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Horst Moser

Kleinstadtidyll

Roman

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Zum Buch

Die bekannte Fotobloggerin Sophie ist jung, eigensinnig und weltoffen. Durch die Mail eines Unbekannten wird sie auf mögliche Missbrauchsfälle aufmerksam. Ihre Spurensuche wirft sie zurück in die scheinbare Idylle ihres Heimatortes. Dort stößt sie auf einen allmächtigen Unternehmer, die Vergangenheit des Dekans und die wertvollen Bilder eines geheimnisvollen Malers.

Stimmen zum Buch:

Kleinstadtidyll ist ein packendes Psychogramm. Spannend, rasant und authentisch.
Birgit Böllinger, „Sätze & Schätze“

Ein mutiges Buch.

Waltraud Mittich, Schriftstellerin

Zum Autor

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Horst Moser, geboren 1975, lebt und arbeitet in Bruneck.

Unternehmer und Autor, u. a. des Blogs „Innensicht“ (www.horstmoser.com).

Mit seinem Musikprojekt words and chords verbindet er Literatur und Musik.

Bei Edition Raetia erschienen: „Etwas bleibt immer“ (Roman 2015).

Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Südtiroler Landesregierung, Abteilung Deutsche Kultur.

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© Edition Raetia, Bozen

1. Auflage, 2018

Umschlaggestaltung: Dall’O & Freunde

Umschlagbild: Shutterstock / Victor Grow

Layout und Druckvorstufe: Typoplus, Frangart

Lektorat: Joe Rabl, Innsbruck

Korrektur: Burgi Siller

ISBN: 978-88-7283-655-2

ISBN E-Book: 978-88-7283-668-2

Unser Gesamtprogramm finden Sie unter www.raetia.com.

Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an info@raetia.com.

Meine Heimat kannst du im Suchen finden.
Angelika Reitzer

Inhalt

Geburtstag

Die Nachricht

Wenn es Liebe ist

Erste Frage

Eine erste Spur

Hofers Problem

Zweite Frage

Wenn Gefühle verwundbar machen

Der Name

Wer Geduld hat

Der Herr stellt uns auf die Probe

Irenes Onkel

Die Beichte

Das Kürzel

Der Vertrag

Erkenntnisse

Töten, um das Gleichgewicht wiederherzustellen

Der Unfall

Demütigung

Niemand nennt mich Schätzchen

Der Plan

Treffen um Mitternacht

Geburtstag

Dumpf verzerrte Tonschwingungen, unwirklich und verzögert drangen sie an ihr Ohr, als spiele jemand eine Audiowiedergabe mit allerlei Geräuschen viel zu langsam ab. Nur die Muskulatur des rechten Arms war aktiv, mit dem sie sich an der verzinkten Eisenstange festhielt, untergehakt, als wäre das Geländer ein Begleiter beim Spazierengehen. Es war wie Schwerelosigkeit, dachte sie. Dreiundvierzig, vierundvierzig, fünfundvierzig. Ihr Rekord lag bei achtundachtzig. Sie musste aufpassen, einmal hatte sie es zu lange hinausgezögert, noch eine Sekunde, und noch eine. Dann war sie tot. Zumindest hatte es sich so angefühlt. Sie kommt zu sich, rief ein Gesicht, das sie milchig verschwommen wahrgenommen hatte, eines von vielen, das von oben auf sie herabblickte, während warme Lippen sie wachküssten. Wie im Märchen, hatte sie damals gedacht. Und Wasser gespuckt, damit die Lunge wieder Luft aufnehmen und der fremde Atem aus ihrem Körper entweichen konnte. Jemand hatte sie rechtzeitig herausgezogen, weil er sie beobachtet hatte, als sie plötzlich wie leblos im Wasser getrieben war. Fünfundfünfzig, sechsundfünfzig … den Zeitpunkt erwischen, kurz bevor man wegkippt, wenn das Herz ganz schwer und zuckend schlägt, noch einmal und noch ein weiteres, dumpfes Mal … Auftauchen. Es war jedes Mal wie eine Geburt. Oder Auferstehung. Erste Atemzüge, neues Leben. Nachdem sie ein paar Mal tief Luft geholt hatte, stieß sie sich vom Beckenrand ab und glitt mit vorgestreckten Armen für eine Sekunde wie ein Torpedo durchs Wasser. Kraulend schwamm sie eine Länge nach der anderen, wie sie es immer machte. Eine Stunde später stellte sie sich unter die Dusche.

Beim Verlassen des Hallenbads holte Sophie ihr Telefon aus der Manteltasche. Zwei Anrufe in Abwesenheit, eine Nachricht von Daniel: Hab dich nicht erreicht. Alles Gute. Ich versuch es nachher wieder.

besser spät als vergessen, tippte sie, und wusste gleichzeitig, Daniel würde ihren Geburtstag nie verpassen. Einerseits, weil es ihm wirklich wichtig war, andererseits, weil er jeden Termin, den er wahrzunehmen hatte, gewissenhaft in seinen Kalender eintrug. Jeden. Und dieses Ereignis war auch ein Termin, eine Spalte mit einem Text unter vielen, abgespeichert unter jährliches Ereignis, automatisch übertragen auf Handy, Laptop und Tablet. Damit auch nichts verloren ging. Das gehörte sich einfach. So war Daniel.

mag dich trotzdem, schrieb sie weiter auf ihrem Smartphone und schickte die Antwort ab.

