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Xuewu Gu

Konfuzius zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat

Prof. Dr. Hartmut Böhme

Prof. Dr. Detlef Horster

Prof. Dr. Ekkehard Martens

Prof. Dr. Barbara Naumann

Prof. Dr. Herbert Schnädelbach

Prof. Dr. Ralf Schnell

Für meine Mutter

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

Im Internet: www.junius-verlag.de

© 1999 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelfoto: Archiv Gerstenberg

E-Book-Ausgabe Januar 2019

ISBN 978-3-96060-074-9

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-361-2

3. unveränderte Auflage 2008

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

1. Konfuzius und sein Zeitalter

2. Die Herkunft des Konfuzius

3. Die Grundcharakteristika des Denkens von Konfuzius

4. Das Menschenbild des Konfuzius

5. Ren: Mitmenschlichkeit

6. Yi: Gerechtigkeit

7. Li: Sittlichkeit

8. Zhi: Klugheit

9. Xin: Verläßlichkeit

10. Zhong und Xiao: Loyalität und Pietät

11. Junzi: Der ideale Mensch des Konfuzius

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

Vorwort

Konfuzius gehört nicht nur China, sondern der ganzen Welt. Sein politisches Denken ist ein Bestandteil des Gedankengutes der Menschheit. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers hat einmal versucht, die weltweit maßgebenden Menschen der vergangenen drei Jahrtausende auszumachen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß nur vier Personen den Rang »der weltweit maßgebenden Menschen« besitzen dürften: Sokrates, Buddha, Konfuzius und Jesus.

Jaspers schreibt: Die vier maßgebenden Menschen hätten eine geschichtliche Wirkung von unvergleichlichem Umfang und Tiefgang gehabt. Andere Menschen von hohem Rang mögen für kleinere Kreise von ähnlich großer Bedeutung gewesen sein. Aber der Abstand an nachhaltiger und umfassender Wirkung in Jahrtausenden sei so gewaltig, daß das Herausheben jener vier zur Klarheit welthistorischen Bewußtseins gehöre.1

Ob Karl Jaspers bei seiner Untersuchung zu einseitig vorgegangen und ob seine Behauptung übertrieben ist, sei hier dahingestellt. Auf jeden Fall hat die Lehre des Konfuzius die Kultur-, Politik- und Sozialgeschichte in Ostasien gestaltend beeinflußt. China, Japan, Korea, Vietnam und Singapur verstehen sich als konfuzianisch geprägte oder beeinflußte Gesellschaften. Jeder Chinese ist beispielsweise – ob er will oder nicht – mehr oder weniger ein Konfuzianer. In seinen Adern fließt konfuzianischer Geist. Sein Verhalten, bewußt oder unbewußt, wird von den konfuzianischen Werten beeinflußt.

Ähnliches gilt auch für die anderen Hauptnationen Ostasiens. Obwohl die Japaner und die Koreaner eigene Kulturtraditionen und -identitäten entwickelt haben, ist ihr Verhalten doch sehr stark konfuzianisch geprägt. Konfuzianismus als ein fester Bestandteil der japanischen und koreanischen Kulturen hat entscheidend zur Entwicklung des kollektiven Denkens und zur Hochhaltung der Loyalität des Menschen gegenüber dem Staat in diesen Ländern beigetragen, wenngleich das Eindringen der konfuzianischen Werte in die nichtchinesischen Kulturen Ostasiens im wesentlichen auf die Zeit vor der Industrialisierung beschränkt ist.

In einer Zeit, in der man im Zuge der Globalisierung immer stärkeren Kontakt zu Asien hat und die Diskussion über asiatische Werte in Ost und West sich zunehmend kontrovers gestaltet, scheint es sinnvoll, die Lehre des Konfuzius im Original zu studieren.2 Eine gründliche Kenntnis dieser Lehre kann einen Schlüssel zum besseren Verständnis der Asiaten liefern. Dazu will das vorliegende Buch einen Beitrag leisten, indem es den historischen Hintergrund für die Entstehung des politischen Denkens von Konfuzius und seine Lebensgeschichte darstellt sowie seine ursprüngliche Lehre anhand originaler Texte herauszuarbeiten versucht.

