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   Der KARMAPA Ogyen Trinley Dorje– DAS EDLE HERZ | Die Welt von innen verändern– Aus dem Englischen von Ursula Richard– edition steinrich

www.edition-steinrich.de

Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Heart is Noble. Changing the World from the Inside Out

Textgrundlage dieses eBooks ist die gedruckte Version des gleichnamigen Titels.

Alle Rechte vorbehalten

eBook ISBN 978-3-942085-40-3

eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Vorwort des Dalai Lama

Vorwort der Herausgeberinnen

Einführung der Herausgeberinnen

Unser gemeinsames Fundament

Sinnvoll leben
Alles ist möglich

Gesunde Beziehungen
Sich anderen zuwenden

Geschlechteridentitäten
Es findet alles im Geist statt

Konsumgesellschaft und Gier
Zufriedenheit ist der größte Reichtum

Soziales Handeln
Allen beistehen

Umweltschutz
Neue Gefühle für die Erde entwickeln

Ernährungsgerechtigkeit
Den Teufelskreis von Hunger und Elend durchbrechen

Konfliktbewältigung
Wut ist das Problem

10 Spirituelle Wege
Leben und Spiritualität miteinander verbinden

11 Nachhaltiges Mitgefühl
Uns selbst in Mut und Freude verankern

12 Die Lehren mit Leben erfüllen

Danksagung der Herausgeberinnen

Biografie Seiner Heiligkeit des Karmapa, Ogyen Trinley Dorje

Biografien der Herausgeberinnen und des Übersetzers

THE DALAI LAMA

Vorwort des Dalai Lama

Ich habe die große Freude, das neue Buch des Siebzehnten Karmapa, Ogyen Trinley Dorje, vorzustellen; es ist das Buch eines jungen Mannes, der intensiv studiert und hart gearbeitet hat, um der Verantwortung als Oberhaupt der Kamtsang-Kagyü-Tradition des tibetischen Buddhismus gerecht zu werden.

Ich persönlich unterscheide heutzutage zwischen Menschen, die wie ich sechzig oder siebzig Jahre alt sind und in das 20. Jahrhundert gehören, das nun vorbei ist, und Menschen, die zehn, zwanzig oder dreißig Jahre alt sind; sie werden das 21. Jahrhundert prägen. Die Menschheit hat im 20. Jahrhundert bemerkenswerte Fortschritte erlebt, so zum Beispiel im Bereich der Medizin, der Mobilität und der Kommunikation. Doch dieses Jahrhundert war auch eine Periode von Konflikten und Blutvergießen, wie wir es nie wieder erleben wollen. Wenn die kommenden Jahrzehnte anders aussehen sollen, müssen die jungen Menschen von heute den Frieden in der Welt bewahren, indem sie in sich selbst Frieden schaffen und Probleme im Dialog mit anderen lösen.

Es ermutigt mich, dass das vorliegende Buch aus der Zusammenarbeit des Karmapa Rinpoche mit einer Gruppe junger, intelligenter amerikanischer Studierender entstand. Es ist nicht so sehr eine Darlegung buddhistischer Ansichten, sondern ein gutes Beispiel für den konstruktiven Beitrag, den buddhistische Ideen zu aktuellen Diskussionen liefern können. Rinpoche zeigt wiederholt auf, wie wir unsere wertvollen menschlichen Qualitäten, unser edles Herz, als Quelle positiver Motivation und Aktion nutzen können. Ob es um unsere Gefühle, um die Transformation unseres Geistes oder um den Schutz unserer natürlichen Umwelt geht, immer ist es wichtig, über bloßes Wünschen hinauszugelangen und wirklich etwas zu tun.

Ich bin sicher, dass diejenigen, die dem vorliegenden Buch Beachtung schenken und versuchen, die darin gegebenen Anregungen im eigenen Leben auszuprobieren, nicht nur glücklichere Menschen werden, sondern zu einer glücklicheren und friedlicheren Welt im 21. Jahrhundert beitragen werden.

Tenzin Gyatso, der Vierzehnte Dalai Lama

Tenzin Gyatso, der Vierzehnte Dalai Lama

3. Oktober 2012

Vorwort der Herausgeberinnen

Der spirituelle Lehrer, dessen Worte der Weisheit dieses Buch enthält, ist seinen Schülerinnen und Schülern als »Seine Heiligkeit der Karmapa« bekannt. Im Mai 2011 nahm sich Seine Heiligkeit trotz seines anspruchsvollen Terminkalenders Zeit für eine Reihe von Treffen mit einer Gruppe von sechzehn amerikanischen College-Studierenden, die ihn in seiner Residenz in Indien besuchten. Die Vorträge, die er im Rahmen dieser Treffen hielt, bilden das Fundament des vorliegenden Buches.

Während einer der zweimal wöchentlich stattfindenden öffentlichen Audienzen Seiner Heiligkeit des Karmapa, die in der Versammlungshalle des Gyuto-Klosters in Nordindien stattfanden, konnten die angereisten Studierenden einen ersten, kurzen Eindruck von ihm gewinnen. Der Karmapa ist einer der höchsten Lamas im tibetischen Buddhismus, und viele Menschen waren zu dieser Audienz zusammengekommen. Als sich alle in einer Reihe aufgestellt hatten und dann am Karmapa vorbeischritten, um seinen Segen zu erhalten, fühlten sich die Studierenden von dem gelassenen und zugleich hoheitsvollen Auftreten Seiner Heiligkeit etwas eingeschüchtert. Diese erste Begegnung machte ihnen sehr deutlich, welch außergewöhnliche Gelegenheit sich ihnen bot, Seine Heiligkeit drei Wochen lang in persönlichen Gesprächen und bei Vorträgen zu treffen.