Am Parkplatz, neben ihrem Wagen, parkte ein dicker Audi mit Kinderwagenlängenabstand zur Parkplatzbegrenzung, mit der Autorückseite die halbe Fahrbahn besetzend. Wer so wenig Sinn für Abstände hat, ist im Straßenverkehr eine Gefahr für die Allgemeinheit, dachte Sophie, stieg ein und startete den Motor. Sie stellte sich eine Frau mittleren Alters vor, wöchentlicher Friseurbesuch, monatliche Maniküre, eine Handtasche, die so viel kostete, wie eine normale Familie in einem halben Jahr für Essen ausgibt. Warum nur machte sie sich über solche Dinge überhaupt Gedanken, eigentlich könnte es ihr ja auch egal sein. War es aber nicht, war es noch nie gewesen. Da gab ihr Handy einen Ton von sich.

Hab noch Besprechung. Mach dir einen feinen Abend auf der anderen Seite der Berge, kleine Schwester.

es ist spät, denk an deine ehe. schmeiß alle raus und geh heim, schrieb Sophie mit einem Lächeln im Gesicht zurück und fuhr los.

Sophie dachte an Melanie, Daniels Frau, wie sie zu Hause auf ihren Ehemann wartete. Vielleicht hatte sie für ihn gekocht, seine Lieblingsspeise, angerichtet auf Designertellern aus seltenem Porzellan, quadratische Form, den Tisch ansprechend gedeckt und mit irgendwelchen kitschig-teuren Accessoires verziert. Sie sah sie vor sich, ihre blonden Strähnen, die weiche Haut, das freundliche Lächeln, ihre stets aufrechte Körperhaltung. Perfekt. Familienidyll. Aber da tauchte wieder der Schönheitsfehler vor ihrem inneren Auge auf, ein dunkler Fleck, eine gekrümmte Ecke am Foto, die unvollständige Sammlung. Zum Familienglück gehören Kinder, sagten stets beide, aber schon seit Jahren wollte Melanies und Daniels Wunsch nicht in Erfüllung gehen.

Daniel war sechs Jahre älter als Sophie. Während Sophie bald schon das Verlangen verspürt hatte, die Welt außerhalb des Tales, in dem sie aufgewachsen war, zu erkunden, war das für Daniel nie eine Option gewesen. Nicht zuletzt deshalb war er der perfekte Sohn für Eltern, die ihre beiden Kinder gerne präsentierten – im Sinne von Vorführen – wie Zirkuspferde, die ein Kunststück zeigen, auch jenen Menschen, die es gar nicht interessierte. Besonders ihrer Mutter war die Außenwirkung wichtig. In einer Zeit, in der noch nicht das Fernsehen die Ideale vorgab, spiegelte sich die Elterngeneration im Bild, das die Bewohner des Tals, der Kleinstadt dort, das eben andere von einem hatten: Man ist, was von einem geredet wird. Kinder sind das bedeutendste Lebensprojekt, so hatte ihre Mutter es einmal genannt, und Daniel war das geglückte Resultat dieses Vorhabens, Musterbeispiel gelungener Erziehung. Während er der Verwurzelte und Heimatverbundene war, sehnte Sophie sich nach der Ferne, nach neuen Bekanntschaften und Erfahrungen. Ihre Unbekümmertheit in dieser Hinsicht deutete ihre Mutter als Unreife, aber aufgegeben hatte sie Sophie noch nicht, so formulierte sie es, als sei Sophie sechzehn und auf verlorenen Wegen unterwegs, an irgendeiner Gabelung falsch abgebogen. Dass sie ihrem Vater näher stand als ihrer Mutter, lag nicht nur an der Tatsache, dass Väter das Leben ihrer Töchter in jeder Hinsicht bedeutsam prägen, sondern war auch dem Umstand geschuldet, dass sie ein gemeinsames Interesse verband: Geschichten. Ihr Vater besaß eine umfangreiche Bibliothek, aus der er seiner Tochter vorlas, jeden Abend ein Kapitel irgendeiner Erzählung. Als Sophie selbst lesen lernte, vergrub sie immer länger ihre Nase in Büchern und vertiefte sich in die Geschichten, ein Zugang zu einer neuen Welt tat sich auf. Später dann entdeckte sie eine große Leidenschaft für den Film, eine Vorliebe fürs Kino.

Am meisten aber fühlte sie sich ihrem Großvater nahe, dem Vater ihrer Mutter, der viel herumgekommen war in seinem Leben, ein Weitgereister, ein Sammler, manche nannten ihn einen alten Kauz. Sein Zuhause war wie ein Museum, vollgestopft mit Reiseandenken aus fremden Ländern, an den Wänden Karten weit entfernter Orte, dazwischen Jagdtrophäen. Interessiert an allem, außer an seiner Familie, zu diesem Satz hatte sich ihre Mutter irgendwann einmal hinreißen lassen, Worte, die unabsichtlich rausgerutscht waren wie ein plötzliches Niesen, eine der seltenen Äußerungen über ihre Kindheit, über ihren Vater, der anscheinend nie da war.

Wusstest du, dass eine Krake drei Herzen hat, hatte ihr Großvater Sophie einmal gefragt, während sie über die stadtnahen Wiesen gestreift waren, wie sie es oft getan hatten, als Sophie noch klein gewesen war. Wie aus dem Zusammenhang gerissen erzählte er von merkwürdigen Dingen oder stellte anscheinend unpassende Fragen, man wusste nie, wo seine Gedanken gerade waren. Er fragte dergleichen aber immer wie jemand, der es seinem Gegenüber durchaus zutraute, so etwas zu wissen. Erst als Sophie ihren Kopf schüttelte, gab er selbst Antwort auf die von ihm gestellte Frage. Und wenn sie etwas nicht verstand, erklärte er geduldig und ausführlich alles noch einmal. Meinungen wirst du viele hören im Laufe deines Lebens, Sophie, aber die Erfahrungen wohnen eine Etage höher; auf neuen Pfaden oben auf den Bergen oder inmitten menschenverlassener Wüsten begreift man, dass wir uns selbst viel zu wichtig nehmen. Auch das hatte er Sophie nahezubringen versucht. Die bekannten Wege, also die, die wir täglich gehen, sind in Wahrheit die steilsten und mitunter die gefährlichsten, sagte er immer wieder zu ihr, weil man achtgeben muss, nicht zu werden wie das Gewohnte um einen herum, unverrückbar, unabänderlich. Davor hatte ich immer Angst, das war das Einzige, wovor ich mich in meinem Leben wirklich gefürchtet habe. Dass ich es gar nicht merke, und dass es dann zu spät ist.