Im Mittelpunkt der Lehre des Konfuzius steht der Begriff »Junzi«. Ins Deutsche übertragen, bedeutet dieses Wort soviel wie »Edler«. Der Edle spielt im Denken des Konfuzius deswegen eine zentrale Rolle, weil der Meister erst durch vielfältige und vielschichtige Auseinandersetzungen mit diesem Begriff seine Vorstellungen über Ordnung, Herrschaft, Harmonie und Autonomie zu offenbaren vermochte. In diesem Sinne zeichnet sich der Edle sowohl als Kern als auch als Fenster des Denkens von Konfuzius ab.

Konfuzius’ Junzi-Begriff ist nicht abstrakt angelegt, sondern konkret und leicht nachvollziehbar. Im Gedankengebäude des Konfuzius stellt der Edle aber nicht eine auf den sozialen Status bezogene Kategorie, vielmehr eine moralische Persönlichkeit dar. Konfuzius formuliert eine Reihe von Tugenden, deren Beherrschung die Substanz des Edlen ausmachen sollte. Das vorliegende Buch wird versuchen, die einzelnen Tugenden, die nach Konfuzius für den Charakter des Junzi maßgebend sind, unter die Lupe zu nehmen. Es gilt, die Inhalte jeder Tugend systematisch herauszuarbeiten und hermeneutisch zu deuten. Dabei wird insbesondere den Fragen nachgegangen: Wo fängt eine Tugend an, und wo hört sie auf? Wem gegenüber bzw. in welchem sozialen Kontext sollte eine bestimmte Tugend ausgeübt werden? Welches Verhalten wird von Konfuzius als tugendhaft betrachtet und welches nicht – und warum?

Die folgende Analyse beansprucht keine Vollständigkeit, strebt jedoch danach, das Wesentliche des Denkens von Konfuzius zu erschließen. Sie versteht sich nicht als eine abschließende Untersuchung allein für ein sinologisches Fachpublikum, sondern als eine für den interessierten Laien verständliche Einführung.

Wo ist die Lehre des Konfuzius zu finden? Diese Frage stellt sich, weil Konfuzius seine Lehre nicht selbst niedergeschrieben hat. Um sie zu erfassen, müssen verschiedene Quellen herangezogen und studiert werden. Nach dem Kriterium der Originalität lassen sich die Quellen in drei Kategorien einteilen:

Die erste Kategorie stellt die authentischste Quelle dar. Die größte Verläßlichkeit besitzt das Werk Lunyu. Es ist eine Sammlung von Aussprüchen, Anekdoten, Zitaten und Gesprächen des Konfuzius. Allerdings ist das Lunyu erst nach seinem Tod entstanden; es wurde von seinen direkten und indirekten Schülern herausgegeben.

Das Lunyu in heutiger Form umfaßt zwanzig Bücher mit insgesamt etwa fünfhundert Abschnitten. Die einzelnen Bücher sind insofern unsystematisch gegliedert, als ihr jeweiliger Inhalt völlig vermischte Themenkomplexe enthält. Obwohl jedes einzelne Buch eine eigene Überschrift trägt, sagt diese wenig über den Inhalt des Buches aus. Denn der Titel wird nicht anhand des Inhaltes formuliert, sondern ergibt sich aus den ersten zwei Zeichen des jeweiligen Buches. Auch die Texte der einzelnen Abschnitte sind in einem knappen Stil formuliert. Dies führt dazu, daß man den Text nur durch eine sorgfältige, aber auch »phantasievolle« Lektüre verstehen kann. Für einen deutschen Leser, der mit dem chinesischen Original Schwierigkeiten haben dürfte, ist die Übersetzung von Richard Wilhelm von 19553 wohl noch immer die beste.

