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Barbara Zehnpfennig

Platon zur Einführung

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Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

Im Internet: www.junius-verlag.de

© 1997 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelfoto: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin

E-Book-Ausgabe Januar 2019

ISBN 978-3-96060-082-4

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-348-3

5., ergänzte Auflage 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

1.Was not tut

2.Das Leben (Siebter Brief)

Begegnung mit Sokrates

Die Akademie

Begegnung mit dem Tyrannen

3.Das Frühwerk: Tugend

Politeia I

- Kephalos: Gerechtigkeit ist Wiedergeben

- Polemarchos: Gerechtigkeit ist Freunden nutzen, Feinden schaden

- Thrasymachos: Gerechtigkeit ist das dem Stärkeren Zuträgliche

Das Frühwerk im Überblick

- Das Leben der Tugend: Sokrates (Apologie, Kriton)

- Reden über die Tugend (Protagoras, Gorgias, Menon, Euthydemos)

- Die Tugend selbst (Laches, Charmides)

4.Das mittlere Werk: Aufstieg

Politeia II-IX

- Gründung

- Erziehung

- Tugend in der Polis

- Tugend im Menschen

- Nutzen der entworfenen Polis

- Möglichkeit der entworfenen Polis

- Der Philosoph

- Die Gleichnisse

- Die Erziehung des Philosophen

- Die Verfallsreihe der Staaten

Das mittlere Werk im Überblick

- Aufstieg an der Natur (Phaidon)

- Aufstieg am Menschen (Symposion)

- Aufstieg als Ziel des Lebens (Phaidros)

5.Das Spätwerk: Rückstieg

Theaitetos und Parmenides

- Theaitetos: Erkenntnis, Wahrnehmung und Denken

- Parmenides: Denken und Sein

Das Spätwerk im Überblick

- Wissen (Sophistes)

- Praxis (Philebos, Politikos, Nomoi)

- Natur (Timaios)

6.Was bleibt (Siebter Brief)

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über die Autorin

»So kann man heute nicht mehr denken« – dies das Verdikt eines meiner akademischen Lehrer über die Platonische Philosophie. Manchmal ist es gut, nicht auf seine Lehrer zu hören.

Manchmal ist aber auch das Gegenteil richtig: bei einem Lehrer wie Rudolf Schrastetter.

1. Was not tut

Dass das Staunen der Anfang aller Philosophie sei, ist ein Satz, der fast immer Aristoteles zugeschrieben wird; tatsächlich hat Platon ihm diese Einsicht aber längst vorweggenommen. Für Aristoteles ist das Staunen die Reaktion auf das menschliche Unvermögen, die Phänomene, vor allem der äußeren Natur, zu erklären. Der Wissensdrang, der durch das Staunen entsteht, führt zu wissenschaftlichem Fortschritt; gesichertes Wissen tritt an die Stelle der früheren Unkenntnis. Dabei hält kein praktischer Nutzen den Forschungsprozess in Gang, er ist vielmehr Selbstzweck. Darauf verweist die Tatsache, dass Philosophie erst entsteht, wenn alles Lebensnotwendige vorhanden ist. Philosophie ist also nicht etwas, was aus einer alles andere zurückdrängenden Not betrieben wird.1

Später wird Kant von einem Erstaunen reden, das überhaupt nicht mehr aus Mangel, sondern aus der Fülle geboren ist: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.«2 Wird der Mensch als Sinneswesen angesichts des übermächtigen Kosmos geradezu nichtig, so kann er sich als Geistwesen und Träger des moralischen Gesetzes, das in ihm wirkt, eines unendlichen Wertes seiner Persönlichkeit versichern.

In Anbetracht einer solchen Wissensgewissheit kann es dann nicht mehr verwundern, dass mit Hegel die Verwunderung ganz ausstirbt. Nun ist es an der Zeit, »daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näherkomme – dem Ziele, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein«3. Das gesammelte Wissen der Menschheit gerinnt zum System, das in der Philosophie seinen Kulminationspunkt findet, weil durch sie der Weltgeist zum Bewusstsein seiner selbst gelangt. Jetzt ist kein Wunsch mehr offen, die Philosophie hat sich zum »absoluten Wissen« emporgeschwungen, man kann das Ende der Geschichte einläuten.

Diesem Urteil Hegels haben sich zwar in der Folgezeit keineswegs alle Philosophen angeschlossen. Aber wenn der Fortschrittsglaube, der die Philosophie und die Wissenschaft insgesamt seit Aristoteles beseelt, in Frage gestellt wurde, dann in der Regel von einer skeptischen Position aus; in Frage gestellt wurde und wird nicht nur, dass Philosophie und Wissenschaft das angestrebte Erkenntnisziel bereits erreicht haben, sondern dass sie es überhaupt erreichen können. Das Staunen hat tatsächlich keinen Raum mehr – es ist entweder einer problematischen Gewissheit oder einem nicht minder problematischen Zweifel gewichen.

Was aber hat es mit dem Staunen auf sich, das all dem vorausging, nämlich dem Erstaunen des jungen Theaitetos, der sich in Platons gleichnamigem Dialog auf einmal in einem Wirbel einander widersprechender Theorien wiederfindet? (The. 155c, d) Ist das Staunen, von dem Platon hier spricht, eines, das von Wissensgewissheit und skeptischem Zweifel noch nichts weiß? Handelt es sich also um ein naives Staunen einer noch anfänglichen Philosophie, das von der Geschichte der Philosophie überholt wurde?

Theaitetos wird von seinem Dialogpartner Sokrates gefragt, was Erkenntnis ist, und eine seiner Antworten lautet: Erkenntnis ist Wahrnehmung. Sokrates prüft diese These, und es stellt sich heraus, dass in ihr eine alltägliche Erfahrung zum Ausdruck kommt. Wenn Erkenntnis Wahrnehmung ist, dann gibt es nichts Feststehendes, weil die Dinge einmal so, einmal anders erscheinen. Alles ist relativ – eine Ansicht, die im vom steten Wandel der Dinge bestimmten Alltagsdenken weit verbreitet ist. Doch diese so eingängige Antwort widerstreitet den Grundgesetzen der Logik. Wäre tatsächlich alles relativ, müsste zum Beispiel ein Ding je nach Perspektive größer oder kleiner sein, ohne sich selbst verändert zu haben. Wie aber kann etwas sich selbst Gleiches größer oder kleiner sein und nicht nur scheinen, wenn es sich selbst gar nicht verändert hat? Es ist dieser Widerstreit, der Theaitetos staunen macht.

