Einführung in das weite Feld jener Fragen, die die theoretische Philosophie an das Tier bzw. das Tier an die theoretische Philosophie stellen. Genau dies will die vorliegende Einführung zur Tierphilosophie leisten. Obschon auch die Tierethik zur Tierphilosophie gehört, wird sie lediglich gestreift, denn das Buch behandelt, wie im ersten Kapitel genauer ausgeführt wird, den theoretischen Teil der Tierphilosophie. Dabei geht es in erster Linie um Fragen nach dem Denken, dem Bewusstsein von und der Kultur bei Tieren und um den Unterschied zwischen Mensch und Tier. Dadurch treten einige wichtige Themen in den Hintergrund wie etwa tierliche Emotionen, tierliches Selbstbewusstsein, Kommunikation zwischen Tieren oder die kulturelle Rolle von Tieren. Ich hoffe jedoch, dass die Art der Darstellung repräsentativ für einen philosophischen Zugang zu solchen Themen ist und einen Anstoß zu einer weiterführenden (nicht nur philosophischen) Beschäftigung mit ihnen gibt.

Eine Tierphilosophie kommt nicht ohne Tiere aus. Alltägliche Erfahrungen und vor allem wissenschaftliche Forschungen informieren und illustrieren die Tierphilosophie. Unter allen Tieren ist der Hund von alters her nicht nur ein treuer Begleiter des Menschen, sondern auch Inbegriff eines intelligenten Tiers. Sowohl in der philosophischen als auch in der schönen Literatur tritt er als kluger, aber auch als leidender Freund in Erscheinung. Der erste namentlich bekannte Hund der europäischen Kulturgeschichte dürfte Argos sein, der Hund des Odysseus. Ihm zu Ehren wird der in dieser Einführung immer wieder auftauchende und bisweilen mitdenkende Beispielhund den Namen »Argos« tragen. – Homers Odyssee erzählt, wie Odysseus nach zwanzig Jahren Krieg und Irrfahrt in seine Heimat Ithaka zurückkehrt. Anonym und als Bettler verkleidet nähern sich Odysseus und ein Begleiter dem Palast: »Da richtet ein Hund, der da lag, den Kopf auf und die Ohren: Argos, der Hund des duldmütigen Odysseus.« Der Hund erkennt als Erster den Heimkehrer wieder. Er wedelt mit dem Schwanz, ist aber zu schwach, sich Odysseus zu nähern. Das Tier stirbt nach dem Wiedersehen auf einem Misthaufen. Odysseus »aber blickte zur Seite und wischte sich eine Träne ab«. Ihm, dem Duldmütigen, ist es zur zweiten Natur geworden, seine Regungen zu beherrschen. So unterdrückt er an einer anderen Stelle seinen Zorn: »Und es bellte ihm das Herz in seinem Inneren.« Homer vergleicht die Regung des Herzens mit einer Hündin, die ihre Jungen gegen einen Fremden beschützen möchte. Odysseus schlägt sich gegen die Brust und beschwichtigt das innere Tier: »Halt aus, Herz! Einst hast du noch Hündischeres ausgehalten …«

Diese Passagen bringen die beiden zentralen Themen dieser Einführung zum Ausdruck: Die Fähigkeiten der Tiere (der »Geist der Tiere«) und das Verhältnis des Menschen zu seiner tierlichen Natur (die »anthropologische Differenz«). Diese Einführung versucht einen langen Gedankengang zu bilden und eine besondere Form der Tierphilosophie zu verteidigen. Auch die historischen Abschnitte gehören mit zu diesem Gedankengang. Freilich lassen sich die Kapitel auch einzeln lesen. In jedem Kapitel wird auf Abschnitte zurück- oder vorausgewiesen, so dass man sich bei Bedarf auch nicht-linear orientieren kann. Zitatnachweise und Literaturangaben finden sich in den Anmerkungen zu den einzelnen Abschnitten gesammelt.

Eine »Tierphilosophie« kommt nicht ohne Menschen aus und nicht in dieser Form zustande. Danken möchte ich Dina Emundts (Berlin), Julia Fischer (Göttingen), Christian Barth (Berlin), Dominik Perler (Berlin) und Martin Lenz (Berlin) für Kritik, Anregungen und konkrete Vorschläge zu einzelnen Kapiteln. Besonderen Dank an Simone Peter (Basel) und Sarah Tietz (Berlin), die das Manuskript gelesen und kommentiert haben. Joshua Andresen (Beirut) danke ich für ein Gespräch über Jacques Derrida, Leonard Lawlor (Memphis) für die frühzeitige Übersendung seines Manuskripts über das Tier bei Derrida: This is Not Sufficient. Schließlich Dank an Ann-Sophie Barwich, Josephine Bürgel und Tina Rath für das Korrekturlesen. Steffen Herrmann vom Junius Verlag Dank für die Betreuung des Manuskripts.