Die zweite Kategorie umfaßt die umstrittenen Quellen. Weitere konfuzianische Werke, die man als Quellen für die Lehre des Konfuzius betrachten kann, sind die Textsammlungen Liji und Konzi jiayu, die umfangreiches Material über Konfuzius und seine Schulgespräche enthalten. Allerdings sind diese Werke hinsichtlich ihrer Echtheit und ihrer Entstehungsdaten umstritten. Aus diesem Grund scheint es für den Anfänger der sicherste Weg zu sein, sich zuerst mit dem Lunyu zu befassen, um verläßliche Grundkenntnisse von der Lehre des Konfuzius zu erwerben. Einen Vergleich zwischen Lunyu und diesen umstrittenen Quellen ermöglichen in deutscher Sprache ebenfalls die Übersetzungen von Richard Wilhelm.4

Die dritte Kategorie ist die der kommentierenden Quellen. Die chinesische Philologie pflegt seit Jahrtausenden die Tradition, wichtige Werke, insbesondere klassische Bücher, zu edieren und zu kommentieren. Das Lunyu wurde bereits in der Han-Dynastie (206 v.- 220 n. Chr.) zum Jing Shu (Klassiker) erhoben. Deshalb gibt es zu diesem Werk zahlreiche Kommentare. Der wichtigste ist das Lunyu Jizhu (Gesamtkommentar zum Lunyu) von Zhu Xi, der die herrschende Meinung über Konfuzius und seine Lehre in China entscheidend geprägt hat. Zhu Xi (1130-1200) war der führende Vertreter des Neokonfuzianismus der Song-Dynastie. Daß das Lunyu sich überhaupt in die Kategorie der wichtigsten Vier Bücher des Konfuzianismus einreihen kann, geht auf diesen einflußreichen Gelehrten zurück. Für ihn ist Konfuzius nicht nur unfehlbar, sondern auch unantastbar. Dasselbe sollte auch für das Lunyu gelten.

1. Konfuzius und sein Zeitalter

Die Lebenszeit des Konfuzius (551-479 v. Chr.) ist durch eine aktive geistige Bewegung geprägt. Allgemein wird die Periode von 500 bis 200 v. Chr. als die Zeit der Grundlegung der chinesischen Philosophie und damit des politischen Denkens angesehen. In der Tat handelt es sich dabei um die Epoche, in der die Gedankengebäude des Konfuzianismus, Daoismus, Moismus und Legalismus entstanden sind. Aber diese Schulen hätten sich ohne die geistigen Strömungen in der unmittelbaren Vorzeit nicht entwickeln können.

Die geistige Entwicklung, die bereits in der Herausbildung der chinesischen Hochkultur zum Ausdruck kam, hat die Entstehung der großen Philosophien terminologisch und intellektuell vorbereitet. Der ständige Rückbezug der Vertreter dieser Philosophien auf frühere Zeiten, ihre inhaltliche Reflexion von Kultur, Gesellschaft und Sittensystem des Goldenen Zeitalters sowie ihr unmittelbares Anknüpfen an überliefertes Gedankengut zeigen eine organische Verbindung zwischen den früheren Weltanschauungen und den »großen Philosophien«. Konfuzius und seine Zeitgenossen haben das politische Denken nicht »erfunden«, sondern es präzisiert und vertieft. Um diese Verbindungen und Zusammenhänge zu verstehen, gilt es, kurz einen Blick auf die antike Geschichte Chinas zu werfen.

Die legendären »Drei Kaiser« und der »Gelbe Fluß« als die Wiege der chinesischen Zivilisation

Nach der chinesischen Historiographie begann die chinesische Zivilisation im 3. Jahrtausend v. Chr. mit den »Drei Kaisern« Fu Xi, Shen Nong und Huang Di. Die beiden Brüder Huang Di und Shen Nong sollen Nachkommen von Fu Xi gewesen sein.

Fu Xi gilt als der Erfinder des Fischernetzes. Ihm wird auch die Erfindung der Schrift zugeschrieben. Außerdem soll er die Urfassung des sehr bedeutenden Weissagungsbuches I-Jing (Buch der Wandlung) geschrieben haben.

Der Überlieferung zufolge hat Shen Nong, der auch Yan Di heiße, den Ackerbau erfunden. Sein Beitrag zur Entstehung der chinesischen Zivilisation liege darin, den Menschen die Technik des Ackerbaus beigebracht und damit die Entwicklung der Landwirtschaft ermöglicht zu haben.