Was also ist Gegenstand des Staunens? Nicht die Großartigkeit des Kosmos und die Gewissheit, über das Wissen des Richtigen im Grunde schon zu verfügen – wie bei Kant; nicht die Unverstandenheit des Kosmos, die aber durch Wissenschaftsfortschritt zu überwinden ist – wie bei Aristoteles. Es ist ein Erstaunen darüber, dass die alltägliche Erfahrung mit den Dingen der Welt im Widerstreit liegt mit dem Instrument, das der geistigen Erfassung dieser Dinge dient: den Gesetzen der Logik, den Gesetzen des Denkens. Erfahrung und Denken befinden sich hier im Widerspruch, und da es sich um eine theoretische Fassung der Erfahrung handelt, widerspricht sich das Denken hier letztlich selbst. Der Widerspruch befindet sich also im Menschen – deshalb kann Sokrates sagen: »In der Tat ist das der Zustand eines Philosophen, das Staunen; denn es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.« (The. 155d)4

Die Philosophie hebt an, wenn der Mensch einen Blick in den Abgrund tut, der zwischen falscher Wissensgewissheit und realem Unverstehen klafft. Philosophie ist Ausdruck eines grundlegenden, nicht einfach behebbaren Mangels im Menschen selbst, der zu einer existentiellen Erschütterung führt. Weil Philosophie Ausdruck von Mangel ist, sehnt sie sich nach Erfüllung. Sie ist nicht etwas zum Lebensnotwendigen noch Hinzukommendes, wie Aristoteles meint, sondern sie ist aus einer Not geboren, die selber Lebensnot ist.

Im Platonischen Symposion, das verschiedene Lobredner den großen Gott der Liebe, Eros, preisen lässt, ist Sokrates derjenige, der die Göttlichkeit der Liebe und damit auch der Liebe zur Weisheit bestreitet. Liebe heißt Bedürftigkeit, Streben nach Fülle. Gott aber ist nicht bedürftig, er ist die Fülle. Für den Menschen ist die Liebe, die Philosophie, der Mittler zwischen ihm selbst und dem, was seinen Mangel behebt. Die Einsicht aber, dass die Liebe, die Philosophie, nicht schon selbst die Erfüllung ist, sondern des sie Erfüllenden noch bedarf, diese Einsicht macht erst frei zur Suche. Nur der ist ein Wahrheitssuchender, ein Philosoph, der sich seiner grundlegenden Bedürftigkeit bewusst ist, der nicht glaubt, durch äußeres Wissen, durch bloße Bewusstseinserweiterung dem Mangel abhelfen zu können, welcher eben keiner des Wissens, sondern des Verstehenkönnens ist. Der Riss klafft nicht zwischen Mensch und Welt, er geht vielmehr durch den Menschen selbst hindurch; deshalb enden alle Befragungen der Sokratischen Gesprächspartner damit, dass sie in Selbstwiderspruch geraten. Sie verstehen nicht, was sie wissen, weil sie nie gesucht haben, sondern immer schon gefunden zu haben glauben.

Die Platonische Philosophie beginnt mit dem Staunen über das eigene Nicht-Verstehen; sie verfährt dialektisch mittels der Aufdeckung der Widersprüche, die sich daraus ergeben; sie zielt auf die Überwindung des Widerspruchs durch eine neue Selbstverständigung des Menschen. Da diese nicht stellvertretend für die Menschheit gewonnen werden kann, sondern von jedem einzelnen selbst errungen werden muss, bleibt das Staunen Anfang der Philosophie – und die Philosophie Liebe zur Weisheit, nicht »wirkliches Wissen«.

Es ist also nicht der naive Charme des geschichtlichen Beginns, der in der Platonischen Version des Staunens zum Ausdruck kommt. In ihr drückt sich vielmehr ein grundlegend anderes Verhältnis des Menschen zu sich selbst aus, als es die späteren Varianten des Staunens erkennen lassen. Platonisches Philosophieren zielt nicht auf Wissen, sondern gebraucht Wissen als das Material, an dem sich Verstehen, an dem sich Erkennen vollziehen kann. Das erklärt die besondere Form, in der sich die Platonische Philosophie darbietet, den Dialog. Und es erklärt die herausragende Rolle, die Platons Lehrer Sokrates in den meisten Platonischen Dialogen spielt. Er ist Paradigma des Menschen, der sein Leben in den Dienst einer unablässigen Suche nach Erkenntnis gestellt hat und darüber das geworden ist, wonach er suchte: er ist der Weise, der Gerechte.

In der Apologie, der Verteidigungsrede des Sokrates, erklärt Sokrates selber den Sinn seiner dialogischen Tätigkeit. Im Auftrag des delphischen Apollon, des Gottes mit dem Leitsatz »Erkenne dich selbst«, prüft er das Wissen, das andere, zum Beispiel Handwerker, Dichter, Politiker, ihm präsentieren. Stets erweist sich das vermeintliche Wissen als bloß behauptetes; der dialogisch Geprüfte vermag seinen für sicher gehaltenen Besitz nicht festzuhalten, wenn Sokrates ihn auf dessen unbewußt gebliebene Voraussetzungen hin untersucht. Wer sein Wissen in der Prüfung aber nicht zu bewahren vermag, beweist damit, dass er es nicht verstanden hat. Er kann nicht begründen, was er für richtig hält, er hat nicht erkannt, was er denkt. Begründung nämlich erfordert Erkenntnis, also das Überschreiten bloßen Wissens, und wenn Sokrates das Fehlen der Begründung offenlegt, hat er nicht nur das vermeintliche Wissen geprüft, sondern vor allem den Wissenden selbst. Deshalb ist Apollon der Sokratische Leitgott – das, worauf die Wissensprüfung letztlich zielt, ist die Selbsterkenntnis des Menschen. Sie erst ermöglicht den richtigen Umgang mit sich selbst und den rechten Gebrauch des eigenen Wissens.