Im hohen Alter und nur mehr selten unterwegs, weil sein Körper an irgendeinem Punkt entschieden hatte, dass es genug war, bis hierher und nicht weiter, kümmerte er sich um Sophie, als hätte er etwas gutzumachen, als würde er eine zweite Chance erhalten, sich um ein Kind, um ein junges Mädchen zu kümmern. Aber nicht aus einem schlechten Gewissen heraus tat er es, sondern mit Hingabe die Möglichkeit nutzend, etwas davon weiterzugeben, was er erlebt hatte, aus einem schier unerschöpflichen Vorrat an Erfahrungen berichtend, als wäre der Sinn des vielen Reisens auch jener gewesen, Sophie von alledem zu erzählen.

Auch wenn sich Sophie hin und wieder über ihren Bruder Daniel ärgerte und das auch äußerte, zum Streit kam es so gut wie nie. Dafür waren seine Antworten zu überlegt, beschwichtigend und nie beleidigend, manchmal schulmeisterlich, was Sophie ärgerte, aber eben auch entwaffnete. Dagegen kam man nicht an. Vielleicht fühlte sie sich ihm gerade deswegen derart verbunden, auch wenn sie sich selten sahen. Er und ihr Großvater, nie hatten die beiden etwas auszusetzen an ihr. Und Daniel war einer der wenigen, der sie nicht als alternativ bezeichnete, oder, wie ihr Vater es bevorzugt tat, als Misfit. Ihr Vater hatte ein Faible für verschlüsselte Umschreibungen, die nicht jeder verstand. Hierbei bezog er sich auf The Misfits von Arthur Miller und dessen Verfilmung mit Clark Gable und Marylin Monroe, die von nicht angepassten Menschen erzählten, von Außenseitern. Sophie musste erst im Internet nach der Bedeutung suchen, nachdem er sie zum ersten Mal so genannt hatte. Außenseiter. Dass sowohl Gable wie auch Monroe, deren Ehe mit Miller während der Dreharbeiten zerbrach, kurz darauf starben, faszinierte Sophie dabei am meisten. Misfits sterben früh, das hatte was.

Als sie den Wagen vor dem Mehrparteienhaus abstellte, war es kurz nach acht. In einer halben Stunde würde sie Sebastian treffen. Auch andere Bekannte hatten sich angekündigt, nachdem Sophie auf die von Sebastian gegründete WhatsApp-Gruppe Sophies 26. Geburtstag mit einer Biereinladung im Stadtzentrum geantwortet hatte. Sie lief die Treppen hinauf zur Wohnung, die sie sich seit zwei Jahren mit Mona teilte. Als sie vom ersten in den zweiten Stock kam, ging der Gestank von gebratenem Fett in streng nach Putzmittel riechende Duftnoten über. Frau Höller, die ältere Dame mit dem Willkommen-Schriftzug auf der Fußmatte, der, wenn man die Frau kannte, eher als Drohung denn als Einladung zu verstehen war, hatte wohl wieder die Stiegen des zweiten Stockwerks gewischt und dabei mächtig Chemie verwendet. Nur des zweiten, für den ersten und das Parterre waren jeweils andere Parteien zuständig, alles bis ins Detail geregelt streng nach Plan, dessen Umsetzung Anlass für unermüdliche Diskussionen und willkommene Abwechslung im sonst wohl wenig ereignisreichen Leben der Bewohner des Mehrfamilienhauses war. Rutschgefahr, dachte Sophie, und verlangsamte den Schritt. Oben angekommen sperrte sie die Wohnungstür auf. Das Licht im Wohnzimmer brannte, also rief sie nach Mona. Antwort gab nur der Kühlschrank, dessen Brummen schon seit Wochen klang, als würde der Kühlmotor bald den Geist aufgeben. Mona war nicht da, wahrscheinlich war sie ausgegangen, oder schon zu Hause bei ihren Eltern, es war ja Freitagabend. Sophie nahm die nassen Schwimmsachen aus der Tasche, legte sie im Badezimmer in die Wanne und warf die Tasche in eine Ecke ihres Zimmers. Draußen wehrte sich der Winter noch gegen den Frühling, mit Wind und Schneeregen kämpften sie gegeneinander, während untertags erste Vogelstimmen den Kampf schon für entschieden erklärten. Schnell noch den PC einschalten und im Chat nachschauen, ob robin gerade online war, oder ob er eine Nachricht hinterlassen hatte. Weder noch.

Dass robin nicht Robin hieß, war ihr von Anfang an klar gewesen. Sie nannte sich ja schließlich auch ruff, und nicht Sophie. Im unendlichen Raum des Internets, der Anonymität der Chatrooms, konnte man sein, wer man wollte. Ein Versteckspiel mit Nicknames und erfundenen Lebensläufen, als könnte man sein Dasein jederzeit umschreiben, ihm einen anderen, unbelasteten Sinn geben, sein Ich neu erfinden. Gerade als sie die Seite verlassen und ihren Laptop wieder ausschalten wollte, öffnete sich das kleine Chatfenster mit dem entsprechenden Ton. robin war online gegangen.

Freitagabend und daheim?

bin auf einer party, antwortete Sophie.

Hm, langweilige Party. Bei der schnellen Antwort.

ich tippe tanzend.

Mit einem Drink in der Hand. Genau. Ich tippe auf Verlegenheitslüge.

