image

Gerda Pagel

Jacques Lacan zur Einführung

image

Junius Verlag GmbH

© 1989 by Junius Verlag GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

1.Im Banne des Spiegels – »Ich ist ein anderer«

2.Das Symbolische – »Das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache«

3.Subjekt und Wunsch. Das Begehren und die Intersubjektivität

4.Ödipus und die Bedeutung des Phallus. Trieb und Sexualität in der Engführung des Signifikanten

5.Sprechen und Sprache in der Psychoanalyse

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über die Autorin

Einleitung

»Der mich befragt, weiß mich auch zu lesen.«

Jacques Lacan

Jacques Lacan (1901-1981) kann sicher als einer der bedeutendsten und zugleich umstrittensten Repräsentanten der Psychoanalyse bezeichnet werden. Als in den sechziger Jahren die Bewegung des französischen Strukturalismus ihren Höhepunkt erreichte und das intellektuelle Leben der Hauptstadt in Atem hielt, veröffentlichte der Gründer und Leiter der Freud-Schule in Paris (Ecole Freudienne de Paris) seine gesammelten Abhandlungen in einem nahezu tausend Seiten umfassenden Werk mit dem Titel Ecrits. Damit kam er nicht nur dem Wunsch seiner zahlreichen Schüler, Seminarhörer und Anhänger nach, die bis zu diesem Zeitpunkt Mühe hatten, an seine verstreut publizierten Artikel zu gelangen. Zugleich schrieb er sich ein in die Reihe der wissenschaftlichen Autoren, die als Architekten einer neuen geistigen Epoche gelten: Claude Lévi-Strauss (Ethnologe), Michel Foucault (Philosoph), Louis Althusser (Philosoph/Marxist), Roland Barthes (Semiologe/Literaturkritiker) und Jacques Derrida (Philosophiehistoriker). Wenn auch die Wissensgebiete dieser Forscher erheblich differieren, so sehen sich doch alle einer Aufgabe verpflichtet: der strukturalistischen Tätigkeit. Angesichts ihres großen Einflusses auf Lacan gilt es, zunächst einen Blick auf ihre Handhabung und Entwicklung zu werfen.

Die strukturalistische Tätigkeit hat zum Ziel, den Ordnungscharakter von Objekten und Beziehungssystemen hervorzuheben, deren Erscheinungsweise und Aufbau systematisch zu ergründen und linguistisch, logisch oder auch poetisch zu beschreiben. »Der strukturale Mensch nimmt das Gegebene, zerlegt es, setzt es wieder zusammen.«1 Was R. Barthes hier kurz auf einen Nenner bringt, ist scheinbar wenig, doch ist dieses Wenige gerade das Entscheidende. Denn zwischen den beiden Operationen – Zerlegen und Arrangement – entspringt etwas Neues: etwas, was das Gegebene weder kopieren noch verändern, sondern verständlich machen will.

Gemeinsamer Bezugspunkt der vielschichtigen Theorien ist das soziale Phänomen Sprache, das allen Strukturanalysen zum Paradigma wird. Das Sprachdenken der Strukturalisten unterscheidet sich allerdings erheblich von der historisch verfahrenden Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Sah diese die Sprache als Resultat historischer Entwicklung (Diachronie) und betrachtete Wörter und Laute vorzüglich in ihrer jeweiligen Isoliertheit, so richtet sich der strukturalistische Blick auf den systematischen Aufbau der Sprache und betrachtet dieselbe als komplexes Zusammenwirken gleichzeitiger Elemente (Synchronie), dessen Gesetzmäßigkeit dem menschlichen Bewußtsein in weitem Maße entzogen ist und im »Unbewußten« verbleibt.