Huang Di, dessen Name »Der Gelbe Kaiser« bedeutet, wird die Erfindung von Kleidung, Familiennamen und Kultgebräuchen zugesprochen. Auch die Erfindung von Wagen und Schiffen sowie die Begründung der Heilkunde werden ihm hochangerechnet.

Das Jahr 2550 v. Chr. ist das erste konkrete Datum, das aus der schriftlichen Überlieferung für die staatliche Existenz der chinesischen Gesellschaft errechnet werden kann. In diesem Jahr soll Huang Di, Der Gelbe Kaiser, die Regierung angetreten haben. In der Tat lebten um das Jahr 2550 v. Chr. eine Reihe von Stämmen entlang dem »Gelben Fluß« (Huanghe), insbesondere im Süden der heutigen Provinz Shanxi und im Norden der Provinz Henan. Der Stamm des Gelben Kaisers war nur einer von vielen. Andere bedeutende Stämme, die von den Chinesen ebenfalls als ihre Urahnen betrachtet werden, waren der des Yan Di (Shen Nong), Jiuli, Taihao und Shaohao.

Am Mittel- und Unterlauf des Gelben Flusses entstand das Reich der Mitte. Shanxi und Henan bildeten das Mittelland. Wegen der offensichtlichen Bedeutung des Mittellandes für die Entstehung Chinas wird die chinesische Zivilisation auch »Mittelland-Kultur« (Zhongyuan-Wenhua) oder »Gelber-Fluß-Zivilisation« (Huanghe-Wenming) genannt.

Der schriftlich überlieferten Historie zufolge trat China nach dem Zeitalter des Huang Di in die Periode der Tang-Yu ein, die bis zur Entstehung der ersten großen Dynastie Xia um 2200 v. Chr. dauerte. Die Historie hebt insbesondere den »demokratischen« Charakter dieser Periode hervor. Nach der Regierungszeit von Huang Di begannen die Stämme, einen sogenannten Stämmebund zu bilden, dessen höchstes Organ die Versammlung der Stammeshäuptlinge (Siyue Shier Mu) war. Dieses Organ wurde mit der Wahl des »Bundesmilitärchefs« beauftragt, dessen Hauptaufgabe es war, Truppen zu führen und Opferveranstaltungen zu organisieren.

Die legendären »Drei Kulturheroen« Yao, Shun und Yu und die großen »Drei Dynastien« Xia, Shang, Zhou

Während dieser Periode traten drei »Kulturheroen« auf, die den Chinesen als vorbildliche Herrscher galten: Yao, der die Herrschaft freiwillig an Tüchtige weitergab, Shun, der ein starkes Pflichtbewußtsein gegenüber seinen Eltern besaß, und Yu, der Mut und Weisheit bei der Bekämpfung von Flutkatastrophen und beim Aufbau des Bewässerungs- und Ackerbausystems bewies. Obwohl diese Geschichtsdarstellung archäologisch noch nicht bestätigt wurde, sind die Chinesen, die zahlreiche schriftliche Überlieferungen über diese Zeit besitzen, von ihrer Historizität fest überzeugt.

Aus chinesischer Sicht hat das Jahr 2200 v. Chr. epochale Bedeutung. In diesem Jahr brach der obengenannte Herrscher Yu, der letzte der drei verehrten Kulturheroen, mit dem Wahlsystem der »Militärchefs des Stämmebundes« und gab die Herrschaft direkt an seinen Sohn weiter. Dieses Ereignis markierte laut der herrschenden Meinung innerhalb der chinesischen Geschichtsschreibung das Ende der Stämmegesellschaft und den Beginn des Thronerbensystems. Mit der Thronübergabe von Yu an seinen Sohn Qi nahm die absolutistische Herrschaftsform Chinas ihren Anfang und dauerte bis ins Jahr 1911, als die republikanische Revolution unter der Führung von Sun Yat-sen (Sun Zhongshan) das Kaisertum abschaffte. Yus Sohn Qi begründete die sogenannte Xia-Dynastie und damit die erste der berühmten »Drei Dynastien«: 1. Xia-Dynastie (2200-1729 v. Chr., insgesamt 471 Jahre); 2. Shang-Dynastie (1729-1027 v. Chr., insgesamt 702 Jahre); 3. Zhou-Dynastie (oder auch West Zhou) (1027-770 v. Chr., insgesamt 257 Jahre).