Seit zwei Wochen schrieben sie sich regelmäßig, im Chatroom einer unverfänglichen Seite, auf der sich hauptsächlich Leute tummelten, die auf der Suche nach weniger unverfänglichen Begegnungen waren. Sophie war aus Neugierde eingestiegen und schon seit mehr als einem Jahr angemeldet, hatte den einen oder anderen netten Austausch erlebt, zweimal jemanden aus dem Chat getroffen, mit einem davon eine wenig aufregende Nacht im Bett verbracht. Er war zu betrunken gewesen oder zu aufgeregt, vielleicht aber auch beides. Dabei hatte es ganz aussichtsreich angefangen. Der sportlich-ansehnliche Typ wirkte sympathisch, anfangs auch reizvoll, weil er so gar nicht aufdringlich war, sich nicht wichtig machte. Noble Zurückhaltung. Und er roch gut. Alles hatte er ihr überlassen, das Ranmachen, die erste Berührung, die Aufforderung, ihr zu folgen, nachdem sie ziemlich viel getrunken hatten. Irgendwie spannend und mysteriös, hatte sie gedacht. Dass er sich beim Sex genauso passiv verhielt, wurde ihr bald schon unangenehm. Wenigstens dauerte es nicht lange. Etwas Herumfummeln reichte aus, ein paar Liebkosungen, während er wie unbeteiligt unter ihr lag. Das Spiel mit der Zungenspitze am richtigen Ort. Noch bevor es zum Geschlechtsverkehr kam, war es auch schon vorbei.

Ansonsten war das Chatten reiner Zeitvertreib für langweilige Singleabende zu Hause, eine weitere Möglichkeit, der realen Welt zu entfliehen.

Sophie schaute auf die Uhr, höchste Zeit zum Aufbrechen.

muss los. zur party außerhalb der matrix.

Party, klar. Wir lesen bald wieder voneinander, Neo.

heute erstmal feiern. was so viel heißt wie am wochenende ausschlafen. das ganze we.

Was gibt es zu feiern?

geburtstag. tschüss …, schrieb Sophie und meldete sich ab, ohne auf Antwort zu warten.

Die Nachricht

Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er wie eine Kokosnuss vom Baum gefallen und auf hartem Boden aufgeschlagen. Schädelbrummen wie Baustellenlärm. Der dazugehörige Körper ein einziger, nach Wasser lechzender Elendshaufen. Sophie kroch aus dem Bett, das Licht hinter den Vorhängen ließ die fortgeschrittene Tageszeit erahnen. Ins Bad. Nicht in den Spiegel schauen. Gekrümmte Haltung. Verdammt, ist mir schlecht, sagte sie laut vor sich hin, und war kindlich überrascht und fasziniert über ihre kratzige Stimme. Joe Cocker, dachte sie, und schon starrte sie ihr Gesicht im Spiegel an. Sophie, du siehst genau so scheiße aus, wie du dich fühlst. Ihr Spiegelbild bejahte mit einem schmerzverzerrten Lächeln. Aufs Klo und dann zwei Becher Leitungswasser, in der Küche noch ein Glas lauwarmes Wasser mit einem Schuss Zitrone, irgendwo hatte sie gelesen, das beruhige den Magen. Sophie war froh, dass Mona nicht da war. Mona war fast nie da. Zurück ins Bett. Sie erinnerte sich, dass Mona kurz vorbeigeschaut hatte, gestern, da waren sie schon mitten im Feiern gewesen, Sebastian, Alex, ein paar andere und sie. Das war nett von ihr, dachte Sophie, während sie nach einer erträglichen Liegeposition suchte, damit ihr Kopf weniger Klopfgeräusche von sich gab. Was zum Teufel habe ich gestern genommen, fragte sie sich, und versuchte den Faden zu finden. Die Kneipe, in der sie sich getroffen hatten, die ersten Getränke, Mona, die nur eine halbe Stunde geblieben war. Verabredung, hatte sie gesagt, und verlegen geschmunzelt. Danach zu dritt weiter ins nächste Lokal, trinken, immer wieder trinken. Alex, der unermüdlich kleine Gläser mit süßem Inhalt, aber weniger süßer Wirkung verteilte, Sebastian, dessen Brille irgendwie schief auf der Nase saß, der sich am Tresen festhielt, um nicht umzufallen. Filmriss. Keine Ahnung, was dann war, überlegte Sophie, und drehte sich auf den Rücken. Wie sie das hasste, nicht zu wissen, was gewesen war. Dann irgendwo tanzen. Dunkel tauchten einzelne Bilder auf, nicht mehr als Schnappschüsse. Dunst und grelle Lichter, eine Tanzfläche, im künstlichen Nebel sich räkelnde Finger und Hände, die Richtung Decke zeigten, als beschwöre eine Sekte ihren Gott. Umarmungen, Berührungen, verschwitzte Gesichter, feuchte Lippen. Der Ansatz eines Tattoos am Hals eines Fremden, rhythmische Bewegungen zu dumpfen Basslauten. Dann wieder nichts. Sophie kramte die Schachtel hervor, die im Nachtkästchen für derartige Zustände bereitlag, drückte mit dem Daumen zwei Pillen heraus und fing sie mit der Handfläche auf. Ohne mit Wasser nachzuhelfen schluckte sie sie hinunter, vergrub ihren Kopf unter dem Kissen und versuchte einzuschlafen. Wie war sie nach Hause gekommen? Alex. Er hatte sich vor der Eingangstür verabschiedet. Sicher war sie sich nicht. Ein weiteres Bild huschte vorbei, als sie an Alex dachte. Der Joint. Er hatte etwas dabeigehabt, jetzt fiel es ihr wieder ein. Natürlich, da war es wieder, zumindest dieser Ausschnitt. Sie hatten etwas geraucht, vor dem Tanzlokal. Normalerweise bewirkte es nicht allzu viel bei ihr, gute Laune, verblödet idiotisches Lachen, manchmal Schläfrigkeit. Etwas in der Art. Dieses Mal aber blieb vieles verborgen, vergraben im Rausch der Nacht. Vielleicht hatte Alex etwas beigemischt, etwas mit einer heftigeren Wirkung. Das war ihm durchaus zuzutrauen.