Es war der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857-1913), der die strukturalistische Bewegung ins Leben rief. Bevor er 1906 an der Universität von Genf durch seine Lehrtätigkeit und die 1916 postum veröffentlichten Vorlesungsschriften Cours de linguistique génerale2 die Linguistik epochemachend revolutionierte, unterrichtete er bis 1891 an der gleichen Ecole Pratique des Hautes Etudes in Paris, in der noch heute zahlreiche Strukturalisten ihrer Lehrtätigkeit nachgehen. Die von de Saussures Genfer Schule ausgehende Bewegung nahm ihren Weg nach Prag (R. Jakobson, N.S. Trubetzkoj), Kopenhagen (L. Hjelmslev) und in die USA (L. Bloomfield, E. Sapir, N. Chomsky), bis sie schließlich – teils übernommen, teils weiterentwickelt, abgewandelt oder kritisiert – nach Europa zurückkehrte. Vor allem in Frankreich wird sie nun zum Grundpfeiler einer großen geistigen Strömung, die nicht nur in alle Sparten der universitären Humandisziplinen dringt, sondern auch als intellektuelle Mode und als ideologische Weltanschauung das kulturelle Leben beherrscht.3

Doch lange bevor der Strukturalismus zum Schlagwort der Intellektuellenszene in Paris wird, ist er zunächst strenge wissenschaftliche Methode, die sich neben anderen bewährten Verfahren erst ihren Platz erobern muß. Den entscheidenden Anstoß zum Durchbruch aus der Sprachwissenschaft gibt Claude Lévi-Strauss mit seinem 1949 veröffentlichten Werk Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, in welchem er die Übertragbarkeit der linguistischen Methode auf dem Gebiet der Ethnologie demonstriert. Der große wissenschaftliche Erfolg, den Lévi-Strauss mit dieser exzellenten Analyse und seinen nachfolgenden Arbeiten über »Mythen«, »Magie«, »Religion« und »Kunst« verbuchen kann, läßt ihn zur zentralen Figur der aufkeimenden neuen Bewegung werden. Was er konsequent in Ethnologie und Anthropologie zur Anwendung bringt, macht Schule in Philosophie, Soziologie, Literaturwissenschaft, Semiologie und nicht zuletzt in der Psychoanalyse, auf deren Feld der Name »Lacan« bald in aller Mund ist.

Bekannt ist Lacan durch die Originalität seiner Theorien, die der Psychoanalyse als Wissenschaft ein neues Image verleihen, berühmt durch die rhetorische Exzellenz seiner Seminarvorträge, die einen der Anziehungspunkte für die jungen Intellektuellen von Paris bilden, berüchtigt im Kreise seiner Fachkollegen als das Enfant terrible, welches für immer neue Aufregung sorgt. Bereits Mitte der dreißiger Jahre sagte Lacan der Ich-Psychologie, deren Vertreter auf die Erkenntniskräfte des Ich schwören, den Kampf an und setzte ihr seine an der Linguistik geschärfte Lesart des Unbewußten entgegen. Sein radikales Freud-Verständnis führte nicht nur zur Trennung zwischen ihm und der Psychoanalytischen Vereinigung Frankreichs (1953), sondern auch zum Ausschluß aus der Internationalen Gesellschaft der Psychoanalyse (1963). Als Lacan im Jahre 1964 die Öffentlichkeit mit der Gründung seiner eigenen Freud-Schule konfrontierte und sich damit als einer der Hauptverfechter des Strukturalismus in Szene setzte, erregte gleichzeitig Roland Barthes, der Claude Lévi-Strauss’ und Lacans Theorien auf dem Gebiet der Literatur verfocht, das Pariser Publikum. Sein Werk Sur Racine4, das auf polemische Art der traditionellen Literaturkritik eine scharfe Absage erteilt, wird zum Fehdehandschuh, den der Sorbonner Literaturprofessor Raymond Picard aufgreift. Der Angriff in Form eines Pamphlets mit dem Titel Neue Kritik oder neuer Betrug, das zum vernichtenden Hieb gegen Barthes’ Theorien ausholt, entwickelt sich freilich zum Eigentor. Die Schrift bietet Zündstoff, an dem sich die Geister der Intellektuellen scheiden – der Strukturalismus avanciert zur Mode des universitären Milieus von Paris.

