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Die Juden fordern Zeichen,

die Griechen suchen Weisheit.

1. Korinther 1,22; EÜ

 

Ich erwarte noch eine Ausgießung des Heiligen Geistes.
Diese muss kommen, wenn es

mit unserer Christenheit anders werden soll.

Ich spüre es, so ärmlich darf’s nicht fortgehen.

Johann Christoph Blumhardt

Inhalt

Inhalt

Einleitung

Teil 1: Die Theorie

Will Gott heilen?

Wie Jesus mit Krankheit umging

Rettung – ein ganzheitlicher Begriff

Steht uns Heilung zu?

Was Gott kann und will

Krankheit und Heilung in der Bibel

Wunder im Alten Testament

Krankheit im Alten Testament

Heilungen im Neuen Testament

Heilung bei den Kirchenvätern

Der Montanismus

Irenäus von Lyon

Origenes

Die Kappadokier

Augustinus

Von der Krankensalbung zur Letzten Ölung

Skepsis gegenüber Heilung von der Reformation bis zur Neuzeit

Die Reformatoren

Der Dispensationalismus

Rudolf Bultmann (1884–1976) und die moderne Theologie

Bekannte Heilungsprediger in der Neuzeit

Johann Christoph Blumhardt (1805–1880)

John Alexander Dowie (1847–1907)

Smith Wigglesworth (1859–1947)

Hermann Zaiss (1889–1958)

Kenneth Hagin (1917–2003)

Medizin und Glaube

Glaube vs. Medizin

Medizin vs. Glaube

Göttliche Heilung und medizinische Forschung

Ist es überhaupt möglich, ein Wunder festzustellen?

Ganzheitlich gesund

Ursachen von Krankheit

Systemische Heilung

Teil 2: Die Praxis

Grundsätzliche Fragen

Kann Jesus wirklich unser Vorbild sein?

Können alle Christen für Kranke beten?

Es ist ein langer Weg

Für Kranke beten

Ein Kurs schreibt Geschichte

Kranken begegnen

Der juristische Rahmen

10 Heilung – die Wichtigkeit einer ausgewogenen Theologie

Glaube

Gottes Reich

Barmherzigkeit

11 Mit Krankheit leben

Krankheit als Segen Gottes?

Krankheit und Vertrauen

Nachwort

Dank

Literatur

Anmerkungen

Einleitung

Wer ein Sachbuch schreibt, muss drei Fragen beantworten: „Warum ist das Thema wichtig, über das ich schreibe? Was ist das Besondere an meinem Buch? Was erwartet denjenigen, der das Buch liest?“

Die erste Frage ist leicht zu beantworten. Heilung ist ein Thema, das jeden interessiert. In Ländern, in denen man damit rechnen kann, eines natürlichen Todes zu sterben, wird dieser meist von einer Krankheit verursacht. Trotz einer guten medizinischen Versorgung ist der Tod nicht abgeschafft. Jede Generation hofft, dass der medizinische Fortschritt in ihrer Zeit die großen Krankheiten besiegen wird.

Am 21. Dezember 1898 entdeckten Marie und Pierre Curie ein neues chemisches Element: das Radium. Die Entdeckung versprach, die Welt für immer zu verändern, und löste eine regelrechte Radiumeuphorie aus. 1910 schrieb Everard Hustler:

Es besteht aber gar kein Zweifel darüber, dass wir zu der Annahme berechtigt sind, die Zukunft werde dem Radium ein Zeitalter völliger Krankheitslosigkeit danken. Noch seltsamer als alle diese Wunderkuren muss uns die sichere Aussicht erscheinen, dass auch das Alter künftighin seinen Einfluss auf unseren Organismus verlieren und dass es kein Altern mehr geben wird. Die kommenden Geschlechter werden ewig junge Menschen hervorbringen, Menschen voll physischer Kraft und voll Schönheit, Menschen, die vom Kranksein nichts wissen und alle Berichte über Krankheiten und Seuchen als seltsame Märchen einer fernen, fernen, vergessenen Welt betrachten werden.1

Sicher hat sich in den hundert Jahren, die seit dem Aufsatz vergangen sind, einiges geändert. „Der Würger der Menschheit“, wie Hustler die Tuberkulose nannte, ist tatsächlich besiegt oder mindestens heilbar – allerdings nicht durch Radium. Dafür gibt es Krankheiten, von denen die Utopisten des letzten Jahrhunderts nicht einmal geträumt haben – wie zum Beispiel AIDS, das in Afrika extrem verbreitet ist. Die große Hoffnung unserer Zeit heißt „Stammzellenforschung“. „Das Backrezept für Unsterblichkeit“2 titelte Die Zeit, als 2012 John Gurdon und Shinya Yamanaka den Nobelpreis für Medizin bekamen. Sie hatten eine Möglichkeit gefunden, die Lebensuhr von Zellen auf null zurückzusetzten. Die Hoffnung besteht also bis in unsere Zeit hinein.

Der Tod ist ein Feind, den die Menschheit seit frühester Zeit zu besiegen versucht. Laut Paulus ist er der letzte Feind, der besiegt wird (1. Korinther 15,26) – es ist wohl nicht damit zu rechnen, dass wir diesen Sieg noch erleben werden. Überdies ist es unwahrscheinlich, dass er dabei an medizinischen Fortschritt dachte. Solange es Krankheiten und Tod gibt, werden sich Menschen dafür interessieren, sie zu besiegen. Moderne Staaten geben unvorstellbar viel Geld für Forschung und medizinische Versorgung aus. Kaum ein anderes Thema beansprucht die öffentliche Aufmerksamkeit mehr als Gesundheit. Bei allen Fortschritten sind wir allerdings weder glücklicher noch gesünder geworden. Wir können Symptome bekämpfen, sodass es uns leichter fällt, mit manchen Krankheiten zu leben. Dafür leiden wir zunehmend unter Zivilisationskrankheiten, die sich immer weiter ausbreiten. Viele dieser Krankheiten haben seelische Ursachen, Stress und Depressionen sind auf dem Vormarsch. In diesem Klima gedeiht nicht nur die Schulmedizin; auch alternative Ansätze bis hin zu schamloser Scharlatanerie erfreuen sich immer größerer Beliebtheit.