Nun hat es jedoch den Anschein, vor allem im Hinblick auf die Platonischen Frühdialoge, als bliebe die Sokratische Erkenntnissuche ergebnislos. Regelmäßig nämlich müssen die am Dialog Beteiligten bekennen, dass sie, was sie anfänglich zu wissen glaubten, schließlich doch nicht wissen. Die ursprüngliche Wissensgewissheit ist zerstört, doch den gesuchten Gegenstand hat man ebenfalls nicht gefunden. Von dem Ergebnis enttäuscht sein muss aber nur der, der sich vom Dialog ein Wissen versprochen hatte. Diese Erwartung erfüllt zumindest der Frühdialog nicht, und auch bei den späteren Dialogen ist Vorsicht geboten, wenn man sie bloß als Präsentation von Ergebnissen verstehen wollte. Am Wissen und seiner Prüfung vollzieht sich vielmehr Erkennen. Das Wissen ist nur die Leiter, die zurückgelassen wird, wenn man auf ihr hinaufgestiegen ist.

Will man den Dialog verstehen, kommt alles auf den Nachvollzug an – er ist das Entscheidende, an dem sich das Denken einübt, das zur eigenen Wissens- und Selbstprüfung befähigt. Erst dann nämlich, wenn sich der Leser am Dialogpartner der eigenen Unfähigkeit bewusst wird, das für richtig Gehaltene zu begründen, hat der Dialog den gemeinten Adressaten erreicht. Sich mit der Platonischen Philosophie ernsthaft auseinanderzusetzen bedeutet also, eine Herausforderung anzunehmen. Denn das von Sokrates vorgeführte Denken kann nicht äußerlich adaptiert werden. Es bleibt dem Leser verschlossen und damit für ihn unfruchtbar, solange er es nicht selber vollzieht.

Dieses so Außergewöhnliche der Platonischen Philosophie, dass sie nicht Theorie ist, sondern Erkenntnisvollzug, dass sie nicht monologisches Rechthaben ist, sondern dialogisches Rechenschaft-Geben – dieses Außergewöhnliche hat auch zu einer außergewöhnlichen Verwirrung in der Literatur über Platon geführt. Bei keinem anderen Philosophen in der Geschichte gibt es eine solche Fülle einander widersprechender Deutungen, einen solchen Kampf der Interpreten um die authentische Auslegung. Die Schwierigkeit einer adäquaten Darstellung liegt auf der Hand: Wenn man versucht, das nicht Wissbare, weil nur Erkennbare, wieder als Wissen verfügbar zu machen, ist man gezwungen, im Dialog nach positiven Ergebnissen zu suchen. Damit stößt man aber schnell an Grenzen. Wollte man sich dazu nämlich, was die einzige Möglichkeit zu sein scheint, der Sokratischen Äußerungen bedienen, so täte man sich schwer, ein einheitliches Bild zu gewinnen. Im Dialog Protagoras beispielsweise bezweifelt Sokrates zu Beginn die Lehrbarkeit der Tugend, am Ende muss er sie notgedrungen zumindest erwägen; hat er sich nun selbst widerlegt? Oder: Im Laches bekennt Sokrates sein Unwissen in bezug auf die Tapferkeit, in der Politeia definiert er sie. Hat er nun dazugelernt? Oder: In der Politeia schildert Sokrates den Weg zur Erkenntnis, im danach verfassten Theaitetos müssen am Ende alle, einschließlich Sokrates, eingestehen, nicht zu wissen, was Erkenntnis ist. Hat Sokrates jetzt wieder alles vergessen?

Der Sokratische Umgang mit Argumenten, Positionen, Theorien bestimmt sich allein aus dem Argumentationszusammenhang. Nur von ihm her wird erkennbar, ob Sokrates als Advocatus Diaboli auftritt, ob er eine Meinung übernimmt, um sie zu durchdenken, ob er eine Position vertritt, die auch die seine ist. Will man aus diesem situationsabhängigen Argumentieren eine Platonische »Lehre« destillieren, gibt es anscheinend nur zwei Möglichkeiten. Entweder man zwingt das in sich Auseinanderstrebende unter einem Einheitsgesichtspunkt zusammen5, oder man zerlegt das Gesamtwerk in lauter Segmente. Letzteres kann man in zeitlicher oder in sachlicher Hinsicht tun. Die zeitliche Segmentierung findet ihren Ausdruck in der oft vertretenen »Entwicklungshypothese«6, nach der das Frühwerk Sokratisches Nichtwissen, das mittlere Werk den Übergang zur Platonischen Lehre und das Spätwerk Selbstkritik und wissenschaftlichen Neuanfang repräsentiert.7 Die sachliche Segmentierung äußert sich darin, dass die Platonische Philosophie in Gebiete wie Ethik, Erkenntnistheorie, Ontologie aufgeteilt wird, wobei man die benötigten Theorie-Versatzstücke in einem Querbeetverfahren aus den verschiedenen Dialogen aufliest. Dem in sich differenzierten Werk Einheit einfach zu verordnen ist aber ebensowenig überzeugend, wie die Einheit vorschnell verloren zu geben. Hilft dann vielleicht die dritte in der Literatur angebotene Lösung weiter, den Archimedischen Punkt außerhalb des Werks, in einer ungeschriebenen, nur den Schülern Platons vorgetragenen Lehre zu suchen?8 Das muss bezweifelt werden. Erstens hat man diese Lehre nicht, man muss sie aus den Aussagen Dritter rekonstruieren. Zweitens behandelt man so das Werk unter Wert: als bloße Vorstufe zu einer abstrakten Prinzipienspekulation, die bestenfalls vom Werk her zu verstehen wäre, keinesfalls aber ihrerseits das Werk erklärt.

