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Über das Buch

Eigentlich geht Sex ganz einfach. Trotzdem sind viele unzufrieden oder leiden gar. Wir sind von gesellschaftlichen Vorstellungen, ja Lügen über Sex und Liebe geprägt, und auch von unseren individuellen Erfahrungen. Sex ist Kommunikation – persönliche Erfüllung kann nur erreichen, wer seine Wünsche klar formuliert. Miriam Pobitzer ermutigt uns auf der Grundlage vieler Fallgeschichten eine befreite Liebe zu entdecken.

- Ein einfaches Lese- und Sachbuch

- Viele Fallgeschichten aus der Praxis

- Mit vielen Tipps und Erkenntnissen

© Edition Raetia, 2018

Umschlaggestaltung: Stephanie Innerbichler, www.stephanieinnerbichler.com

Druckvorstufe: Typoplus, Frangart

Druck: Tezzele by Esperia, Bozen

ISBN 978-88-7283-650-7

ISBN E-Book 978-88-7283-660-6

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com

Für Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an: info@raetia.com

MIRIAM POBITZER

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Inhalt

Einladung

Die Lüge

Es war immer schon so!

Wir sind sexuell gesund!

Missbrauch

Subtiler Missbrauch

Opfer, Täter, Zuschauer

Psychische Folgen

Doktorspiele

Wir leben und lieben selbstbestimmt!

Schuld und Scham

Körperempfinden

Sex in Zeiten von Handy und Porno

Fremdbestimmung im Alltag

Unser Glück ist die Familie!

Kinder als Sklaven

Die Treue

Fremdgehen

Eifersucht

Tabus und Klischees

Das Gefängnis der Lügen verlassen

Aus dem Kampfmodus steigen

Selbstbestimmt leben

Die Tatsachen

Partnerschaft: Wir beziehen uns

Immer nur Schmetterlinge im Bauch?

Der Blick in den Spiegel

Sich miteinander entwickeln

Wir wollen gefallen

Ihr Körper – sein Körper

Wer unterliegt, wer bestimmt?

Weiblich – männlich: kein großer Unterschied?

Mensch sein

Emotionale Grundbedürfnisse

Prägungen und Lebensphasen

Der sexuelle Reaktionszyklus

Dimensionen der Sexualität

Häufige sexuelle Funktionsstörungen

No Sex

Sinnvoll

Körpersprache will gelernt sein

Kommunikation

Sex passiert in drei Qualitäten

Die Liebe

Der Frauenkörper

Mondblut oder Mensis oder Innenraum

Yoni, oder was andere Kulturen uns lehren können

Religiöses

Mein Körper bin ich

Sinn-l-ich

Ich liebe mich

Eigensinn

Befreite Liebe

Liebe ist Freiraum in mir

Das Geheimnis Orgasmus

Varianten des Orgasmus

Ein bisschen mehr: der Liebesorgasmus

Die Ekstase

Liebe ist mehr

Ich bedanke mich

Die Autorin

Übungen

Gedanken aufräumen

Beobachtung des Reaktionszyklus

Landkarte zeichnen

Erfreu dein Herz

Einladung

In meinen Ausbildungen habe ich einerseits erlebt, dass die Wissenschaft zu ständig neuen, sich ergänzenden und sich widerlegenden Schlüssen kommt. Aus diesem Grund zeigt dieses Buch meinen eigenen aktuellen Wissensstand, der aus akademischen Ausbildungen, beruflicher Kompetenz und persönlicher Lebensgeschichte zusammengesetzt ist.

Andererseits habe ich in meiner Arbeit begriffen, dass wir alle Menschen sind, dass es trotz des Wandels der Zeit viele Konstanten gibt, die sich nicht wesentlich ändern. Diese Erkenntnis mag banal klingen, ist aber grundlegend. Es gibt zwar einige körperliche Merkmale, die für Frau und Mann bezeichnend sind und die durchaus auch bedeutsame Auswirkungen haben können, doch im Grunde sind wir Menschen und sehnen uns danach, geliebt zu sein.

Dieses Buch erzählt von wirklichen Lebenssituationen, von gelebten Erkenntnissen, von individuell stimmigen Zusammenhängen. Es erzählt vom Leben und seiner Urkraft an Lebendigkeit, vom Sex. Es ist eine Annäherung an die Idee, dass wir Körperkommunikation brauchen, um alte Wunden heilen zu lassen – eine Art der körperlichen Kommunikation, die sicher vor neuen Verletzungen ist und die einen Raum öffnet, in dem sich Neues offenbart. Es erzählt von dieser Möglichkeit, wie wir Sinnlichkeit leben und die Liebe feiern können. Schlussendlich geht es darum, unsere Selbstliebe zu kultivieren und unsere Sexualität ganz praktisch liebevoll zu gestalten.

Ich habe mich in diesem Buch immer wieder auf drei Ebenen Menschsein bezogen – eine Ebene konzentriert sich auf den Kopf, eine andere ist eher auf die Genitalien bezogen und eine dritte Ebene meint das Herz. Der Inhalt ist dementsprechend vielschichtig und wird dann am besten verständlich, wenn das Bauchgefühl hinhört und das Herz mitliest.

Unser gesellschaftliches Bild vom Sex fokussiert sich viel zu sehr auf „Penis in Scheide“. Diese Fixierung auf die Genitalien und einen Orgasmus durch Penetration ist das Ergebnis einer langen Vorgeschichte, die ich im ersten Kapitel „Die Sexlüge“ beleuchte.

Im zweiten Kapitel beschreibe ich die Folgen dieser Manipulation für den einzelnen Menschen in seinem Lebenslauf und ihre Auswirkung auf die Partnerschaften, die häufig unter unzureichender sexueller Befriedigung leiden. Es ist dringend an der Zeit, dass die Fakten des vielschichtigen sexuellen Missbrauchs ans Licht der Öffentlichkeit kommen.

Die Lösung für sexuelle Funktionsstörungen, frustrierte Lebensentwürfe und enttäuschte Partnerschaften liegt in der Liebe. Doch was ist diese Liebe? Die emotionalen Grundbedürfnisse bringen uns in eine persönliche Erfüllung, die wir körpersprachlich kommunizieren können. Damit bereichern wir uns und unsere Lieben. Vielleicht ist sogar ein Ausflug in die Ekstase möglich. Darum geht es im dritten Kapitel.