Die Verknüpfung von Glaube und Wissenschaft wird in diesem Zusammenhang immer eingehender untersucht. Die Zahl wissenschaftlicher Studien und Metastudien3 geht bereits in die Tausende. Esoterische Gruppen aller Art werben mit Heilsversprechen und Wunderheiler öffnen ihre Praxen. „Was auch immer die Deutschen von Gott und den Heiligen halten mögen, in einer Umfrage 2006 erklärten 56 Prozent, an Wunder zu glauben – unabhängig von Konfession, Alter, Bildungsgrad. Die Zahl der hierzulande praktizierenden Wunderheiler wird auf 7000 geschätzt, die ihrer […] Patienten auf bis zu elf Millionen.“4 Esoterische Zeitschriften widmen dem Thema ganze Ausgaben, in denen es um Auren, Alchemie, Magnetismus oder Pendeln geht. An einem einzigen Wochenende kann man in einem Kurs lernen, Krebs zu heilen.5 Diesen Entwicklungen muss das Christentum etwas Fundiertes entgegensetzen. Daher ist es Zeit, dass wir uns auf unsere Wurzeln besinnen und den Reichtum der christlichen Tradition gerade im Bereich der Heilung entdecken. Auch wir haben eine Alternative oder Ergänzung zur Medizin anzubieten.

Die Zeiten haben sich gewandelt. Noch 1941 schrieb Rudolf Bultmann: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testamentes glauben.“6 Heute geht der Trend in Deutschland zumindest teilweise in die Gegenrichtung: Christen nehmen die Bibel wieder ernster und entdecken in ihren Heilungsgeschichten neu einen Auftrag Gottes. Heilung ist wieder ein Thema für Kirchen und Gemeinden geworden. Wie kann man einen Erlöser predigen, der sich nur um das Seelenheil kümmert, nicht aber um das Wohlbefinden der Menschen hier auf der Erde? Tatsächlich hat die Bibel viel darüber zu sagen.

Das ist die Antwort auf die erste Frage. Heilung ist wichtig, weil sich jeder Mensch nach Gesundheit sehnt und irgendwann Heilung braucht: für seinen Körper, seine Seele, seine Beziehungen, sein Leben.

Zur zweiten Frage: „Was ist das Besondere an diesem Buch?“ Normalerweise orientieren sich christliche Sachbücher an den Erfahrungen ihres Autors und bleiben in einem bestimmten theologischen Umfeld. Die schiere Masse der Bücher (ich habe allein zweieinhalb Regalmeter gedruckter Heilungsbücher, zuzüglich einer ganzen Menge Computerdateien) deckt natürlich irgendwann die meisten Ansichten ab. Leider hat bisher kaum ein Buch versucht, verschiedene Theologien unter einen Hut zu bringen. So argumentieren einige Autoren, dass Heilungen, zusammen mit allem übernatürlichen Wirken Gottes, der Vergangenheit angehören. Sie setzen den Schwerpunkt auf Trost in Krankheit. Andere Bücher sind reine Anleitungen dazu, Gottes Heilung zu empfangen. Wieder andere Bücher beschäftigen sich damit, gesund zu leben, einige sind charismatisch, andere evangelikal.

Meiner Meinung nach ergeben die scharfen Abgrenzungen der einzelnen Systeme immer weniger Sinn. Gläubige versuchen auf unterschiedliche Weisen aufrichtig, Jesus nachzufolgen. Dabei kommen sie zu den unterschiedlichsten Schlüssen, oft in verschiedenen Lebensphasen. Gott ist zu groß, um sich auf ein System beschränken zu lassen. Es gibt überall etwas zu lernen.

Es existieren kaum christliche Bücher, die sich mit den generellen Einwänden gegen Heilungsgebet beschäftigen. Das bedeutet, dass wir einen großen Teil der Diskussion einfach ausblenden. Dabei ist die Geschichte voller großer Namen, die übernatürliche Heilung generell infrage stellten. Die Liste reicht von Celsus, der im zweiten Jahrhundert Jesus Taschenspielertricks vorwarf, bis zu Richard Dawkins, der in unseren Tagen Religion generell als Geisteskrankheit ansieht. Oft kann man auch aus dem lernen, was die Kritiker sagen. In jedem Fall ist es sinnvoll, sich mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen und sie zu prüfen.

Dieses Buch versucht, das Thema Heilung auf verschiedenen Ebenen anzugehen. Es argumentiert biblisch, setzt sich mit Kritik auseinander und schätzt Theologien, die helfen, im Leid nicht zu verzagen.

Was erwartet jemanden, der dieses Buch liest? Es ist sicher eine Möglichkeit, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Bücher können Fenster zu anderen Welten sein, die uns helfen, die Wirklichkeit aus anderen Blickwinkeln zu sehen. In diesem Sinne hoffe ich, dass für jeden Leser und jede Leserin einige neue Erkenntnisse dabei sind.

Allerdings ist nicht zu erwarten, dass jede Frage beantwortet wird. Bei manchen Themen hängt die Messlatte höher als bei anderen. Da Gesundheit ein essenzielles Bedürfnis ist, hängt sie hier ungewöhnlich hoch. Viele Leser werden Lebensfragen mitbringen, bei einigen mag es sogar um Leben oder Tod gehen. Deshalb will ich gleich zu Beginn bekennen, dass ich weit davon entfernt bin, alles über Heilung zu wissen. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren damit und habe alles in diesem Buch gründlich recherchiert. Dennoch bleiben auch bei mir selbst Fragen offen.

Alle Erkenntnis ist Stückwerk, sodass niemand alles weiß oder auch nur wissen könnte. Nicht einmal Jesus wusste alles: „Von jenem Tag aber und jener Stunde weiß niemand, auch nicht die Engel in den Himmeln, auch nicht der Sohn, sondern der Vater allein“ (Matthäus 24,36).

Ich würde jedem ernstlich misstrauen, der meint, alles über ein Thema zu wissen. Vermutlich fehlen mir nicht nur einige Antworten, sondern ich habe nicht einmal alle Fragen. Was ich habe, ist ein Diskussionsbeitrag. Im Laufe der letzten Jahre habe ich selbst viele solcher Beiträge gelesen und gehört, die mich auf irgendeine Weise weitergebracht haben. Oft hatten die Autoren ganz unterschiedliche Blickwinkel, aber jeder hat mich in einem bestimmten Bereich geformt, herausgefordert oder ermutigt.

In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern und Leserinnen Gottes Segen beim Lesen dieses Buches.

Remscheid, Mai 2013

Teil 1

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Die Theorie

1 Will Gott heilen?

Nicht viele Menschen in Deutschland werden ein Buch über göttliche Heilung lesen. Und nicht jeder, der überhaupt noch an den christlichen Gott glaubt, denkt an ihn als Heiler oder rechnet mit seiner Hilfe in schwierigen Lebensphasen. Aber auch unter gläubigen Christen wird die Frage, ob Gott heilen will, kontrovers diskutiert.