Eine denkbare Reaktion auf diese Schwierigkeiten ist, auf die philosophische Suche nach einem Zusammenhang zu verzichten und nur noch Platon-Philologie zu betreiben. Eine andere ist es, Platon selbst zu befragen, ob er nicht einen Schlüssel zum Verständnis seines Werks liefert, der es ermöglicht, den Weg-Charakter seiner Philosophie zu erfassen, statt sie auf Lehrinhalte zu reduzieren.9 Es gibt einen solchen Schlüssel. Die Rede ist vom Aufstieg, jenem Erkenntnisweg, den Platon in den Dialogen des mittleren Werks als die entscheidende Voraussetzung für die erfolgreiche philosophische Wahrheitssuche benennt. Der Aufstieg, von Platon selbst als Zentrum seines Denkens kenntlich gemacht, erschließt das Werk in seinem Zusammenhang, ohne der Einheit die tatsächlich vorhandene Unterschiedlichkeit der Werkphasen zu opfern. Der Frühdialog ist die Praxis des Aufstiegs: In der scheinbar so ergebnislosen Wissensprüfung des Sokrates wird ein Erkenntnisweg zurückgelegt, auf dem das Denken sich zunehmend versachlicht, gesuchte Sache und Suchender zur Einheit finden. Das mittlere Werk ist Theorie des Aufstiegs: In ihm thematisiert Platon, was Sokrates im Frühdialog vollzogen hat und welchen Weg Sokrates seinerseits zurücklegen musste, um den Aufstieg im Dialog verwirklichen zu können. Das Spätwerk schließlich setzt den gelungenen Aufstieg voraus. Von ihm her sichtet Platon noch einmal das Wissen, das er im Aufstieg überschritten hat. In diesem Rückstieg kann das Wissen neu verstanden, neu bewertet werden.

Mit diesem Überblick ist zugleich auch das Programm der folgenden Ausführungen bezeichnet. Der Aufstieg – Symbol für den Prozess der Abwendung des Menschen von seinen Vorurteilen und der Hinwendung zur gesuchten Sache – soll als Leitfaden für einen Gang durch das Platonische Werk dienen. Wenn zuvor noch ein Blick auf das Leben Platons geworfen wird, dann um zu erhellen, wie sich bei ihm philosophische Reflexion und Lebenspraxis wechselseitig bedingten. Auch hier soll Platon selbst zu Wort kommen, mit seiner im Siebten Brief niedergelegten Autobiographie. Denn die gesamte Darstellung folgt der Prämisse, dass das Eigentliche der Platonischen Philosophie im Werk, nicht außerhalb zu finden ist. Die geschriebene ist die ungeschriebene »Lehre«.

2. Das Leben (Siebter Brief)

Begegnung mit Sokrates

»Damals, als ich jung war, ging es mir so wie vielen: ich glaubte, sobald ich selbständig geworden wäre, mich unverzüglich den öffentlichen Aufgaben der Polis zuwenden zu müssen.« (SB 324b) So beginnt Platon im Siebten Brief die Schilderung seines Lebensweges, der zunächst konventionell zu verlaufen versprach. Von seiten beider Elternteile der athenischen Aristokratie entstammend, wäre es für den kurz nach dem Tod des Perikles (ca. 427 v. Chr.) geborenen Platon naheliegend gewesen, öffentliche Ämter in seiner Heimatstadt Athen zu bekleiden. Was ihn dazu bewog, weder Neigung noch Tradition zu folgen, war die Erfahrung von Unrecht, verübt von den Machthabern sowohl der tyrannischen als auch der demokratischen Periode. Und in beiden Fällen war das Opfer der politischen Willkürakte jener Mann, der das Leben und Denken Platons grundlegend veränderte: Sokrates.

Der immerhin 27 Jahre währende Peloponnesische Krieg (431-404 v. Chr.), in dem Sparta und Athen um die Vorherrschaft in Griechenland rangen, hatte zersetzende Wirkung auf die athenische Demokratie. Althergebrachte Sitten und Traditionen waren fraglich geworden, und »viele« – so Platon im Siebten Brief – lehnten »die damalige Verfassung ab« (SB 324c). Daher kam es 404 zum Umsturz, und dreißig Tyrannen ergriffen die Macht. Einer von ihnen, Kritias, war ein Verwandter Platons, und ein weiteres Mitglied der Familie, Charmides, erhielt während der Tyrannenherrschaft ein hohes Amt. Auch von Platon wurde erwartet, dass er sich unter dem neuen Regime politisch betätigte. Zunächst hegte Platon tatsächlich auch die Hoffnung, die Dreißig »würden die Polis aus ihrem ziemlich ungerechten Leben zu einer gerechten Art führen« (SB 324d). Doch dann musste er miterleben, wie die Tyrannen, um möglichst viele in Schuld zu verstricken, auch Sokrates an ihren Schandtaten zu beteiligen versuchten. Sie wollten ihn zwingen, Leon aus Salamis gewaltsam zu seiner willkürlich angeordneten Hinrichtung zu verschleppen. Sokrates weigerte sich. Nur der Sturz der Dreißig, der bald darauf erfolgte, verhinderte, dass er für diesen Akt des Widerstands bestraft wurde.

Hatte die Erfahrung, wie leicht sich Macht und Unrecht paaren, Platon während der Tyrannis veranlasst, auf öffentliches Wirken zu verzichten, so schien ihm eine politische Tätigkeit wieder erwägenswert, als Thrasybulos 403 die Demokratie wiederherstellte. Die neuen Machthaber übten Zurückhaltung bei der Vergeltung begangenen Unrechts, so dass die Chance für eine Versöhnung von Macht und Recht – das große Thema des Siebten Briefs – unter dem demokratischen Regiment gestiegen zu sein schien. Aber dann geschah, was für Platon Inbegriff ungerechten Tuns sein musste: Sokrates wurde ohne den geringsten Anschein von Rechtmäßigkeit der Gottlosigkeit angeklagt und von denen, deren Freund er den Tyrannen nicht hatte ausliefern wollen, zum Tode verurteilt. Aufgrund dieses Justizmordes an dem von ihm wegen seiner Gerechtigkeit über alles verehrten Menschen befielen Platon Zweifel, dass sich jemals politische Konstellationen ergeben könnten, in denen der Gerechte auch der Mächtige sein könnte. Als er später, während seiner sizilischen Reisen, von denen noch die Rede sein wird, versuchte, den Tyrannen Dionysios zur Philosophie zu bekehren und so dem Recht zur Macht zu verhelfen, tat er dies laut eigenem Bekunden mit einiger Skepsis. Er wusste wohl, dass kaum für die Mühen der Philosophie zu gewinnen ist, wer die vermeintlichen Freuden willkürlich ausgeübter Macht bereits gekostet hat.

