Cover

Sophienlust
– Box 13 –

E-Book 66-70

Aliza Korten
Patricia Vandenberg
Judith Parker

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-962-3

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Leseprobe:
E-Book 6-10

Leseprobe

Sein Vater hat eine große Aufgabe übernommen: Dr. Daniel Norden leitet ab sofort die Behnisch-Klinik. Das führt natürlich zu entscheidenden Veränderungen in seiner Praxis. Wie gut, dass bereits seit einiger Zeit mit ihm gemeinsam sein vielversprechender Sohn Danny die Arztpraxis geleitet hat. Jetzt wird es ernst für Danny, den Mädchenschwarm und allseits bewunderten jungen Mediziner. Er ist nun für die Praxis allein verantwortlich – wobei zwischen der Klinik des Vaters und der Arztpraxis des Sohnes ein idealer Austausch besteht. Die Praxis ist bestens etabliert, die Familie Dr. Norden startet in eine neue Epoche. Privat ist Dr. Danny Norden dabei, sein großes Glück zu finden. Seine Freundin, die sehbehinderte, zauberhafte Tatjana, ist mehr und mehr zu seiner großen Liebe geworden. Die neue Serie Praxis Dr. Norden ist prädestiniert, neben den Stammlesern der Erfolgsserie Dr. Norden auch viele jüngere Leserinnen und Leser hinzuzugewinnen.

Cover

Ich hab dich lieb, Papa

Mit blitzenden Augen stiegen die Kinder aus den beiden roten VW-Schulbussen, die kurz hintereinander in den Gutshof von Sophienlust einfuhren. Murkel und die anderen Hunde stürmten die Freitreppe hinunter, um die Mädchen und Buben zu begrüßen.

Dominik warf seine Schulmappe in die Luft und fing sie mit einem Jauchzer wieder auf. Malu nahm ihren Wolfsspitz Benny auf die Arme und flüsterte ihm ins Ohr: »Ab heute bin ich den ganzen Tag bei dir, mein Liebling. Die großen Sommerferien haben begonnen.«

Henrik trippelte die Freitreppe hinauf und lief dann durch die Halle, um nach seiner Mutti zu suchen, deren Wagen er im Hof entdeckt hatte. Er fand sie bei Frau Rennert im Büro.

»Mutti, Mutti, wir haben Ferien!«, rief er. »Jetzt brauche ich keine Schulaufgaben mehr zu machen.«

»Erst einmal guten Tag, mein Junge«, erwiderte Denise lachend und zog ihren Jüngsten an sich. »Dabei dachte ich, du gehst gern in die Schule.«

Henrik blinzelte sie schelmisch an.

»Manchmal tue ich das auch. Aber es ist doch viel schöner, wenn man den ganzen Tag spielen kann«, bekannte er.

Denise trat ans Fenster und blickte hinaus. Noch immer tummelten sich einige Kinder im Gutshof. Fabian Schöller, der nun schon einige Zeit in Sophienlust weilte, spielte mit seiner jungen Dogge Anglos, deren tollpatschige Sprünge ihn immer wieder zum Lachen reizten.

Denise lächelte gerührt. Wie selig war der Junge gewesen, als er von Andrea erfahren hatte, dass die Dogge, die von Severin gedeckt worden war, vier Welpen geworfen hatte. Eines dieser jungen Tiere hatte Fabian erhalten. Zu diesem Geschenk hatte sich Dr. Hans-Joachim von Lehn, Denises Schwiegersohn, moralisch verpflichtet gefühlt, weil Severin ja ursprünglich Fabian gehört hatte. Damals hatte Severin noch Anglos geheißen – genauso wie jetzt Fabians junge Dogge. Diese war ebenso bildschön und schwarz wie ihr Vater Severin, der lieber bei Andrea und Hans-Joachim geblieben war.