Manche sagen, dass es Heilungen nur in einer bestimmten Zeit gegeben hat (bis zur Apostelgeschichte) und dass heute keine mehr stattfinden. Andere glauben, dass Gott Menschen Krankheiten zu ihrem Besten schickt. Nur ein Teil glaubt, dass Gott auch heute noch heilt. Aber auch hier gibt es wieder unterschiedliche Ansichten: Als jemand, der ein Buch über göttliche Heilung schreibt, befinde ich mich in dieser Gruppe; ich glaube, dass Gott auch heute noch heilt.

Diese Erkenntnis wurde mir nicht in die Wiege gelegt. Ich bin mit etwa achtzehn Jahren im Umfeld einer sehr konservativen Gemeinde zum Glauben gekommen. In dieser Zeit wurden mir erste Ansichten über das Übernatürliche vermittelt. Ich hörte, dass Krankheit eine Erziehungsmethode Gottes sei, die unseren Charakter stählt. Man zitierte gerne C. S. Lewis: „Schmerz ist Gottes Megaphon, eine taube Welt aufzuwecken.“7 Das Gute im Christentum wurde immer weiter in die Zukunft verschoben, in den Himmel. Glaube war eine Kopfsache, etwas, das rational begründbar, aber nicht emotional ist. Eher eine Philosophie, in der es maßgeblich darum geht, die wichtigsten Grundsätze abzunicken und so in den Himmel zu kommen. Das kam zwar meiner Persönlichkeit entgegen, konnte mich aber nie ganz befriedigen. Natürlich glaubte man, dass Gott heilen könnte (schließlich ist er allmächtig), aber er wollte wohl nur selten. Meistens plante er etwas anderes mit Kranken.

Von diesem Ausgangspunkt her musste einiges geschehen, bis ich in diesem entscheidenden Punkt eine grundlegend andere Überzeugung gewann. Der Auslöser war wie so oft die Erfahrung, die Theorie kam erst danach.

Letztlich waren die Gemeinde und das christliche Umfeld für mich der Tod. Es gab viele Regeln und wenig Liebe. So lange man noch ein unbekehrter Sünder war, zeigte Gott sich von seiner besten Seite. Er wurde aber ganz schnell zum knickerigen Erbsenzähler, wenn man sein Kind war. So gab es Regel über Regel. Ich durfte kein Bier mehr trinken, keine langen Haare haben, kiffen sowieso nicht, auch keinen Punk mehr hören, keine schwarzen Klamotten tragen usw. In diesem Umfeld habe ich nicht lange durchgehalten, mit Jesus zu leben. Drei wilde und schlimme Jahre später bekehrte ich mich wieder. Diesmal landete ich bei Jugend mit einer Mission und hatte eine starke Erfahrung mit dem Heiligen Geist. Als ich wieder aufstand, war ich langfristig frei von Drogen und lernte eine völlig neue Dimension Gottes kennen.

Jetzt kannte ich einen liebenden Gott, der mich erst mal so annahm, wie ich war. Er überschüttete mich mit seiner Liebe, egal, was ich tat. Das begeisterte mich. Ich lernte Geistesgaben kennen, betete in Sprachen, verstand die Bibel und durfte Menschen zum Glauben führen. Ich war der glücklichste junge Christ, den man sich vorstellen kann (zumindest meistens – es gab noch vieles, was Gott verändern musste).

Als ich wieder zu Hause war, erlebte ich zusammen mit einigen Freunden die ersten Heilungen. Dabei steckte hinter unserem Ansatz, für Kranke zu beten, eigentlich keine Theologie. Es stand in der Bibel, also glaubten wir daran und taten es – und es funktionierte gar nicht schlecht. Irgendwann in dieser Zeit drehte sich etwas in meinem Denken. Ich wusste auf irgendeiner Ebene meines Bewusstseins, dass Gott nur gut ist. Ich wusste einfach, dass er seinen Kindern nichts Schlechtes will. Ich hätte das nicht formulieren oder theologisch begründen können, es war einfach eine Begeisterung für die Güte des Vaters, die alles andere in den Schatten stellte.

Seitdem kann ich mir nicht mehr vorstellen, zu einem Kranken oder Leidenden zu kommen und Gott zu fragen: „Willst du ihm helfen?“ Die bloße Vorstellung, dass mein Vater im Himmel einem Menschen nicht das Beste geben will, fühlt sich für mich wie Gotteslästerung an. Ich weiß, dass ich weiß, dass ich weiß, dass Gott Liebe ist und jeden Menschen segnen will – nicht nur ein paar Glückspilze!

Erst lange Zeit später, im November 2004, begann ich, mich systematisch mit Heilung zu beschäftigen. Ich war in einem Gottesdienst, der mir nur sehr mäßig gefiel, und hatte auf einmal einen klaren Eindruck. Es war fast, als hätte ich eine Stimme gehört: „Hinter dem Eingang rechts ist ein Buchladen, links ein Regal, unten ein Schuber mit sechs Heilungspredigten. Die kaufst du.“ Ich fand alles so wie angekündigt und kaufte die Kassetten.

Die Predigten haben mich nicht weitergebracht, aber sie haben einen Hunger in mir geweckt, der mich bis heute antreibt. Auf einmal war mir eines klar: Es geht nicht darum, hin und wieder eine Heilung zu erleben oder jemanden zum Glauben zu führen; es geht darum, in diesen Dingen zu leben und den Himmel auf die Erde zu ziehen.

Ich fing also an, das Thema Heilung zu studieren, und stellte fest, dass sie zum Leben der Christen dazugehört. Jesus heilte Menschen, die Apostel heilten Menschen und auch später in der Kirchengeschichte breiteten Gläubige Gottes Reich durch übernatürliche Zeichen aus. Die weiteren Teile dieses Kapitels beschäftigen sich im Detail mit biblischen Argumenten für Heilung, einigen Kernstellen aus dem Neuen Testament und der Frage nach dem Charakter Gottes.