Unendlich dankbar bin ich den Menschen, die mir für dieses Buch ihre persönliche Geschichte aufgeschrieben haben. Andere haben mir erlaubt, Teile aus unserer gemeinsamen Therapiearbeit mit meinen Worten wiederzugeben. Ich bin von Dank erfüllt für diese Erkenntnisse und Weisheiten, die aus Leidensgeschichten gewachsen sind und diese damit gewandelt haben. Sie sind es, die dieses Buch so wertvoll machen.

Es sind diese Erfahrungen aus meiner Praxis als Sexualtherapeutin, die im Mittelpunkt des Buches stehen. Lange habe ich überlegt, wie ich die von meinen Patientinnen und Patienten verfassten Erfahrungsberichte verwenden kann, ohne dass dies voyeuristisch wirkt, ohne dass sich die Menschen, die mir Intimstes anvertraut haben, vorgeführt fühlen. Alle haben mir ihr Einverständnis für die Veröffentlichung gegeben, weil auch sie überzeugt sind, dass unmittelbare Erfahrungen hilfreich sein können für andere. Alle Berichte wurden anonymisiert und Details gelöscht oder verändert, die eine Rückverfolgung möglich machen würden. Somit können die individuellen Fälle als Beispiele für die Leserinnen und Leser des Buches dienen.

Immer wieder beziehe ich mich auch auf ethnologische Erkenntnisse. Die Beispiele anderer Kulturen sowie von Urwaldbewohnern basieren auf persönlichen Erlebnissen und Erfahrungsberichten. Die Einblicke in die Ur- und Frühgeschichte sowie die Antike habe ich bereits in meinem Buch „De Bello Phallico. Eine Urgeschichte weiblicher Lust“ (Edition Raetia) wissenschaftlich dargelegt. Dort finden sich auch zahlreiche Literaturhinweise, auf die ich hier verzichtet habe.

Sex hat eine spielerische Seite, die ich sehr wichtig finde. Genauso ist auch dieses Buch aufgebaut. Es folgt weniger der stringenten Logik eines Sachbuches, sondern soll zum Entdecken und zum Lesen einladen. Neben der Wissensvermittlung, den Fallbeispielen und den Erfahrungsberichten sind immer wieder auch poetische Gedanken eingebaut. Die Zugänge zum Thema Liebe und Sex sind vielfältig, Leserinnen und Leser sollen sich auf unterschiedlichen Ebenen angesprochen fühlen.

Dieses Buch soll zudem Mut machen. Mut dazu, sich mit sich selbst und der eigenen Partnerschaft auseinanderzusetzen, aber vor allem auch Mut dazu, etwas zu verändern. Nicht bei allen, aber bei vielen Erfahrungsberichten steht eine negative Erfahrung oder Unzufriedenheit am Beginn – diese war der Auslöser, einerseits Hilfe zu suchen, aber andererseits auch einen neuen Weg für sich zu suchen und zu beschreiten. Vielen ist dies gelungen. Ich kann nur hoffen, dass möglichst viele Leserinnen und Leser daraus Inspiration und eben Mut schöpfen, Verantwortung für sich und ihre Partnerschaft übernehmen und neue Wege der Liebe und Sinnlichkeit entdecken.

Es geht in diesem Buch um uns – uns alle, unabhängig von unserem Geschlecht, unserer sexuellen Orientierung, unseren sexuellen Vorlieben. Es geht um uns als Liebende, um uns als Menschen. Eine alle miteinschließende geschlechtergerechte und nicht diskriminierende Sprache würde meines Erachtens Lesbarkeit und Lesevergnügen beeinträchtigen. Ich habe mich daher entschieden, fallweise die männliche oder weibliche Form zu verwenden und gehe ganz selbstverständlich davon aus, dass Paare und Partnerschaften gleich- oder verschiedengeschlechtlich zusammengesetzt sein können. Diese Mischung, so meine Hoffnung, spricht alle abwechselnd an und führt dazu, dass man sich fallweise in die Lage von anderen versetzt bzw. versetzen muss. Sowohl Schicksale und Leiden wie auch Lüste und Freuden verbinden uns. Am Ende steht die Erkenntnis, dass wir alle liebende Menschen sind.

Miriam Pobitzer

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Gesellschaftspolitische, pädagogische, medizinische, wirtschaftliche und religiöse Normen lassen uns vergessen, wer wir selbst sind. Wir werden von uns entwöhnt und richten unser Verhalten so aus, dass wir diesen Normen entsprechen. Wir wollen dazugehören und erfolgreich sein, also schauen wir uns von den anderen oder den Medien ab, wie wir sein müssen, damit wir als „normal“ gelten, Anerkennung finden und die erfolgsversprechenden Anforderungen erfüllen.

Als Kleinkind passiert das sehr unterschwellig und subtil. In der Pubertät wird die Dynamik wiederholt und zu unserem mehr oder weniger bewussten Selbstbild verfestigt. Dabei haben wir noch nicht definiert, wer wir wirklich sind, und werden von Gesellschaft und einzelnen Personen weiterhin dazu angeleitet, Richtwerten zu entsprechen, um im Leben etwas zu erreichen.

Aber was ist dieses Etwas? Als Erwachsene staunen wir irgendwann, dass wir immer noch auf der Suche sind. Häufig kommen Frauen mit ihren sexuellen Problemen in meine Praxis und meinen, dass es ihnen insgesamt eigentlich recht gut gehe, dass es nur in der Sexualität nicht besonders gut läuft. Männer erleben in der Sexualität noch viel häufiger, dass sie sich „nicht angekommen“ fühlen.

In diesem ersten Kapitel möchte ich einige globale Lügen aufzählen, die meines Erachtens dazu geführt haben, dass wir uns von uns selbst getrennt haben und uns nicht mehr kennen. Dazu kommen einige Bespiele von Lebensgeschichten, die im Einzelnen Erlebnisse schildern, bei denen klar wird, dass es in bestimmten Lebenssituationen lebenswichtig ist, sich selbst zu verleugnen.

Immer wieder biete ich mit gelebten Geschichten einen Einblick, wie wir uns selbst wieder empfinden können. Damit wir uns in uns selbst einfinden können, uns in unserer Mitte daheim fühlen und unsere Impulse wahr-nehmen. Damit weiß ich, wer und wie ich bin. Schließlich bin ich der Mittelpunkt meines Lebens und kann nur in meiner Art und Weise mein ur-eigens Leben gestalten.