Berlin, im Januar 2008

I. Einleitung: Was ist Tierphilosophie?

1. Wer denkt?

Der Skeptiker David Hume meinte höchst zuversichtlich, nichts sei doch offenkundiger, als dass Tiere ebenso mit Gedanken und Vernunft begabt seien wie Menschen. Die Belege dafür könnten auch dem Dümmsten nicht entgehen. Demgegenüber betonte der deutsche Idealist Georg Wilhelm Friedrich Hegel nicht minder zuversichtlich, es könne »in unseren Tagen nicht oft genug daran erinnert werden, dass das, wodurch sich der Mensch vom Tiere unterscheidet, das Denken ist«. Es ist unter Philosophen umstritten, ob Tiere denken oder nicht. Diese Situation hat William James den etwas ironischen Seufzer abgerungen, das Tier wäre doch leichter zu verstehen, wenn es entweder im Großen und Ganzen dümmer oder im Großen und Ganzen klüger wäre.

Wenn wir wissen wollen, ob Tiere denken, dann stehen wir vor einem generellen Problem. James weist indirekt darauf hin. Es gibt die Tiere nicht als homogene Gruppe. Vielmehr existiert eine enorme Bandbreite verschiedenster Tierarten, die über sehr unterschiedliche Fähigkeiten verfügen und Verhalten von unterschiedlicher Komplexität zeigen. Es gibt Tiere, die sicherlich denken, nämlich die Mitglieder unserer Spezies. Wie aber steht es mit Schimpansen, Hunden, Raben, Eichhörnchen, Forellen und Fliegen? Wie sollen wir diese Frage überhaupt beantworten? Anders formuliert: Was verstehen wir überhaupt unter »denken«? Erst eine Antwort auf diese zweite Frage macht es möglich, das erste Problem anzupacken. Um die beiden Probleme zu illustrieren, wollen wir eine Reihe von Beispielen Revue passieren lassen. Jeder und jede hat eine implizite Vorstellung davon, welche Lebewesen Gedanken oder Bewusstsein haben. Fragen wir uns also bei jedem Beispiel: Sind wir bereit, bei dem betreffenden Tier davon zu sprechen, dass es denkt, dass es Gedanken oder Bewusstsein hat? Und weshalb bejahen oder verneinen wir diese Frage?

Ameisen entfernen tote Artgenossen aus ihren Nestern. Sie heben sie hoch und tragen sie fort. Dabei reagieren sie auf säurehaltige Abfallprodukte der Zersetzung. Dies ermöglicht es ihnen, tote Artgenossen im Ameisenhaufen zu entdecken und zu entfernen. Sie entfernen jedoch alles aus ihrem Haufen, was mit Ölsäure bestrichen wird, nicht nur tote, sondern auch lebende Ameisen und leblose Dinge.

Grabwespen graben kleine Erdlöcher und legen darin ihre Eier. Danach fangen sie ein Insekt, schaffen die Beute in das Loch und verstopfen es. Die ausschlüpfenden Larven werden nun ausreichend Nahrung haben. Diese Wespen zeigen ein hochspezialisiertes Verhalten: Sie legen die Beute vor dem Erdloch ab, inspizieren das Loch, kehren zurück und schleppen die Babynahrung hinein. Verschiebt man die Beute während der Inspektion auch nur geringfügig, wird die Wespe sie erneut am ursprünglichen Ort platzieren, das Erdloch inspizieren und wieder zurückkehren. Ein Vorgang, der sich beliebig oft wiederholen lässt.

Der Seehase ist kein Hase, sondern eine Meeresschnecke. Er hat Kiemen, die durch eine Schutzmembran bedeckt sind, wobei das Ende dieser Membran eine Art Siphon bildet. Wenn der Siphon berührt wird, ziehen sich die Kiemen sofort zurück. Dieser Reflex kann durch Lernen verändert werden. Wird der Siphon wiederholt berührt, zieht der Seehase die Kiemen nicht mehr zurück. Der Seehase lernt also, einen taktilen Reiz zu ignorieren.

Kiefernhäher legen im Herbst Wintervorräte an, und zwar an ca. 5000 Stellen, die sie Monate später mit großer Sicherheit wiederfinden. Da sich die landschaftlichen Merkmale jahreszeitlich verändern, können sie sich kaum an gleichsam abgespeicherten, mentalen Schnappschüssen orientieren und müssen von bestimmten spezifischen Merkmalen abstrahieren können. Man kann Kiefernhäher nun darauf dressieren, Futter von einer Fundstelle zu holen, die genau in der Mitte zwischen zwei charakteristischen Landschaftsmalen liegt. Die beiden Merkmale befinden sich auf einer Linie, die Entfernung zwischen ihnen beträgt 20 bis 120 Zentimeter, wobei sich das Futter stets in der Mitte befindet. Zuverlässig finden die Häher die Mitte und damit auch das Futter.