Sophie bemerkte, dass ihr Handy nicht neben dem Bett lag, wo sie es sonst immer hinlegte. Sie hatte es bis dahin noch gar nicht vermisst. Nackte Füße auf dem gefliesten Boden im Eingangsbereich, ständiger Wechsel des Standbeins, die Kälte kroch bis zur Hüfte hoch. Aufatmen, sie fand das Handy in der Tasche ihres Mantels. Auf Zehenspitzen lief sie ins Zimmer zurück und warf sich aufs Bett, vergrub sich unter der Bettdecke und entsperrte den Bildschirm des Telefons. Zwei Mails im Posteingang. Die Werbung für eine Versicherungspolizze löschte sie sofort. Der Absender der zweiten Nachricht nannte sich SNAP. Im Betreff las sie zwei Worte: Kleine Sophie. Neugierig drückte sie auf Nachricht öffnen, dabei fiel ihr das Handy fast aus der Hand. Als sie es aufzufangen versuchte, berührte ihr Daumen versehentlich die Löschtaste. Sophie vernahm das entsprechende Geräusch, das einem Absaugton nachempfunden war. Der Text in die Vergessenheit entlassen, in einen endlosen Raum. Verdammt, stieß ihre raue Stimme hervor. SWAP, oder hieß es SNAP? Da fiel ihr ein, dass es sich um ihr Arbeitsmailkonto handelte, weshalb sie gleich am Montagmorgen im Büro die Mail am PC erneut abrufen konnte, im Ordner Gelöschte Objekte, das ging. Nichts passiert, sagte sie sich, legte das Handy weg und vergrub sich zusammengekauert wie ein Baby unter der Bettdecke. Kleine Sophie.

Den ganzen Tag lang verließ sie ihr Bett nur, um ins Bad zu gehen und sich zwischendurch etwas aus der Küche zu holen. Zwei Bücher und mehrere Zeitschriften lagen verstreut im und neben dem Bett, als hätte ein starker Windstoß sie im Raum verteilt. Am Nachmittag war sie zwei- oder dreimal eingeschlafen. Die Kopfschmerzen hatten sich immer weiter nach hinten verzogen, dorthin, wo es weniger schmerzte, bis sie am Ende in Form einer Verspannung an der Halswirbelsäule angekommen waren und sich langsam aufzulösen begannen.

Als es Abend wurde, setzte sie sich an ihren Schreibtisch und öffnete den Laptop. Während das Programm hochfuhr, nahm sie ihre Kamera aus der Tasche und schaltete sie ein. An die vierzig Fotos hatte sie noch nicht heruntergeladen, Bilder, die sie letzte Woche gemacht hatte. Sophie verwendete eine Systemkamera mit Lautlosfunktion, damit niemand merkte, wenn sie ihre Aufnahmen machte, ganz nah an einer Person vorbeigehend oder wie nebenbei das Gerät vor der Brust haltend, mit dem Finger den Auslöser betätigend, während sie anderswohin schaute, als würde sie sich in der Gegend umschauen oder etwas Bestimmtes suchen. Sie übertrug die Fotos der fremden Personen auf ihren Computer und begann damit, sie zu bearbeiten. Dabei verfiel Sophie in einen tranceartigen Zustand, die Dimensionen Zeit und Raum nahm sie anders wahr. Sie schnitt die Bilder zurecht, drehte die Ausschnitte, legte sie übereinander, bis aus Konturen fließende Übergänge wurden, die den Betrachter zu überlisten vermochten. Aus verschiedenen Gesichtern eins machen, den Haaransatz des einen Passanten mit der Stirn des nächsten verbinden, den Mund und die Nase, vielleicht auch noch die Augen. Manchmal reichten drei Aufnahmen aus, zwischendurch benötigte sie fünf oder sechs dazu. Es war, als schaffe sie neue Wesen. Photoshopvermischte DNA, andersartige Abbildung des Seins. Dabei achtete sie auf die Lebenslinien in den Gesichtern der Menschen, darauf, dass sie zusammenpassten, die Form, die Abstände, selbst Furchen und Falten, die verborgene Geschichten erahnen ließen, die ihre Spuren hinterlassen hatten. Darüber verlor sie die Zeit. Das fertige Produkt stellte sie online. Hunderte Klicks verrieten die tägliche Neugierde auf die nächste Kreation. Ein Kunstwerk, sagten jene, die ihren Blog verfolgten, den sie unter einem Pseudonym betrieb. Seit ein lokales Magazin in ihrer Heimat über Sophies Tätigkeit einen Artikel veröffentlicht hatte, in der ihre künstlerische Arbeit als erfolgreich und aufstrebend beschrieben worden war, wussten aber ohnehin alle, dass sie dahintersteckte. Eine Künstlerin aus ihrer Heimatgegend, mit der Sophie sich hin und wieder austauschte, hatte Sophie um ein paar Fotos gebeten und gefragt, ob man die auch veröffentlichen dürfe. Weil Sophie mehr an Facebook und an ein harmloses Posting gedacht hatte und auch nicht wusste, dass besagte Kollegin als freiberufliche Journalistin tätig war, hatte sie zugestimmt. Umso überraschter war sie gewesen, als sie den Artikel zugesandt bekommen hatte, der zudem noch im Netz gelandet und unzählige Male geteilt worden war. Das Geheimnis war gelüftet.