Die in der Autobiographie geschilderte Begegnung mit dem Tyrannen Dionysios erscheint im Leben Platons als der Gegenpol zur Begegnung mit dem Philosophen Sokrates; beide Existenzformen, Philosoph und Tyrann, bezeichnen Extreme in der Lebenswahl. In Platons Hauptwerk, der Politeia, bildet die Tyrannis die letzte Verfallsstufe in der Reihe politischer Ordnungen, die mit der Regentschaft des Philosophenkönigs anhebt (Pol. 543a ff.): Der Herrschaft vollendeter Gerechtigkeit steht die Herrschaft der vollendeten Ungerechtigkeit gegenüber. Wieso die tyrannische Existenz nur Unrecht hervorbringen kann, zeigt das erste Buch der Politeia. Thrasymachos, der Ideologe des tyrannischen Lebens, offenbart dort im Dialog mit Sokrates, dass der einzige Maßstab seines Denkens und Handelns die Selbstdurchsetzung ist, ein unbedingter Wille zur Macht, der kein Recht anerkennt außer dem zur Behauptung der eigenen Willkür. In Thrasymachos ist dem Philosophen Sokrates der gefährlichste Gegner erwachsen, weil die Leugnung jedes Maßstabs jenseits der eigenen Selbstsucht die Leugnung der Möglichkeit philosophischer Wahrheitssuche bedeutet. Deshalb gestaltet sich der Dialog mit Thrasymachos auch trotz aller selbst hier noch spürbaren Ironie als ein erbittertes geistiges Ringen mit dem zwar intellektuell schwächeren, aber existentiell ebenbürtigen Gegner. Philosophie und Tyrannis bilden so die Eckpfeiler des Platonischen Denkens. Dass Platon sich für die Philosophie entschied, ist dem Vorbild zu verdanken, das ihm mit der Sokratischen Wahrheitssuche vor Augen stand.

Welch ungeheure Faszination Sokrates auf Platon ausgeübt haben muss, bezeugt Platons Werk. Die Zeugnisse der anderen Zeitgenossen hingegen lassen von solcher Faszination nichts spüren. Bei Xenophon wird Sokrates zum biederen, fast kleinbürgerlichen Ethiker10, bei Aristophanes zum spitzfindigen, sich selbst der Lächerlichkeit preisgebenden Sophisten11. Platons Schüler Aristoteles, der Sokrates nicht mehr selbst erlebt hat, weiß an diesem die Erfindung von Induktion und Definition, also die Ausbildung des wissenschaftlichen Instrumentariums, zu rühmen.12 Dass er sich aber mit »ethischen Gegenständen« und nicht »mit der gesamten Natur« beschäftigt habe13, vermerkt Aristoteles offenbar kritisch und gibt damit zu erkennen, welcher Aufgabe die Philosophie in seinen Augen nachzukommen hätte.

Was Platon an Sokrates sah, vermochte anscheinend keiner der Genannten zu erkennen – nicht notwendig Beweis für eine Platonische Überhöhung, sondern vielleicht Zeichen für ein Nicht-Erfassen des vielschichtigen Phänomens Sokrates seitens der anderen. Wenn in Sokrates einmal der Biedermann, dann wieder der Hanswurst, schließlich der Intellektualist gesehen wird, legt das den Verdacht nahe, dass sich der Blick an der Vielfalt der Erscheinungen verfing. Das Eine, das Wesentliche jenseits der Erscheinung war für Platon offenbar, dass Sokrates das lebte, was Platon immer gesucht hatte: Er war der »Gerechteste seiner Zeit« (SB 324e). Wodurch Sokrates das sein konnte, was ihn dazu machte – dies zu erforschen und darzustellen, macht sich das Werk zur Aufgabe. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass das ganze Platonische Werk vor allem eines ist: Erinnerung an Sokrates.

Die Akademie

Etwa im Jahr 387 eröffnete Platon außerhalb von Athen seine Akademie – ein Ort, an dem er offenbar mit ausgewählten Schülern zusammen philosophische Studien betrieb. Über Inhalte und Methoden lässt die Quellenlage zum Teil nur Vermutungen zu; so war es umstritten, ob der Lehrbetrieb tatsächlich »akademischen«, das heißt universalwissenschaftlichen und systematischen Charakter hatte. Doch dass Platon die Philosophenausbildung ohne schlüssiges Konzept unternommen haben könnte, ist kaum anzunehmen. Denn wenn man sich das systematische Erziehungsprogramm ansieht, das Platon in seiner Politeia dem angehenden Philosophen zugedacht hat, findet man alle Einzeldisziplinen wieder, die nach verlässlichen Quellen auch in der Akademie gelehrt wurden: Arithmetik und Geometrie, Stereometrie und Astronomie, Harmonielehre und schließlich die Dialektik. Die Politeia gibt ebenfalls darüber Auskunft, in welchem Sinn diese Wissenschaften betrieben werden müssen, sollen sie zur Ausbildung des philosophischen Vermögens dienen: niemals nur um des unmittelbaren Nutzens willen, niemals aber auch als Selbstzweck. Was der modernen Wissenschaft Zweck und Ziel ist, nämlich die praktische Nutzanwendung und die Befriedigung wissenschaftlicher Neugier, ist also nicht Motiv der Platonischen Wissenschaft. Im Platonischen Denken ist Wissenschaft Instrument der Geistesbildung. Mathematik und Naturwissenschaften sollen das Denken vom Sinnlichen zum Geistigen, zum Allgemeinen emporziehen; zusammen sind sie Propädeutik zur Dialektik. Dieser allein gelingt es, vom Werden, das Gegenstand der Einzelwissenschaften ist, zum Sein vorzudringen, das allem zugrunde liegt, indem sie mittels Dihairesis und Synopsis, mittels Zergliederung und Zusammenschau, die Voraussetzungen der anderen Wissenschaften durchdenkt. Deren letzte Voraussetzung ist das Gute, das die Dialektik auch als letztes erfasst, obwohl es das »an sich Erste« ist.