Später am Tag trafen die Studierenden in der Bibliothek Seiner Heiligkeit mit ihm für ein erstes privates Treffen zusammen. Alle blickten sich verstohlen in der weiträumigen, modernen Bibliothek voller tibetischer Texte und Bücher aus der ganzen Welt um. Einer nach dem anderen wurde dem Karmapa vorgestellt, trat an ihn heran und übergab ihm ein Geschenk. Viele davon, wie zum Beispiel Bilder, eine Skulptur, Schokoladentrüffel oder ein Banjo, waren extra für ihn angefertigt worden. Offensichtlich hatten die Studierenden das Bedürfnis verspürt, mit ihren Geschenken auch einen Teil von sich selbst darzubieten, und Seine Heiligkeit nahm ihre Gaben mit aufrichtiger Neugier und einem offenen Herzen entgegen. Als die Gruppe am nächsten Tag die Bibliothek für ihr zweites Treffen mit Seiner Heiligkeit aufsuchte, waren viele der Geschenke bereits in den Bücherregalen rund um den Sitzbereich ausgestellt. Bis dahin vielleicht noch unsicher, was wohl ihr Platz in dieser ungewohnten Umgebung sein würde, wussten die Studierenden jetzt, dass sie hier am Ort Seiner Heiligkeit willkommen waren.

Das Projekt hatte seinen Anfang bereits ein Jahr zuvor genommen, als der Karmapa eine seiner Schülerinnen, die amerikanische Nonne Damchö, autorisiert hatte, Kontakt zu ihrer langjährigen Freundin Karen Derris (Professorin für Religious Studies an der University of Redlands, USA) aufzunehmen, mit dem Ziel, eine Gruppe von Studierenden einzuladen, den Karmapa zu treffen. Mit der begeisterten Unterstützung der University of Redlands, einer geisteswissenschaftlich ausgerichteteten Hochschule in Südkalifornien, begleitete Karen Derris die Gruppe nach Indien. (Damchö und Karen Derris organisierten die Reise und sind die Herausgeberinnen dieses Buches.)

Der Wunsch des Karmapa war es, zum Ausgangspunkt des Projektes nicht etwa die Frage zu machen, was der Buddhismus den amerikanischen Studierenden zu sagen hat, sondern zunächst sie zu fragen, was sie über den Buddhismus erfahren wollten. Damchö und Karen sandten einer großen Anzahl von Karens Studierenden einen informellen Fragebogen zu, um herauszufinden, was diese zuallererst von einem spirituellen Lehrer lernen mochten. Deren Antworten offenbarten ein tiefes Bedürfnis, ihre Anliegen mit einem Lehrer zu erforschen, der neue Perspektiven im Umgang mit der Welt und sich selbst aufzeigen konnte. Die Themen, die daraufhin für die Treffen ausgewählt wurden, entsprachen den Wünschen der Studierenden und bilden die Kapitel des vorliegenden Buches.

Vor der für den Mai geplanten Reise nach Indien verbrachte die Gruppe den Winter damit, ihre Begegnung mit dem Karmapa vorzubereiten. Vom ersten Treffen an versuchte Karen, die Gruppe davor zu warnen, mit zu viel eigenen Erwartungen in dieses Experiment zu gehen. Die Teilnehmenden formulierten gemeinsam das Ziel, anzunehmen, was immer ihnen entgegenkommen würde, denn niemand von ihnen, auch die Professorin nicht, konnte sich wirklich vorstellen, wie die Begegnung mit dem Karmapa in Indien verlaufen würde. Sie verpflichteten sich, offen zu sein für alles, was ihnen angeboten oder was von ihnen gefordert werden würde.

Das Projekt sah auch vor, dass die Studierenden während der Begegnung mit dem Karmapa die passive Rolle des Zuhörens verlassen und aktiv ihre Hoffnungen und Sorgen mit ihm teilen sollten. Zur Gruppe gehörten Aktivistinnen und Aktivisten, die sich mit den Rechten der arbeitenden Bevölkerung, mit dem interreligiösen Dialog bzw. mit dem Thema der Ernährungsgerechtigkeit beschäftigten. In den Begegnungen mit dem Karmapa berichteten sie von ihren Träumen, was sie zum Wohlergehen der Welt beitragen möchten, sowie von ihren persönlichen Erfahrungen. Der Karmapa erkannte ihre Aufrichtigkeit und ihren Wunsch, sich umeinander und um die Welt zu kümmern, an und versicherte ihnen, dass sie nichts anderes als das für eine Begegnung mit ihm bräuchten. Jeder Mensch mit einem offenen Herzen und guten Absichten, so der Karmapa, ist qualifiziert und in der Lage, seine Unterweisungen aufzunehmen und umzusetzen.

Zunächst fühlten sich die Studierenden etwas verunsichert über diese Gelegenheit, doch sie waren auch mutig und abenteuerlustig sowie willens, unterschiedliche Wege des In-der-Welt-Seins auszuprobieren. Sie nahmen Einschränkungen auf sich, um der tibetischen Kultur und den Richtlinien buddhistischer Ethik Respekt zu zollen. Karen hatte bereits während des ersten Treffens verdeutlicht, dass die Teilnahme an der Reise an die Einhaltung der fünf buddhistischen ethischen Richtlinien geknüpft war: nicht zu töten, nicht zu stehlen, nicht zu lügen, kein sexuelles Fehlverhalten auszuüben und keine Drogen zu sich zu nehmen, und das galt für die gesamte Zeit ihres Aufenthalts in Indien. Die Studierenden würden die Bedeutung der ethischen Richtlinien in der konkreten Anwendung auf ihre Erfahrungen verstehen lernen können. Kein Leben zu nehmen würde eine vegetarische Lebensweise beinhalten, wie sie der Karmapa als zentrale ethische Aufgabe propagiert. Nicht zu nehmen, was nicht gegeben ist, würde heißen zu reflektieren, welche und wie viele Ressourcen die Gruppe während ihres Aufenthaltes in dem kleinen Dorf Sidhpur verbrauchen würde. Unwahre Worte zu vermeiden würde zur Richtschnur, achtsam die eigene Kommunikation zu überprüfen; und keinerlei Drogen zu sich zu nehmen würde ihnen helfen, den Geist klar und aufnahmefähig zu halten.