Es war immer schon so!

Es kommt nicht von ungefähr, dass wir in einer sexuell erkrankten Gesellschaft leben. Ich bin bei meinen Recherchen zum Thema Sexualität auf den Instituten für Ur- und Frühgeschichte, in den Universitätsbibliotheken für Kunstgeschichte und in archäologischen Veröffentlichungen auf Zeugnisse der Geschichte gestoßen, die die Vermutung unterstützen, dass Menschen einst die Sexualität anders gelebt haben, als wir es heute tun. Gegenstände, die 30.000 Jahre alt sind, zeigen das Verschmelzen des weiblichen Körpers mit dem männlich erigierten Penis – einmal ist es eine runde Frau mit einem Kopf in Penisform, dann eine sitzende Frau, die aus einer anderen Perspektive dem Penis ähnelt, oder schließlich stehende Steinsäulen in runden Höhlen. Immer wieder – so scheint es – haben Menschen vor dem Beginn unserer Zivilisationsgeschichte das Leben und die damit so direkt verbundene Sexualität gefeiert, das ekstatische Verschmelzen von Frau und Mann, die Fruchtbarkeit und die Liebe. In Tempeln haben sich tanzende Paare eingefunden und wurden in Stein gemeißelt, mit Gold und Lapislazuli geschmückte weibliche und männliche Genitalien wurden in religiösen Kultstätten gefunden. Funde, die zwischen 30.000 und 5.000 Jahre alt sind. Wir kennen eine Venus von Willendorf, eine sogenannte Rote von Mauern – bei der ich mir nicht sicher bin, ob es sich nicht um einen Penis mit Hoden handelt – oder eine griechische Venus, die in der Muschel steht. Auch in der Bibel findet sich ein Hohelied der Liebe. Doch unsere Geschichtsschreibung ist von machthungrigen Patriarchen geprägt, interpretiert und manipuliert. Überlieferte Traditionen und heute verbindliche Normen bilden ein Korsett, das unsere freie Entfaltung einengt. Was ist nur passiert, dass wir im Sex so engstirnig und prüde geworden sind? Wo ist dieses Feiern geblieben und dieser heilige und heilende Aspekt?

Wir wissen nur mehr, dass viele Schriften und Bilder verbrannt wurden, dass einige auch heute noch im geheimen Kabinett des Vatikans versteckt sind, und vieles können wir nicht einmal erahnen. Doch es gibt noch andere Quellen dieses ursprünglichen Wissens, die zum Teil bis heute überlebt haben. Wir können uns nämlich auch von jenen Kulturen inspirieren lassen, die unsere Zivilisationsentwicklung nicht mitgemacht haben und die Sexualität als zwischenmenschliche Kommunikationsform heute noch pflegen. Sie wissen, dass Sex als Kommunikation weit mehr bewirken kann als einen genitalen Orgasmus oder das reduzierte zelluläre Zeugen von Nachwuchs.

Meine Quellen berichten von Ureinwohnern in Amerika, die versteckt in den Wäldern leben, und von asiatischen Lehren, die im menschlichen Körper die Quelle allen Seins finden. Es gilt daher, andere als unsere eigenen Traditionen zu entdecken, um zu verstehen, dass die uns umgebenden Normen uns aufgezwängt wurden. Dass es so sein muss, wie es ist, ist eine Lüge. Wir haben in jedem Moment unseres Lebens die Wahl, frei zu entscheiden: zu jubeln, zu verzweifeln, zu lieben, uns zu freuen. Wir müssen nicht gemäß überkommenen historisch entstandenen Regeln handeln. Wir haben die Möglichkeit, frei zu lieben.

Die Sexualität ist neben Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, Bewegung, Schlaf und Kommunikation eine der wichtigsten Urkräfte des menschlichen Lebens. So wie viele andere mechanische und lebendige Vorgänge passiert die Sexualität zwischen und gleichzeitig mit zwei unterschiedlichen Einheiten. Es mag vielleicht banal klingen, doch immer, wenn etwas Neues entsteht, ergibt eins und eins nicht zwei, sondern drei: Das Papier, der Stift und die Bewegung des Stifts auf dem Papier ergeben zusammen die Schrift. Das Klavier, der Pianist und die Berührung der Hände auf den Tasten erzeugen Musik. Und so ist es auch beim Sex: Wenn zwei Menschen sich verbinden, entsteht etwas Besonderes.

Immer findet eine sehr komplexe Art von Austausch statt, der Neues möglich macht. Zwischen Menschen passiert das ständig. Früher haben wir noch miteinander gesungen, gejodelt und getanzt, heute sind die Kommunikationsmöglichkeiten enger und vorgefertigter. Die Möglichkeiten der Zwischenmenschlichkeit sind in abstrakte Sphären gerückt, die von elektronischen Geräten und digitalisierten Programmen abhängig sind. Sex ist parallel dazu die Reduktion der Kreativität auf die Genitalien. Auch diese Art von Austausch ist vorgefertigt und sehr limitiert.

Das ist das Ergebnis einer Entwicklung, die für unsere westliche Kultur vor etwa 3.000 Jahren begonnen hat, als in den griechisch-mesopotamischen Hochkulturen Strukturen geschaffen wurden, die das menschliche Zusammenleben regelten: Politik, Geld, Theologie, Philosophie, Jurisprudenz und viele weitere Abstraktionen führten dahin, dass wir heute von unzähligen institutionalisierten Systemen abhängige Wesen sind. Dies gilt auch für den Sex. Wird das zwischenmenschliche Liebespotenzial beim einzelnen Menschen zum Beispiel durch ein visuelles Bild im Kopf ersetzt, kann das Gefühl im Körper, zwischen und mit den beiden Menschen nicht mehr frei gelebt werden.

Sex ist heute zu einer passiven Aktivität geworden, die unterhält.

Wir sind sexuell gesund!

