Mami – 1937 – Kleine Fremde - wir haben dich lieb

Mami
– 1937–

Kleine Fremde - wir haben dich lieb

Das dramatische Schicksal eines kleinen Mädchens

Susanne Svanberg

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-364-7

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Vor dem Abfertigungsschalter der AIR CANADA hatte sich eine lange Warteschlange gebildet. An deren Ende standen Martin Schöntal und Stefan Velten, umgeben von allerlei Gepäckstücken. Auffällig waren dabei zwei Angelruten, die auch zusammengeschoben und in entsprechende Hüllen verpackt noch eine ordentliche Länge hatten.

»Schade, daß deine Frau nicht mitkommt«, meinte Stefan, dessen raspelkurzes Haar einen Stich ins Rötliche hatte. Die Sommersprossen auf seiner kräftigen Nase gehörten zu seinem Typ wie die Blätter zu einer Pflanze. Eine Schönheit war Stefan nicht, aber ein verläßlicher Kumpel, sportlich und durchaus sympathisch. Wie Martin war auch er Lehrer an einer kleinen Grundschule. Allerdings war Martin als Schulleiter sein Vorgesetzter, doch das spielte keine Rolle zwischen ihnen. Auch der Altersunterschied von fünf Jahren war ohne Bedeutung.

Martins eben noch fröhliches Gesicht wurde ernst. In diesem Moment wurde deutlich, daß er mit seinen 34 Jahren der Ältere der beiden war.

»Ich habe sie immer wieder darum gebeten, aber Andrea hat es rundweg abgelehnt, mit uns nach Kanada zu fliegen. Sie glaubt, nicht abkömmlich zu sein.«

»Dabei kann sie sich doch von Frau Lauer in ihrer Boutique vertreten lassen.«

»Eben. Marion Lauer ist äußerst gewissenhaft und tüchtig. Und deshalb nehme ich Andrea die Ausrede auch nicht ab.« Martin ließ die Mundwinkel hängen wie ein Mensch, der traurig und verbittert war.

Sein Kollege zog die rötlich blonden Augenbrauen, die sein bleiches Gesicht noch farbloser wirken ließen, hoch.

»Was… was willst du damit sagen?« In Stefans mausgrauen Augen schienen sich zwei Fragezeichen zu spiegeln.

»Daß da etwas anderes dahinter steckt«, seufzte Martin. Im Gegensatz zu seinem etwas kleineren, schlanken Freund war Martin auffallend groß, breitschultrig und muskulös. Dadurch wirkte er manchmal wie der berühmte Elefant im Porzellanladen. Ein gutmütiger, liebenswerter Elefant. Sein vorteilhaftes Aussehen verschaffte ihm bei Frauen jene Chancen, um die ihn Stefan beneidete. Allerdings machte Martin seit Jahren keinen Gebrauch mehr davon. Seit er Andrea kannte, gab es für ihn keine andere mehr. Er liebte seine Frau und wartete seit sechs Jahren geduldig darauf, daß sie endlich eine richtige Familie wurden. Gesund waren sie beide, und doch wurde Martin immer wieder enttäuscht. Seit Beginn ihrer Ehe hatte er sich Kinder gewünscht. Andrea teilte seine Sehnsucht. Wenigstens behauptete sie das. Längst glaubte ihr Martin nicht mehr.

»Du meinst, ein anderer?« fragte Stefan erschrocken. Er bewunderte die hübsche Andrea heimlich. Hoffnung auf Erfüllung seiner einseitigen Liebe hatte er sich noch nie gemacht.

Martin atmete tief durch, blieb aber die Antwort schuldig. Er legte seine kräftige Hand schwer auf Stefans Schulter. »Du bist mein Freund. Dir kann ich es ja sagen. Es stimmt seit einiger Zeit nicht mehr zwischen uns.« Zu keinem anderen Zeitpunkt hätte Martin über seine privaten Probleme gesprochen. Doch jetzt, da er mit Stefan nach Kanada flog, um dort die Herbstferien zu verbringen, entstand zwischen ihnen eine Basis des Vertrauens.

Stefan ging unwillkürlich ein wenig in die Knie. Das hatte weniger mit der gewichtigen Hand auf seiner Schulter zu tun als mit der Vorstellung, daß die Frau, die er heimlich liebte, irgendwann frei und ungebunden sein würde.

»Da… da… dabei seid ihr doch das ideale Liebespaar«, stotterte Stefan verwirrt.

»Lassen wir das. Reden wir von erfreulicheren Dingen«, lenkte Martin ab. Mit dem Fuß schob er seine Reisetasche ein Stück nach vorne, denn die Warteschlange wurde langsam kürzer.

Stefan folgte seinem Beispiel. »Vielleicht gefällt es Andrea auch nicht, daß wir in Kanada in einer Hütte an einem einsamen See wohnen. Sie wäre sicher lieber…«

»Vergiß es«, unterbrach ihn Martin, der nicht länger über dieses Thema reden wollte. »Glaubst du, daß wir in diesem Nationalpark bei Québec tatsächlich einen fischreichen See finden?« Martin drehte den Kopf und sah skeptisch auf seinen Freund, der nun etwas hinter ihm stand.

