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Jo und die Unbezähmbaren

Ein jeder ist einzigartig

Rita Mintgen + Karsten Mohr

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Titelbild und Illustrationen: Susanne Koß

ISBN: 978-3-86196-869-6 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-138-1 - E-Book (2020)

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

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Inhalt

Der Neue

Sportstunde

Jos Schulalltag

Gemobbt und ausgebremst

Der Nachbarsjunge

Annäherung

Der Überfall

Im Krankenhaus

Befragungen

Vertrauen

Freunde

Montag

Jos persönliche Geschichte

Winter

Eiszeit

Das Basketballteam

Krankenbesuch

Das ganz besondere Weihnachtsfest

Monate später

Die Akteure dieser Erzählung

Danksagung

Die Autoren

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Der Neue

Der Schultag der Klasse 4b verlief heute wie an vielen anderen Vormittagen. Die Schüler waren mit zahlreichen Dingen beschäftigt, nur nicht mit dem Unterricht. Sie hörten Musik über ihre Kopfhörer, schauten auf ihre Handys oder schrieben sich gegenseitig Zettelchen. Manchmal hörte man auch ein Lachen oder ein Aufstöhnen.

Frau Knopf, die junge Religionslehrerin, hatte es zwischenzeitlich aufgegeben, die Schülerinnen und Schüler zu ermahnen oder eine Beschwerde im Direktionszimmer vorzubringen. Denn nicht nur sie hatte ein Problem mit der Klasse, nein, von allen Seiten hörte man nicht allzu viel Gutes von der Klasse 4b. Es war nur noch nicht gelungen, den eigentlichen Störer ausfindig zu machen, denn eine große Gruppe der Klasse, Die Unbezähmbaren nannten sie sich, hielt wie Pech und Schwefel zusammen. Und die übrigen sagten nichts, da sie sich vor der Rache der Gang fürchteten.

Genauso war es heute, als ein hartes Klopfen und das anschließende ruckartige Öffnen der Klassentür Frau Knopf völlig aus dem Konzept brachte. Vor Schreck fiel ihr der Zeigestock aus der Hand und polterte zu Boden. Genau vor die Füße des Schuldirektors, der nun neben sie getreten war. Eingeschüchtert schaute Frau Knopf ihren Chef an, zuckte dann mit den Schultern und hörte ihm zu.

Herr Oberhauser, der Schuldirektor, wandte sich nach einem starken Räuspern an die Klasse. „Guten Morgen, alle miteinander, hört mir bitte einen Augenblick zu.“

Er wartete einen Augenblick auf die verhaltenen Reaktionen und sagte nun etwas strenger: „Würden die Damen und Herren die Handys ausschalten, die Kopfhörer abnehmen und mir einen Moment ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenken?“

Er schaute streng in die Runde und gewann sofort die Aufmerksamkeit aller Schüler.

„Geht doch!“, sagte er und sprach nun in einem sanfteren Ton weiter: „Ich möchte euch einen neuen Schüler vorstellen, der ab heute in eure Klasse kommt. Ich bitte euch, ihm Hilfestellung zu geben und ihn in die Gemeinschaft aufzunehmen.“

Die Schüler reagierten kaum. Der eine oder andere widmete sich sofort wieder anderen Dingen. Herr Oberhauser ging schnellen Schrittes zurück zur Tür, öffnete diese weit und trat einen Schritt zur Seite. Einen Moment dauerte es noch, dann rollte ein blasser Junge im Rollstuhl zur Tür herein und blieb vor der Klasse stehen.

Der Direktor schloss die Türe hinter ihm, trat neben den Rollstuhl und sagte laut. „Dies ist Johannes, Johannes Mohr!“

Die Mitschüler starrten nun alle den Jungen im Rollstuhl an. Aber niemand sagte etwas. Daher sprach der Direktor weiter. „So Johannes, dies sind deine neuen Mitschüler der Klasse 4b. Sicherlich werdet ihr euch in den nächsten Tagen näher kennenlernen. Schau erst einmal, an welchem Tisch du am besten sitzen kannst. Aber ich glaube, Frau Knopf, deine Religionslehrerin, wird sich um alles Weitere kümmern!“

Er schaute die Lehrerin an, die nun ergriffen auf Johannes zukam. Sie streckte ihm die Hand entgegen und hieß ihn herzlich willkommen.