Denises Blick fiel jetzt auf Isabel Weyde, die einmal ein Kinderstar gewesen war. Aber ihre Tante hatte sie finanziell schamlos ausgenutzt und ihre Kräfte so überfordert, dass das zarte Kind darunter gelitten hatte. Isabels wunderbare Stimme wurde jetzt von Wolfgang Rennert, dem Musik- und Zeichenlehrer von Sophienlust, weiter ausgebildet. Bald würden andere Lehrer nötig sein. Doch Denise wollte sich das noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Wie gut, dass sie das Sorgerecht für Isabel bekommen hatte. Dadurch konnte sie das überaus sensible Mädchen vor weiteren Belästigungen durch deren Tante schützen.

Ein Lächeln erhellte nun Denises ebenmäßiges Gesicht, als sie Pünktchen beobachtete, die lebhaft auf Nick einredete. Das leicht gelockte rotblonde Haar der Elfjährigen schimmerte wie Gold. Pünktchen, die mit richtigem Namen Angelina Dommin hieß, war ein allerliebstes Kind mit ihren tiefblauen Augen, der Stubsnase mit den vielen Sommersprossen, den leicht geröteten runden Wangen und der zierlichen Figur. Das Mädchen war voller Leben und stets voller Übermut. Doch konnte es sehr schnell beleidigt sein, besonders wenn es um Nick ging. Ob die beiden später einmal heiraten würden? Denise würde nichts dagegen haben. Aber wohin verirrten sich ihre Gedanken? Leicht belustigt wandte sie sich Frau Rennert zu, um sich von ihr zu verabschieden. Sie wollte so schnell wie möglich nach Schoeneich fahren, wo Alexander sicherlich schon ungeduldig auf sie wartete.

»Henrik, fährst du mit mir?«, fragte sie. »Oder möchtest du heute in Sophienlust bleiben?«

»O ja, Mutti, ich möchte dableiben. Auch Nick bleibt da. Gleich nach dem Essen gehen wir zu den Koppeln. Wir wollen heute ausreiten.«

»Also gut, mein Junge, dann fahre ich halt allein.«

»Nicht wahr, du bist nicht traurig, Mutti?« Treuherzig sah der Kleine sie an.

»Aber nein, mein Liebling. Ich verstehe dich doch gut.« Denise strich ihm über den Kopf. »Frau Rennert, ich möchte noch …«, begann sie. Da läutete das Telefon. Da sie dicht bei dem Apparat stand, hob sie ab und meldete sich.

Im gleichen Augenblick kam Nick herein. Als er sah, dass seine Mutter telefonierte, blieb er abwartend an der Tür stehen und legte den Zeigefinger an die Lippen, weil Henrik ihm etwas sagen wollte. Gespannt lauschte er den Worten seiner Mutter, aus denen er jedoch nicht viel heraushören konnte. Sie sagte »ja«, oder »nein«, und schließlich: »Gut, Frau Bogdan, ich erwarte dann Ihren Besuch morgen Vormittag. Um elf Uhr? Gut, ich nehme mir dann Zeit für Sie.«

»Mutti, wer hat denn angerufen?«, fragte Nick neugierig, als Denise aufgelegt hatte, und vergaß ganz, sie zu begrüßen.

»Ich glaube, wir haben uns seit gestern Nachmittag nicht mehr gesehen«, erinnerte Denise ihn an sein Versäumnis.

Nick lief rot an. »Verzeihung, Mutti, das habe ich tatsächlich vergessen. Guten Tag«, sagte er und gab ihr einen schnellen Kuss auf die Wange. Solche Zärtlichkeiten fielen ihm in seinem jetzigen Alter schon etwas schwer.

Denise gab ihm einen liebevollen Klaps. »So, und nun werde ich deine Neugierde, die dir aus den Augen schaut, zufriedenstellen. Eine gewisse Frau Bogdan hat angerufen. Sie kommt morgen Vormittag mit ihrer Tochter Nadja zu mir. Die Kleine ist noch nicht ganz sieben. Frau Bogdan will sie für einige Wochen bei uns unterbringen, weil sie selbst operiert werden muss.«

»Dann bekommen wir also ein neues Kind. Phantastisch. Hat es denn keinen Vater mehr?«

»Das weiß ich nicht, mein neugieriger Sohn, doch werde ich das morgen gewiss erfahren. So, und nun fahre ich.« Denise wechselte noch einige Worte mit Frau Rennert und verließ dann, begleitet von ihren beiden Söhnen, das Büro.