Nachdem der Literaturstreit von Barthes und Picard im Winter 1965/66 seinen ersten Höhepunkt erreichte, kündigte sich ein Jahr später (1966/67) auf dem Literaturmarkt eine Flut strukturalistischer Bestseller an. Sie heizte die Grundsatzdiskussionen der »für« und »wider« den Strukturalismus Streitenden in allen wissenschaftlichen Disziplinen weiter an: Lévi-Strauss stellt den zweiten Band seiner Mythologiques vor; Louis Althusser und seine Kollegen verblüffen mit ihrer strukturalistischen Marx-Interpretation Das Kapital lesen I, II; der junge Philosoph Michel Foucault erreicht mit seinem Werk Die Ordnung der Dinge Platz eins auf der Bestsellerliste; unter dem Titel Grammatologie entwirft der Philosophiehistoriker Jacques Derrida eine neue Theorie der Schrift; Roland Barthes indessen erwidert mit Kritik und Wahrheit Picards Schmähschrift und entlarvt kurze Zeit später mit seiner umfangreichen Analyse über Die Sprache der Mode eines der vielen Zeichensysteme unserer Zeit als eine Struktur, die imaginären Zwängen gehorcht. Lacans Beitrag zu diesem Manifest strukturalistischer Autoren bilden seine bereits erwähnten Ecrits, die nicht nur das voluminöseste Buch darstellen, sondern auch – was Inhalt und Form betrifft – die größten Anforderungen an den Leser richten.

Zunächst wird der Leser der Ecrits feststellen, daß es das Standardwerk Lacans – im Sinne einer ausführlichen Abhandlung, die in summa seine Theorien enthält – nicht gibt. Nicht ohne Grund trägt das Buch den Titel Ecrits (Schriften)5, besteht es doch aus Aufsätzen, Abhandlungen, Vorträgen, Kommentaren und Interventionen. Dies gilt auch für seine Veröffentlichungen nach 1966 sowie für die Mitschriften seiner Seminare, die ab 1973 auf dem Buchmarkt erscheinen. Lacans Lehrgebäude läßt sich nur im Studium seiner Einzelschriften und der Seminare erfassen. Doch auch hier wird derjenige, der nach dem Grundgedanken seiner Theorien sucht bzw. zum Kern seiner Wahrheit vorstoßen will, enttäuscht werden. Denn analog zu Lacans Lehre, die jedes Haschen nach Einheit und Ganzheit als imaginär verwirft, versagt sich das Lacansche Lehrgebäude dem Postulat von Eindeutigkeit und Wahrheit. Seine Schriften und Vorlesungen lassen sich charakterisieren als ein Spiel von miteinander verwobenen Gedankenketten, die in Knotenpunkten zusammenlaufen. Sie gleichen Spuren, die sich im Sand zu verlieren scheinen und unerwartet wieder auftauchen, oder aufeinander bezogenen Querverweisen, Differenzen und Brüchen, die sich erst nachträglich als »Effekt« eines Sinnes erweisen. Andererseits finden sich methodisch perfekt geführte Passagen, die jedoch jäh abbrechen, vor jeder Verfestigung bewahrt werden. Lacans Schreibstil entfaltet einen Diskurs im Sinne der von R. Barthes verwendeten Definition: »Discursus – das meint ursprünglich die Bewegung des Hin-und-her-Laufens, das ist Kommen und Gehen, das sind ›Schritte‹, ›Verwicklungen‹.«6

Lacan zu studieren bedeutet zum einen, sich auf diesen Diskurs einzulassen, die Art und Weise seiner Verwebungen zu erforschen, den aus seinen Bewegungen lebenden Text ernst zu nehmen, ohne an ihn die hermeneutische Frage nach dem Verstehen und Erkennen eines ursprünglichen bzw. eindeutigen Sinnes zu richten.

Lacan zu lesen bedeutet zum anderen, sich einer Ambivalenz zwischen Faszination und Frustration zu stellen. Seine Sprachgewalt, seine poetisch anmutende Fähigkeit, mit der Mehrdeutigkeit von Wörtern zu spielen, und seine elegante Art des bedächtig-allmählichen Umkreisens und Enthüllens wichtiger Argumentations- und Gedankengänge verführen leicht dazu, sich an der Lust am Lesen zu weiden und sich tragen zu lassen vom üppigen Spiel der Signifikanten. Frappierend ist, daß dies nie ganz gelingt, denn der Duktus seiner Rede reißt plötzlich ab, reduziert sich auf Andeutungen oder verdichtet sich zu komplizierten Definitionen, die wachrütteln, zum Nachdenken auffordern und den Diskurs förmlich umstülpen: Der Effekt, den der Leser erhaschen will, schlägt um in eine Effektivität, die ihn selbst erhascht.