Der Schulleiter hatte sich zwischenzeitlich zurückgezogen. Frau Knopf wies auf den Tisch in der ersten Reihe. „Magst du vielleicht dort Platz nehmen, Johannes?“, fragte sie und zeigte auf den Tisch am Fenster. „Dort neben Laura ist ja noch ein Plätzchen frei.“

Johannes rollte auf den angewiesenen Platz zu. An seinem Tisch stand natürlich noch der Stuhl, der zunächst einmal weggerückt werden musste. Doch niemand schien dies zu bemerken.

Dann jedoch eilte Frau Knopf herbei und nahm den Stuhl schnell weg. „So“, sagte sie zu Johannes, „geht es wohl leichter.“

„Ja, danke“, antwortete er und rückte seinen Rollstuhl gekonnt an den Tisch. Anschließend wandte er sich seiner Tischnachbarin zu und begrüßte Laura freundlich. Diese schaute einmal auf, antwortete kurz und knapp „Hallo“ und rückte gleich ein wenig von ihm weg.

Johannes hörte hinter sich eine männliche Stimme laut und deutlich sagen: „Da haben wir ja die richtigen zwei zusammen. Die Dicke und der Krüppel.“

Johannes schaute sich um. Er blickte in zwei kalte blaue Augen, die ihn fixierten. Der Junge nickte und sagte „Ja, genau dich meine ich!“ Dann begann er zu lachen und die meisten Mitschüler fielen in das Gelächter ein.

Frau Knopf hatte sich derzeit wieder der Tafel zugewandt. Sie war ganz in ihren Unterrichtsstoff vertieft und hatte diese letzten Worte gar nicht gehört.

Als endlich die Schulglocke erschallte und somit die Schulstunde beendete, strebten die Mitschüler schnell nach draußen. Johannes jedoch blieb erst einmal still an seinem Platz. Er war in Gedanken versunken. Viele Fragen gingen ihm gleichzeitig durch den Kopf.

„Wo“, so dachte er, „bin ich hier gelandet?“

Sollte es hier noch schlimmer sein als auf der letzten Schule?

Warum nur musste seine Familie wieder einmal umziehen? Konnte sein Vater nicht irgendwann einmal in seinem Beruf an einem Ort bleiben dürfen?

So erlebte Johannes diesen ersten Tag an der neuen Schule. Und hatte wieder dieses mulmige Gefühl wie jedes Mal, wenn er irgendwo als Neuer erschien. Auch hier, das war ihm klar, musste er sich durchkämpfen, ehe er akzeptiert wurde. Er war froh, als endlich die Schulglocke das Ende des Unterrichtes ankündigte. Als Letzter verließ er das Klassenzimmer und fuhr auf den Parkplatz vor das Schultor, auf dem sicherlich schon das Taxi auf ihn wartete, das ihn, wie künftig an jedem Schultag, nach Hause bringen sollte.

Am Abend fragten natürlich Johannes’ Eltern, wie der erste Schultag verlaufen sei. Johannes gab ihnen einen kurzen Einblick, wobei er keine Einzelheiten, insbesondere nicht die Beleidigungen des Klassenkameraden hervorhob. Denn er wollte nicht, dass sich jemand einmischte, und er wollte auch nicht, dass sich seine Eltern sorgten.

In der Nacht hatte Johannes wieder einmal diesen fürchterlichen Traum. Er durchlebte zum wiederholten Mal seinen tragischen Unfall, der ihn seit etwa drei Jahren an den Rollstuhl fesselte. Irgendwann wachte er schweißgebadet auf. Johannes musste sich erst einmal beruhigen.

Die kommenden Tage brachten viel Neues. Johannes musste sich an die verschiedenen Lehrer und deren Lernformen gewöhnen. Er musste die Kursräume finden und er konnte langsam seine Klassenkameraden beim Namen nennen. Auch konnte er durch intensives Beobachten zwischenzeitlich erkennen, wer welche Rolle in seiner Klasse innehatte. Dies, so wusste Johannes, war wichtig, damit man sich zurechtfand und nicht in eine Opferrolle fiel. In dieser, so hatte er nun schon erfahren, befand sich seine Banknachbarin Laura.

Da ihm das Mädchen leidtat, hatte er sich vorgenommen, näheren Kontakt zu ihr zu suchen, um ihr seine Hilfe anzubieten. Aber bisher war ihm Laura noch in jeder Situation ausgewichen. Sowohl im Klassenzimmer, in dem sie immer geduckt über ihren Büchern saß, als auch in den Pausen, in denen sie sich auf eine Bank zurückzog und still ihr Butterbrot aß und die Welt um sich herum auszublenden versuchte. So lange, bis sie wieder einmal von irgendeinem Mitschüler beleidigt oder angegriffen wurde. Johannes hatte noch keinen Kontakt zu Laura gefunden.