Erdhörnchen reagieren auf Schlangen nicht damit, dass sie sich in ihre Erdhöhlen verkriechen, denn anders als etwa Schakale können Schlangen ihnen ins Erdloch folgen. Deshalb werden Schlangen zunächst zum Schein attackiert, auf ihre Aggressivität hin getestet, der Nachwuchs wird gewarnt usw. Um die von einer Schlange ausgehende Gefahr abzuschätzen, muss ein Erdhörnchen Informationen über die Temperatur, die Größe und die Art der Schlange gewinnen.

Brütende Regenpfeifer reagieren auf Nesträuber wie etwa Füchse mit der Imitation einer Flügelverletzung. Sie rennen, den scheinbar lahmen Flügel hinter sich herziehend, weg von ihrem Nest. Dabei versuchen sie, den Räuber so weit wie möglich vom Nest wegzulocken. Sie achten auf die Bewegungen des Räubers und passen die ihrigen an. So rennen sie beispielsweise zurück, wenn der Räuber ihnen nicht folgt, sondern sich dem Nest nähert. Nähern sich aber beispielsweise Kühe dem Nest, so imitiert der Regenpfeifer keine Verletzung, sondern bleibt sitzen und flattert dem Wiederkäuer ins Gesicht, bevor er in das Nest tritt.

Ein Rabe sieht im klirrenden Winter eine Stange, an der an Schnüren gefrorenes Trockenfleisch hängt. Im Flug ist es nicht möglich, das harte Fleisch mit dem Schnabel zu packen. Was tun? Der Rabe setzt sich auf die Stange, zieht ein Stück Schnur mit dem Schnabel zu sich hoch, legt es auf die Stange, setzt den Fuß darauf, holt das nächste Stück hoch, legt es wiederum auf die Stange, setzt den Fuß darauf usw. Schließlich hält er das Fleisch in den Krallen und pickt Stücke heraus.

Grüne Meerkatzen (eine Affenart) unterscheiden ernst zu nehmende Raubfeinde wie Leoparden, Schlangen oder Adler. Sobald ein solcher Raubfeind auftaucht, stößt eine Meerkatze einen Alarmruf aus. Diese Alarmrufe sind deutlich verschieden und entsprechend divergieren die Reaktionen. Beim Leopardenruf flüchten die Affen auf die Bäume, beim Adlerruf schauen sie zuerst in die Luft und verschwinden in den Büschen, beim Schlangenruf stellen sie sich auf die Hinterbeine und verfolgen die Bewegungen der Schlange. Junge Meerkatzen wenden die Alarmrufe nicht von Anfang an richtig auf Raubfeinde an. Mit dem Adlerruf beispielsweise belegen sie zunächst fast alles, was fliegt, sogar fallende Blätter. Die anderen Affen reagieren auf solche Rufe erst, wenn diese sich auf eine reale Gefahr beziehen. So lernen die jungen Affen schließlich, nur noch auf Adler zu reagieren.

Der Psychologe Wolfgang Köhler untersuchte kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Intelligenz von Menschenaffen. So ließ er beispielsweise außerhalb eines Schimpansenkäfigs Bananen auslegen, und zwar in einer für Schimpansenarme zu großen Entfernung. Im Käfig befanden sich zwei Bambusrohre von unterschiedlichem Durchmesser, mit denen die Schimpansen Futter heranziehen konnten. Doch ein Schilfrohr allein reichte nicht an die Bananen heran. Ein Schimpanse namens Sultan entdeckte, während er mit diesen Rohren spielte, dass sich das dünnere in das dickere Rohr stecken lässt. Jetzt konnte er die ersehnten Bananen erreichen.

Dem Border-Collie Rico wurden Namen für ca. zweihundert Dinge beigebracht, beispielsweise Kinderspielzeug. Nennt man ein bestimmtes Ding beim Namen, wird es von Rico geholt. Nun füge man dieser Sammlung ein ganz neues Ding hinzu, von dem der Hund noch nichts weiß, und fordere ihn auf, etwas zu holen, dessen Name er zuvor noch nicht gehört hat. Was passiert? Rico holt den ihm noch nicht bekannten Gegenstand.

Menschenaffen kann man eine erstaunliche Anzahl von Symbolen beibringen. Der Bonobo (Zwergschimpanse) Kanzi kombiniert abstrakte Symbole auf einer Magnettafel in manchmal innovativer Weise. Das Gorillaweibchen Koko etwa soll über ein Vokabular von weit über 150 Handzeichen aus der Gebärdensprache verfügen. Von Koko wird berichtet, sie verwende Zeichen, wenn sie mit ihren Puppen spiele. Sie diskutiere sogar über den Tod. Auf die Frage einer Trainerin, wohin Gorillas zum Sterben gehen würden, antwortet Koko: »Angenehm Nest Heia.« Trainerin: »Wann Gorillas sterben?« Koko: »Problem alt.«

Der kürzlich verstorbene Graupapagei Alex wurde von der Psychologin Irene Pepperberg darauf trainiert, verschiedene Gegenstände, Farben, Formen und Materialien zu unterscheiden. Er vermochte die entsprechenden Wörter auch zu artikulieren. Bot man Alex Gegenstände von unterschiedlicher Farbe, Form und Beschaffenheit dar und fragte ihn beispielsweise, wie der blaue, dreieckige Gegenstand heißt oder welche Farbe der Würfel hat oder welcher Gegenstand rund ist oder wie der Gegenstand heißt, der sowohl rot als auch rund ist, so beantwortete Alex diese Fragen mit großer Zuverlässigkeit. Alex konnte auch das Merkmal nennen, in dem sich zwei Gegenstände unterschieden.