»Einen? Es gibt in der Provinz Québec eine Million Seen, davon im Parc de la Maurice mehr, als wir besichtigen können, glaub’ mir. In diesen Gewässern leben 140 Fischarten. Bei meinem letzten Aufenthalt habe ich hauptsächlich Forellen, Zander und Lachse…«

Stefan sprach nicht weiter, denn eben kam eine Frau auf sie zu, die ein Kind auf dem Arm trug. Sie war mittleren Alters und wirkte etwas gehetzt. Den beiden Männern war sofort klar, daß sie sie ansprechen würde. Vielleicht wollte sie eine Auskunft.

»Entschuldigung…« Die Unbekannte war vor Martin stehengeblieben und sah ängstlich zu ihm hoch.

Stefan trat einen Schritt zurück. Er hatte geahnt, daß sich die Frau an Martin wenden würde. Schöntal kam bei den Damen einfach besser an.

»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.« Das klang reichlich unsicher.

Martin schmunzelte. »Wenn ich helfen kann«, meinte er galant.

»Mein Auto steht draußen im Halteverbot. Ich müßte es wegfahren, das Gepäck ausladen und in die Halle schaffen. Mit dem Kind ist das zu umständlich. Würden Sie vielleicht auf meine Kleine aufpassen? Nur ein paar Minuten. Ich beeile mich und komme so rasch wie es geht zurück.« Flehend sah die Frau auf Martin.

Er betrachtete die Fremde verwundert. »Sie kennen mich ja gar nicht und wollen mir Ihr Kind überlassen?«

»Ich vertraue Ihnen«, versicherte sie und versuchte zu lächeln. Es war ein kläglicher, aber rührender Versuch. »Ich bin ja gleich wieder da. Bitte…« Sie hob das Kind von sich weg und streckte es Martin entgegen, darauf wartend, daß er die Kleine entgegennahm.

Das war eine Geste, die er nicht unerwidert lassen konnte. Er liebte Kinder und konnte gut mit ihnen umgehen, obwohl er bis jetzt keine eigenen Nachkommen hatte. Das Kleine, das er für einige Minuten betreuen sollte, war ein reizendes Geschöpf. Große dunkle Augen strahlten in einem runden Gesichtchen, das von dunkelbraunen Löckchen umrahmt war. Ein süßer kleiner Mund lächelte freundlich.

Martin griff zu und übernahm das fremde Kind. »Gehen Sie nur, wir achten auf Ihr Töchterchen«, ermutigte er die Fremde.

»Soll ich mitkommen, um Ihnen beim Tragen des Gepäckes behilflich zu sein?« erbot sich Stefan eifrig. »Hier geht es ohnehin nicht so rasch weiter. Ich kann also gut…«

»O nein, vielen Dank. Nett von Ihnen, aber ich schaffe das gut allein. Also bis gleich.« Die Fremde hatte es plötzlich sehr eilig. Noch während sie sprach, lief sie davon.

Martin nahm es kaum wahr, denn er beschäftigte sich mit dem Kind auf seinem Arm. Ohne die geringste Scheu war die Kleine zu ihm übergewechselt. Mit ihren kugelrunden Augen sah sie ihn neugierig an.

»Na, du?« Martin schaukelte das Kind ein bißchen und zog eine Grimasse.

Schon kicherte die Kleine vergnügt.

Stefan beobachtete die beiden mit dem wohlwollenden Interesse des unbeteiligten Zuschauers.

»Wenn man euch so sieht«, meinte er vielsagend blinzelnd, »könnte man glauben, du hältst deine kleine Tochter auf dem Arm. Sie hat genau dieselbe Haarfarbe wie du, die dunklen Augen und auch sonst…« Stefan grinste.

»Blödmann«, kritisierte Martin burschikos. Sie verstanden sich gut, doch dazu gehörte manchmal auch ein harter Ton.

Das fremde Kind schien sich in Martins Nähe wohl zu fühlen, denn es patschte ihm vertrauensvoll ins Gesicht und zog ihn kräftig an den Haaren. »Autsch!« beschwerte er sich. Gleichzeitig hob er mahnend den Zeigefinger. Ernst war das allerdings nicht gemeint, was die Kleine sofort bemerkte.

»Eia«, kreischte sie und versetzte Martins Nase einen unsanften Klaps.

Stefan, froh darüber, daß er nicht an Martins Stelle war, zog die Schultern hoch. »Für ihr Alter scheint sie eine gute Handschrift zu haben«, scherzte er.

»Das ist eine Aufforderung zum Spiel«, belehrte Martin den Kollegen.