Die Gruppe hielt sich während ihres Aufenthaltes freiwillig an diese Regeln. Später erzählten einige davon, wie ihnen genau dies zu einer vertieften Selbsterfahrung verholfen hatte. Während eines Ausflugs zu einem nahe gelegenen tibetischen Kulturinstitut traf Seine Heiligkeit die Gruppe zum Tee und versicherte den jungen Leuten, ihr Verhalten sei so angemessen, dass man glauben könne, sie seien Mönche und Nonnen.

Inspiriert von den Vorträgen des Karmapa, seiner Großzügigkeit und dem Beistand all jener in seiner Residenz zeigten die Studierenden eine hohe Motivation, an sich zu arbeiten. Oft verbrachten sie zwölf Stunden am Tag in Sitzungen. Sie bereiteten sich auf die Vorträge vor, hörten sie sich an und besprachen danach die geäußerten Ideen und Perspektiven. Obwohl die Tage bereits lang waren, fühlten sie sich oft inspiriert, noch einmal die Argumentationsschritte Seiner Heiligkeit nachzuvollziehen, um die Feinheiten seiner Unterweisungen tiefer zu erforschen. Dies war besonders dann der Fall, wenn der Karmapa radikal andere Paradigmen vorstellte, um die Welt und sich selbst darin zu verstehen. So sprach er davon, dass Gier keine dem Menschen innewohnende Eigenschaft sei oder dass Gewohnheiten eine wichtige Basis für Beziehungen seien.

Am bemerkenswertesten jedoch war nicht das Ausmaß an Zeit, das die Gruppe investierte, sondern der Geist, mit dem sie an ihre Arbeit ging. Als Studierende des Johnston Center for Integrative Studies der University of Redlands übertrugen sie den Geist der Zusammenarbeit und des Lernens durch gemeinsame Erfahrung auf diese interkulturelle Begegnung. Sie waren nicht nur intellektuell wagemutig, sondern auch geübt in konsens-basiertem Lernen. Wenn ein Gruppenmitglied während eines Treffens mit dem Karmapa sprach, drückte er nicht nur seine eigenen Ideen aus, sondern das, was vorher bereits in der Gruppe diskutiert worden war. Auf diese Weise vollzog sich das Lernen nicht als individueller Akt der Aneignung vorhandenen Wissens, sondern als Akt des Beitragens und des Austauschs mit anderen.

Während des gemeinsam verbrachten Monats begegnete Seine Heiligkeit der Karmapa den Studierenden im Geist der Liebe und Freundschaft. Bei einem Treffen bemerkte ein Student, dass der Karmapa und sie zwar Altersgenossen seien, ansonsten wären sie ihm aber in keinster Weise ebenbürtig. Die Weisheit, die Seine Heiligkeit ausstrahlte, hat einen tiefen Eindruck bei der Gruppe hinterlassen, deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer nur wenige Jahre jünger als er waren.

Seine Heiligkeit ist, obwohl noch sehr jung, ein außergewöhnlicher Lehrer. Von tibetischen Buddhisten wird er als jemand gesehen, der sich seit neunhundert Jahren erfolgreich als Karmapa reinkarniert hat. So war er zum Zeitpunkt der Begegnung einerseits erst fünfundzwanzig Jahre, andererseits bereits neunhundert Jahre alt. Mitunter scherzte er darüber gemeinsam mit der Gruppe. In seinen Begegnungen mit den Studierenden verband er diese beiden Identitäten nahtlos. Seine Jugend ermöglichte ihm einen zwanglosen Zugang zu ihnen, seine alterslose Weisheit erlaubte es ihm, sie aus einer unauslotbaren Tiefe zu unterrichten. Seine Erfahrung im Umgang mit der Popkultur, mit dem iPhone und mit Comics überbrückte ihre unterschiedlichen Lebenswelten, die sich in äußerst disparaten Erfahrungen und spirituellen Errungenschaften ausdrückten.

Obwohl Begegnungen mit Seiner Heiligkeit immer ein Maß an respektvollen Umgangsformen erfordern, war ihm stets daran gelegen, dies nicht zu einer Barriere für einen herzlichen und persönlichen Kontakt werden zu lassen. Ngodup Tsering Burkhar erwies sich nicht nur als erfahrener Übersetzer der Worte Seiner Heiligkeit, sondern vermittelte der Gruppe auch den Geist seiner Ideen. Das herzliche und gelöste Zusammenspiel Seiner Heiligkeit mit seinem Übersetzer erleichterte so manche Diskussion um ernste Probleme. Selbst tiefe Erörterungen wurden so immer wieder von Lachen und freundlichen Blicken begleitet. Gleich zu Beginn lud der Karmapa, abweichend vom Protokoll, zu einem Mittagessen ein, bei dem er sich mit der studentischen Gruppe an einen Tisch setzte, während die Lehrer und Übersetzer an einem anderen Tisch Platz nahmen. Auf informelle und herzliche Weise unterhielt er sich privat mit ihnen, erfuhr etwas über ihre Familien und auch darüber, warum ein Student Rastalocken trug.