Wir gehen gemeinhin davon aus, dass wir sexuell gesund sind und uns gut zu unserem Körper verhalten. Ärzte in der Notaufnahme eines x-beliebigen Krankenhauses erzählen jedoch Geschichten, die mich daran zweifeln lassen: Männer, die ihren Penis in Staubsaugerrohre stecken, da der Sog ein Vakuum bildet, das potenzfördernd und erregend wirkt. Oder Frauen, die sich Glühbirnen in die Scheide einführen. Von den Folgen will ich hier gar nicht sprechen. Die Abartigkeiten reichen bis Sex mit Hunden, verletzenden Gegenständen und vielen anderen Zutaten, die von allem Menschlichen weit entfernt sind. Auch bis zu Missbrauch zwischen Vätern, Müttern und den eigenen Kindern. Wie kann das sein?

Mir geht es hier nicht um bizarre, sensationsheischende Beispiele. In meinem Arbeitsalltag als Sexualtherapeutin entsetzt es mich viel mehr, wenn mir Frauen erzählen, dass sich der Mann bei der Ärztin erkundigt, wie viele Tage er warten müsse, bis er nach dem Kaiserschnitt wieder Sex haben kann. Nach der Antwort auf diese Frage wird im Internet und bei den behandelnden Ärzten recherchiert, auch wenn der Partnerin zum Beispiel gerade die Gebärmutter entfernt wurde. Dass die Betroffene in dieser Lebensphase gerade eine immense Veränderung erlebt, was Frau, Mutter, erotisches Wesen, was sie als trauernden, erleichterten, glücklichen, körperlich verletzten Menschen betrifft, scheint diese Männer nicht zu interessieren. Es geht ihnen allem Anschein nach ausschließlich um die Scheide, die zuständig für ihren Drang ist. Viele sagen dann: „Nein, ich brauch nicht nur ihre Scheide, sie kann es mir auch mit der Hand oder dem Mund besorgen.“

Die Frau ist und bleibt also die Sklavin der männlichen Potenz und der Mann der Unterlegene seiner Borniertheit. Und diese Geschichten sind leider keine extravaganten Einzelfälle. Sie sind „normal“.

Zeitzeugnisse unter jeder Menschenwürde. In welcher Hölle der Unmenschlichkeit befinden wir uns? Was verstehen Frauen und Männer eigentlich unser Sex? Wirklich nur Penis in Scheide?

zerdrückt und gequetscht

durchbohrt, gehaut

ausgesaugt und missbraucht

warum sieht mich niemand?

bin ich nichts wert?

warum schmerzt das Leben so?

ich gebe mich auf

ich bin nicht mehr

es gibt mich selbst

nicht mehr

grausam, verwüstet, zerstört

nichts mehr, wie ich bin

was zu mir gehört

es gibt mich nicht mehr

ich bin nicht gewollt

Gewalt und Zerstörung haben mich überrollt

alle Körperöffnungen sind zerstochen

was weich war, ist hart

alle Hoffnung ist gebrochen

was hell war, ist schwarz

ich glaube nicht mehr an das Gute

das Vertrauen ist weg

Liebe ist nicht mehr da

ich weiß nicht mehr

wer ich war

ich bin weniger als ein Tier

bin benutzt verdreckt

mein Ich ist abgespeckt

Missbrauch

Missbrauch geschieht auf körperlich-genitaler, auf psychischsozialer, auf gesellschaftlich-kultureller, auf politischer und auf wissenschaftlicher Ebene. Egal wie die jeweilige Szene aussieht, immer sind Täter hierarchisch übergeordnet und die Opfer in einer schwächeren Position. Es zählt der Wille des Täters, die Initiative geht von ihm aus, das Opfer wird entweder nicht gefragt oder manipuliert. Der Übergriff macht das Opfer ohnmächtig, nimmt ihm die Eigenmacht sowie die Möglichkeit zum Handeln und Reagieren. Das Opfer hat zu dienen und zu funktionieren, mündige Opfer gibt es nicht, immer werden sie mundtot gemacht. Die erpresserischen Methoden dabei können sehr subtil sein, wie: „Das ist unser Geheimnis, das darfst du niemandem erzählen.“ Oder: „Schau, wie lieb ich bin, ich schenke dir dafür einen Kaugummi, denn den gibt dir deine Mama nie.“ Oder: „Dafür bekommst du eine gute Note.“ Sehr oft werden Opfer mit physischer Gewalt zum Schweigen gebracht: An Händen und Füßen gefesselt, mit einem Knebel im Mund drohen sie beinahe zu ersticken. Auch die Bedrohung mit einer Waffe oder die Androhung körperlicher Verletzungen ist Gewalt.

Die Hierarchie ist die Macht, die aus zwischenmenschlichen Begegnungen Missbrauchssituationen macht. Dem Opfer wird dabei seine Menschlichkeit genommen – es kann nicht mehr aktiv sein, es wird in die Passivität gezwungen.

Missbrauch findet meist schon in der Kindheit statt, weshalb ich dieser Lebensphase besondere Aufmerksamkeit schenken möchte. Vielleicht denken viele, ihnen sei nichts dergleichen geschehen. Aber es geht nicht nur um körperlich-genitalen Missbrauch, um Vergewaltigung. Es geht darum, soziale und emotionale Missbrauchsmuster zu entlarven und zu erkennen, denn diese spielen auf vielen zwischenmenschlichen Ebenen eine Rolle – ob wir das wollen oder nicht. Sie prägen unser Leben, unser Selbstwertgefühl, die Qualität unserer Beziehungen, sie nehmen immer wieder dieselbe Form an, unser Leiden wiederholt sich ständig, wir können nicht aus unserer Haut schlüpfen.

Ich traue mich zu sagen, dass mit wenigen Ausnahmen alle Menschen auf irgendeine Weise Missbrauch erfahren haben. Er hat sich entweder als persönliches Erlebnis oder als gesellschaftliches Muss gezeigt. Wer empfindsam ist und sich die emotionale Wachheit erhalten hat, weiß, was ihn verletzt, gekränkt, geschwächt hat. Es gibt hier keinen Unterschied zwischen Frau und Mann. Wir sind Menschen und haben Leid erfahren. Das kann traurig sein, ist für Veränderung gleichzeitig von grundlegender Wichtigkeit, sobald ich entschieden habe, meinem Leben und meinem sexuellen Ausdruck eine andere Qualität zu geben.