»Du kennst dich eben aus«, meinte er gelassen. »Wie alt ist sie eigentlich?«

»Woher soll ich das wissen? Ein Jahr oder auch eineinhalb. Keine Ahnung.«

»Auf jeden Fall benimmt sie sich so typisch weiblich wie ein alberner Teenager.« Stefan trat näher zu Martin. Er hob die Hände und bewegte auffallend die Finger, um das Interesse der Kleinen zu wecken.

Allerdings wurde er nicht beachtet. Das kleine Mädchen beschäftigte sich mit Martin.

»Da du so unfreundliche Sachen sagst, hast du natürlich keine Chance«, freute sich Schöntal.

*

Marion Lauer war nicht nur eine sehr gute Verkäuferin, sie kümmerte sich auch um Dinge, die eigentlich nicht zu ihrem Job gehörten. So achtete sie darauf, daß die Verkaufstheken und Glasvitrinen der Boutique stets staubfrei und ohne Fingerabdrücke waren. Sie polierte den Griff der Eingangstür und sorgte dafür, daß die Pflanzen in der dekorativen Marmorschale draußen kein einziges welkes Blättchen aufwiesen. Pünktlich goß sie jeden Morgen die Blumen und erneuerte die Gestecke im Verkaufsraum, wenn dieses nötig war. Die Kundinnen, die bei ihnen kauften, waren verwöhnt und erwarteten jenen Hauch von Luxus, der den Qualitätsmerkmalen der Markenware entsprach.

Hoch waren nicht nur die Ansprüche, auch die Preise waren es. Marion und ihre Chefin Andrea Schöntal vergaßen das keinen Augenblick. Zu vielen ihrer Kundinnen hatten sie ein nahezu freundschaftliches Verhältnis.

Eben ging Marion in den Abstellraum, um die kleine Gießkanne mit frischem Wasser zu füllen. Sie hatte an diesem Morgen die welkenden Sommerblumen entfernt und Herbstastern in die Marmorschale gepflanzt. Das leuchtende Gelb paßte gut zu den spiegelnden schwarzen Fliesen im Eingangsbereich.

Andrea hielt sich im Nebenraum auf, denn so früh kam kaum eine Kundin in diese Boutique. Als Andrea ihre Angestellte kommen hörte, ließ sie rasch ein kleines Päckchen in einer Schublade verschwinden, steckte sich etwas in den Mund und spülte es mit einem Schluck Wasser hinunter.

Marion blieb stehen. »Was nimmst du denn da?« fragte sie verwundert. Seit Jahren war sie mit ihrer Chefin befreundet, weshalb sie sich diese Frage erlauben konnte. Eine Antwort bekam sie allerdings nicht. »Bist du krank?« forschte Marion weiter. Ihrem offenen Charakter war jede Heuchelei zuwider. Das schätzten auch die Kundinnen. Wenn Marion ihre Meinung äußerte, dann war sie ehrlich. Niemals hätte sie jemanden ein Kleidungsstück verkauft, das ihm nicht paßte oder nicht stand, nur um den Umsatz zu steigern.

Andrea schwieg beharrlich, drehte sich auch nicht um. Es war ihr peinlich, daß Marion ihr kleines Geheimnis entdeckt hatte. Sie würde es nie weitererzählen, aber sie würde ihr Verhalten auch nicht billigen.

Mit einigen raschen Schritten kam Marion näher, noch immer die Gießkanne in der Hand. »Sag’ bloß, du nimmst die Pille?« fragte sie empört. Die etwas rundliche Marion, die trotz Hungerkuren nicht von ihrem Übergewicht herunterkam, war nur zwei Jahre älter als Andrea. Doch in diesem Moment wirkte sie wie die Mutter ihrer Freundin.

»Was ist so schlimm daran?« fragte Andrea schmollend zurück.

»Du hintergehst deinen Mann. Denn er weiß doch sicher nichts davon.« Vorwurfsvoll sah Marion ihre Freundin an. Andrea war die Hübschere von ihnen, das akzeptierte Marion ohne Neid. Auch sonst gab es keine Rivalität zwischen ihnen.

»Natürlich weiß er es nicht. Er wartet Monat für Monat darauf, daß ich schwanger werde.«

»Und warum erfüllst du ihm diesen Wunsch nicht?« Eigentlich hätte sich Marion diese Frage sparen können, denn sie kannte Andrea gut genug, um die Antwort zu erraten. Doch sie wollte mit ihr darüber reden.

»Warum«, fuhr Andrea prompt auf, »das weißt du doch ganz genau. Ich müßte die Boutique aufgeben, und das will ich nicht. Der Laden läuft gut. Ich kann pünktlich die Kreditraten bezahlen, und in ein paar Jahren habe ich keine Schulden mehr. Solange wollte ich eben noch warten. Aber Martin versteht das nicht. Er ist der Ansicht, daß sein Verdienst als Schulleiter ausreicht, um das Familieneinkommen zu sichern.«

»Stimmt ja auch«, ergriff Marion die Partei des Ehemannes ihrer Chefin. Sie mochte Martin gern und wünschte sich manchmal, ihr eigener Mann hätte etwas von Martins unbekümmerter Fröhlichkeit.