Bis zu diesem Letzten aber dringt nur durch, wer neben den intellektuellen vor allem auch die charakterlichen Grundlagen für eine bedingungslose Wahrheitssuche mitbringt. Wahrscheinlich wollte Platon mit seiner Akademiegründung eine bewusste Auswahl der charakterlich Geeigneten treffen, die eine gezielte Ausbildung der künftigen, auch politisch in die Pflicht zu nehmenden Philosophengeneration ermöglichen sollte.

Den Geist der Platonischen Philosophie zu bewahren ist den Schülern aber nicht gelungen. Schon die unmittelbaren Nachfolger in der Akademieleitung, Speusippos und Xenokrates, verkannten offenbar den propädeutischen Charakter der Mathematik in der Platonischen Philosophie und verkehrten zum Inhalt, was doch nur Mittel war. In der mittleren Akademie (ab 214 v. Chr.) prägte die skeptische Philosophie den Schulbetrieb, später abgelöst durch Eklektizismus und schließlich Neuplatonismus. 529 n. Chr. schloss Kaiser Justinian die Akademie als heidnisches Unternehmen.

Begegnung mit dem Tyrannen

Anders als Sokrates, der Athen nur verließ, wenn er der Polis im Krieg diente, unternahm Platon mehrere Reisen. Doch so wie Sokrates um der Philosophie willen in Athen blieb, reiste Platon um der Philosophie willen; fand der eine seine Dialogpartner in seiner unmittelbaren Umgebung, suchte der andere sie in den griechischen Siedlungen Unteritaliens und Siziliens. Laut Diogenes Laertius begab sich Platon, nachdem man Sokrates hingerichtet hatte, nach Megara zu Eukleides, nach Kyrene zum Mathematiker Theodoros und nach Italien zu den Pythagoreern Philolaos und Eurytos.14 Die Auseinandersetzung mit den Lehren der Genannten findet sich in den Dialogen wieder. Immer ist die Aneignung eine kritische, immer wird nach Grund und Begründung dessen gefragt, was den anderen schon positiver Inhalt ist.

Über seine drei wichtigsten Reisen berichtet Platon selber im Siebten Brief. Es sind seine Reisen nach Sizilien, an deren Schilderung beispielhaft sichtbar wird, welche politische Verbindlichkeit sich aus einer Philosophie ergibt, die wie die Platonische den Menschen nicht nur als Denker, sondern in seiner Gesamtexistenz fordert.

Erstmals fährt Platon um 389 nach Sizilien. Die Einstellung, mit der er die dortigen Verhältnisse betrachtet, ist eine Reaktion auf seine Erfahrungen in Athen. Diese schildert Platon so: »Wie ich mir dies nun ansah – die Menschen, die sich politisch betätigten, und die Gesetze und Gewohnheiten –, je mehr ich das durchschaute und zugleich an Alter zunahm, desto schwieriger kam es mir vor, die politischen Geschäfte richtig zu führen. Denn es schien ohne Freunde und zuverlässige Bundesgenossen nicht möglich zu sein […], und die geschriebenen Gesetze und die Sitten hatten ihr Ansehen verloren […].« (SB 325c, d) Platon zieht daraus für sich die Konsequenz, zwar weiter darüber nachzudenken, wie eine Polis richtig zu ordnen ist, mit dem Handeln jedoch zu warten, bis die Bedingungen zur Schaffung einer gerechten Ordnung vorliegen. Den Maßstab für letztere liefert die Philosophie, weil »sie allein es ist, die erkennen lässt, was im Politischen wie im Privaten das Gerechte ist« (SB 326a). Die entscheidende Bedingung aber dafür, dass sich die Verhältnisse grundlegend zum Besseren wandeln, ist, dass »entweder das Geschlecht der auf rechte und wahrhafte Weise Philosophierenden an die Herrschaft gelangt oder die Machthaber in den Poleis durch göttliche Fügung philosophisch werden« (SB 326b).

Mit dieser Einstellung kommt Platon nach Sizilien, das er von einem Tyrannen beherrscht und von einer hedonistischen, vernunftfeindlichen Lebensweise geprägt vorfindet. An eine Änderung der dortigen Verhältnisse kann er demnach nicht gedacht haben, zumal die Grundvoraussetzung dafür – ein der Philosophie zuneigender Herrscher, der vom Volk getragen wird – nicht gegeben ist. Dennoch hat sein Aufenthalt ungewollt später den Sturz des dann regierenden Tyrannen zur Folge. Denn Platon trifft in Syrakus auf den jungen Dion, einen Verwandten des Herrschers, der sich von seiner Philosophie ergreifen lässt. So stark ist der Eindruck, den Platon bei ihm hinterlässt, dass Dion mit der sizilianischen Lebensweise bricht, weil er »die Tugend höher schätzt als Lust und Luxus« (SB 327b). Da aber gerade die Verachtung der Tugend und das Leben nach Maßgabe der Bedürfnisse der Nährboden sind, auf dem die Tyrannis gedeiht, musste Dions Abwendung von der herrschenden Lebensweise den Keim für künftige Konflikte legen.

Das zeigt sich gut zwanzig Jahre später. 367 übernimmt Dionysios II. die Herrschaft in Syrakus von seinem Vater, und Dion glaubt in ihm einen Menschen gefunden zu haben, der sich für die Philosophie gewinnen ließe. Deshalb bittet er Platon um Beistand; auch Dionysios selber fordert Platon zum Kommen auf. Dions Hinweis auf den »Kairos«, auf den rechten Zeitpunkt, die Philosophie Praxis werden zu lassen, verfehlt seine Wirkung auf Platon nicht. Er entschließt sich 366 zur Reise, für die er sich im Siebten Brief ausführlich rechtfertigt – offenbar, weil ihm sein Engagement in Syrakus später von vielen vorgeworfen wurde. Was ihn zur Fahrt bewegt, ist nicht nur die Tatsache, gerufen worden zu sein, sondern vor allem das Gefühl, der Philosophie gegenüber in der Pflicht zu stehen. Er gelangt zu der Überzeugung: »Wenn man es überhaupt jemals versuchen sollte, das im Hinblick auf die Gesetze und die politische Ordnung Gedachte zu verwirklichen, so müsse man es jetzt versuchen.« (SB 328b, c) Zudem schämt er sich vor sich selbst, »daß es mir selber erscheinen könnte, als ob ich gänzlich nur Wort wäre, die Tat aber niemals aus freien Stücken ergriffe« (SB 328c). Dies und die Angst um Dion, der sich durch seine oppositionelle Haltung in Gefahr gebracht hat, geben schließlich den Ausschlag.