Des Weiteren befand sich in der Klasse eine starke Gemeinschaft von Jungs. Alle hörten auf Kevin, dies war der Junge mit den kalten Augen. Und er war wohl der Anführer der Bande, die sich Die Unbezähmbaren nannten und sie gingen hart mit allen anderen in ihrer Umgebung um. Diese Jungs nahmen keine Rücksicht und erfreuten sich nur daran, dass es anderen schlecht ging.

Der geheime Treffpunkt der Bande war in einem unterirdischen Höhlensystem in der Stadt. Diese Höhlen wurden vor vielen vielen Jahren durch die Steinhauer geschaffen, als sie den Basaltstein für den Hausbau und für Mühlsteine aus dem Berg gebrochen hatten. Heute aber nutzte die Höhlen niemand mehr, sodass sich die Jungs dort ungestört mit ihren Taschenlampen treffen konnten.

*

Sportstunde

Heute sollte Johannes zum ersten Mal mit zum Sportunterricht. Als es zur Stunde läutete, eilten die Schülerinnen und Schüler mit ihren Turnbeuteln in Richtung Sporthalle. Johannes fuhr mit seinem Rollstuhl zügig hinterher. Als er zum Halleneingang kam, schlug vor ihm gerade die Eingangstüre zu.

„Danke!“, sagte er laut. Denn keiner seiner Mitschüler hatte darauf geachtet, dass auch er noch mit in die Halle wollte. Und gerade diese Schwingtüren machten ihm das Leben nicht gerade leicht. Doch wie so oft machte Johannes eine Faust in der Hosentasche. Dann sagte er laut und bestimmt zu sich selbst: „Keine Sorge, ich kann es auch alleine!“

„Was kannst du allein? Warte, ich halte dir die Türe auf!“, sagte in diesem Augenblick eine Männerstimme unmittelbar hinter ihm. Johannes schaute den Herrn an. Er war ein sportlicher Mann mittleren Alters, der eine Sportkombination trug und ihn anlächelte.

Dann sprach er weiter: „Du musst wohl Johannes sein. Hallo, ich bin dein neuer Sportlehrer und mein Name ist Acar.“ Immer noch lächelte er und hielt Johannes die Hallentüre auf.

Dieser war erstaunt. Er fühlte sich sofort wohl bei dem neuen Sportlehrer. Dieses Gefühl hatte er nur ganz selten in seinem Leben spüren dürfen. Doch hier, dachte er, stimmt die Chemie. Daher antwortete er spontan: „Hallo, Herr Acar, ja, ich bin Jo! Der Neue auf Rädern!“ Auch er lächelte.

„Freut mich, Jo, dass wir uns kennenlernen. Darf ich dir gleich, während die übrigen Schüler sich umziehen, ein paar Fragen stellen? Ich würde gerne wissen, wie ich dich in meinem Unterricht fordern und fördern kann. Dies ist jedoch nur möglich, wenn du mir etwas von dir und deinen Fähigkeiten erzählst! Magst du?“

Herr Acar und Jo waren zwischenzeitlich in der Halle angekommen und Jo, der zum ersten Mal seit Langem irgendjemandem spontan seinen Spitznamen genannt hatte, folgte seinem Lehrer glücklich. „Ja, können wir machen!“, antwortete er. „Am besten ich komme gleich mit!“

„Gerne“, antwortete sein Lehrer. „Ich baue nur schnell einen kleinen Parcours auf, damit sich die anderen aufwärmen können, dann haben wir beide etwas Zeit!“

Johannes wartete unmittelbar vor dem Geräteraum. Und er beobachtete, wie Herr Acar sich geschmeidig durch die Halle bewegte, hier und dort stellte er ein Hindernis auf. Anschließend gab er den herannahenden Schülern die Kommandos und kam anschließend zurück zu Johannes. „So, nun können wir!“, sagte er und hockte sich auf eine Sportbank direkt neben den Rollstuhl.

„Nun erzähle mir doch bitte einmal, ob und wie du dich sportlich bisher betätigt hast und was du besonders gerne machst. Weißt du, es ist wichtig, dass wir aus dieser Klasse hier möglichst viel rausholen. Sicherlich hast du schon gemerkt, dass es mit deinen Mitschülern nicht so einfach ist. Aber im Sportunterricht erreicht man manchmal mehr als in anderen Fächern. Mein Ziel ist es, aus diesem wilden Haufen“, er zeigte auf Jos Klassenkameraden, „ein Team zu machen!“