Die Historizität der Xia-Dynastie ist umstritten. Während die chinesische Historiographie dazu tendiert, an die Existenz dieser Dynastie zu glauben, betrachtet die westliche Sinologie sie mangels überzeugender archäologischer Beweise lediglich als eine im Reich der Legende zu verortende Herrschaft.

Der chinesischen Geschichtsschreibung ist zu entnehmen, daß Xia mit der Bedeutung »Sommer« ursprünglich der Name eines Stammes in der heutigen Provinz Henan war. Dieser Stamm wuchs im 21. Jahrhundert v. Chr. empor und unterwarf alle benachbarten Stämme.

Wenn die chinesischen Überlieferungen zutreffen, erfüllte die Xia-Dynastie alle Kriterien, die französische Denker des 18. Jahrhunderts entwickelt haben, um eine Gesellschaft als Zivilisation zu qualifizieren. Danach unterscheidet sich eine zivilisierte Gesellschaft von einer primitiven im wesentlichen dadurch, daß sie seßhaft, städtisch, institutionalisiert und alphabetisiert ist. Den alten Schriften zufolge siedelte die Bevölkerung der Xia-Dynastie dauerhaft entlang dem Mittel- und Unterlauf des Gelben Flusses. Es sollen bereits befestigte Städte wie Yangcheng, Anyi und Pingyang in den heutigen Provinzen Shanxi und Shandong existiert haben, die zeitweise auch als Hauptstadt der Dynastie dienten.

Zahlreiche Grabungsfunde zeigen, daß die Chinesen im 16. Jahrhundert v. Chr. die typisch chinesische Zeichenschrift gut beherrschten: ein Beweis dafür, daß sie bereits während der Xia-Dynastie die Schriftzeichen entwickelt haben.

Was den Aspekt der Institutionalisierung anbelangt, so hat Yu schon in seiner Regierungszeit angefangen, verschiedene Ämter einzurichten und Strafgesetze zu erlassen. Dem berühmten Shi Ji (Geschichtsschreibung) von Sima Qian und dem Buch Mengzi (Menzius) zufolge gab es unter der Xia-Dynastie bereits Regelungen für Ackerbauabgaben und Vorschriften für Tribute. Auch Konfuzius berichtet im Kapitel »Taibo« seines Gespräches (Lunyu), daß die Herrscher der Xia-Dynastie großen Wert auf die Landwirtschaft legten und dazu Mondkalender (Xia Xiao Zheng) entwickelten. Aus den Berichten über die Herstellung von Bronzeguß im Mo Zi kann gefolgert werden, daß die Xia-Dynastie bereits das Neolithikum verlassen und sich in die Bronzezeit hinein entwickelt hat.

Nach 471jähriger Herrschaft mit siebzehn Thronwechseln ging die Xia-Dynastie 1729 v. Chr. unter. Den letzten Herrscher der Dynastie, Xia Jie, stellt die Historiographie als Tyrannen dar. Die Unterdrückung der Bevölkerung und die Vernachlässigung der Weisen sollen den Untergang der Herrschaft herbeigeführt haben. Ein Shang genannter Stamm stürzte die Xia-Dynastie. Dementsprechend wurde die Shang-Dynastie zum neuen Herrschergeschlecht.

Anders als bei der Xia wird die historische Existenz der Shang-Dynastie heute kaum noch bezweifelt. Neuere Grabungsfunde weisen auf einen relativ hohen Grad der chinesischen Zivilisation in der Shang-Dynastie hin. Orakeltexte auf Knochen und Schildkrötenpanzern sowie Bronzeinschriften aus der Shang-Dynastie beweisen, daß sich die chinesische Zivilisation jener Epoche – wenn man die obenerwähnten vier Kriterien für Zivilisation heranzieht – viel weiter entwickelt hat als die in der Xia-Dynastie.