Wer denkt? Bei der Ameise, der Grabwespe und dem Seehasen werden wir sicher schwerlich von Gedanken sprechen wollen. Demgegenüber sind die Fähigkeiten von Sultan, Rico, Koko und Alex schon sehr beeindruckend, und wir zögern wohl kaum, hier von Denken zu sprechen. Dies wird uns jedoch durch den Umstand erleichtert, dass die Leistungen dieser Tiere eng an sprachliche oder sprachähnliche Fähigkeiten gebunden sind. Wie steht es mit den nicht trainierten Tieren in der Mitte dieses Spektrums? Denken der Häher, das Erdhörnchen, der Regenpfeifer, die Raben oder die Meerkatzen? Offenbar sind diese Tiere lernfähig, ihr Verhalten ist flexibel und der gegebenen Situation angepasst, und sie scheinen ganz bestimmte Ziele zu verfolgen. Macht sie das schon zu denkenden Wesen? Agieren sie mit Bewusstsein? Oder sollten wir die Sprachfähigkeit als klares Unterscheidungskriterium akzeptieren und das Denken uns Menschen überlassen? Solche Fragen stehen im Zentrum der Tierphilosophie.

Tierphilosophie? Das klingt zunächst, als würde es neben der Natur-, der Sprach-, der Wissenschafts- oder der Moralphilosophie noch eine weitere philosophische Unterdisziplin namens »Tierphilosophie« geben. Das ist nicht der Fall. Die Tierphilosophie überschneidet sich mit vielen philosophischen Subdisziplinen. Tierphilosophie im weiten Sinn befasst sich mit drei Problemfeldern, nämlich mit den mentalen und sozialen Fähigkeiten von Tieren (Geist der Tiere), mit dem Unterschied zwischen Mensch und Tier (anthropologische Differenz) und mit unserem moralischen Verhältnis zu Tieren (Tierethik). Die Tierphilosophie im engen Sinn hingegen stellt eine grundlegende philosophische Betrachtungsweise dar. Einfach gesagt: Die Tierphilosophie betrachtet den Menschen auf philosophische Weise als Tier. Hier wird die Tierphilosophie zum Programm. In diesem einleitenden Kapitel werden zunächst die drei Problemfelder der Tierphilosophie im weiten Sinn umrissen. Anschließend wird erklärt, was es heißen soll, den Menschen in einem philosophischen Sinn als Tier zu betrachten.1

2. Die drei Felder der Tierphilosophie

Die Tierphilosophie im weiten Sinn kommt nicht ohne Bezug auf Wissensformationen aus, die sich mit dem Tier befassen, wie Mythologie, Naturgeschichte, Tierhaltung, Erfahrung und Naturwissenschaft. Viele dieser Wissensformationen, und nicht zuletzt die naturwissenschaftlichen, haben ihre Schlüsselerfahrungen und Gründungserzählungen. So beispielsweise auch die Primatologie (Menschenaffenforschung). Die bekannte Primatologin Jane Goodall beobachtete 1960 im afrikanischen Gombe-Nationalpark einen Schimpansen bei der Herstellung und beim Gebrauch eines Werkzeugs. Noch über vierzig Jahre später erinnert sich Goodall lebhaft an diese Szene und an die nicht minder erinnerungswürdige Reaktion des britischen Anthropologen Louis Leakey:

»Das werde ich nie vergessen. Es war ein kalter, nasser Morgen im Jahr 1960. Ich ging durchs Gras, und plötzlich sah ich von weitem einen Schimpansen, der sich über einen Termitenhügel beugte. Es war David Greybeard – er hatte schon damals keine Angst mehr vor mir. Er nahm Grashalme, zupfte sie sich zurecht und fischte damit nach Termiten. Ich dachte sofort: Das ist der Beginn von Werkzeugherstellung. Damals war der Mensch definiert gewesen als einziges Wesen, das Werkzeuge herstellt. Ich schrieb meine Beobachtung meinem Mentor, dem Anthropologen Louis Leakey, und er antwortete mit dem inzwischen berühmten Telegramm: Jetzt müssen wir entweder ›Mensch‹ neu definieren oder Werkzeug neu definieren oder Schimpansen als Menschen akzeptieren.«

Betrachten wir anhand dieser Erzählung die drei Problemfelder der Tierphilosophie: Können wir Tieren Geist zuschreiben? Worin besteht der Unterschied zwischen Mensch und Tier? Wie sollen wir uns Tieren gegenüber moralisch verhalten?