Doch die Mission scheitert. Intriganten gelingt es, Dion bei Dionysios zu verleumden. Daraufhin wird Dion in die Verbannung geschickt; Platon aber versucht der Tyrann für sich zu gewinnen. Teils bittet er ihn zu bleiben, teils nötigt er ihn durch Verhinderung der Abreise. Das einzige jedoch, was in seinem Werben um Platons Freundschaft zum Erfolg geführt hätte, die Hinwendung zur Philosophie, verweigert er, weil er wohl fürchtet, sich von der Philosophie vereinnahmen zu lassen und damit Dion doch noch zum Sieg zu verhelfen. So reist Platon 365, nachdem er den Tyrannen gedrängt hat, ihn ziehen zu lassen, unverrichteter Dinge nach Athen zurück.

Weshalb er 361 noch einmal nach Syrakus zurückkehrt, ist vor diesem Hintergrund schwer verständlich, zumal er im Siebten Brief deutlich sagt, unter welchen Umständen man überhaupt nur als Ratgeber tätig werden darf. Zunächst muss man um Rat gebeten werden, denn nur dann besteht Aussicht, beim anderen auf eine innere Bereitschaft zur Änderung zu treffen. Weiterhin muss dem Ratsuchenden – sei es ein Mensch, sei es eine Polis – klargemacht werden, dass eine Besserung nur zu erreichen ist, wenn eine grundlegende Veränderung der eigenen Einstellung erfolgt, sollte die Misslichkeit der Lage auf eine falsche individuelle oder politische Verfassung zurückgehen. Wo aber diese Umkehr verweigert und vom Ratgeber nur eine äußere Korrektur erwartet wird, darf er sich nicht zur Verfügung stellen. Er diente so nur der Befestigung des einmal eingeschlagenen, falschen Weges.

Dass Platon bei seiner dritten Reise in diesem Sinn missbraucht werden soll, merkt er kurz nach seiner Ankunft. Er beschließt, es mit dem Tyrannen noch einmal zu versuchen, weil er von vielen Seiten dazu gedrängt wird: Dionysios selbst schickt dreimal nach ihm und verweist darauf, dass auch das Schicksal Dions an Platons Entscheidung gebunden sei; die Freunde aus Tarent berichten von Dionysios’ philosophischen Fortschritten, und auch Dion beschwört Platon zu fahren. Angesichts seiner früher gegebenen Zusage, nach Festigung der Herrschaft des Dionysios nochmals nach Syrakus zu kommen – nur unter dieser Bedingung konnte Platon Syrakus bei seiner zweiten Reise verlassen –, sieht Platon wohl trotz größter Bedenken keine Möglichkeit, sich zu entziehen.

Wie ernst es Dionysios mit seinen Bemühungen um die Philosophie ist, ermittelt Platon durch eine Probe. Er führt ihm vor Augen, was die Sache ist, um die es geht, und mit welchen Mühen und Anstrengungen es verbunden ist, sie zu erreichen. »Wer das nun hört, der wird, wenn er wirklich ein Weisheitsliebender ist und der Sache würdig, weil göttlich, glauben, von einem wunderbaren Weg gehört zu haben und sich nun sammeln zu müssen, denn anders könne er nicht mehr leben.« (SB 340c) Ein solcher lässt nicht ab, bis er am Ziel ist; Dionysios aber will nicht einmal alles darüber hören und gibt so zu erkennen, dass er die Philosophie nur zur Hebung seines Renommees benutzen wollte, an eine innere Umkehr aber nie gedacht hat.

Die weiteren Ereignisse bestätigen das Ergebnis der Probe. Dionysios eignet sich nach und nach Dions Vermögen an, als dessen Verwalter er eingesetzt war, und bricht auch sonst alle Versprechen, die er Platon gegeben hat. Weil Dion nichts gegen ihn unternehmen kann, solange Platon als Pfand bei ihm ist, hält der Tyrann Platon fest und ersetzt die frühere Freundschaftswerbung zunehmend durch die Drohung. Als Platon erkennt, dass sein Leben in Gefahr ist, erklärt er dem Freund Archytas in Tarent seine Lage. Dieser schickt eine Triere, um Platon abzuholen. Dionysios lässt ihn schließlich ziehen. Später, im Jahr 357, gelingt Dion die Rückkehr nach Syrakus und die Vertreibung des Tyrannen; trotz Dions Aufforderung ist Platon nicht gewillt, sich an einem Rachefeldzug gegen Dionysios zu beteiligen, da er seine Aufgabe in der Versöhnung der Gegner sieht, nicht in der möglicherweise ebenso ungerechten Vergeltung tyrannischen Unrechts. Dions Triumph währt jedoch nicht lange. Er umgibt sich mit falschen Freunden, nämlich solchen, »die ihm nicht durch die Philosophie freund geworden waren« (SB 333e), und wird von diesen 354 ermordet.

So scheiterte also Platons Versuch, sein philosophisches Konzept von der richtigen Politik Praxis werden zu lassen, an der Weigerung des Machthabers, philosophisch zu werden. In der Debatte um Martin Heidegger haben manche Platons politisches Experiment mit dem Tyrannen mit Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus verglichen15, meist in der Absicht, Heidegger dadurch zu entlasten und Platon zu belasten. Was dem einen als in ihrer Weltfremdheit geradezu sympathisch anmutende Einlassung des Stubengelehrten auf die Macht zugute gehalten wurde, wurde dem anderen als bewusste Verbrüderung eines diktatorischen Denkens mit einer diktatorischen Praxis angekreidet. Der nähere Blick rechtfertigt den Vergleich nicht. Platon wurde gerufen, Heidegger fühlte sich selber berufen. Ging Platon zum Tyrannen, um ihn zu einer Umkehr, einer Hinwendung zur Philosophie zu bewegen, so ließ sich Heidegger auf die Diktatur ein, weil er in ihr offenbar etwas seiner Philosophie Verwandtes wirken sah. Ist in der Platonischen Staatskonzeption Gerechtigkeit Maß und Ziel, so spielt dieser Begriff in Heideggers Philosophie keine Rolle. Das Entscheidende aber ist, dass Platon philosophisch und damit rational nachprüfbar den Weg vorangeht, den seiner Meinung nach gehen muss, wer zur Vernunft und damit zu einer vernünftigen Einschätzung des politisch Gebotenen gelangen will. Bei Heidegger erfolgt das Urteil über die Welt auf der Grundlage einer als gegeben schlicht vorausgesetzten Befähigung zur rechten Einschätzung von Sein und Sollen.