Der herausfordernde Schreib- bzw. Sprachstil Lacans wird für viele, die sich mit ihm beschäftigen, zum Stein des Anstoßes. Lacan schreibt nicht, um zu informieren, sondern – wie er selbst betont – um zu »evozieren«. Die eigenwillige Struktur und die poetische Dimension seiner Schriften schmälern jedoch keineswegs den wissenschaftlichen Gehalt seiner Theorien, die er mit leidenschaftlicher Beharrlichkeit verfocht. Gleich Dali, der den surrealistischen Stil in der Kunst legalisierte, läßt Lacan das Phänomen zu Wort kommen, dem sein tiefstes Interesse gilt: das Unbewußte. Wenn er dem Leser das »Einrasten« eines eindeutigen Sinnes verweigert, dann geschieht dies nicht ohne Grund, geht es ihm dabei doch um wesentliche Dinge:

die Entlarvung der imaginären Struktur des Selbstbewußtseins (vgl. Kap. 1),

die Hinterfragung menschlicher Denk- und Sprachgewohnheiten und die Aufdeckung der »Rede« des Unbewußten (vgl. Kap. 2),

die Infragestellung des Subjekts und seiner Geschichtlichkeit (vgl. Kap. 3),

die Enthüllung der exzentrischen Sexualität des Menschen (vgl. Kap. 4),

die Verweigerung einer ichstärkenden Therapie und die Befreiung des »wahren« Sprechens in der Psychoanalyse (vgl. Kap. 5).

Mit seiner radikalen Absage an die traditionelle Sprachtheorie, an Ego- und Logozentrismus sowie an die Geschichtsmächtigkeit des Menschen formulierte Lacan eine weitere Provokation. Daß das Subjekt weder autonomes Zentrum seiner selbst noch Initiator seines vom Bewußtsein ausgehenden Verhältnisses zur Welt ist, daß vielmehr die Sprache das entscheidende Agens ist, wodurch es spricht und gesprochen wird – das ist der Grund der Widerstände gegen das Denken Lacans. Darauf gründen sich noch heute die Kritiken an seiner Lehre, der Vorwurf gegenüber seinem Stil und die Angriffe auf seine Person.

Die Persönlichkeit Lacans7 bietet ohne Zweifel Grund, sich für sie zu begeistern oder sich an ihr zu reiben. Seine Aura erstreckt sich zwischen genialem Geist und tragischem Märtyrer, Scharlatan und wissenschaftlicher Größe, väterlichem Freund und autoritärem Meister. Angesichts der Polarisierung zwischen Liebe und Haß, die man ihm entgegenbringt, ist es angebracht, vor einer genaueren Beschäftigung mit seinem Werk die enge Verkettung von wissenschaftlichem Interesse und analytischer Erfahrung zu verdeutlichen. Die Verquickung von persönlicher Motivation/individueller Entfaltung mit der Geschichte der Institutionen, in welchen Lacan eine tragende Rolle spielte, darf hier nicht außer acht bleiben:

Lacans wissenschaftlicher Ausgangspunkt ist die Psychiatrie. 1932 erscheint seine medizinische Dissertation über einen Fall von Paranoia: De la psychose paranoïaque dans ses rapports avec la personnalité.8 Ein Jahr später greift Lacan die in Frankreich großes Aufsehen erregende Affäre der Schwestern Papin auf9, die als Dienstmädchen in einem Provinzort arbeiteten und ihre Herrschaften – gleichfalls ein Frauenpaar: Mutter und Tochter – auf grausame Weise ermordeten. Während Jean Genet diesen Fall in seinem Theaterstück Les bonnes (dt. Die Zofen, 1957; Uraufführung in Paris 1947) literarisch verarbeitete, rekonstruiert Lacan die Biographie der Geschwister und entdeckt, daß die emotionale Beziehung der beiden Frauen in einer nach außen abgeschlossenen Dualität erstarrte, die keinem Dritten erlaubte, in ihre spiegel-bildliche Beziehung einzutreten. In enger libidinöser Verklammerung ihrem jeweiligen Pendant verhaftet, vermag sich die mit der Liebe verstrickte Aggressivität nicht zu artikulieren und richtet sich schließlich nach außen, wo sie sich im orgiastischen Wahn austobt und den Wunsch nach Tötung und Vernichtung verwirklicht. Das andere Frauenpaar, das die Spiegelbeziehungen der Schwestern Papin gewissermaßen noch einmal spiegelt, wird zum Opfer dieser Konstellation.