Geist der Tiere – Können wir Tieren Geist zuschreiben? Die Beschreibung, die Goodall vom Verhalten des Schimpansenmannes gibt, klingt zunächst rein deskriptiv, ja beinahe behavioristisch: Er nimmt Grashalme, zupft an ihnen und führt sie in den Termitenbau ein. Wir können aber schwer umhin, dieses Verhalten funktional zu betrachten: Er nimmt die Grashalme, um damit nach Termiten zu fischen und dazu bearbeitet er sie. Die ganze Bewegungsabfolge weist eine Art funktionale oder teleologische Struktur auf. Das Ziel (telos) der Bewegungsfolge liegt im Termitenfang, wobei die anderen Elemente der Sequenz der Erreichung dieses Ziels dienen und nur vom Ziel her verständlich werden. Die Ausdrücke, die Goodall gebraucht, implizieren eine solche »Um-zu-Struktur«: David Greybeard zupft die Grashalme »zurecht«, d.h., er zupft nicht einfach ziellos an den Halmen herum, sondern bereitet sie vor, um nach Termiten zu fischen.

Goodalls Beschreibung ist sogar noch auf einer weiteren Ebene angesiedelt. Der amerikanische Philosoph Daniel Dennett hat drei Beschreibungsebenen unterschieden, die nicht zuletzt von Ethologen eifrig rezipiert worden sind. Dennett nennt diese Beschreibungsebenen »physikalische Einstellung«, »funktionale Einstellung« und »intentionale Einstellung«. Die physikalische Einstellung beschreibt einfach die Bewegungsabfolgen eines Verhaltens, die funktionale Einstellung fragt, wie wir soeben gesehen haben, nach der Funktion, dem Ziel, dem Wozu einer Bewegungsabfolge. Wir können uns aber auch fragen, welche Absichten, Meinungen oder Wünsche einem Verhalten zugrunde liegen und es ausgelöst haben. Wenn wir so fragen, nehmen wir die intentionale Einstellung ein. Wir nehmen an, dass der Geist eines Lebewesens auf etwas gerichtet ist und dass dies sein Verhalten erklärt. Erst wenn ein Verhalten direkt von den Absichten, Meinungen, Wünschen usw. eines Lebewesens ausgelöst wird, sprechen wir davon, dass es handelt.

Betrachten wir zur Verdeutlichung des Gesagten wiederum das Beispiel mit dem Schimpansen David Greybeard. Wir haben es nicht nur mit einer funktionalen Bewegungsfolge (d.h. mit einem Verhalten) zu tun, sondern mit einem Lebewesen, das ein geistiges Innenleben hat. Es scheint, als führe der Schimpanse seine Tätigkeiten mit Bewusstsein und Absicht aus. Er sieht Grashalme, wählt einen geeigneten Halm aus, manipuliert ihn absichtsvoll und führt ihn in den Termitenbau ein, weil er weiß, dass sich dort leckere Beute versteckt. Diese dritte Ebene wirft sofort knifflige Fragen auf: Kennt der Schimpanse das Gefühl der Angst? Sieht der Schimpanse Grashalme? Wählt er einen passenden Halm? Meint er, unter verschiedenen Halmen einen passenden ausgewählt zu haben? Bearbeitet er den Halm mit der Absicht, nach Termiten zu fischen? Weiß der Schimpanse tatsächlich, dass sich im Termitenbau leckere Beutetiere verstecken?

All diese Fragen zielen auf etwas, das wir »geistige Zustände« nennen können. Geistige Zustände sind beispielsweise Sehen, Wählen, Meinen, Beabsichtigen oder Wissen. Diese Zustände haben auch einen Inhalt. Man ängstigt sich ja vor etwas, sieht etwas, wählt, meint, beabsichtigt oder weiß etwas. Und normalerweise begreifen oder erfassen wir das, was wir sehen, meinen oder wissen. Wenn wir also sagen wollen, David Greybeard wisse, dass sich im Termitenbau leckere Beutetiere verstecken, so müssen wir uns auch fragen, ob er denn den Termitenbau als Bau oder das Beutetier als Tier erfasse. Begreift er, kurz gesagt, wovon er ein Wissen hat? Wenn Greybeard den zurechtgezupften Halm in den Termitenhügel steckt, begreift er dann den manipulierten Gegenstand als Instrument oder als Werkzeug? Allgemein kann man sagen: Wenn wir in Gedanken einen Inhalt erfassen, so erfassen wir stets etwas als etwas. In der Philosophie wird dieses geistige Erfassen von etwas als etwas »Intentionalität« genannt. Man kann auch von einer »Als-Struktur« sprechen.