Am letzten Abend nahmen alle ein weiteres gemeinsames Mahl ein. Die Studierenden drückten ihre tiefe Dankbarkeit aus und überreichten Seiner Heiligkeit Gedichte und Lieder, darunter ein Lied mit dem Titel »Let the Moon be the Holder of My Love«, das von zwei Mitgliedern der Gruppe komponiert und von einem Vortrag des Karmapa über »Gesunde Beziehungen« (siehe Kapitel 3) inspiriert worden war. Der Chant-Meister Seiner Heiligkeit hatte mit fünf Studierenden zuvor ein heiliges Lied des großen tibetischen Yogi Milarepa einstudiert. Vor dem Karmapa sitzend, sangen sie dieses Lied auf Tibetisch, eine Melodie intonierend, die der Karmapa selbst komponiert hatte. Nach wenigen Takten stimmte Seine Heiligkeit mit ein.

Bemerkung: Der Titel »Seine Heiligkeit« ist vielleicht im Zusammenhang mit dem am meisten verehrten buddhistischen Lehrer, Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama, bekannter. Als Ausdruck der Hochachtung von vielen Millionen Anhängerinnen und Anhängern weltweit ist dieser Titel jedoch auch für den Karmapa gebräuchlich.

Einführung der Herausgeberinnen

Auf der ganzen Welt sorgen sich Menschen um den Zustand der Erde und wünschen sich Veränderung, doch sie wissen nicht, wie sie Einfluss nehmen könnten und wo sie beginnen sollten. In diesem Buch bringt uns Seine Heiligkeit der Karmapa eine mitfühlendere Welt nahe, die wir durch eigene Bemühungen erreichen können. Sehr wohl anerkennend, dass diese Aufgabe gewaltig ist, hält Seine Heiligkeit daran fest, dass wir mit der grundlegenden Nobilität des menschlichen Herzens bereits über alles Notwendige verfügen, um diese Welt zu schaffen.

Seine Heiligkeit widmet sich im vorliegenden Buch den vorrangigen zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit und verweist auf die uns allen zur Verfügung stehenden emotionalen Ressourcen, diese Herausforderungen anzugehen. Er ermahnt uns, entschlossen die menschliche Güte zum Fundament unseres Wirkens für eine Veränderung der Welt zu machen. Sehr bewusst, dass Hindernisse unseren Zugang zur inneren Güte blockieren können, beschreibt der Karmapa, wie wir sie beiseite räumen können. Seine Sicht fordert von uns, unser Selbstverständnis zu überdenken, wer wir sind und wozu wir wahrhaft imstande sind. Seine Vision davon, wie wir diese Welt verändern können, ist einfach und tiefgründig zugleich. Sie macht uns Mut, einen Weg zu beschreiten, der überaus herausfordernd und doch realisierbar ist.

Der aus dieser Haltung sprechende Optimismus basiert auf der Realität der wechselseitigen Abhängigkeit aller Individuen, Gemeinschaften, sozialen System und der natürlichen Umwelt. In den vergangenen Jahrzehnten ist ein stärkeres Bewusstsein von den zahllosen, subtilen Verbindungen entstanden, die es auch zwischen entfernt voneinander stattfindenden Phänomenen in der Welt gibt: Globale Erwärmung, internationale Arbeitsmigration und globalisierte Märkte zeigen uns täglich, wie eng verbunden die physischen und sozialen Welten inzwischen sind, in denen wir uns bewegen. Obwohl die Realität der wechselseitigen Abhängigkeit inzwischen in vielen öffentlichen Diskursen gesehen wird, steht die Betrachtung ihrer ethischen und praktischen Aspekte erst am Anfang. Seine Heiligkeit der Karmapa hat hierzu Wichtiges beizutragen und bezieht sich dabei auf eine seit mehr als zweitausend Jahren gepflegte buddhistische Denktradition, die das Prinzip der wechselseitigen Abhängigkeit auf soziale und ethische Fragestellungen anwendet. Im vorliegenden Buch nutzt er dieses Prinzip als ein produktives Paradigma, um die Frage zu erörtern, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und wie wir alle zu der Welt, in der wir leben, beitragen können.

Wechselseitige Abhängigkeit bedeutet, dass die Unterstützung anderer unabdingbar für unser aller Überleben ist. Diese Wahrheit kann überall beobachtet werden: Sie wird erfahren bei jeder Mahlzeit, die wir zu uns nehmen, denn jede Mahlzeit wurde von vielen möglich gemacht – von anderen Menschen, Tieren und von der natürlichen Umwelt. Seine Heiligkeit der Karmapa demonstriert die Realität wechselseitiger Abhängigkeit in verschiedenen Kontexten. Er beschreibt ihr Wirken in den Bereichen Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit, bei der Suche nach Konfliktlösungen, aber auch im Ringen um gesunde Beziehungen und bei der Frage nach Geschlechteridentitäten. So deckt er die emotionalen, ethischen und praktischen Folgen dieses Prinzips in unserem Leben und Handeln in der Welt auf. Ein Bewusstsein unserer wechselseitigen Abhängigkeit kann Gefühle wie Dankbarkeit, empathische Liebe und Mitgefühl vertiefen. Der Karmapa erläutert, dass aus ethischer Sicht die Tatsache, dass wir so viel von anderen erhalten, die Verantwortung mit sich bringt, der Erde und den Lebewesen, die sie mit uns teilen, etwas zurückzugeben. Unsere wechselseitige Abhängigkeit hat weitreichende praktische Konsequenzen. Weil wir von anderen abhängig sind, sollten wir, um unser eigenes Glück sicher zu stellen, uns um das Wohlergehen anderer kümmern.