Noch bevor Lacan zur Psychoanalyse kommt, gilt sein Interesse den irrationalen Tiefen des Menschen. Er ist befreundet mit surrealistischen Künstlern, mit Picasso, Leiris, Reverdy, Eluard, Dali und Masson, der später sein Schwager wird. G.G. de Clérambault, der einzige seiner Lehrer, vor dem er später noch Respekt bekundet, erschießt sich 1934 vor einem Spiegel. In seiner Abhandlung über den Fall Papin skizziert Lacan bereits das grundlegende Schema jener intersubjektiven Beziehungsstruktur, die drei Jahre später – im Rahmen seiner psychoanalytischen Inauguralarbeit – seine erste und originellste Entdeckung wird: das Spiegelstadium (vgl. Kap. 1). Im gleichen Jahr, als der Existenzphilosoph Sartre L’Imagination und La transcendance de l’Ego veröffentlicht, stellt Lacan seine Theorie über das Spiegelstadium auf dem 14. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß (2.-7. August 1936) in Marienbad vor. Die noch von gestaltpsychologischen Elementen durchwobene psychoanalytische Untersuchung zur Genese des Ego läßt bereits die ersten Keime eines strukturalistischen Ansatzes erkennen. Ihre spätere Textfassung erhält sie 1949 anläßlich Lacans Vortrag vor dem 16. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Zürich.

Ab 1948 ist der Psychoanalytiker Lacan innerhalb der Société Psychanalytique de Paris – der damals einzigen psychoanalytischen Organisation in Frankreich – Mitglied der über die Ausbildung zum Lehranalytiker beratenden Kommission. Als 1953 der Präsident Sascha Nacht die Gründung eines Instituts zur Vergabe anerkannter Psychoanalytiker-Diplome vorschlägt und als Voraussetzung zu dieser Qualifikation den Abschluß eines medizinischen Studiums fordert, wendet sich eine Gruppe um Lacan, D. Lagache und F. Dolto gegen diese Restriktion und gründet eine eigene Gesellschaft, die Société Française de Psychanalyse.

Noch im gleichen Jahr wird Lacan als offizieller Repräsentant der Psychoanalyse zum Kongreß in Rom geladen, wo er mit seinem Bericht über Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse in den Reihen seiner Fachkollegen Aufsehen erregt. In dem für seine spätere Arbeit grundlegenden Beitrag verknüpft Lacan die Ergebnisse der strukturalen Linguistik (Saussure, Jakobson) und Anthropologie (Lévi-Strauss) mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Beide Wissenschaften erweitern den traditionellen Symbolbegriff in verschiedener Richtung: Freud im Hinblick auf das Unbewußte, Saussure und seine Nachfolger, indem sie das Ordnungsprinzip der Sprache hinterfragen und die Natur der Zeichen (Signifikanten) aufzeigen. Auf die Linguistik bezogen, formuliert Lacan in seiner Rede: »Um das Sprechen des Subjekts zu befreien, führen wir es in die Sprache seines Begehrens ein […]. Diese hat […] den universalen Charakter einer Sprache.«10 Wenn Lacan von der »Sprache des Begehrens« spricht, meint er damit, daß analog zur bewußten Seite der Sprache auch die Äußerungen des Unbewußten sprachförmig strukturiert sind. Als solche sind sie aber auch den Möglichkeiten einer linguistischen Analyse zugängig. Mit dieser Erkenntnis gelingt es Lacan, der Psychoanalyse eine linguistisch untermauerte wissenschaftliche Form zu geben (vgl. Kap. 2 und 5).