Das einfachstes Argument klang bereits an. Es ist 1. Johannes 4,8: „Gott ist Liebe“. Aus dieser einfachen Erkenntnis erschließt sich die ganze Bibel. Weil Gott Liebe ist, will er das Beste für jeden Menschen. In Bezug auf Heilung kann ich mir keinen liebenden Vater im Himmel vorstellen, der nicht will, dass es jedem seiner Kinder gut geht. Diese einfache Erkenntnis zieht sich auch durch die Heilungen Jesu hindurch. Da er die Quelle christlicher Theologie ist, sollten wir uns genauer ansehen, wie er mit Krankheit und Heilung umging.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Wie Jesus mit Krankheit umging

Jesus Christus ist in allem unser Vorbild. In Hebräer 1,3 heißt es, dass Jesus das Abbild von Gottes Wesen ist. Sehr klar übersetzt die Neue Genfer: „Er ist das vollkommene Abbild von Gottes Herrlichkeit, der unverfälschte Ausdruck seines Wesens.“

Es bestand kein wesensmäßiger Unterschied zwischen ihm und Gott, als er hier auf der Erde war.8 Deshalb konnte Jesus im Gespräch mit seinem Jünger Philippus sagen: „Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen“ (Johannes 14,9). Alles, was wir Jesus in den Evangelien tun sehen, ist der Wille des Vaters. Jesus hat in keinem Fall etwas getan, was nicht Gottes Willen entsprochen hätte. Also sollten wir uns den Dienst Jesu anschauen, wie er in den vier Evangelien überliefert ist. Bill Johnson drückt dieses Prinzip schön aus: „Jesus Christus ist vollkommene Theologie.“9 Besonders vier Punkte sind in diesem Zusammenhang interessant, weil sie seine Einstellung gegenüber Heilung skizzieren und wie er mit Krankheit umging.

1) Jesus hatte eine positive Einstellung zu Heilung

Zu Jesu Zeiten war manches einfacher als heute. Die Welt wird immer komplexer, diese Komplexität zeigt sich auch dort, wo sie am wenigsten hingehört, im Leben mit Gott. Seine Gebote werden relativiert, seine Zusagen auf die ferne Zukunft verschoben und mit seiner Kraft wird immer seltener gerechnet. Wo die Bibel noch die Regel betont, interessieren sich viele mehr für die Ausnahme. Jesus jedoch scheint die Welt als simples Schwarz-Weiß gesehen zu haben. Es gab Gott und den Teufel; der eine war gut, der andere böse. Dem einen musste man gehorchen, dem anderen widerstehen. Das Wesen des Feindes und seinen eigenen Auftrag brachte er auf eine ganz einfache Formel: „Der Dieb kommt nur, um zu stehlen und zu schlachten und zu verderben. Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es in Überfluss haben“ (Johannes 10,10).

Es gibt nichts Gutes, das der Feind getan hat. Er kann gar nichts Gutes tun, das widerspräche seinem Wesen. Wenn es nur zwei Kategorien gäbe, Dinge einzuordnen, gut oder schlecht, dann würde der gesunde Menschenverstand Heilung immer als etwas Gutes bezeichnen und Krankheit als etwas Böses. Anders ist es unvorstellbar. Krankheit ist ein Dieb, der einem Gesundheit, Geld, Zeit und schließlich das Leben raubt – das ist das Gegenteil von dem, was Jesus in unserem Leben tun will.

Heute gibt es Theologien, die den Schluss nahelegen, dass Gott und der Teufel irgendwann während der letzten 2000 Jahre die Jobs getauscht haben. Man hört immer wieder, dass Gott Menschen krank macht, um etwas Gutes in ihrem Leben zu wirken, und der Teufel Menschen heilt!10 Beides könnte kaum weiter von der Wahrheit entfernt sein. Nach wie vor kommt alles, was gut und vollkommen ist, von Gott (Jakobus 1,17) – dazu zählen keine Krankheiten und auch kein vorzeitiger Tod. Es ist niemals Gottes Wille, wenn Menschen leiden. Jesus setzte der Krankheit Heilung entgegen. Aus seinen Taten wird unmittelbar deutlich, dass er Heilung für etwas Gutes hielt. Er stellte nie das Leiden positiv dar, sondern immer die Heilung.

Wenn Gläubige heute jedoch eine positive Einstellung zur Krankheit haben, liegt die bedeutendste Wurzel dieses Denkens vermutlich in der missverstandenen Allmacht (siehe auch Seite 36ff.). Dieses Denken kann allerdings fatale Folgen haben – im wörtlichen Sinne. Wer denkt, dass er im Willen Gottes lebt, wenn er krank ist, wird nichts gegen Krankheit tun und Heilungsgebet ablehnen. Jesus hatte eine andere Haltung, er sah Krankheit als einen Feind an, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Resignation und Schicksalsergebenheit sind keine christlichen Tugenden.

2) Jesus machte niemanden krank

„Herr, unser Gott, wir befehlen dir unseren lieben Kranken. Sorge du für ihn, der du Liebe bist, auch wenn du ihm Schweres schickst. Lindere die Schmerzen, nimm die Krankheit bald von ihm. Lass dieses Leid dazu dienen, dass wir einander mehr lieben und füreinander dankbarer werden. Amen.“11

Was wir beten, sagt oft mehr über unsere Theologie aus als das, was wir sagen. Es geschieht immer wieder, dass ich mir beim Beten zuhöre und überrascht bin über das, was da aus meinem Mund kommt. In diesem Gebet aus dem Evangelischen Kirchengesangbuch ist die theologische Aussage, dass die Krankheit von Gott kommt.12 Er hat „Schweres geschickt“ und kann es entweder „lindern“ oder fortnehmen. Solche Aussagen orientieren sich mehr am Alten Testament als am Vorbild Jesu. In Momenten der Trauer oder des Leides wird immer wieder mit Hiob 1,21 gebetet: „Der HERR hat gegeben, und der HERR hat genommen, der Name des HERRN sei gepriesen!“13

Natürlich ist es wichtig, Trost in Krankheit zu bieten und eine Möglichkeit zu finden, den Glauben zu bewahren, wenn Krankheiten nicht geheilt werden.14 Gott die Schuld zu geben, weist aber in die falsche Richtung, denn so wird sein Charakter in Misskredit gebracht. Solange niemand eine Bibelstelle vorweisen kann, in der Jesus einen gesunden Menschen krank gemacht hat, ist davon auszugehen, dass Gott es auch nicht tut. Für Jesus war der Schlüssel zum Verständnis von Krankheiten das Böse als Quelle. Petrus fasst seine Heilungstheologie in einem einfachen Vers zusammen. Er spricht mit Kornelius über „Jesus von Nazareth, wie Gott ihn mit Heiligem Geist und mit Kraft gesalbt hat, der umherging und wohltat und alle heilte, die von dem Teufel überwältigt waren; denn Gott war mit ihm“ (Apostelgeschichte 10,38).

Das bedeutet nicht, dass jeder Kranke, den Jesus heilte, „besessen“ war, sondern dass nicht Gott der Urheber von Krankheit ist, sondern der Teufel.

Neutestamentliche Gegenbeispiele

Offensichtlich ist das aber nur die halbe Wahrheit, denn es gibt auch im Neuen Testament einige Stellen, die von Krankheit sprechen, die Gott schickt. Ganz so einfach ist die Sache also nicht. Wer ehrlich Theologie betreibt, muss immer wieder zugeben, dass die Bibel komplexer ist als jede Theorie. Karl Barth meinte, die zutreffendste Aussage über Gott wäre: „Gott ist Gott.“ Alles Weitere beschreibe ihn menschlich und kategorisiere ihn. Er ist aber immer größer als unsere Kategorien und neigt dazu, aus unseren Schubladen einfach wieder hinauszusteigen.