Diese Perspektive eröffnet einen neuen Blick auf die Welt und schafft eine Ausgangsbasis für ein verändertes Wirken in ihr. Der Karmapa ruft zum Handeln auf, doch ist dies kein Aufruf zu dramatischen Gesten oder vordergründigem Aktivismus. Er zeigt, wie wir unsere wechselseitige Abhängigkeit mit Weisheit nutzen können. Indem wir unser Handeln von einem edlen Herzen leiten lassen, können auch scheinbar kleine Dinge eine große Wirkung entfalten. Unser ganz normales Leben kann außerordentlich wirksam sein, wenn wir uns bei all unserem Tun von mitfühlenden Absichten leiten lassen.

In diesem Sinne verweist Seine Heiligkeit der Karmapa darauf, dass auch im täglichen Leben Platz für Heldenhaftigkeit ist. Wenn wir lernen, gute Absichten in uns zu kultivieren, können wir jegliche Bedingungen, die wir vorfinden, zum Ausgangspunkt unserer heroischen und edlen Bemühungen machen. Dieser Perspektivgewinn erlaubt uns, Erfolg am Glück zu messen, das wir uns und anderen bereiten. Für ein sinnvolles Leben braucht es nicht mehr, als jetzt bereits vorhanden ist.

Auch wenn der Karmapa uns dazu aufruft, die Welt, in der wir leben wollen, selbst zu gestalten, erinnert er uns immer wieder daran, dass wir mit den »Aufräumarbeiten« zuerst bei uns beginnen müssen. Er führt die realen Probleme der Welt – die ausufernde Konsumwelt, religiöse Intoleranz, Hunger und die Ausbeutung der Umwelt – auf destruktive Emotionen und gewohnheitsmäßiges Verhalten wie Gier, Hass und Egoismus zurück. Auf diese Weise zeigt er auf, dass jegliche soziale Veränderung eine individuelle Veränderung einschließt.

Vielleicht greifen einige von uns zu diesem Buch, weil sie erfahren wollen, wie die Welt verändert werden kann, doch im Verlauf der Lektüre wird deutlich, dass die Veränderung in uns selbst beginnen muss – bei unseren Einstellungen, Erwartungen und emotionalen Reaktionsmustern. Auch wenn der Karmapa unseren Wunsch bekräftigt, für ein Wohlergehen aller zu arbeiten, verweist er doch immer wieder darauf, die Lösung nicht nur in einer Orientierung im Außen zu suchen. Wollen wir positiv in der Welt wirken, müssen wir zunächst willens sein, uns selbst zu betrachten.

Es mag verblüffend für uns sein, uns so zu sehen, wie der Karmapa uns sieht – als nicht von Natur aus gierig und aggressiv, sondern ausgestattet mit einer uns innewohnenden Güte, die unseren Blicken durch das verborgen sein mag, was sie vielleicht verdeckt. Wenn wir zu ahnen beginnen, was uns der Karmapa zeigen möchte, erscheint das Projekt, das er uns nahe legt, zwar immer noch äußerst herausfordernd, doch machbar und jeder Mühe wert. Vielleicht verspüren wir Angst vor den verborgenen Regungen unseres Herzens, doch wenn wir tief genug schauen, werden wir die nötige Zuversicht gewinnen, den Weg zurück zu unserem edlen Herzen zu finden. Und dies wird der Ausgangspunkt unseres Handelns werden.

Diese Betrachtungen der menschlichen Natur, der Realität wechselseitiger Abhängigkeit und der Kraft auf Mitgefühl gründender Intentionen bei der Veränderung der Welt, sind alle durch gemeinsame Erfahrungen entwickelt worden. Seine Heiligkeit der Karmapa hat ausdrücklich erklärt, dass er sich dafür entschieden hat, seine Ausführungen auf Erfahrung gründen zu lassen und nicht auf Philosophie, damit wir uns auf dem Fundament treffen können, das wir alle teilen – das Fundament unserer geteilten menschlichen Erfahrungen und unserer gemeinsamen Sorge um die Welt. Er vermeidet weitestgehend buddhistische Begriffe, denn sein Ziel ist es nicht, buddhistische Lehren zu vermitteln, sondern mit anderen zu teilen, was ihm selbst half, die Welt und sein Leben darin zu verstehen.

Das vorliegende Buch entstand aus einer Reihe von Treffen mit amerikanischen College-Studierenden. Der Karmapa nahm zu ihnen über kulturelle, sprachliche und soziale Grenzen hinweg Kontakt auf, ebenso, wie er es zu den Leserinnen und Lesern dieses Buches tut.

Es ist sein Anliegen, den Geist der Freundschaft in uns zu fördern, damit wir uns dem Ideal einer globalen Gemeinschaft annähern. Freundschaft ist ein Ausdruck realer wechselseitiger Abhängigkeit; sie zeigt, dass unser Beitrag jeweils ein anderer sein mag, doch ein jeder wertvoll ist. Und wie es unter guten Freundinnen und Freunden üblich ist, ermutigt uns der Karmapa zur Veränderung unseres Denkens und Handelns, doch er fordert nicht, dass wir anders sein sollten, als wir sind.

Dieses Buch ist eine Einladung des Karmapa an alle, an einer gemeinsamen Zukunft zu arbeiten. Es bietet Denk- und Handlungsansätze, wie wir zu unserem edlen Herzen zurückfinden und zugleich unsere unterschiedlichen Lebensstile leben können. Jede und jeder ist aufgerufen, diese Ansätze in das eigene Leben zu integrieren. In diesem gemeinsamen Projekt, die Welt von innen heraus zu verändern, ist Platz für jeden. Wir alle sind eingeladen, daran mitzuwirken, so wie wir sind, mit unseren eigenen Hoffnungen für eine bessere Welt.