Nun fällt es uns leicht, den Körperbau, die Organe oder die Verhaltensweisen von Tieren funktional zu beschreiben. Flossen, Herzen oder Murmeltierpfiffe weisen eine Um-zu-Struktur auf: Flossen sind zum Schwimmen da, Herzen, um Blut zu pumpen, und Murmeltierpfiffe, um Artgenossen vor Gefahren zu warnen. Ebenso beschreiben wir Tiere und ihr Verhalten oft mithilfe von Verben, die mentale Zustände ausdrücken. Wir schreiben diesen Zuständen Inhalte zu und nehmen an, dass diese Inhalte von den so beschriebenen Tieren irgendwie erfasst werden. So sagt manche Hundebesitzerin von ihrem Schützling, er wisse genau, dass es gleich etwas zu fressen gebe. Die Hundebesitzerin schreibt dem Hund ein Wissen zu, und sie denkt, dass der Hund irgendwie begreife, was Fressen ist. Eine Frage lautet, ob es sich hier nur um eine façon de parler handelt. Verläuft das Verhalten von Tieren tatsächlich nach einer funktionalen Um-zu-Struktur? Und liegt dieser Struktur wirklich eine intentionale Als-Struktur zugrunde?

Einige Philosophen argumentieren, dass man etwas als etwas erfassen muss, um Gedanken zu haben. Etwas als etwas zu erfassen heißt jedoch, es unter einen Begriff zu bringen. Begreife ich den Halm als Grashalm, als Pflanze oder als Werkzeug, so muss ich über die Begriffe »Grashalm«, »Pflanze« oder »Werkzeug« verfügen. Nun könnte man argumentieren, dass ein Schimpanse kaum über diese Begriffe verfügt. Oder gar, dass nur jene Wesen über Begriffe verfügen, die eine Sprache sprechen. Daraus ergibt sich ein recht simples Argument dafür, dass sprachlose Tiere nicht denken: Um zu denken, muss ein Wesen Gedanken haben, Gedanken erfordern Begriffe, Begriffe stehen nur sprachfähigen Wesen zur Verfügung, folglich denken nur sprachfähige Wesen. Da Tiere nicht sprechen, denken sie nicht. Man kann dies als »Sprachargument« bezeichnen. Wir werden uns in dieser Einführung mit diesem und verwandten Argumenten beschäftigen. Das Sprachargument ist natürlich voraussetzungsreich, und nicht jeder Schritt scheint überzeugend. Verstehen wir es an dieser Stelle einfach als skeptische Warnung: Vielleicht schreiben wir den Tieren diese Strukturen nur zu und projizieren unsere Sicht auf die Tiere. Wir anthropomorphisieren ihr Verhalten und unterstellen ein geistiges Innenleben, wo in Tat und Wahrheit nur Instinkte, Triebe und Reize regieren. Dann hätten Tiere jedoch nicht wirklich intentionale Zustände. Wir würden Tiere nur so betrachten, als hätten sie einen Geist.

Allerdings gibt es hinsichtlich des Geistes der Tiere noch einen zweiten Punkt zu beachten. Viele Philosophen sind der Ansicht, dass nicht alle geistigen Zustände auf etwas gerichtet sind und folglich eine intentionale Als-Struktur aufweisen. Es gibt nämlich auch so etwas wie reine Bewusstseinszustände. Der amerikanische Philosoph John Searle formuliert diesen Unterschied wie folgt:

»Erstens haben nach meiner Auffassung nur einige, nicht alle geistigen Zustände und Ereignisse Intentionalität. Überzeugungen, Befürchtungen, Hoffnungen und Wünsche sind intentional; es gibt aber Formen der Nervosität, der Hochstimmungen und der Unruhe, die nicht intentional sind. Meine Überzeugungen und Wünsche müssen immer von etwas handeln. Meine Nervosität und Unruhe hingegen müssen nicht in dieser Weise von etwas handeln

Nervosität und Unruhe, aber auch Schmerzen, bestimmte Angstzustände, visuelle Wahrnehmungen oder der Geschmack von süßen Früchten sind nach Ansicht von Searle und anderen Philosophen nicht notwendig auf etwas gerichtet. Im Unterschied zu den intentionalen geistigen Zuständen handelt es sich hierbei um qualitative geistige Zustände, um Erlebnisse. Haben Tiere qualitative geistige Zustände? Die meisten Leserinnen und Leser werden vermutlich der Meinung sein, dass David Greybeard irgendetwas erlebt oder spürt, wenn er Angst hat oder einen dicken Halm in der Hand hält, dass die Grashalme für ihn irgendwie farbig aussehen und die Termiten nach etwas schmecken. Aber fühlt sich Angst für den Schimpansen so an wie für uns? Sieht er die Grashalme, wie wir sie sehen? Schmecken Termiten für ihn und für uns in etwa gleich? Wahrscheinlich werden die meisten Leserinnen und Leser hier den Kopf schütteln: Allein schon die unterschiedliche Beschaffenheit der Körper und der Sinnesorgane verschiedener Arten lässt es als unglaubwürdig erscheinen, dass sich diese Dinge für Schimpansen und Menschen gleich anfühlen. Das ist ein leicht paradoxer Befund: Wir behaupten, dass sich diese Dinge für den Schimpansen irgendwie anfühlen müssen, aber wir wissen nicht wie, denn sie fühlen sich anders an als für uns. Wenn wir jedoch nichts über die qualitativen geistigen Zustände der Tiere wissen, warum nehmen wir dann an, dass sie welche haben? Und wenn wir wissen, dass Tiere solche Zustände haben, warum können wir nicht mehr darüber in Erfahrung bringen? Handelt es sich bei dieser Annahme nicht um eine leere Behauptung, da wir anscheinend nichts über diese unerfassbaren qualitativen Zustände sagen können? Möglicherweise bleibt uns ja der Weg der Einfühlung. Jane Goodall berichtet in einem anderen Zusammenhang, was ihr durch den Kopf ging, während sie das Fressverhalten eines Hyänenrudels beobachtete:

»Zuerst ekelte ich mich selbst, aber nach einer Weile merkte ich, dass ich meine Überempfindlichkeit größtenteils verloren hatte. Vermutlich hatte ich mich auf die Hyänennatur abgestimmt. Wenn ich sie beobachte, stelle ich eine andere Wellenlänge ein. Mrs. Brown genießt so offensichtlich einen dampfenden Bissen Darm, gefüllt mit halbverdauten Gräsern, und ich beobachte die Mahlzeit durch ihre auf Hyänen eingestellte Brille. Dann kann einem wirklich das Wasser im Mund zusammenlaufen. Nur wenn ich mir auch bloß für einen Augenblick vorstelle, ich selbst könnte einen Bissen davon nehmen, dann wird mir übel.«

Augenscheinlich schmeckt den Hyänen ihr Fressen, denn sie benehmen sich so, wie ich mich benehme, wenn mir etwas schmeckt. Nun stelle ich mir vor, dass ich mich bei etwas, was mich zutiefst ekelt, so benehme, wie wenn mir etwas schmeckt. Wiederum finden wir uns in der leicht paradoxen Situation, einem Tier ein Erlebnis zuschreiben zu müssen, von dem wir nur zu wissen glauben, dass es dieses Erlebnis hat, ohne wissen zu können, um was für ein Erlebnis es sich handelt. Vielleicht schreiben wir den Tieren diese Erlebnisse lediglich zu und projizieren unsere Sicht auf sie. Wieder anthropomorphisieren wir ihr Verhalten und unterstellen ein bewusstes Erleben, wo in Tat und Wahrheit nur Instinkte, Triebe und Reize regieren. Dann hätten Tiere jedoch nicht wirklich qualitative geistige Zustände. Wiederum würden wir Tiere nur so betrachten, als hätten sie einen Geist. Diese Fragen betreffen den Geist der Tiere. Aber offensichtlich gibt es zwischen Mensch und Tier beträchtliche Unterschiede. Damit kommen wir zum zweiten Themenfeld der Tierphilosophie.

Anthropologische Differenz – Worin besteht der Unterschied zwischen Mensch und Tier? Kehren wir zu Goodalls Erzählung zurück. Ihr erster Gedanke war, dass David Greybeards Bearbeitung der Grashalme den Anfang der Werkzeugherstellung widerspiegle. Dieser Gedanke entsprach dem Zweck ihrer Freilandbeobachtungen. Denn sie und ihr Mentor Leakey hatten die Idee, dass Beobachtungen an freilebenden Primaten Aufschlüsse über das Zusammenleben unserer Vorfahren, den frühen Hominiden, erlauben würden. Dies konnten beispielsweise Aufschlüsse über den Beginn der Herstellung von Werkzeugen sein. Der legitime anthropozentrische Zweck der Beschäftigung mit unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, besteht also darin, etwas über den Menschen zu erfahren. Dies gilt ganz allgemein für die Auseinandersetzung mit Tieren. Der französische Philosoph Étienne de Condillac bemerkte in seinem Traité des animaux (1755): »Es wäre wenig interessant zu wissen, was Tiere sind, wenn es nicht ein Mittel wäre um zu wissen, was wir sind.« Sowohl das naturwissenschaftliche als auch das philosophische Interesse an den Tieren ist häufig anthropologisch. Wir wollen mit Blick auf Tiere verstehen, was wir sind. Das Tier dient also auch der Selbsterkenntnis.

Anders als Goodall und Leakey, die Erkenntnisse über die Hominidenevolution durch die Beobachtung von Menschenaffen gewinnen möchten, kann man die Selbsterkenntnis grundlegender ansetzen, nämlich als anthropologische Selbsterkenntnis. Die anthropologische Frage lautet, was der Mensch ist. Die Antwort wurde in der Tradition häufig weniger durch die komparative Beobachtung als vielmehr durch die Absetzung vom Tier gewonnen. Sie gerinnt zu einer Art Formel: Der Mensch ist das Tier plus X. So ist der Mensch etwa das vernünftige Tier, das Tier, das spricht (Aristoteles), Staaten bildet (Aristoteles), Hände hat (Aristoteles), eine Seele hat (Descartes), vernunftfähig ist (Kant), um seinen Tod weiß (Hölderlin), sich an alles gewöhnt (Dostojewskij), nicht festgestellt ist (Nietzsche), exzentrisch positioniert ist (Plessner), eine Welt hat (Heidegger), etwas stattdessen tut (Marquard) usw. Eine philosophisch gemeinte Antwort auf die anthropologische Frage geht davon aus, dass Menschen Tiere oder Lebewesen ganz besonderer Art sind.