König Herodes

Nach einer Rede ließ Herodes sich als Gott verehren, statt dem wahren Gott die Ehre zu geben. „Sogleich aber schlug ihn ein Engel des Herrn, dafür, dass er nicht Gott die Ehre gab; und von Würmern zerfressen, verschied er“ (Apostelgeschichte 12,23).

Eusebius von Cäsarea beschreibt in seiner Kirchengeschichte sein Ende noch detaillierter:15

Die Krankheit des Herodes wurde immer heftiger; denn Gott bestrafte ihn für seine Verbrechen. Langsam zehrendes Fieber machte seine große Hitze denen, welche ihn berührten, nicht so bemerkbar, wie es im Inneren fraß. Schrecklich war seine Gier, etwas zu genießen, und nicht konnte er ihr widerstehen. Seine Eingeweide eiterten, und besonders schmerzten ihn die Gedärme. Eine flüssige, schleimige Masse war um seine Füße, und eine ähnliche Krankheit zeigte sich um seinen Unterleib. Seine Geschlechtsteile faulten und erzeugten Würmer. Zu atmen war ihm nur in aufrechter Stellung möglich, und es wurde ihm beschwerlich durch den widerlichen Geruch und die wiederholten Beklemmungen. Alle Glieder wurden krampfhaft gespannt und verliehen ihm unwiderstehliche Kraft. Gottbegnadete Männer, welche die Gabe hatten, derartige Erscheinungen zu deuten, erklärten, Gott nähme an dem König für seine vielen Gottlosigkeiten Rache.16

Versteht man die Stelle wie Eusebius so, dass Gott an Herodes Rache nahm, bleibt es noch immer dabei, dass Gott seine Kinder nicht krankmacht. Es wäre aber sehr wohl möglich, dass er seinen Feinden etwas auferlegt. Auch die nächste Stelle zeigt, dass Krankheit für Gott eine Möglichkeit sein kann, seine Macht unter Beweis zu stellen.

Der Zauberer Elymas

Doch der Zauberer Elymas (so lautet der griechische Name von Barjesus) stellte sich gegen sie und versuchte den Statthalter vom Glauben an Jesus Christus abzuhalten. Saulus, der damals bereits unter dem Namen Paulus bekannt war, sah dem Zauberer fest in die Augen, und erfüllt vom Heiligen Geist sagte er:„Du Sohn des Teufels! Du steckst voller List und Bosheit und bist der Feind aller Gerechtigkeit. Wirst du denn nie aufhören, die geraden Wege des Herrn zu verdrehen? Jetzt wird der Herr dich strafen und dich für eine Weile mit Blindheit schlagen.“ Im gleichen Augenblick kam eine tiefe Finsternis über den Zauberer, und er begann umherzustolpern und jemanden zu suchen, der ihn an die Hand nahm und führte (Apostelgeschichte 13,8-11; NLB).

Paulus benutzte seine göttliche Autorität dazu, diesen Zauberer vorübergehend blind zu machen. Wenn Gott der Herr über den Körper des Menschen ist, dann ist es logisch, dass so etwas geht. Es ist die einzige Stelle, in der ein Apostel einen Menschen krank machte. Hier zeigt sich, dass mit Gottes Kraft auch eine Verantwortung einhergeht. Wer eine solche Kraft hat, braucht einen Charakter, der ihm hilft, sie weise zum Guten einzusetzen.17

Die Verführerin Isebel

Aber ich habe eines gegen dich einzuwenden: Du lässt zu, dass diese Frau – Isebel, die sich eine Prophetin nennt – meine Diener vom richtigen Weg abbringt. Sie verführt sie dazu, Götzen anzubeten, von dem Fleisch der Götzenopfer zu essen und Unzucht zu treiben. Ich habe ihr Zeit zur Buße gegeben, aber sie will ihr unzüchtiges Verhalten nicht aufgeben. Deshalb werde ich sie aufs Krankenbett werfen, und alle, die mit ihr Unzucht getrieben haben, werden leiden, wenn sie sich nicht von den bösen Taten dieser Frau abwenden (Offenbarung 2,20-22; NLB).

Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass diese Stelle (nur) prophetisch ist. Die Sendschreiben der Offenbarung wurden an Gemeinden geschrieben, die es zur damaligen Zeit gab; sie beschreiben Situationen, in denen sich diese Gemeinden befanden. Irrlehre war in die Gemeinde in Thyatira eingedrungen. Wir können nur darüber spekulieren, um welche Irrlehre es sich handelte. Der Text macht keine klaren Aussagen darüber.18

Die Lehre scheint von einer Frau ausgegangen zu sein und könnte sexuelle Elemente gehabt haben. Das ist aber nicht sicher, weil das Bild von Unzucht auch geistlich benutzt wird. Es ist unwahrscheinlich, dass die Frau wirklich Isebel hieß, wahrscheinlicher ist es, dass Johannes hier auf die Isebel des Alten Testamentes anspielt (1. Könige 18-21 und 2. Könige 9). Als falsche Prophetin verführte sie an der Seite König Ahabs das Volk zum Abfall und zur Anbetung fremder Götter. Sie steht für eine gefährliche Ausgrenzung des Heiligen Geistes, denn sie ließ die Propheten töten.

Wie in der vorangegangenen Stelle ist es ein erklärter Feind des Evangeliums, der auf sein Krankenlager geworfen wird. Hier geht es um den Schutz der Gemeinde. Gott ist im Neuen Testament nicht weniger um seine Gemeinde besorgt, als er es im Alten Testament um sein Volk war.

Hananias und Saphira

Auch ein Mann mit Namen Hananias verkaufte mit seiner Frau Saphira etwas von seinem Besitz. Er brachte mit Wissen seiner Frau den Aposteln einen Teil des Geldes, behauptete aber, es sei der gesamte Erlös.

Da sagte Petrus: „Hananias, warum hat Satan Besitz von deinem Herzen ergriffen? Du hast den Heiligen Geist belogen und einen Teil des Geldes für dich behalten. Es war dein Besitz, den du nach Belieben verkaufen oder behalten konntest. Und auch nachdem du ihn verkauft hattest, durftest du mit dem Geld machen, was du wolltest. Warum hast du das getan? Du hast nicht uns belogen, sondern Gott.“

Als Hananias diese Worte hörte, fiel er um und war tot. Jeder, der von der Geschichte erfuhr, war entsetzt.