Seine »Rede von Rom« wird zum Fundament einer neuen Interpretation psychoanalytischer Theorie und Praxis, die sich auf dem Weg »Zurück zu Freud« vor allem gegen jene Therapien wendet, die die Evidenz des Selbstbewußtseins unterstützen und stärken. Im Gegensatz dazu besteht für Lacan die praktische Aufgabe der Psychoanalyse darin, hinter der Maske des sich qua »leerer« Rede in Szene setzenden »Ich« das eigentliche Begehren, das »volle« Sprechen des Subjekts zu entschlüsseln, freizulegen und anzuerkennen. Da im analytischen Dialog das »wahre« Subjekt zur Sprache kommen kann, bekundet Lacan, »daß das Unbewußte des Subjekts der Diskurs des anderen ist«11 (vgl. Kap. 5).

Im Lager der Existentialisten und auch in maßgeblichen psychoanalytischen Kreisen stoßen Lacans evokative Lehre und seine radikale Interpretation des Freudschen Urtextes auf Ablehnung. Anstoß erregt nicht nur seine Theorie, die die Subversion des Subjekts und seiner Geschichtlichkeit verkündet, sondern auch und vor allem ihre praktische Umsetzung. Der Analytiker Lacan sprengt die klassische Handhabung, indem er, auf ein von vornherein zeitlich festgesetztes Limit verzichtend, die Sitzungsdauer einer Analysestunde dem jeweiligen Diskurs seiner Analysanden anpaßt. Dies hat zur Folge, daß diese je nach Ablauf zwischen nur wenigen Minuten und weit mehr als einer Stunde variiert. Die theoretische Begründung dazu entnimmt er seiner Erkenntnis, daß das Subjekt die Antwort auf seine Fragen nur dann finden kann, wenn der Analytiker in »gleichschwebender Aufmerksamkeit« (Freud), ohne seine Präsenz aufzudrängen, den Raum für einen Diskurs bereitstellt, den das Subjekt selbst führen muß. Des weiteren sind alle ichstärkenden Bekräftigungen, die dem narzißtischen Anspruch des Analysanden auf Liebe, Zuwendung und Sympathie entgegenkommen würden, zu vermeiden. Die eigenwillige Veränderung der analytischen Situation scheint der nationalen und der internationalen Gesellschaft für Psychoanalyse unerträglich. Sie zieht die Konsequenzen und streicht Lacan 1963 aus der Liste der Lehranalytiker. Auch sein Seminar in der Klinik Saint-Anne wird geschlossen. Es ist C. Lévi-Strauss, der ihm in dieser Situation beisteht und einen Lehrauftrag von der Ecole Pratique des Hautes Études vermittelt, so daß er sein Seminar in den Räumen der Ecole Normale Supérieure fortsetzen kann.

Lacan, der seinen Fall mit der Exkommunikation Spinozas aus der Kirche vergleicht und sich in der Öffentlichkeit zum einsamen, verfemten Märtyrer stilisiert, setzt mit vertieftem Pathos seinen Kampf fort und gründet 1964 eine eigene Schule, die Ecole Française de Psychanalyse. Diese findet regen Zulauf, und es nimmt nicht wunder, daß gerade zu der Zeit, als der Strukturalismus in Frankreich zur Mode und Ideologie avanciert, die Seminare Lacans zum magischen Anziehungspunkt für die Intellektuellen von Paris werden. So drängen sich neben den an einer psychoanalytischen Ausbildung Interessierten immer mehr Hörer anderer Fachbereiche, Künstler, Schriftsteller, Priester, Schauspieler und Mitglieder politischer Gruppen, aber auch schwärmerische Verehrer und Mitläufer jeder Mode in seinen Vorlesungen.