Subtiler Missbrauch

Die häufigste Form von hierarchischer Macht zwischen zwei Menschen ist der subtile und emotionale Missbrauch. Darunter fallen alle Situationen, in denen ein Kind nicht die freie Wahl hat, auf seine Weise kreativ zu sein, mitzumachen oder nicht. Es kann die Tante aus Süditalien sein, die zu Besuch ist und deren warm-feuchte Begrüßungsküsse das Kind ebenso über sich ergehen lassen muss wie die Umarmung, mit der es in den weichen, schwabbelnden Busen gedrückt wird. Vielleicht sagt das Kind sogar: „Ich mag das nicht, ich mag die Tante nicht.“ Die Antwort der Eltern kann da sein: „Das ist eben so, Süditaliener machen das und die Tante ist sehr lieb, du siehst das falsch.“ Das Kind muss den Erwachsenen gehorchen – und bereits diese Missachtung der Ich-Wahrnehmung des Kindes stellt eine Form des Missbrauchs dar.

Oder eine andere Situation bei einem Verwandtenbesuch: Die Mutter wünscht sich, dass das Kind den Vater auf den urlaubsüblichen Dreitagebart, nein, auf den Mund küsst, damit der Besuch sehen kann, welch gute Beziehung zwischen Vater und Kind herrscht. Das Kind ekelt sich und wischt sich danach den Mund ab und fühlt sich von den Menschen, die ihm am nächsten sind, beschmutzt, benutzt und betrogen.

Viele Erwachsene haben darunter gelitten, dass sie nur dann gelobt wurden und elterliche Anerkennung erlebt haben, nachdem sie etwas geleistet hatten. Ob das nun der Sohn des Hoteliers ist, der arbeiten musste, anstatt mit Gleichaltrigen zu spielen, oder die Bauerntochter, die in den Stall ging anstatt mit Freundinnen in die Stadt, der Unternehmersohn, der bei gesellschaftlichen Anlässen den Regeln der Repräsentanz zu entsprechen hatte, oder die Tochter, deren Noten auch bei einem „Sehr gut“ nicht ausreichend waren. Auch das sind Übergriffe, die gesellschaftlich vielleicht als solche nicht gesehen werden. Ich höre solche Erzählungen häufig, wenn es um die Erinnerungen an Situationen geht, in denen sich der heute Erwachsene als Kind erniedrigt gefühlt hat. Immer geht es um eine emotionale Last, eine Kränkung, die dem Kind damals von den Autoritätspersonen zugefügt wurde.

Solche Arten von Missbrauch lösen bei Kindern Ohnmachtsgefühle aus. Daraus resultiert ein Gefühl der Eigenschuld, denn das, was sie spontan tun würden, wird als falsch und unpassend verurteilt. Kinder fühlen sich dann schuldig für die Missstimmungen der Eltern, schuldig für die eigenen Fehler, schuldig für Gereiztheiten aller Art. Diese Kinder verlernen, was sie selbst sind und was nicht. Die Grenzen zwischen „Ich bin“, „Ich will“, „Ich weiß“ und „Du sollst“, „Du musst“, „Du bist“ gehen verloren. Sie fühlen sich in der eigenen Wertlosigkeit bestätigt, ihre Wünsche und ihre Bedürfnisse zählen nicht. In Folge fühlt sich das Kind für alle unguten Situationen verantwortlich, kann die guten nicht mehr genießen, verliert die Freude am spontan Ehrlichen. Sein eigenes Wesen kann unter die Räder der geltenden Regeln und Normen anderer Menschen oder der Gesellschaft kommen. Die verunsichernden Auswirkungen auf die natürliche emotionale Stabilität und das gesunde Selbstbild werden mit Häufigkeit und Intensität der Übergriffe schlimmer.

Die Opfer sind Opfer ihrer Prägung. Es geht nicht um sie, sie spielen keine relevante, wichtig zu nehmende Rolle im eigenen Leben. Das Erlebte endet in der Dynamik, fremdgesteuert zu sein. Der Kontakt mit sich selbst ist wie abgetrennt.

Der folgende Erfahrungsbericht beschreibt keine Vergewaltigung im engen Sinne des Wortes. Dennoch wird klar, wie komplex Übergriffssituationen wirken.

Spielball sein

Die Frau, die diese Geschichte geschrieben hat, hat am Beginn ihrer Pubertät einen Missbrauch erlebt, wobei ihre Mutter tatenlos zugeschaut hat. Sie ist sich sicher, dass ihre Eltern geahnt haben, was vor sich ging. In ihrem Beruf hat sich diese passive Opferhaltung wieder gezeigt, als sie und andere Kolleginnen gemobbt wurden. Dieses Gefühl, in schmerzhaften Situationen alleinegelassen zu werden, den Mangel an Sicherheit und Selbstwert hat diese Frau direkt mit ihren vergangenen Übergriffssituationen in Verbindung gebracht. Bei akutem Burn-out hat sie sich eine Auszeit gegönnt und sich mit sich selbst beschäftigt.

Frau, 49

Dieser Pfarrer war viele Jahre in unserer Stadt. Er war sehr beliebt und geschätzt, vor allem wegen seinerfesselnden und guten Predigten, aber auch wegen seiner Art, mit Menschen zu kommunizieren, er war sehr unterhaltsam. Ich war damals ein Kind und sehr begeistert von ihm, er hatte mich aber bis zu diesem Abend, von dem ich erzählen werde, ignoriert. Umso überraschter war ich, als er mich an diesem Abend entdeckte und mir die Aufmerksamkeit zukommen ließ, die ich mir immer gewünscht habe.

Ich war damals elf Jahre alt. Er war bei uns zu Hause, unterhielt sich mit mir und sagte, ich solle auf seinem Schoß Platz nehmen. Er begann sofort, unter meinem Pullover meine Brüste anzufassen mit der Aussage: „Das ist eine Marienanbetung, die ich da mache, nicht etwas so Verwerfliches, wie die Buben das tun!“ Diesen Satz wiederholte er immer wieder! Er griff mich so fest an, dass meine Brüste richtig schmerzten. Ich traute mich natürlich nicht, etwas zu sagen, war total ausgeliefert und schockiert.