Schließlich kamen einige junge Männer, wickelten Hananias in ein Tuch, trugen ihn hinaus und begruben ihn. Etwa drei Stunden später kam seine Frau. Sie wusste noch nicht, was geschehen war.

Petrus fragte sie: „War das der Preis, den dein Mann und du bei dem Verkauf erzielt habt?“

„Ja“, erwiderte sie, „das war der Preis.“

Da sagte Petrus: „Wie konntet ihr beide nur auf einen solchen Gedanken kommen, den Geist des Herrn auf die Probe zu stellen? Gleich vor der Tür stehen die jungen Männer, die gerade deinen Mann begraben haben; sie werden auch dich hinaustragen.“

Augenblicklich stürzte auch sie zu Boden und starb. Als die jungen Männer hereinkamen und sahen, dass sie tot war, trugen sie sie hinaus und begruben sie neben ihrem Mann. Furcht überkam die gesamte Gemeinde und auch alle anderen, die davon erfuhren (Apostelgeschichte 5,1-11; NLB).

Die Geschichte von Hananias und Saphira wirft einige Fragen auf. Zunächst einmal sind sie nicht gestorben, weil sie ihren Acker verkauft hatten, ohne das Geld der Gemeinde zu geben.19 Es gab kein Gesetz, dass man keinen Privatbesitz haben durfte. Auch wenn es die allgemeine Praxis der Christen war, Besitz zu verkaufen, geschah das freiwillig. Petrus macht darauf aufmerksam, dass die beiden mit ihrem Acker und ihrem Geld hätten machen können, was sie wollten. Theologien, die gegen Privatbesitz sprechen, legen diese Stelle manchmal so aus, als gehöre aller Besitz der Gemeinde. Das ist aber in keiner Weise durch den Zusammenhang gestützt.

Am schwersten wiegt die Frage, wieso eine kleine Unregelmäßigkeit gleich zum Tode führte. Heute findet man in der Gemeinde Christen, die lügen, betrügen und die Ehe brechen. Schärfer formuliert lautet die Frage: Warum hat Gott das Paar wegen einer so „geringen“ Sünde wie einer Lüge getötet? Werner de Boor sieht den Schlüssel in Vers 4: „Du hast nicht uns belogen, sondern Gott!“ Er sieht ein direktes Gerichtshandeln und fragt rhetorisch: „Wollen wir – mit manchem Ausleger! – angesichts dieses Tatbestandes das Gericht Gottes noch zu ‚hart‘ nennen?“20 Allerdings muss man die Frage stellen, ob es tatsächlich Gott war, der Hananias und Saphira getötet hat.

Lukas beschreibt zwar die Geschichte, nennt aber nicht die Ursache. Es muss kein Gottesurteil21 gewesen sein, sondern kann durchaus eine natürliche Ursache gehabt haben. William Barclay schreibt:

Wir brauchen keineswegs ein Wunder daraus zu machen. Dieses Ereignis macht jedoch ganz deutlich, welche Stimmung in der ersten Gemeinde herrschte. (…) Aus dieser Geschichte ersehen wir zweierlei über die erste Gemeinde: Es geht deutlich aus ihr hervor, in welchem Zustand der Erwartung und höchsten Aufregung sich die Menschen damals befanden. Außerdem zeigt sie uns, welche ungewöhnliche Achtung und Ehrerbietung den Aposteln entgegengebracht wurde. In einer dermaßen aufgeheizten Atmosphäre hatten dann die Worte und der Tadel des Petrus die oben geschilderte Wirkung.22

Es ist schwer, sich zwischen beiden Positionen zu entscheiden, zumal Lukas vermutlich selbst ein Gottesurteil annahm. Da sie aber konsistenter mit Gottes Charakter erscheint, würde ich die natürliche Erklärung in diesem Falle vorziehen.

Es gibt also einige Stellen im Neuen Testament, die Gott als Urheber von Krankheit zumindest nahelegen. Dabei geht es allerdings deutlich um ein Gerichtshandeln, nicht um eine Erziehungsmaßnahme gegenüber Gläubigen.

3) Jesus schickte niemanden als unheilbar fort

Auch Jesus heilte nicht jeden. Obwohl er offensichtlich die Kraft zu heilen hatte und diese auch an seine Nachfolger weitergab (Lukas 10,1-20), gab es in Israel noch Kranke. An der schönen Pforte des Tempels lag ein Gelähmter (Apostelgeschichte 3,2). Jesus muss für eine Weile jeden Tag an ihm vorbeigegangen sein, als er zum Beten ging (Matthäus 26,55). Warum heilte Jesus diesen nicht? Er wird wohl kaum weniger krank gewesen sein als andere Gelähmte.

Sehen wir uns in diesem Zusammenhang eine Geschichte in Johannes 5,1-15 an. Jesus war in Betesda, einer Teichanlage mit fünf Säulenhallen, in denen viele Kranke lagen. Es wird sich dabei nicht um ein Krankenhaus gehandelt haben, in dem Kranke behandelt wurden, sondern eher um einen Aufenthaltsort für Behinderte.23 Betesda hatte eine Besonderheit: Gelegentlich geriet das Wasser des zentralen Teiches in Bewegung. Wenn das geschah, wurde der erste, der hineinsprang, geheilt. Spätere Textvarianten des Neuen Testamentes erklären das seltsame Phänomen: „Denn ein Engel des Herrn stieg zu bestimmter Zeit in den Teich herab und bewegte das Wasser; wer nun nach der Bewegung des Wassers zuerst hineinstieg, wurde gesund, mit welcher Krankheit er auch behaftet war“ (Johannes 5,4).

In dieser Anlage traf Jesus einen Mann, der bereits achtunddreißig Jahre krank war. Seine Geschichte war tragisch. Weil er niemanden hatte, der ihm half, sprang immer ein anderer vor ihm hinein, wenn das Wasser des Teiches bewegt wurde.

Bei dieser Begebenheit ging die Initiative von Jesus aus – er kam auf den Mann zu und heilte ihn. Meistens war es allerdings umgekehrt: Die Kranken hatten von seinem Ruf als Heiler gehört und kamen zu ihm. In diesen Fällen schickte Jesus keinen als unheilbar wieder nach Hause. Keine Krankheit war so schlimm und keine Geschichte so traurig, dass der Sohn Gottes nicht zu helfen vermochte!

Trotzdem heilte Jesus von all den Kranken, die an diesem Tag in den Säulenhallen lagen, nur diesen einen. Ich frage mich immer, was mit den anderen war. Offensichtlich wartete jeder von ihnen auf ein Wunder, aber als die Gelegenheit zum Greifen nahe war, kamen sie nicht zu Jesus, um geheilt zu werden. Ich vermute, dass jeder die Chance hatte, an diesem Tag Heilung zu empfangen. Warum standen sie nicht Schlange bei ihm?