1. Die seßhafte Lebensweise verfestigte sich. Das Territorium der Dynastie wurde in sogenanntes Binnenland (Nei Fu) und Außengebiet (Wai Fu) eingeteilt. Während es sich bei letzterem um Lehnsgut handelte, das die Fürsten gegen Verpflichtung zu Treue und Kriegsdienst nutzen konnten, stand das Nei Fu direkt unter der Kontrolle des Herrschers. Diese feste Anbindung an das Land wurde durch die Abhängigkeit von Agrarprodukten erheblich verstärkt, zumal die Landwirtschaft die Hauptproduktionsbranche der Shang-Dynastie darstellte.

2. Die bereits in der Xia-Dynastie entstandenen städtischen Lebensverhältnisse wurden komplizierter. Eine der Hauptursachen für diese Entwicklung war die klare Differenzierung der Shang-Gesellschaft in zwei Hauptgruppen: Aristokratie und Bauernschaft. Hinzu kamen noch Handwerker und Händler. Sowohl in Nei Fu als auch in Wai Fu gab es zahlreiche Städte (yi). Während die Aristokraten, Handwerker und Händler konzentriert in Städten wohnten, waren die Bauern in Dorfgemeinschaften außerhalb der Städte angesiedelt. In der Shang-Dynastie vermehrte sich der Warentausch. Grabungsfunde lassen vermuten, daß Muschelschalen damals nicht nur als Schmuck, sondern auch als Zahlungsmittel benutzt wurden.

3. Die Institutionalisierung des Staates nahm zu. Der Herrscher der Shang nannte sich selbst vor den Untertanen »Ich, der Einzige« (Yu Yi Ren), um seine exklusive und unantastbare Machtposition zur Geltung zu bringen. Der Begriff »Chen« wurde eingeführt, um Beamte und Würdenträger zu bezeichnen. Dem Herrscher standen zahlreiche Chen zur Seite, denen jeweils ein oder mehrere Sachbereiche klar zugewiesen wurden. Beispielsweise spielte der Xiao Chen (Kleiner Würdenträger, eigentlich das wichtigste Amt jener Zeit) die Rolle des ersten Assistenten des Herrschers. Diese Position berechtigte ihn, Expeditionen zu führen und den Herrscher bei Opferveranstaltungen zu vertreten.

4. Der Alphabetisierungsgrad der Gesellschaft erhöhte sich. Zwei Entwicklungen begünstigten diese Tendenz: Zum einen war dies auf die erhebliche Vermehrung der chinesischen Schriftzeichen zurückzuführen, deren Anzahl später in der Shang-Dynastie bereits über 3000 betrug. Die Systematisierung der Methoden zur Kreation von Zeichen hat damals die Entwicklung der chinesischen Schriftsprache offensichtlich gefördert. Zum anderen ermutigte das damals intensiv betriebene Orakelwesen die Menschen, Schriftzeichen zu erlernen, um die komplizierten Zukunftsvorhersagen lesen und aufschreiben zu können. Die Ausgrabungen zahlreicher Orakeltexte auf Knochen, Schildkrötenpanzern und Bronzewaren beweisen die weite Verbreitung von Orakeln in der Shang-Gesellschaft. Dabei zeigten sich die Herrscher der Shang als die aktivsten Betreiber der Orakel. Sie ließen sich sowohl bei Regierungsgeschäften wie Expeditionen, Ernten und Opfern als auch bei privaten Angelegenheiten wie Jagd und Krankheit aus verbrannten Knochen oder Schildkrötenpanzern wahrsagen.

Nach einer Herrschaft von 702 Jahren, während der 31 Herrscher aus siebzehn Generationen regiert hatten, brach die Shang-Dynastie 1027 v. Chr. zusammen. Der letzte Herrscher der Shang soll wiederum ein Tyrann gewesen sein. Aus diesem Grund verlor er die Gunst des Himmels und wurde durch die neue Zhou-Dynastie ersetzt.