Unser gemeinsames Fundament

In jedem von uns schlägt ein edles Herz. Dieses Herz ist die Ursache unserer besten Bestrebungen, mögen diese uns selbst oder anderen gelten. Es verleiht uns die Kraft und den Mut, unseren Hoffnungen nachzugehen. Mag unser Edelmut auch manchmal verdeckt von kleinlichen Gedanken oder blockiert durch verwirrte und verwirrende Gefühle sein, unser edles Herz schlägt trotzdem weiter in uns, bereit sich zu öffnen und der Welt dargeboten zu werden. Unser Ziel – das Ziel dieses Buches – ist es, dieses edle Herz in uns zu entdecken und uns mit ihm zu verbinden, sodass es zum Ausgangspunkt all unseres Tuns und Fühlens wird. Wenn wir alle Blockierungen überwinden, kann dieses Herz die Welt verändern.

Obwohl ich ein buddhistischer Mönch bin, ist dies kein Buch über buddhistische Theorie und Praxis, sondern über unsere Erfahrungen als menschliche Wesen. Was uns eint, ist unsere Sorge um unser Leben und unsere Erde. Auf diesem gemeinsamen Fundament können wir uns als Freundinnen und Freunde treffen. Ich habe buddhistische Philosophie und Religion studiert; daher werde ich mich mitunter buddhistischer Begriffe bedienen. Ich tue dies nur, weil diese Begriffe hilfreich für mich waren und weil ich hoffe, Sie können auch Ihnen sinnvolle Perspektiven eröffnen. Bitte erachten Sie meine Ausführungen nicht als autoritative Darlegung der buddhistischen Schriften. Ich spreche hier aus meiner eigenen Erfahrung.

Ich bin nun fünfundzwanzig Jahre alt. In sehr jungen Jahren wurde ich als der siebzehnte Karmapa entdeckt, und mir ist sehr bewusst, dass ich die neunhundertjährige Reinkarnationsgeschichte der vorhergehenden sechzehn Karmapas weitertrage. Doch ich betrachte mich selbst nicht als »der Karmapa«, sondern als menschliches Wesen. Ich bin einfach ein Mensch mit besonderer Verantwortung und mit speziellen Möglichkeiten. Ich mag eine besondere Rolle einnehmen, weil ich den Namen »Karmapa« trage und seine Position einnehme, doch wir alle tragen Verantwortung, je nachdem, welche Rolle uns von der Welt zugewiesen wurde.

Obwohl ich ausführliche Unterweisungen erhielt, um meinen Pflichten als Karmapa nachzukommen, erfuhr ich meine erste spirituelle Bildung durch meine Eltern. Dies gilt wohl für uns alle. Meine Mutter kann zwar nicht lesen, doch sie ist eine aufrichtige, herzliche und liebevolle Frau. Mutter und Vater waren meine ersten spirituellen Lehrer. Unsere Eltern bringen uns auf die Welt und erziehen uns. Egal, woher wir kommen, Eltern oder andere Bezugspersonen haben sich um uns gekümmert, als wir klein waren. Diese Erfahrung ist uns allen gemeinsam.

Und wir teilen gemeinsam einen Planeten. Wir leben auf ihm miteinander von Geburt an. Sie und ich, wir wurden bislang einander nicht vorgestellt. Durch dieses Buch können wir einander kennenlernen. Ich verfolge damit ausschließlich das Ziel, Ihnen meine Anliegen darzulegen. Sollten Sie feststellen, dass wir viele Erfahrungen und Bestrebungen miteinander teilen, ist das Ziel des Buches bereits erreicht.

Auf unserem Lebensweg erfahren wir viele Veränderungen. Direkt vor unseren Augen spielt sich ein Prozess unermesslichen materiellen Fortschritts ab. Wir haben, beginnend in der Kindheit, alle die Erfahrung körperlichen Wachstums gemacht, und auch wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, entwickeln wir uns kontinuierlich weiter. Diese körperliche Entwicklung sollte mit geistiger Entwicklung einhergehen. Mit äußerem Wachstum sollten auch unsere Weisheit und unsere Fähigkeit wachsen, zu unterscheiden, was gut und was schädlich für uns ist. So, wie wir die Blüte unserer körperlichen Jugend wahrnehmen, können wir auch das innere Erblühen unseres Herzens und unseres Geistes erfahren. Diese jugendliche Kraft können wir der Welt darbieten, so wie wir später unsere zur Reife gelangte Weisheit verkörpern.

Wir können ein Leben lang viel voneinander lernen. Immer wieder bin ich vom aufrechten Streben anderer Menschen tief berührt worden und habe viel von ihnen gelernt.

Ich erhoffe viel für die Welt, aber ich versuche, keine Erwartungen zu hegen. Unabhängig davon, ob ich meine Bestrebungen erfüllen kann oder nicht, wünsche ich mir, dass sie mich und mein Handeln in der Welt formen. Das bloße Fokussieren auf das Erreichen bestimmter Ziele kann uns zu sehr an diesen Zielen anhaften lassen. Unsere Träume müssen sich nicht unbedingt erfüllen, damit wir glücklich sein können. Das Nähren von Hoffnungen als solches ist sinnvoll. Auf eine Erfüllung der Hoffnungen hinzuarbeiten bedeutet einen Wert an sich, unabhängig vom Ergebnis. Wenn wir uns nicht mehr so sehr an Ergebnissen orientieren, wächst der Mut, unserem Streben für die Welt zu folgen. So finden wir unser edles Herz.