Während in jenem Klima intellektueller Euphorie die Popularität Lacans, u.a. durch das Erscheinen der Ecrits und Fernsehsendungen über ihn (1967/70/73), ungebrochen fortbesteht, deutet sich innerhalb seiner Schule – inzwischen umbenannt in Ecole Freudienne de Paris – eine weitere Spaltung an. Wieder ist es das Problem der Qualifikation zum Analytiker, das zum Konflikt führt. Eine Reihe seiner Schüler stellt sich einem 1969 verabschiedeten Prüfungsverfahren sowie dem privatistischen Praxisverständnis Lacans entgegen und bildet eine weitere Organisation, die Quatrième Groupe. Dennoch kann der zweimal zu Fall gebrachte und nun mit der Spaltung der eigenen Schule konfrontierte Lacan einen institutionellen Erfolg verbuchen: Seine Schule entwickelt sich in den siebziger Jahren zur größten psychoanalytischen Institution Frankreichs.

Lacans Weg durch die psychoanalytischen Vereinigungen, den er allen Intrigen zum Trotz auf seine ihm eigene Art ging, entbehrt auch kurz vor seinem Lebensende nicht der Eigenwilligkeit. Im 79. Lebensjahr stehend, erklärt er im Januar 1980 die Auflösung seiner Schule und die Neugründung der Cause Freudienne ( = die Freudsche Ursache). Die Liquidierung seiner eigenen Organisation führt zwischen den »vaterlos« gewordenen Schülern zu einer monatelang andauernden Polemik, die von der Pariser Presse gierig aufgegriffen und zur öffentlichen »Affäre Lacan« stilisiert wird. Ende September macht schließlich die Generalversammlung der Ecole Freudienne Lacans eigenwilligen Entschluß rechtskräftig und löst die Schule auf. Ein Jahr danach stirbt Lacan am 9. September 1981 in Paris.

Im deutschen Sprachraum blieb Lacans Werk lange unbekannt. Weder seine Rede in Zürich 1949 (Das Spiegelstadium) noch seine Vorträge in Wien 1955 (Die Sache mit Freud) und München 1958 (Die Bedeutung des Phallus) vermochten die Beschäftigung mit seinen Theorien einzuleiten. In Deutschland setzte erst in den frühen siebziger Jahren die Auseinandersetzung mit dem Werk Lacans ein. Quasi als Vorläufer erscheint 1971 das Buch des Lacan-Schülers S. Leclaire Der psychoanalytische Prozeß in deutscher Übersetzung. Ihm folgen weitere der Ecole Freudienne entsprungene Arbeiten von Mannoni, Dolto, Laplanche und Pontalis. Maßgebend zur Texterschließung des Lacan-Werkes für den deutschen Leser ist die von N. Haas initiierte Übersetzung der Schriften (ab 1973) und der Seminare (ab 1978). 1973 legt H. Lang mit seiner Dissertation Die Sprache und das Unbewußte den Grundstein zur Lacan-Interpretation in Deutschland. Im gleichen Jahr erscheint auch die kritische Auseinandersetzung des Sozialpsychologen A. Lorenzer Über den Gegenstand der Psychoanalyse. Weitere wissenschaftliche Abhandlungen und Beiträge folgen und werden zum Teil kontrovers diskutiert (vgl. Literaturhinweise). Parallel dazu bilden sich in Berlin, Hamburg, Bremen, Heidelberg, Freiburg, Kassel und Würzburg Arbeitsgruppen, die sich mit Lacan beschäftigen.

Die Schriften Lacans, die bei uns anfangs nur zögernd aufgenommen wurden, sind inzwischen auf breites Interesse gestoßen. Daher scheint der Zeitpunkt gekommen, dem Leser, der sich zum »Diskurs« mit Lacan motiviert fühlt, eine Einführung in das gewiß nicht einfache, jedoch spannende Werk zu geben. Sie soll ihn zur weiteren selbständigen Erforschung der strukturalistischen Tätigkeit Lacans anspornen. Die vorgenommene Auswahl von Schwerpunkten hat zum Ziel, den sprach-, subjekt- und sozialkritischen Gehalt der Lacanschen Theorien herauszuarbeiten und ihre nuancierte Auseinandersetzung mit Philosophie, Linguistik, Anthropologie und Literatur zu erhellen. Vor allem aber geht diese Einführung den Spuren jener Lehre nach, der sich Lacan am tiefsten verbunden und verpflichtet fühlte – der Psychoanalyse Freuds.

1. Im Banne des Spiegels – »Ich ist ein anderer«

uns