Ursprünglich war Zhou ein Stamm in Nordchina, der während der Shang-Herrschaft tributpflichtig war. Im 11. Jahrhundert v. Chr. ist Zhou aber rasch aufgestiegen. Dank seiner relativ fortschrittlichen Landwirtschaft und straffen Organisation konnte der Stamm eine Reihe erfolgreicher Eroberungskriege gegen die Herrschaft Shang gewinnen. 1027 v. Chr. griff der Zhou-Wu-König mit seinen Soldaten den Shang-Staat an (Wuwang Fa Zhou). Vor der Hauptstadt von Shang vernichtete er die Hauptstreitmacht der Shang. Ihre Herrschaft wurde gestürzt und die Zhou-Dynastie ausgerufen. Im Unterschied zur Shang waren für die Herrschaft der Zhou-Dynastie drei Merkmale kennzeichnend, nämlich eine feudalistische, patriarchalische und rituelle Struktur.

Die feudalistische Struktur: An der Spitze der Herrschaft stand der König. Er war der alleinige Eigentümer des Landes und der Bevölkerung. Das Land wurde vom König in unterschiedlich große Fürstentümer aufgeteilt. Diejenigen, die mit Landbesitz und der dort ansässigen Bevölkerung belehnt wurden, konnten zwar frei über das Landgut verfügen, waren dafür aber dem König zu Dienst und Treue verpflichtet. Zu den wichtigsten Aufgaben des Fürsten gehörten die regelmäßige Entrichtung von Tributen sowie die Befolgung von Expeditionsberufungen und die Rechenschaftsablegung, verbunden mit der Pflicht, dem Herrscher kniend Reverenz zu erweisen. Auf der Grundlage dieses Lehnswesens wurden nach der Gründung der Zhou-Dynastie 71 Vasallenstaaten eingerichtet.

Die patriarchalische Struktur: Die Herrschaft der Zhou-Dynastie war insofern patriarchalisch geprägt, als die meisten Fürsten mit ihr blutsverwandt waren. In Analogie zur Familienstruktur bezeichnete sich der Zhou-Herrscher als »Sohn des Himmels«. »Unter dem Himmel« (Tian Xia) verstand er sich als ein Familienoberhaupt, das unbeschränkte Befehlsrechte, allerdings auch Fürsorgepflichten gegenüber seinen Untertanen besaß. Dies war der offizielle Beginn der Tradition, daß sich der Herrscher Chinas dem Himmel unterwarf und seine Regierungsbefugnis vom himmlischen Mandat ableitete. Wie ein Patriarch verteilte der König unter dem Vorbehalt des Kerngebietes als »Wang Ji« (Königsdomäne) das Land an seine Söhne und Brüder sowie an seine nächsten Verwandten. Beispielsweise übergab der Zhou-Wu-König seinem Bruder Zhou Gong (Herzog Zhou) das Fürstentum Lu, den Heimatstaat des Konfuzius. Da Zhou Gong selbst am königlichen Hof bleiben und dem König bei der Ausübung der Herrschaft zur Seite stehen wollte, gab er das Lehnsgut an seinen ersten Sohn Bo Qin weiter. Diese blutsverwandtschaftlichen Verbindungen erwiesen sich insbesondere in den ersten Jahrhunderten der Zhou-Dynastie als ein entscheidender Stabilisierungsfaktor.

Die rituelle Struktur: Neben fünf Gesetzbüchern kannte die Herrschaft der Zhou-Dynastie zahlreiche Riten (li). Die Riten hatten zwar keine legalen, wohl aber sozial verbindliche Auswirkungen. Sie umfaßten nahezu alle Spielarten des gesellschaftlich etablierten und sanktionierten Handelns. Zhou Gong, der Bruder des Zhou-Wu-Königs, war der erste, der ein komplettes Ritensystem entwickelt und kodifiziert hat. Konfuzius zufolge gab es in der Zhou-Dynastie sechs Kategorien von Riten. Dazu gehörten die Kopfbedeckungsriten, Hochzeitsriten, Begräbnis- und Trauerriten, Opferriten, Weinriten und Begegnungsriten. In der Zhou-Dynastie wurde von den Menschen, insbesondere den Aristokraten, erwartet, streng nach den Riten zu handeln, die sie jeweils im Bewußtsein ihrer Funktion und Stellung in der politischen und gesellschaftlichen Hierarchie befolgen sollten.

Die »Frühlings- und Herbstperiode« und die Zeit der »kämpfenden Staaten«