Das Schlimmste war für mich, dass meine Eltern dabei waren, sie haben mit angesehen, wie er bei mir herumgegriffen hat. Der Pfarrer hat auch ihnen erklärt, dass das „Marienanbetung“ sei. Dann hat er die Eltern hinausgeschickt. Als er dann endlich mit dem Anfassen des Busens aufhörte, begann er zu erzählen, dass er auch in anderen Familien schon eine Art Aufklärung betreibe, die darin bestand, Kindern seinen Penis zu zeigen. Ich wollte das nicht und sagte, dass mich das nicht interessiere. Er insistierte zwar, aber plötzlich waren Stimmen zu hören, und somit endete diese schlimme Begegnung.

Nicht genug, dass dieser Abend so schlimm war. Am nächsten Tag, ich lag noch im Bett, da steht er plötzlich in meinem Zimmer! Ich war so erschrocken, dass ich nicht mehr genau weiß, ob er mich nochmals angefasst hat. Möglich wär’s. Ich erinnere mich aber, dass er, bevor er ging, noch sagte: „Jetzt darfst du (er nannte seinen Vornamen) zu mir sagen.“ Ich fand das so furchtbar!

Welch großen Preis hab ich gezahlt, um Aufmerksamkeit von ihm zu bekommen. Nach so vielen Jahren spüre ich immer noch großes Entsetzen, Schmerz, Wut und Betroffenheit, vor allem auch, weil es ein Priester war, der mir so begegnet ist.

Wie ich schon erwähnt habe, bin ich kein Einzelfall, ich weiß von weiteren zwei Mädchen, die er unsittlich berührt hat, im Religionsunterricht! Ich möchte, dass dieser Mann bestraft und aus dem Verkehr gezogen wird. Sein Name soll publik gemacht werden, in der Hoffnung, dass sich weitere Opfer melden. Wie lange fehlte mir der Mut!

Ich ging mit anderen Betroffenen bis zur Kurie, die hat recherchiert, der Pfarrer hat alles abgestritten und gelogen. Was mir geholfen hat, war, dass ich nicht allein mit meinen Beschwerden gegen diesen Geistlichen war. Dennoch übt der Täter immer noch seine Tätigkeit aus.

(Nachtrag: Mittlerweile ist er verstorben und ich möchte von Herzen gern „pädophiles Arschloch“ auf seinen Grabstein schreiben.)

Diese Frau hat den Schritt in die Selbstliebe geschafft. Sie hat ihren Ausweg aus der Opferhaltung gefunden, indem sie sich selbst in die Hand genommen hat – im wahrsten Sinne des Wortes: Sie hat ihr Gesicht in ihre eigenen, wärmenden Hände gelegt und ihre ganz eigene, strahlende Schönheit erkannt und wertgeschätzt. Für sie war das wie ein Neubeginn in ihrem Leben, eine andere Art, sich selbst zu sehen. Sie lebt heute ein zufriedenes, selbstbestimmtes Leben mit vielen Freunden und freut sich jeden Tag, zur Arbeit zu gehen.

Opfer, Täter, Zuschauer

Verletzungen von Grenzen passieren jederzeit und überall auf sehr unterschiedliche Weise. Die Auswirkungen sind von verunsichernd bis tödlich und so vielfältig, wie es Menschen und Opfer-Täter-Beziehungen gibt. Auch der Grad der Verletzung kann sehr subjektiv sein – was für den einen verletzend ist, ist für den anderen schon Gewohnheit. Dennoch möchte ich hier einen Aspekt betonen, der uns alle betrifft: Wir schauen zu.

Ein Sohn, der von seinem Vater belästigt und anal penetriert wird, eine Tochter, die von ihrem Vater an seine Saufkumpane weitergereicht wird … die Liste ist endlos, und immer weiß der andere Elternteil davon, ahnt es, schaut weg. Vielleicht weil die Last nicht auszuhalten wäre, vielleicht weil die eigene Ohnmacht spürbar würde, vielleicht aus reiner Bequemlichkeit, vielleicht aus Angst, selbst aktiv, schützend, anklagend werden zu müssen. Wahr ist, dass wir alle in unterschiedlichsten Situationen wegschauen und uns „besser nicht einmischen“.

Für die Opfer von Übergriffen sind die Täter diejenigen, die ihnen Schmerzen zufügen, körperlicher, psychischer und sozialer Art. Doch fast immer empfinden die Opfer die passiv Zuschauenden als noch grausamer und noch gewalttätiger. Es ist eine stille, passive, nicht greifbare Gewalt. Die Verletzungen, die dadurch entstehen, sind immens.

Der passive Zuschauer steht für die Auslieferung, für die Ohnmacht, für die Schuldzuweisung, für die Verurteilung. Wenn mir etwas Böses widerfährt und ich sehe jemanden, der das mit ansieht, erlaubt dieser Zuschauer das Böse. Die Botschaft, die ich als Opfer vom Zuschauer erhalte, ist: Ich bin schlecht, ich bin des Guten nicht würdig. Es gibt also nicht mehr nur Täter und Opfer, sondern ein drittes Element bestimmt die Dynamik mit: der passive Zuschauer. Er ist der Erlauber, der Legalisierer, der Gutheißer dieser Situation. Das Vertrauen in das Gute ist durch einen Mitwisser komplett zerstört. Das Opfer erkennt: Es gibt keine Rettung für mich – ausweglos.

In vielen Missbrauchsschilderungen kommt der Satz vor: Das Schlimmste war, dass da jemand war, der nur zugesehen und nichts getan oder gesagt hat. Wir sind alle Zuseher von unzählbaren Missständen. Wir sind damit nicht nur Mittäter, sondern fördern diesen Missstand dadurch, dass wir ihn billigen, indem wir nichts dagegen unternehmen.

Sexuelle Gewalt gehörte und gehört zum Repertoire kriegerischer Handlungen. Mit unglaublicher Grausamkeit werden die Frauen in den Kriegsgebieten von den Angreifern vergewaltigt und geschwängert, es werden ihnen die Babys aus den Bäuchen geschnitten, viele weitere Gräueltaten gehören zum Kriegsprogramm. Damit werden die unterlegenen Völker im Innersten ihres Lebenspotenzials erniedrigt. Wir allen haben schon einmal die Schilderungen solcher Taten mit Entsetzen gehört, gelesen oder in Nachrichtensendungen gesehen – auch in dieser Situation sind wir Zuschauer. Wir sitzen vor dem Fernseher und erleben die eigene Ohnmacht oder gar die Lust an der Qual, an der Zerstörung und wiederholen im Wohnzimmer das persönliche Spiel von Opfer und Täter und Zuseher. Zwar nicht in Werken, aber immerhin in Gedanken, Bildern, Worten und Gefühlen. So findet Missbrauch täglich und nächtlich in unserer „heilen“ Welt statt. Auf allen menschlichen Ebenen werden unsere Grenzen überschritten und unsere Selbstbestimmung zerstört. Es geht schon lange nicht mehr um Menschlichkeit zwischen den Menschen. Wir sind es gewohnt, dass wir erniedrigt werden, dass wir leiden, wir schauen zu, lassen uns erniedrigen und erniedrigen selbst. Es ist ein bisschen so, als würde auf vielen Ebenen ein Krieg gegen die Menschlichkeit geführt – gegen die Liebe, gegen die wohlwollende, aufbauende, gefühlsstarke zwischenmenschliche Kommunikation.