Der blinde Bartimäus war da anders (Markus 10,46-52). Als er hörte, dass Jesus an ihm vorbeiging, fing er so laut an zu schreien, dass er die Menge, in der er sich befand, störte. Er ließ die Gelegenheit nicht verstreichen, sondern wurde aktiv, um Jesus auf sich aufmerksam zu machen.

In den Evangelien heilte Jesus tatsächlich jeden Kranken, der zu ihm kam. Dieses Prinzip ist auch heute noch wichtig. Erlösungsbedürftigkeit zieht zwar einen Erlöser an, aber es gibt keinen Automatismus. Entscheidend ist, die eigene Bedürftigkeit zu erkennen und Gott zu suchen. Es ist falsch zu denken, dass Gott schon weiß und heilen wird, wenn er es für richtig hält.

Unter den Geschichten, die von Jesus überliefert sind, gibt es nur eine, in der er sich zunächst weigert, eine Heilung zu vollbringen. Auch diese hat jedoch ein Happy End – es lohnt sich aber, sie genauer anzusehen.

Sofort kam eine Frau zu ihm, deren kleine Tochter von einem bösen Geist besessen war. Sie hatte von Jesus gehört, und nun kam sie, warf sich ihm zu Füßen und bat ihn inständig, ihr Kind von dem Dämon zu befreien. Da sie eine Griechin war, die aus Syrophönizien stammte, sagte Jesus zu ihr: „Ich muss zuerst meiner eigenen Familie, den Juden, helfen. Es ist nicht recht, den Kindern das Essen wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen.“

Sie erwiderte: „Das ist wahr, Herr, aber selbst den Hunden unter dem Tisch gibt man die Krümel von den Tellern der Kinder.“

„Damit hast du recht!“, sagte er. „Nun geh nach Hause. Der böse Geist ist aus deiner Tochter ausgefahren.“

Und als die Frau nach Hause kam, lag ihre kleine Tochter ruhig im Bett, und der Dämon war fort (Markus 7,25-30; NLB).

Jesus half der Frau nicht sofort, obwohl sie ihn darum bat. Letztlich stimmten die Beharrlichkeit und Demut der Mutter ihn aber um. Warum weigerte sich Jesus überhaupt, das Kind zu heilen? Matthäus 15,24 wirft ein Licht darauf. Dort sagt Jesus: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.“ Offenbar verstand er seinen Auftrag exklusiv an Juden, weswegen es den Evangelienschreibern wichtig war klarzustellen, dass die Frau eine Griechin war.24 Dass er die Tochter dennoch heilt weist darauf hin, das sich der Auftrag Jesu auf die ganze Welt erstreckt. Das wird aber erst in der Apostelgeschichte ganz klar: Das Heil kommt von den Juden, es bleibt aber nicht bei ihnen. Es ist für die ganze Welt, und jeder kann es bekommen. Der irdische Dienst Jesu war noch auf Israel beschränkt, aber in der Zeit des Heiligen Geistes geht es um das neue Israel, die Gemeinde.

Es ist mehr als ein interessanter Nebenaspekt, dass Heilung hier als „das Brot der Kinder“ bezeichnet wird. Gott versorgt seine Kinder damit. Somit bezieht sich der Satz „Unser tägliches Brot gib uns heute“ im Vaterunser nicht nur auf die tägliche Speise. Heilung ist Teil von Gottes Versorgung.

4) Jesus ging es ums Prinzip, nicht um die Methodik

Heilung läuft in der Bibel nicht nach Schema F ab. Im Gegenteil sind es gerade die einmaligen Methoden, die das Übernatürliche dominieren. Nur Elia wurde von Raben versorgt (1. Könige 17,1-8). Nur Naaman wurde durch Untertauchen im Jordan geheilt (2. Könige 5). Nur die Gefäße der Witwe wurden mit Öl gefüllt (2. Könige 4,1-7). Es scheint in unserer Natur zu liegen, aus solchen Zeugnissen ein allgemeines Prinzip ableiten zu wollen. Manchmal kann das gefährlich sein, wie das Beispiel eines Mannes zeigt, der versuchte, die Mündung des Komo in Gabun zu Fuß zu überqueren. Er wollte dasselbe tun wie Jesus, ertrank aber dabei.25

Natürlich ist es richtig, sich nach dem Vorbild Jesu zu richten, aber er hinterließ uns keine Methode, sondern seinen Geist (Johannes 16,7). Die Arten, wie Jesus Kranke heilte, unterscheiden sich teilweise gravierend voneinander. Bei den meisten wissen wir nicht einmal, was er getan hat. Matthäus fügt immer wieder „Jesus heilte alle“ ein (Matthäus 4,24; 8,16; 9,35; 12,15). Dabei lässt er uns aber völlig darüber im Dunkeln, wie Jesus es getan hat. Johannes merkt an, dass Jesus mehr Wunder tat, als aufgeschrieben wurden; sogar mehr als man hätte aufschreiben können (Johannes 21,25). Doch bereits die Heilungen, von denen wir in den Evangelien lesen, sind sehr unterschiedlich.26 Manchmal trieb Jesus einen bösen Geist aus, wie bei einem Jungen, der wahrscheinlich an Epilepsie27 litt (Matthäus 17,14-18). Einem Taubstummen steckte er die Finger in die Ohren (Markus 7,31-37), einem Blinden schmierte er Erdbrei auf die Augen (Johannes 9). Manche Aussätzige berührte er und sprach ihnen Heilung zu (Matthäus 8,1-4). Andere schickte er einfach zu den Priestern, um eine Heilung bestätigen zu lassen, die noch gar nicht eingetreten war (Lukas 17,11-14). Den toten Lazarus rief er aus dem Grab (Johannes 11), die tote Tochter des Jairus berührt er (Lukas 8,54). Bei manchen Kranken, wie etwa der blutflüssigen Frau, tat er gar nichts – es ging einfach eine Kraft von ihm aus (Lukas 8,43-48).

Ähnlich war es bei seinen Nachfolgern in der Apostelgeschichte. Teilweise heilte der Schatten des Petrus (Apostelgeschichte 5,15) oder die Leibwäsche des Paulus (Apostelgeschichte 19,11-12). Manchmal mussten Kranke aber auch angesprochen und auf ihre Füße gestellt werden (Apostelgeschichte 3). Der einzige Schlüssel zur „Methodik der Heilung“ ist die Abhängigkeit von Gott.