Wenn man den am Lebensende verfassten Siebten Brief Platons als resigniertes Resümee eines am Leben gescheiterten Philosophen liest, dann hat man seine Intention verkannt. Gescheitert ist nur ein von vornherein mit großer Skepsis unternommener Versuch, einen anderen, Mächtigen, dazu zu bewegen, sein Leben und dadurch das der Polis philosophisch zu führen. Der Brief lässt aber keinen Zweifel daran, daß bei Platon selbst die Versöhnung von Philosophie und Leben gelungen ist; immer wird die Philosophie als die Instanz beschrieben, die seine Lebensentscheidungen leitete. So ist anzunehmen, dass Platon, als er 347 v. Chr. starb, nicht anders aus dem Leben ging als sein großer Lehrer Sokrates: in dem Bewusstsein, sich mit der Wahl des philosophischen Lebens für das richtige Leben entschieden zu haben.

3. Das Frühwerk: Tugend

Der Dialog ist das spezifische Medium Platonischen Philosophierens – und eben ihn lässt man in gewisser Weise zurück, wenn man dieses Philosophieren zum Gegenstand einer Darstellung macht. Das Gespräch, das dem Leser durch Sokrates angeboten wird, kann eine solche Darstellung nicht ersetzen; um diesen Umstand nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, soll der Dialogcharakter in den folgenden Ausführungen zumindest erkennbar bleiben. Es geht nicht um Auflistung von Ergebnissen, sondern um Mitvollzug. Kein Ergebnis ist aus sich heraus verstehbar, alles kommt auf den Zusammenhang an, aus dem es sich ergibt. Damit nicht nur der innere Zusammenhang des Dialogs, sondern auch der des Werks nachvollziehbar wird, soll folgendermaßen verfahren werden: Pars pro toto wird je ein Dialog aus jeder Werkphase vorgestellt, der exemplarisch die für diese typischen Themen und Methoden vorführt. Anschließend soll dann ein Gesamtüberblick über die gesamte Werkphase gegeben werden. Das Spezifische jedes Teils wird so an das Allgemeine zurückgebunden, das alles trägt: den Aufstieg.

Das Spezifische des Frühdialogs ist die Suche nach der Tugend. Was ist damit gemeint? Tugenden wie Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit bezeichnen die Verfasstheit eines Menschen, der im Alltag wie in der Ausnahmesituation das Richtige zu tun weiß. Tugend ist Tauglichkeit und der tugendhafte Mensch derjenige, der seine entscheidenden menschlichen Möglichkeiten verwirklicht hat. Nun mag es aus moderner Sicht anachronistisch und auch reichlich individualistisch erscheinen, wenn die Philosophie die Tauglichkeit des einzelnen Menschen zu ihrem zentralen Thema macht. Dass aber die Tugend des einzelnen unmittelbar auf das Gelingen oder Scheitern einer politischen Ordnung Einfluss hat und dass die Tugendfrage von nicht zu überbietender Aktualität ist, gilt es im weiteren zu zeigen. Deshalb soll nun der Dialog vorgeführt werden, der die Tugend zum Gegenstand hat, die laut Politeia als die allen anderen übergeordnete zu gelten hat (Pol. 443 d, e). Jene Tugend ist die Gerechtigkeit, jener Dialog der des Sokrates mit Kephalos, Polemarchos und Thrasymachos im ersten Buch der Politeia.16

Politeia I

Kephalos (Pol. 328c-331d)

Die Fragestellung des Dialogs, nämlich was Gerechtigkeit sei, ergibt sich wie stets bei Platon aus einer lebenspraktischen Situation. Sokrates wird in das Haus des greisen Kephalos geführt. Dort hält er sich nicht lange mit Konversation auf, sondern fragt seinen Gastgeber gleich nach dem Entscheidenden: Da dieser aufgrund seines Alters dem anderen an Lebenserfahrung überlegen ist, soll er darüber Auskunft geben, wie er das Leben einschätzt, ob es beschwerlich oder leicht zu leben ist. Kephalos verweist auf seine Altersgenossen, die über die Beschwernisse des Alters, zum Beispiel die Abnahme der Liebeslust, klagen; im Gegensatz zu ihnen sieht er die Vorteile des Älterwerdens, zum Beispiel die zunehmende Freude am Geistigen, und zieht daraus den Schluss, nicht das Alter als solches, sondern die Einstellung zum Alter mache das Leben leicht oder schwer. Was bedeutet das? Die Altersgenossen machen eine materielle Ursache, ihr Älterwerden, für ihr unbefriedigendes Leben verantwortlich. Kephalos hingegen glaubt, eine geistige Ursache, seine richtige Einstellung, bestimme sein Leben und mache es gut.

Sokrates freut diese Antwort, doch offenbar vertraut er ihr nicht ganz, denn er bohrt weiter. Ob denn nicht vielleicht Kephalos’ Reichtum eine Mitursache seines Wohlergehens sei? Kephalos leugnet das nicht, gibt aber zu bedenken, dass ohne richtige Einstellung auch der Reichtum nichts nütze. Denn dann mache man von ihm nicht den rechten Gebrauch. Der Vorteil des Reichtums aber besteht für Kephalos darin, dass man mit ihm nicht genötigt ist, Unrecht zu tun – weder den Göttern noch den Menschen muss man, wenn man Geld hat, etwas stehlen oder schuldig bleiben. Und das beruhigt das Gewissen, so dass man auch an der Schwelle des Todes nicht fürchten muss, dermaleinst noch offene Rechnungen begleichen zu müssen.