Gelebte Spuren

Dieser Mann weiß, dass er keine einfache Kindheit gehabt hat. Sein Vater hat aus dem Krieg viele Wunden davongetragen und sie – auch wenn er es nicht wollte – an seine Familie weitergegeben. Trotz intensiver Arbeit an sich und langjähriger Beschäftigung mit dieser Thematik blieben viele Fragen offen. Der Mann wunderte sich immer, wieso er keine befriedigende Partnerschaft leben konnte, wieso seine Frauen so widersprüchlich waren – von sehr nett bis extrem aggressiv. Dieses Gespaltensein zwischen den Extremen ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Dann kam die Erkenntnis, dass auch die Mutter – als Partnerin seines Vaters – ihren Anteil an der Last haben könnte. Er war der Täter, sie die Autorität, und sie schaute weg.

Mann, 48

Der Blick, die Augen der Mutter.

Wie war das als Kind an der Schulter?

Ein Leben lang her. Zu lang, um das zu erinnern.

Mutter, wer warst du? Wo war deine Seele?

50 Jahre danach – ein kurzer Schreck, der erkennen ließ.

Teile deines Selbst sind nicht zu verstehen.

Subtiles Strömen erotischer Energie.

Lockend und kokettierend.

Auf Antwort wartend, vielleicht auf Suche nach Belustigung.

Ein Spiel.

Doch die Kinderaugen suchen vergeblich

nach dem liebevollen, annehmenden Blick.

Frei von Überstimulation und Ergötzen.

Es braucht dies nur ein einziges Mal.

Und die Spur ist gelegt.

Zurück bleibt die Suche nach dem stilleren Glück

und gewachsen der Blick, der prüft,

wo ein weibliches Herz durch ihre Augen strahlt.

Wir suchen ein Leben lang das, was uns ganz natürlich zusteht: geliebt zu sein und mit Liebe beschenkt zu werden. Bekommen wir das nicht, fehlt uns das und wirkt wie eine Spur, die in eine Leere führt, in einen Sog von offenen Fragen. Wir kennen das alle, die einen so, die anderen anders. Auf unbewusster Ebene lagern sich frühe Erfahrungen ab, die unser heutiges Verhalten beeinflussen. Warum reagieren wir auf bestimmte Situationen so, wie wir reagieren?

Warum hat dieser Mann immer wieder Partnerinnen gesucht, die den erlebten Elternkonflikt widerspiegelten: einmal aggressiv, dann wieder zuckersüß? Dieser Mann hat sehr intime und sehr präzise Worte dafür gefunden und versucht, seine Fragen zu beantworten. Denn erst nachdem alle Fragen geklärt sind und das Bild von sich selbst rund ist, ist ein komplettes Ja zur eigenen Person möglich und kann eine erfüllende Partnerschaft gelebt werden.

Psychische Folgen

Mir ist es wichtig, Missbrauch nicht nur als sexuelle Gewalt zu sehen, denn die Formen sind, wie wir gesehen haben, vielfältig. Doch leider gibt es auch gewalttätige Übergriffe, massive sexuelle Missbrauchserlebnisse. Physische Vergewaltigungen sind greifbar und an einem Täter festzumachen, mitunter gehören auch sie zum Familienalltag. Ein Kind überlebt meist nur dann, wenn es diese Situationen von sich abspaltet. Entweder vergisst es sofort oder es empfindet nichts dabei, weil es sich außerhalb des Körpers erlebt, oder es kreiert zwei Realitäten in sich. Solche Erlebnisse haben ungeheure Auswirkungen auf die einzelnen Lebensgeschichten. Der natürliche und gesunde Selbstwert geht dabei verloren. Wir kennen uns selbst nicht mehr.

Doch genau diese Überlebensstrategie macht den Opfern von Missbrauchssituationen das Leben als Erwachsene schwer: Indem traumatisierte Menschen sich von der erlebten Situation abspalten, sind sie zwar rein physisch noch am und im Leben, das Gehirn befindet sich jedoch wie unter Vollnarkose. Auch deshalb fehlt vielen Opfern die Erinnerung an die Missbrauchssituationen und sie können sich nicht vorstellen, dass ihnen das überhaupt passiert sein könnte. Der diagnostische Begriff dazu: kindliche Amnesie. Je früher diese Ereignisse geschehen, desto weiter sind sie in der Verdrängung geborgen.

Die Fähigkeit sich abzuspalten, bleibt erhalten und wird auf Situationen angewandt, wo es um die eigenen Bedürfnisse geht. Diese Menschen sind oft sehr unkompliziert, können mit Schmerzen gut umgehen und sind recht umgänglich, bis sie in die Enge getrieben werden. Auch hier wiederholen Opfer nur das, was sie gelernt haben: Sie gehen über die eigenen Grenzen und über die Grenzen der Menschen, mit denen sie leben. Frauen alkoholisieren sich gerne, weil sie den Familienalltag nicht ertragen, besonders die Bettsituationen nicht. Eine Frau hat sehr eindrücklich geschildert, dass es wie ein Automatismus war: Als es in der erotischen Situation zur Penetration kam, sah sie sich zu, sie war neben sich, als wäre sie aus dem eigenen Körper ausgetreten und beobachtete das Geschehen aus der Ferne. Gespürt hat sie in diesen Situationen nichts mehr, sie stand effektiv neben sich. Als kleines Kind hatte sie sich in wiederholten Übergriffssituationen durch diese Bewältigungsstrategie gerettet. Im Laufe der Arbeit erinnerte sie sich an einen Satz ihrer Mutter, der für sie sehr einprägsam war: „Du musst immer mit allen freundlich sein.“ Das war sie – weit über ihre Grenzen. Diese schutzlose Freundlichkeit hat eine Dynamik ausgelöst, unter der sie lange gelitten hat.