Bis heute teilen wir diese Erde miteinander, ohne ein Bewusstsein davon entwickelt zu haben. Doch jetzt können wir unsere Hoffnungen für unser gemeinsames Zuhause teilen. Wir können gemeinsame Bestrebungen für uns und für einander entwickeln. Das ist alles – mehr braucht es nicht. Uns über unsere Hoffnungen und Bestrebungen, über unsere Erfahrungen auszutauschen kann uns auf einer grundsätzlichen menschlichen Ebene zueinander führen. Das vermag uns Glück zu schenken.

Sinnvoll leben

Alles ist möglich

Wenn Sie davon träumen, was das Leben alles für Sie bereithalten könnte, sollten Sie wissen, dass alles möglich ist. Vielleicht sehen und empfinden Sie es nicht immer so, aber die Möglichkeit, den Kurs zu ändern, steht Ihnen in jedem Moment offen. Ihr Leben verändert sich ständig. Veränderung ist die einzige Konstante Ihrer Existenz. Die Person, die Sie heute sind, ist nicht die gleiche wie die, die Sie in zehn, fünf oder auch nur einem Jahr sein werden. Ihre Lebensbedingungen ändern sich ständig, Sie reagieren darauf, und dies formt wiederum Sie. In diesem Prozess verfügen Sie nicht nur über unbeschränkte Freiheit, sich selbst zu formen, Sie verändern auch die Welt.

Die Frage ist, wie Sie mit diesen unbeschränkten Möglichkeiten, die die Grundlage Ihres Lebens bilden, umgehen. Wie können Sie ein sinnvolles Leben inmitten einer sich ständig verändernden Welt führen?

Buddhistisches Denken widmet sich in besonderer Weise genau diesen Fragen. Die Vorstellung, dass das Leben ein Raum unbegrenzter Möglichkeiten ist, wird in den Konzepten von »wechselseitiger Abhängigkeit« und »Leerheit« entfaltet. Der Begriff der Leerheit suggeriert möglicherweise die Vorstellung von Nichts oder Leere, doch tatsächlich soll er uns daran erinnern, dass nichts in einem Vakuum existiert. Alles ist eingebettet in einen Kontext – in ein komplexes Geflecht von Bedingungen. Und diese Bedingungen sowie dieser Kontext ändern sich ständig. Wenn wir davon sprechen, dass die Dinge »leer« sind, meinen wir damit, dass sie keine außerhalb dieser sich verändernden Kontexte unabhängige Existenz haben. Da in diesem Sinne alles leer ist, ist auch alles in der Lage, sich ständig neu anzupassen. Auch wir besitzen diese grundlegende Flexibilität, uns an alles anzupassen bzw. uns zu verändern und alles zu werden.

Leerheit sollte also nicht mit »Nichts« verwechselt werden; im Gegenteil: Leerheit ist voller Potential, voller Wirkkraft. Richtig verstanden, kann das Konzept der Leerheit eher unseren Optimismus als unseren Pessimismus nähren, denn es erinnert uns an unsere grenzenlosen Möglichkeiten und an unsere Gestaltungsspielräume in der Welt.

Wechselseitige Abhängigkeit und Leerheit zeigen uns, dass es keine festgelegten Vorbedingungen für Veränderung gibt. Wir können mit nichts beginnen. Was immer wir haben, wo immer wie sind – das ist genau der richtige Ort, um zu beginnen. Viele Menschen meinen, es fehle ihnen etwas, Macht oder Geld, um ihre Träume zu leben. Doch jeder Zeitpunkt ist der richtige, um an den eigenen Träumen zu arbeiten. Diese Perspektive eröffnet uns die Leerheit. Wir können bei Null anfangen.

Leerheit kann tatsächlich mit dem Konzept und der Funktion von Null verglichen werden. Null mag wie Nichts erscheinen, doch wir wissen, alles fängt bei null an. Ohne die Null würden unsere Computer zusammenbrechen. Ohne die Null könnten wir nicht beginnen zu zählen, es gäbe keine Eins und auch keine Unendlichkeit. In diesem Sinne kann sich alles und jedes aus der Leerheit manifestieren.

Alles kann entstehen, weil nirgendwo festgelegt ist, wie Dinge sein müssen. Jede Manifestation hängt von den Bedingungen ab, die in diesem Moment zusammenkommen. Doch »alles ist möglich« bedeutet nicht, dass das Leben zufällig oder willkürlich wäre. Wir können alles möglich machen, doch nur, indem wir die notwendigen Bedingungen dafür schaffen. An dieser Stelle verbinden sich die Konzepte von Leerheit und wechselseitiger Abhängigkeit.

Jeder Mensch, jeder Ort und jedes Ding ist in seiner Existenz vollständig abhängig von anderen – sowohl von anderen Menschen als auch von anderen Dingen. Zum Beispiel sind wir gerade jetzt lebendig, weil wir uns der notwendigen Bedingungen für unser Überleben erfreuen. Dazu gehören die zahllosen Mahlzeiten, die wir in unserem Leben bereits eingenommen haben, aber auch die Sonne, die auf die Erde scheint, und die Wolken, die den Regen bringen, sodass das Getreide gedeiht. Bestimmte Menschen kümmern sich um das Getreide, ernten es und bringen es zum Markt. Andere bereiten daraus ein Mahl für uns. Dieser Prozess verbindet uns, weil er ständige Wiederholungen erfährt, mit immer mehr Menschen auf der Welt, mit immer mehr Sonnenstrahlen und Regentropfen.

Letztlich sind wir mit nichts und niemandem auf dieser Welt nicht verbunden. Dies beschreibend, prägte der Buddha den Begriff der wechselseitigen Abhängigkeit oder des abhängigen Entstehens. Sie ist die Natur menschlichen Lebens, aller Dinge und Situationen. Wir sind alle miteinander verbunden und zugleich die Bedingung für die Existenz anderer.