Erst gegen Mitternacht war Sophie mit der Übertragung und ersten Bearbeitung fertig. Obwohl sie müde war, schaute sie noch schnell nach, ob im Chat jemand online war. Ein grüner Punkt über einem sich öffnenden Fenster blinkte, Zeichen einer ungelesenen Nachricht, die am Vorabend eingegangen war.

Klingt nach wilder Nacht mit Kater am Morgen. Wenn das mit deinem Geburtstag stimmt, wünsch ich dir alles Gute.

robin hatte gestern noch eine Nachricht geschickt, als Sophie schon offline und am Weg zur Feier gewesen war. Jetzt, im Nachhinein, fühlten sich seine Worte wie eine Prophezeiung an.

Sophie war eine der Ersten im Büro. Noch im Stehen startete sie den Computer. Als er hochgefahren war, öffnete sie Outlook und rief die Mails ab. SNAP. Kleine Sophie. Sie doppelklickte die Nachricht:

Hallo Sophie. Schon oft wollte ich dir schreiben, erst jetzt ist der Zeitpunkt gekommen dafür. Ich hoffe, es geht dir gut. Du überlegst, wer ich bin. Ich muss dich enttäuschen, du kennst mich nicht. Dafür sind zu viele Jahre vergangen und du warst damals noch viel zu klein, elf Jahre alt, oder warst du schon zwölf? Genau weiß ich das nicht mehr. Ihr wart die Kleinen, ich habe euch beschützt damals. Bis heute habe ich euch nicht vergessen, wie könnte ich auch. Ich wollte eigentlich nur, dass du das weißt. K.

Sophie las den Text mehrmals. Im ersten Moment war ihr, als ginge es gar nicht um sie. Dann suchten ihre Gedanken fieberhaft nach einem Zusammenhang. An einzelnen Sätzen blieb ihr Blick länger hängen. War da etwas, das sie nicht verstand oder das sie vergessen hatte? Was sollten diese Zeilen bedeuten, und K., wofür stand K.? Die Abkürzung für einen Namen, das war naheliegend. SNAP, von einem anonymen Hotmail-Konto. Woher hatte der Schreiber ihre Mailadresse? Vielleicht hat er im Büro angerufen und einfach danach gefragt, dachte Sophie. Wenn Sabine das Telefon abgenommen hatte, war das durchaus denkbar. Ihr traute Sophie zu, Handynummer und Mailadresse der Kollegen weiterzugeben, ohne nachzufragen, wer darum bat. Sophie verdächtigte Sabine schon seit Langem, heimlich in irgendwelchen Unterlagen zu stöbern, die nicht für ihre Augen bestimmt waren. Sie konnte Sabine nicht ausstehen. Allein schon diese Aussprache, wie eine ungenießbare, weil zu süße Torte, die man mit extra dicker Zuckerglasur versehen hatte, und immer wieder kippte ihre Tonlage beim Sprechen in die Kopfstimme. Sophie sah unweigerlich Teletubbies vor sich auf und ab hüpfen, wenn sie mit ihr sprach.

Da fiel ihr ein, dass auf der Homepage der Marketingagentur unter Kontakte die Mailadressen der Mitarbeiter einzusehen waren. Also konnte der Verfasser sie auch dort gefunden haben. Aber woher wusste er, wo sie arbeitete, fragte sich Sophie. Sie bemerkte, dass sie wie selbstverständlich an einen Mann dachte. Der Ton und die Abfolge der Wörter, so schreiben Frauen nicht. Oder sie hatte sich verstellt, absichtlich, überlegte sie. Eher unwahrscheinlich. Vorläufig legte sie sich fest: Es war ein Mann. Ein ungutes Gefühl stieg in ihr hoch, etwas, das sich anfühlte wie Übelkeit. Dieser eine Satz: Du kennst mich nicht. Hieß das nicht so viel wie: Er kannte sie? Obwohl der Text keine Drohungen enthielt, nicht einmal eine üble Anspielung, enthielt er einen gewissen Unterton, wodurch gerade das Nicht-Geschriebene auf eine besondere Weise wirkte, einnehmend, geheimnisvoll. Sophie war sich sicher, jemand wollte sie auf etwas ansprechen, von dem sie im Augenblick noch nicht wusste, was es war.

Als sie nachdenklich aufblickte, sah sie Sabine hereinkommen. Sie setzte sich an den Empfang wie ein General, der seinen Posten bezieht, blickte durch das Großraumbüro und prüfte, wer schon anwesend war. Ihr Rundumblick blieb kurz an Sophie hängen, offensichtlich war Sabine erstaunt, dass Sophie vor ihr eingetroffen war. Kontrolle, dachte Sophie, und erwiderte gespielt übertrieben Sabines Winken.

Sophie versuchte die Nachricht zu ignorieren. Auf ihrem Schreibtisch lag der Entwurf einer Werbekampagne für ein Handelsunternehmen. Ihre Aufgabe umfasste die grafische Gestaltung und Bearbeitung des Fotomaterials, genau dafür war sie eingestellt worden. Ihr Arbeitsvertrag war auf ein Jahr befristet, dreißig Stunden pro Woche. Was ihr recht war, so blieb genügend Zeit, um Dingen nachzugehen, für die sie sich wirklich interessierte. Wenn sie Werbeaufnahmen vor sich am Bildschirm betrachtete, fielen ihr ständig blöde Sprüche dazu ein, die dann vor ihrem inneren Auge vorbeiflatterten, wie von einem Flugzeug nachgezogene Banner. Nicht werbetaugliche Texte, wie letzthin, beim Zusammenstellen von Fotos für die Kampagne Urlaub am Bauernhof. Da kamen ihr Sätze in den Sinn wie: Wir wollten Meer, jetzt sind wir am Land gestrandet. Wenigstens hatte sie auch ihren Spaß dabei.