Nun ist jede Tierart anders als alle anderen Tiere: Fledermäuse orten ihre Beute mit Ultraschall, Wüstenameisen orientieren sich mithilfe polarisierenden Sonnenlichts, Biber verdauen Holz, Chamäleons passen die Farbpigmente der Haut ihrer Umgebung an. Das philosophische Interesse besteht natürlich nicht darin, Besonderheiten einzelner Tierarten zu identifizieren. Es ist nichts Besonderes daran, besonders zu sein. Arten müssen sich absondern, um bestehen zu können. Es ist gleichwohl etwas Besonderes, so außerordentlich besonders zu sein, wie es Menschen sind. Das philosophische Interesse besteht deshalb darin herauszufinden, was den Menschen von allen anderen Tieren unterscheidet. Worin besteht der Unterschied, der diese Unterscheidungen ermöglicht? Das ist die anthropologische Differenz. Eine Formel, die diese Differenz zum Ausdruck bringen will, muss einen Unterschied benennen, der eine explanatorische Kraft hat oder die metaphysische Natur des Menschen zum Ausdruck bringt. Ein auffälliger Unterschied besteht beispielsweise darin, dass Tiere nicht sprechen. Der Mensch hingegen ist dasjenige Tier, das spricht. Hier setzt das Sprachargument an, das wir bereits kennengelernt haben. Die anthropologische Differenz ist auch aus der aktuellen philosophischen und wissenschaftlichen Diskussion keineswegs verschwunden. Die anthropologische Differenz zeigt sich etwa in der frühkindlichen Fähigkeit zur Imitation und Rollenübernahme oder in der Fähigkeit, Gedanken auszubilden, die auf eigene Gedanken gerichtet sind (sogenannte Meta-Repräsentationen), oder in der Fähigkeit, neue Zwecke zu setzen und neue Mittel zu finden.

Die Erzählung von Goodall veranschaulicht, dass eine vermeintliche anthropologische Differenz auch ins Wanken geraten kann. Dies verdeutlicht die Reaktion von Leakey: »Jetzt müssen wir entweder ›Mensch‹ neu definieren oder ›Werkzeug‹ neu definieren oder Schimpansen als Menschen akzeptieren.« Definiert man den Menschen als das Tier, das Werkzeuge herstellt, dann stellt Goodalls Beobachtung diese Definition infrage. Leakey nennt die Alternativen: Entweder setzt man die anthropologische Differenz neu an, man behält diese Differenz bei und adjustiert den Begriff des Werkzeugs oder man betrachtet Schimpansen in gewisser Weise als Menschen. Alle drei Strategien finden sich in der wissenschaftlichen Diskussion der letzten einhundert Jahre. Ein folgenreiches Ergebnis dieser Diskussion besteht darin, dass durch die Hinterfragung verschiedener anthropologischer Differenzen und die damit einhergehende Annäherung von Tier und Mensch auch das moralische Verhältnis zwischen Mensch und Tier überdacht werden muss.

Tierethik – Wie sollen wir uns Tieren gegenüber moralisch verhalten? Leakey regte nicht nur die Quereinsteigerin Goodall zur Langzeitbeobachtung von Primaten an, sondern auch Dian Fossey, die bis zu ihrer Ermordung in Ruanda Berggorillas erforschte, und Biruté Galdikas, die in Borneo Orang-Utans studierte. Die Arbeit dieser drei Forscherinnen entwickelte sich jedoch zusehends in eine weniger anthropozentrische Richtung und konzentrierte sich stärker auf das äußere und innere Leben dieser und anderer Tiere. Dabei bedienten sich Goodall, Fossey und Galdikas teils unorthodoxer Vorgehensweisen. Dieser Nonkonformismus kam schon darin zum Ausdruck, dass Goodall den beobachteten Tieren nicht Nummern, sondern Namen (David Greybeard, Mrs. Brown) zuteilte. Dian Fossey etwa lernte Geräusche hervorzubringen, die Gorillas benutzen, um sich gegenseitig zu besänftigen oder zu trösten, indem sie heftig schnaubte, Luft durch die Zähne stieß oder mit den Lippen schmatzte. Darin drückt sich nicht zuletzt eine in der europäischen Romantik wurzelnde veränderte Sensibilität gegenüber Tieren aus. Die Bedrohung von Tierarten und die Einsicht in ihr soziales und geistiges Leben führten zu der Überzeugung, dass der moralische Status der Tiere dringend überdacht werden müsse. Goodall selbst engagiert sich aufgrund ihrer Arbeit mit und über Schimpansen für das sogenannte »Great-Ape-Project«, eine Initiative, die Menschenrechte für Menschenaffen fordert.