Unter all den Bedingungen, die uns beeinflussen, sind die Entscheidungen, die wir treffen, und die Schritte, die wir unternehmen, besonders wichtig: Sie tragen maßgeblich zu den Folgen unseres Handelns bei. Handeln wir konstruktiv, so entsteht etwas Konstruktives. Handeln wir jedoch destruktiv, werden die Ergebnisse destruktiv und leidbringend sein. Alles ist möglich, doch wir müssen bedenken, dass alles, was wir tun, zählt und weit über uns persönlich hinausreicht. In einer Welt der wechselseitigen Abhängigkeit zu leben hat daher ganz bestimmte Konsequenzen für uns. Es bedeutet, unser Handeln hat Auswirkungen auf andere und dies macht uns füreinander verantwortlich.

In dieser Wirklichkeit leben

Wechselseitige Abhängigkeit und Leerheit mögen abstrakt erscheinen, aber sie sind keine abstrakten Prinzipien, sondern sind sehr konkret und haben eine direkte Bedeutung, wenn wir darüber nachdenken, wie es uns gelingen kann, ein sinnvolles Leben zu leben.

Wechselseitige Abhängigkeit ist überall am Werk, wo unser Leben erhalten wird. Geschieht dies etwa nur durch unsere eigene Anstrengung? Stellt jeder seine eigenen Ressourcen selbst her oder kommen sie von anderen? Wenn Sie darüber nachdenken, erkennen Sie sofort, dass Sie Ihre Existenz anderen verdanken. Die Kleidung, die Sie tragen, und die Nahrungsmittel, die Sie verzehren, sie alle werden von anderen Menschen produziert. Die Bücher, die Sie lesen, die Autos, mit denen Sie fahren, die Filme, die Sie sich ansehen, und die Werkzeuge, die Sie benutzen: Nichts von alldem hat jemand allein und nur für sich hergestellt. Wir alle hängen ab von äußeren Bedingungen, und sei es die Luft, die wir atmen. Unsere Existenz in dieser Welt ist etwas, das vollständig durch andere ermöglicht wurde.

Wechselseitige Abhängigkeit bedeutet, dass wir ständig mit der Welt um uns interagieren. Diese Interaktion findet beiderseitig statt, sie ist ein gegenseitiger Austausch. Wir nehmen und geben. So, wie unsere Präsenz auf diesem Planeten durch viele Faktoren ermöglicht wurde, beeinflussen wir im Gegenzug andere Menschen, Gemeinschaften und den Planeten selbst.

Während der letzten hundert Jahre haben wir Menschen äußerst gefährliche Fertigkeiten entwickelt. Wir haben Maschinen konstruiert, die mit ungeheurer Kraft ausgestattet sind. Mit der heute verfügbaren Technologie könnten wir alle Bäume auf der Erde fällen. Doch täten wir das, würde das Leben nicht wie bisher weitergehen können, es sei denn, ohne Bäume. Aufgrund unserer grundlegenden wechselseitigen Abhängigkeit würden wir alle die Konsequenzen eines solchen Handelns sehr schnell spüren. Ohne Bäume hätte die Atmosphäre nicht mehr genügend Sauerstoff, um das menschliche Leben weiter zu erhalten.

Was hat dies alles mit unserem täglichen Leben und unseren Entscheidungen zu tun, mögen Sie sich vielleicht fragen? Ganz einfach: Wir alle müssen unsere wechselseitige Abhängigkeit bedenken, denn sie beeinflusst unser Leben direkt und grundlegend. Um ein glückliches Leben führen zu können, müssen wir uns um die Quellen dieses Glücks kümmern.

Unsere Umwelt und die Menschen, mit der wir sie teilen, sind die wichtigsten Quellen unserer Nahrung und unseres Wohlergehens. Um unser eigenes Glück zu ermöglichen, müssen wir das Glück anderer respektieren und uns darum kümmern. Diesen Zusammenhang können wir einfach erkennen: Nur wenn wir die Menschen, die unsere Nahrung herstellen, gut behandeln und ihre Bedürfnisse beachten, können wir vernünftigerweise davon ausgehen, dass sie alle Last auf sich nehmen, um uns mit gesunden und schmackhaften Nahrungsmitteln zu versorgen.

Wenn wir andere respektieren und uns für ihr Wachstum, ihr Gedeihen interessieren, werden wir selbst gedeihen. Auch die Wirtschaft weist diesen Zusammenhang auf: Wenn Kunden mehr Geld haben, laufen die Geschäfte besser. Wenn wir sowohl persönliches als auch gesellschaftliches Wachstum anstreben, reicht es nicht aus, das offenkundige Wirken wechselseitiger Abhängigkeit in der Welt zur Kenntnis zu nehmen. Wir müssen uns ihrer Konsequenzen bewusst werden und die Bedingungen unseres Wohlergehens reflektieren. Wo kommen unser Sauerstoff, unsere Nahrung und all die Güter, die wir konsumieren, her und wie werden sie produziert? Sind die Quellen dieser Produktion nachhaltig?

Sich mit der Wirklichkeit verbinden

Wenn Sie Ihre Lebenswirklichkeit aus der Perspektive von Leerheit und wechselseitiger Abhängigkeit betrachten, kann daraus eine veränderte Sicht auf Ihr Leben erwachsen. Meine Hoffnung ist, dass diese Veränderung Ihnen ganz praktisch helfen kann. Indem Sie ein neues Verständnis davon entwickeln, welche Kräfte in Ihrem Leben wirken, können Sie erste Schritte unternehmen, eine positive Beziehung zu ihnen zu entwickeln. Es ist nicht meine Absicht, ein angstbesetztes Bild von der Realität zu zeichnen. Ich habe festgestellt, dass einige