Menschen, die erfahren haben, dass die eigenen Bedürfnisse nicht zählen, dass es im Leben nicht um sie geht, haben auch verlernt, über sich zu sprechen. Sie können sich nicht wehren, weil sie sich nicht ausdrücken können. Diese Menschen sind wie leer, wie innerlich ausgeschaltet. Das führt häufig zu Wiederholungen des Missbrauchs.

Die Umstände und Situationen ändern sich im Laufe des Lebens. Dennoch reproduzieren sich dieselben Gefühle von Schmerz, Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit immer wieder neu, schleichen sich dieselben Muster der Abhängigkeit immer wieder ein. Es kann ein Hobby sein, ein Freund, eine Partnerin, ein Vorgesetzter, ein eigenes Kind – immer macht sich das ursprüngliche Opfer selbst zum Sklaven. Unbewusst kreiert es sich Lebensbedingungen im Erwachsenenalter, in denen es das, was es als Kind erlernt hat, wiederholt – so lange, bis es aus seiner Opferrolle aufsteht.

Ich erinnere mich an einen Mann in meiner Praxis, der in der Arbeit an sich selbst über die Kraft des Hasses gestaunt hat, den er gegen Männer hegt. Er hat sich an die Zeit seiner ersten Jahre Grundschule erinnert und diese Dynamik so formuliert: „Ich wurde so massiv geschlagen, dass ich nicht mehr bei mir war, ich habe mich aufgegeben, und in diesen Momenten wurde der Hass in mich hineingeschlagen.“

Einen Täter als Schuldigen zu identifizieren und ihn zu bestrafen, ist nicht dienlich. Für unser gesellschaftlich übliches Denken vielleicht, um zu verstehen, was passiert ist. Doch auf das Empfinden der Opfer hat es keine Auswirkungen. Schuld ist ein Konzept, das erst in der Antike erfunden wurde und im Mittelalter auf das Grausamste missbraucht wurde – sogenannt Gottesurteile, Hexenverbrennungen, Foltertechniken haben ihren Platz mit ihren Bildern in unserem kollektiven Wissen. Tatsache ist, dass unser ganz alltäglich gewordenes Verständnis von einem zu Recht Verurteilten sehr jung ist und erst im juridischen Strafrecht verankert wurde. Nach Abschluss des Beweisverfahrens wird über Schuld oder Unschuld des Angeklagten entschieden. Im Zuge des Beweisverfahrens werden auch die Motive erörtert, die zur Tat führten, und oft zeigt sich dabei, dass jede Tat als das letzte Glied einer Kette von Ursachen und Wirkungen erklärt wird. Schuldige waren (fast) immer selbst Opfer. Opfer werden zu Tätern, Täter werden zu Opfern. Das ergibt eine Spirale, die mit Rache und Rechtfertigung kaum ein Ende findet. Das wissen die Opfer, die von ihren Erlebnissen berichten, intuitiv. Sie durchlaufen ein breites Spektrum an Emotionen, und nur ganz zu Beginn – solange noch viel Zorn da ist und die Wunden offen klaffen – ist auch diese Lust an Rache da. Das Opfer weiß, dass es sich damit selbst zum Täter macht, was keinen Sinn ergeben kann. Viel zu oft wurde diese Dynamik schon gelebt und findet leider überall Futter für neue Taten.

Missbrauchsopfer müssen sich letztlich am eigenen Schopf aus dem Sumpf von negativen Erinnerungen und Interpretationen ziehen. Sich selbst befreien, sich selbst nicht mehr als Opfer betrachten, sich selbst als jetzt mündigen, aus der Situation gewachsenen Menschen sehen, ist ein Schritt in die Freiheit.

Menschen, die in irgendeiner Form Missbrauch erfahren haben, dürfen lernen, sich selbst wieder zu spüren, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Sie dürfen Worte für das eigene Empfinden finden und sich so lange mitteilen, bis sie sich gehört und verstanden fühlen. Missbrauchsopfer dürfen schreien lernen, sie dürfen lernen, dass es gesund ist, sich zu wehren und sich für die eigene Haut einzusetzen. Das kann anfangs recht unbeholfen, schwach oder aggressiv wirken. Die Sensibilität, wie klar eine Mitteilung sein muss, damit sie auch gehört wird, ist noch nicht gewachsen. Die Natürlichkeit des eigenen stimmigen Wertes darf erst wurzeln. Erst dann können diese Menschen beginnen, für sich ganz zu sein, und den nächsten Schritt zu einem selbstbestimmten Dialog und Austausch mit der persönlichen Umgebung machen.

Was uns der folgende Text erzählt, lässt uns einen Blick auf die Lebensgeschichte einer Frau werfen, die diese Freiheit in sich selbst fand.

Sich fremd werden

Diese Frau erzählte mir, dass sie ohne Superalkohol lange Zeit überhaupt keinen Sex haben konnte. Mit Alkohol klappte es zwar, aber immer so, wie es für die Männer gut war. Sie hat sich selbst nie gefragt, wie es ihr dabei geht. Ab einem bestimmten Punkt der Erregung stellte sich in ihrem Kopf ein Perspektivenwechsel ein: Sie sah sich wie aus der Perspektive einer außenstehenden Person selbst beim Sex zu. Passiv und ohne Gefühl hat sie sich aus der Sexualität, die sie als verletzend erlebt hat, gerettet. Das ist eine im Moment des Erleidens überlebenswichtige Bewältigungsstrategie. Den Orgasmus hat sie nur ein einziges Mal erlebt, damals war sie frisch verliebt in den Mann ihrer Träume. Obwohl diese Frau sehr früh schon sexuell aktiv war, wenn auch nicht immer freiwillig, hat es sehr lange gedauert, bis sie ihre eigenen Bedürfnisse erkannt hat.

Frau, 47

Heute bin ich 47 Jahre alt und noch immer auf der Suche nach meiner Sexualität. Ich habe vieles in meinem Leben ausprobiert, um eine erfüllte Sexualität zu haben. Bis heute ist es mir nicht gelungen!

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