Da antwortete Jesus und sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich selbst tun, außer was er den Vater tun sieht; denn was der tut, das tut ebenso auch der Sohn. Denn der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er selbst tut; und er wird ihm größere Werke als diese zeigen, damit ihr euch wundert (Johannes 5,19-20).

Im engeren Zusammenhang geht es hier noch um die Heilung des Gelähmten am Teich Bethesda. Die Pharisäer stellten Jesus zur Rede, weil das Wunder an einem Sabbat geschah. Darauf erwiderte er, dass er nur das tun könne, was er den Vater tun sieht. Er spricht also weniger über die Methode der Heilung, als darüber, dass er überhaupt geheilt hat. Etwas salopp ausgedrückt weist Jesus die Schuld, die von den Pharisäern wahrgenommen wurde, von sich und schiebt sie auf Gott, der ihn inspiriert hat. Die Erzählung bietet aber einen gewissen Auslegungsspielraum. Hat der Vater Jesus nur gezeigt, dass er den Kranken heilen soll oder auch wie? Die Bibel sagt es nicht, aber ich stelle mir vor, dass Jesus vor seinem inneren Auge den ganzen Ablauf des Geschehens sah. Dann wäre beides, die Tatsache an sich und der genaue Ablauf, inspiriert.

Das macht mich persönlich skeptisch gegenüber Büchern, die Krankheiten auflisten und genau vorgeben, wie man beten soll. Wahrscheinlich sind solche Anweisungen aus der eigenen Erfahrung entstanden, aber sie sind nicht so inspiriert, dass es bei jedem anderen auch funktionieren muss. Dennoch scheint es einen Markt für solche Gebetsführer zu geben. Der früheste, den ich kenne, stammt aus den 80er Jahren; es ist das Handbuch für Heilung der amerikanischen Heilungsevangelisten Charles und Frances Hunter.28 Mittlerweile haben auch die Healing Rooms den Leitfaden Gezieltes Gebet bei bestimmten Krankheiten herausgebracht, der aber im Vorwort ein gesundes theologisches Selbstverständnis zeigt: „Dieses Handbuch sollte nicht wie eine Formel benutzt werden. Es ist eher ein Leitfaden oder Vorschlag, wie Sie einer Person mit einer spezifischen Krankheit dienen können. Als Erstes wollen wir vom Heiligen Geist hören und Seiner Führung folgen.“29

Wenn man kranken Menschen dienen will, geht es nicht um Methoden, sondern um Beziehung. Nicht jeder Epileptiker hat einen bösen Geist und nicht jedem Tauben muss man die Finger in die Ohren stecken. Hier ist viel Fingerspitzengefühl und Hören auf Gott gefragt.

Alle vier Punkte zeigen, dass Jesus nicht nur um das Seelenheil von Menschen bemüht war, sondern auch um ihr körperliches Wohl. Ihn als Heiland zu sehen, umfasst demnach mehr als den spirituellen Anteil des Menschen. Um tiefer zu verstehen, was das Heil bedeutet, dass Gott uns in seinem Sohn anbietet, ist es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, was das Neue Testament unter Rettung genau versteht.

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Rettung – ein ganzheitlicher Begriff

Für die meisten Christen in Deutschland ist der Begriff „Evangelium“ etwas geworden, womit sie nur noch wenig anfangen können. Oft besteht die Gute Nachricht allein daraus, dass wir einmal in den Himmel kommen. Das ist aber zu kurz gedacht! Paulus sehnte sich danach, den Christen in Rom das Evangelium zu verkündigen (Römer 1,15). Daraus lässt sich schließen, dass das Evangelium auch etwas für Christen zu bieten hat, die bereits vor der Hölle gerettet sind. Ich bin sicher, dass der Apostel auch heute noch den meisten Gemeinden das Evangelium verkündigen würde, weil es so unbekannt ist. Wer die Gute Nachricht auf Vergebung der Sünden beschränkt, beraubt sich wichtiger Aspekte, die Gott ihm schenken möchte. Das Evangelium ist die Botschaft von Gottes Reich und einer umfassenden Erlösung.

Im Griechischen ist Jesus der sotēr, der Retter. Das Verb sōzō bedeutet „retten“ im umfassendsten Sinne des Wortes. John Wilkinson schreibt:

Es ist deutlich, dass seine umfassende Bedeutung [des Verbes sōzō] in den Evangelien darauf hinweist, dass sich die christliche Vorstellung von Heilung und Rettung überschneidet. Je nach Situation ist das Maß der Überschneidung unterschiedlich, aber diese beiden Aspekte sind nie völlig getrennt. Die Heilung des Leibes ist nie nur eine körperliche Heilung, und die Rettung der Seele betrifft nie nur den Geist, sondern beide gehören zur vollkommenen Befreiung des ganzen Menschen. Jesu Heilungswunder in den Evangelien zeigen dies deutlich und geben einen Vorgeschmack auf die vollkommene Befreiung.“30

Sōzō hat die Grundbedeutung Rettung in jedem möglichen Sinne. Konkret heißt es (1) Errettung von Sünde und Tod, (2) Errettung von Krankheit, (3) Befreiung, (4) Rettung und Hilfe, (5) Erhaltung des inneren Wesens, (6) Wohltun.31

Nach meiner Zählung verteilen sich diese Bedeutungen im Neuen Testament wie folgt: (1) Als Rettung von Sünde und Tod taucht sōzō zweiundsechzigmal auf. (2) und (3) – Heilung in jedem Sinn, inklusive Befreiung von Dämonen – sechsundzwanzigmal. (4) Rettung aus Gefahr (inklusive Rettung des Lebens) siebenundzwanzigmal.

Erlösung ist demnach ein Komplettpaket. Es ist unstatthaft, das Opfer Jesu für Errettung anzunehmen, aber nicht für Heilung. Dazu kommen Sündenvergebung und Heilung außerdem viel zu oft gemeinsam vor. Derselbe Jesus, der rettet, ist auch der Jesus, der heilt. Wir müssen hier vom ganzen Menschen her denken. Erlösung betrifft den Menschen ganzheitlich, Körper, Geist und Seele, und es ist zu wenig, nur die Rettung des Geistes in der Wiedergeburt anzunehmen. Gottes Liebe gilt dem ganzen Menschen, so wie er ihn geschaffen hat.

Im griechischen Text des Neuen Testamentes gibt es drei wichtige Worte für heilen bzw. Heilung: iaomai, therapeuō und sōzō. Da sōzō „retten“ im weitesten Sinne des Wortes heißt, kann man das Evangelium in zwei Versen zusammenfassen:

„Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn errettet werde [sōzō]“ (Johannes 3,16-17).