Ins Marketinggeschäft war sie eher zufällig hineingestolpert. Eigentlich hatte Sophie Psychologie studiert, anfangs, weil sie sich wirklich dafür interessierte. Einmal, als ihnen während des Studiums praktische Beispiele anhand von Filmmaterial vorgestellt wurden, ging es um eine Frau, die einem Wasch- und Reinigungszwang verfallen war. Jedes Mal, wenn die Frau nach Hause kam, zog sie ihre gesamte Kleidung aus und warf sie in die Waschmaschine, stellte sich minutenlang unter die Dusche und wusch sich wiederholt mit Seife von oben bis unten ab. Die Aufarbeitung dieses Zwangsverhaltens ergab, dass die Frau im Kleinkindalter traumatisiert worden war, weil ihre Mutter viel zu früh von ihr verlangt hatte, ihr Bedürfnis nicht in die Windel zu verrichten, sondern auf der Toilette. Und wenn sie dann doch in die Hose gemacht hatte, schimpfte die Mutter das hilflose Kleinkind und nannte es dreckig. Ein langsam aus dem Unterbewusstsein aufsteigendes Trauma, nach langer Zeit als Waschzwang an die Oberfläche geschwemmt.

Es war eine Erkenntnis. Dass alles, was einem im Leben begegnet, Spuren hinterlässt. Das prägte Sophies Anschauung. Sie begann Menschen anders zu betrachten, auf eine durchdringende, analysierende Art, als wandle sie durch ein Freiluftlabor und beobachte Probanden. Erste Fotos entstanden zu dieser Zeit, Porträts, die sie anschließend stundenlang am Bildschirm betrachtete, während sie sich vorstellte, was diese Augen gesehen, die Nase gerochen, der Mund ausgesprochen hatte. Für jedes Verhalten gibt es irgendeinen Grund, so etwas wie eine Initialzündung. Sie suchte nach Mustern und begann sich zu fragen, inwieweit es gewisse Vorhersehbarkeiten im menschlichen Handeln gab. Besonders frühe Kindheitserlebnisse bleiben zuweilen verborgen, bis sie manchmal nicht mehr anders können, als den Träger in eine Verrücktheit zu stürzen. Oder sie verursachen eine Explosion, schlussfolgerte Sophie, und dass im Grunde jeder Mensch zu Unbegreiflichem, auch Abartigem fähig ist, genauso wie zu ungeahnten Höhenflügen. Der Gedanke schreckte Sophie nicht ab, im Gegenteil, von ihm ging eine Anziehung aus, intensiv und merkwürdig. Immer öfter, wenn sie Menschen begegnete oder ihre Fotos länger betrachtete, flatterten assoziative Wortbilder durch ihre Gedanken. Vor ihr die Fotos, in ihrem Kopf die Untertitel dazu.

Am Studium selbst verlor sie zunehmend das Interesse. Ihr Zugang zur Materie war ein anderer. Erwerb von Wissen über Gesetzmäßigkeiten und empirisch erfasste Abläufe mitsamt standardisierten Erkennungs- und Aufarbeitungsmethoden, darauf zielte alles ab. Auswendig lernen, aufsagen, benotet werden. Und vergessen, wie in der Schule. Sie hatte nie viel übriggehabt dafür. Waren das wirklich die Voraussetzungen, um das Empfindlichste und am schwersten zu Begreifende eines Menschen zu verstehen, es gar zu beeinflussen? Auch stellte sich das Gefühl ein, dass man bei der Ausbildung nicht darauf achtete, wer für den Berufsweg geeignet war und wer nicht. Als wäre es schlichtweg egal, ob jemand über Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen verfügte, danach fragte niemand, das war nicht Teil des Konzeptes. Einige Studierende waren selbst ein wandelnder Komplexhaufen, für Probleme anderer aber hatten sie stets schubladisierte Fertiganalysen parat. Die Therapeuten der Zukunft. Zuerst ließ Sophie einzelne Vorlesungen aus und besuchte nur mehr jene Kurse, die sie als potenziell lehrreich einstufte, schließlich blieb sie der Uni ganz fern.

In dieser Zeit begann sie mit den Gesichtern der Abgebildeten herumzuexperimentieren, dann mit der Arbeit am Blog und bald schon mit der Veröffentlichung ihrer ersten Fotocollagen.

Im Bekanntenkreis sprach sich herum, dass sie in Sachen Grafik und Design ein begabtes Händchen hatte. Und als sie nach einer Arbeit suchte, weil sie Geld brauchte, bot man ihr die Stelle in der Marketingagentur an, weil ein befreundeter Computerfachmann, der zwischendurch im Büro aushalf, ihren Namen genannt und sie empfohlen hatte. Alex, selbstständiger Programmierer und Webdesigner. Gewohnheitskiffer und Freund für alkoholgetränkte Nächte.

Nachdem sie den Entwurf mehrere Male hin und her gedreht und die kleinen Änderungen am Kontrast und an den Farbtönen gespeichert hatte, schloss sie das Programm, öffnete die Suchmaschine und gab die Buchstabenkombination SNAP ein. Erstes Ergebnis: Listen and stream free music. Das ist es nicht, dachte Sophie und scrollte weiter. Rhythm is a dancer, Snap, Trance-Gruppe. Sie setzte sich die Kopfhörer auf und schaute sich das Musikvideo an. Vor einer Kulisse abschussbereiter Raketen tanzte eine Sängerin im typischen Look der Neunziger auf einer Hebebühne neben einem Gitarristen, obwohl kein Gitarrensound zu hören war, nur computererzeugte Beats. Radaraufnahmen und Flugnavigationskarten flackerten zwischen den Tanzeinlagen auf. Geprägt wohl durch die Umstürze jener Zeit, der Neuordnung der Welt, dem Ende des Ost-West-Konflikts, der Systemkonfrontation zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Alles war noch einfach und übersichtlich, hier die Guten und dort die Bösen, jeder zweite Hollywoodfilm suggerierte die angeblich richtige Weltanschauung. Ein Videoclip wie von einem anderen Planeten. Sie lachte in sich hinein. Wieder Fehlanzeige. Auch die weiteren Suchergebnisse brachten sie nicht weiter. Nachdenklich spielte sie mit dem Kugelschreiber in ihrer Hand, vornübergebeugt, mit gekrümmtem Rücken. Eine schwarze Haarsträhne legte sich übers Gesichtsfeld, sie blies sie weg. Sophie kam nicht umhin, ständig an die Nachricht zu denken. Sie war präsent, als würde sie sie aus einem Versteck am unteren Bildschirmrahmen beobachten. Sie war da, man konnte sie nicht ignorieren. Sophie fühlte, sie musste sich ihr stellen. Jetzt. Sie öffnete die Nachricht und drückte auf Antworten:

wer einem schreibt, der sollte so viel anstand haben, sich vorzustellen. arschloch.

Sophie las den Satz mehrmals. Das letzte Wort hatte sie hingeschrieben, im Wissen, sie würde es wieder entfernen. Trotzdem fühlte es sich erst mal gut an. Sie rümpfte die Nase, löschte die gesamte Zeile und versuchte es erneut:

hallo K. (wer oder was auch immer das ist). gib dich zu erkennen, sonst fängt die unterhaltung erst gar nicht an. S. (du weißt ja, das S. steht bekanntlich für Sophie.)

Ohne lange zu überlegen, drückte sie auf Senden. Und bereute es in derselben Sekunde, als die Nachricht vor ihren Augen verschwand und im Ordner Gesendete Objekte als Textformat die Gewissheit darstellte, dass sie unwiderruflich den Weg zum Empfänger genommen hatte. Verdammt, dachte Sophie. Ich hätte nicht antworten sollen, die Nachricht einfach zu ignorieren wäre klüger gewesen. Gleichzeitig wusste sie, dass sie nicht loskommen würde von der Sache, bis klar war, wer K. war und was er mit der Mail bezweckte. Ihr wart die Kleinen damals. Vielleicht bist du ein Stalker oder Kindesentführer, flüsterte sie vor sich hin. Arschloch. Ja, jetzt erst recht. Arschloch.

Sophie arbeitete ihre Stunden ab, unproduktiv, angespannt, weil sie auf Antwort wartete, nicht wissend, ob ihr lieber war, dass eine eintraf, oder dass sie ausblieb. Pünktlich, begleitet vom Blick des weiblichen Generals, der Sophies Aufbruch kontrollierte und vermerkte, verließ sie das Büro.

Sie lief durch die Stadt, ging in das Einkaufszentrum mitten in der Stadt und fuhr mit der Rolltreppe in den letzten Stock. Oben angekommen stellte sie sich an die Glasbrüstung, breitbeinig, mit vorgebeugtem Oberkörper, ihr Kinn auf die am Glas verschränkten Arme gelegt. So starrte sie nach unten, auf Menschen, die bunte Plastiktaschen herumtrugen, mit irgendwelchen Klamotten, die man in derselben Ausführung in Spanien oder Norwegen auch fand, während Kaufhauslärm, bestehend aus Stimmengewirr und Umsatzsteigerungsmusik, angenehm betäubend auf sie wirkte. Nach Feierabend noch schnell das verdiente Geld verbraten, dachte Sophie, und studierte die Köpfe, deren dazugehörige Körper in Kleidung gepackt waren, deren Hauptaufgabe nicht das Wärmen oder Verhüllen, sondern das Senden von Signalen über den gesellschaftlichen Status des Trägers war. Sie richtete sich auf und breitete die Arme aus, wie Kate Winslet es getan hatte, und stellte sich vor, den dazugehörigen Satz hinauszuschreien. Fallenlassen. Die Blicke der unfreiwilligen Zuschauer. Erschrockene Gesichter, wie sie der Hinunterstürzenden nachschauen, vor Schreck verzerrte Mimik. Aus dem Alltag gerissen, sekundenlang mit dem Tod konfrontiert, auf den alles Leben zusteuert. Ihrer Sicherheit beraubt für einen Augenblick. Die Gesichter in einem solchen Moment zu fotografieren, dachte Sophie, wäre wie das Abbilden der reinen und unverfälschten Todesangst. Sie zog ihre Flügel wieder ein. Nach einer guten halben Stunde Menschenzoo war ihr danach, etwas trinken zu gehen.

Draußen schrieb sie Alex eine SMS, sie gehe auf ein Glas, ob er nachkommen wolle. Alex’ Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Er könne nicht, er müsse noch irgendeine Seite programmieren, er sei zu Hause und der Kühlschrank immer für Gäste gefüllt. Mit Alkohol, dachte Sophie, und tippte: mal sehen. Dann betrat sie eine Kneipe in der Innenstadt, an der sie zufällig vorbeiging, setzte sich an den Tresen und bestellte ein Bier.

Dass sie nie etwas mit Alex angefangen hatte, lag wohl daran, dass sie sich zu ähnlich waren. Beide etwas durchgeknallt, Alex aber um eine Spur durchgeknallter als Sophie. Er überschritt jede Grenze, lotete aus, wie weit man gehen konnte, anderen gegenüber, aber auch was seinen Körper betraf. Was er auch tat, immer war es extrem.

Bei ihm hatte Sophie ständig das Gefühl, sein Anderssein hatte etwas Zwanghaftes, als müsse er sich ständig selbst beweisen, dass er nicht dazugehörte, zu all jenen, die er verachtete bis aufs Blut, Snobs und Managertypen, so nannte er sie. Vielleicht, weil er sich eben gar nicht so sicher war, ob er auf der richtigen Seite stand. Als fürchte er einen Rückfall in ein normales Leben. Das war ein komischer Gedanke. Da vibrierte das Handy in der Brusttasche ihrer Lederjacke.

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