In der Halle wurde sie von den übrigen Kindern lebhaft begrüßt. Für jedes hatte sie ein liebevolles Wort. Und da sich momentan sechzehn Kinder in Sophienlust befanden, dauerte das ein Weilchen. Als sie auf ihre Armbanduhr blickte, stellte sie fest, dass die gute Martha, die Schoen­eicher Köchin, sicherlich bereits verzweifelt auf sie warten würde.

Die Kinder begleiteten Denise noch bis zu ihrem Wagen. Als sie abgefahren war, kehrten sie schnell ins Haus zurück, denn es gongte eben zum zweitenmal.

Schwester Gretli und Lena empfingen die Kinder im Speisesaal mit vorwurfsvollen Augen. »Das Essen ist bereits kalt geworden«, murrte Lena.

Nick lachte sie übermütig an. »Das macht doch nichts, Lena. Wir haben einen solchen Bärenhunger, dass wir sogar eisgekühlte Kartoffeln mit der Schale verschlingen würden.« Er schnüffelte. »Was gibt’s denn heute? Fein, gefüllte Paprika mit Reis!« Er setzte sich.

Die Kinder aßen mit gesundem Appetit, dabei sprachen sie über das angekündigte kleine Mädchen.

»Ich bin ja gespannt, wie sie aussieht«, bemerkte Pünktchen mit vollem Mund.

»Ja, ich auch«, sagte Angelika. »Eigentlich ist es lustig, wenn man vorher immer raten kann, wie ein Kind aussehen wird.«

»Wenn ich es mir genau überlege, waren bisher alle Kinder sehr lieb.« Malu steckte ihrem Benny heimlich, unter dem Tisch, ein Häppchen von der Fleischfüllung zu.

Pünktchen sah ihren großen Freund Nick fragend an. »Kannst du dich noch an jedes Kind, das bei uns gewesen ist, erinnern?«

»Aber ja!«, rief Nick und nahm sich die dritte gefüllte Paprika. »Also, da war erst einmal …« Er begann nun damit, die vielen Kinder, die schon in Sophienlust gewesen waren, aufzuzählen. Einige von den Kindern, die schon lange da waren, halfen ihm, wenn er ins Stocken geriet. Erst als Lena und eine Praktikantin die Schälchen mit der Süßspeise brachten, wurde es still im Speisesaal. Nusscreme mit Sahne verschmähte keines der Kinder. Einige schleckten sogar die Schälchen aus. Doch Schwester Gretli und Frau Rennert taten so, als ob sie nichts bemerkt hätten.

Als Kinder hatten sie das Gleiche getan. Schließlich sollten die Kinder fröhlich sein. Da musste man solche kleine Unarten in Kauf nehmen.

»So, und nun auf zu den Koppeln!«, rief Nick und erhob sich als erster.

»Wir müssen uns doch noch umkleiden«, erklärte Malu.

»Ja, aber beeilt euch. Mädchen brauchen meist schrecklich lange zum Umziehen. Ich selbst bin in fünf Minuten fertig.« Nick lief schon zur Tür. Die anderen folgten ihm.

*

Hell schien die Sonne in das komfortabel eingerichtete Wohnzimmer des Luxusappartements im achten Stock eines Hochhauses in Frankfurt. Man hatte von dort einen weiten Blick über die Stadt, durch die sich der Main wie ein grüngoldenes Band schlängelte.

Die kleine Nadja kniete auf einem der roten Sessel und blickte sehnsüchtig zum Fenster hinaus. Marika Bogdan beobachtete ihre Tochter mit stiller Wehmut. Der Gedanke, sich bald von ihr trennen zu müssen, schmerzte sie zutiefst. Bisher hatte sie sich noch keinen Tag von ihrem Kind getrennt.

»Mama, warum sind wir von Papa fortgezogen?«, fragte Nadja und rutschte vom Sessel. Ihre großen grauen Augen richteten sich traurig auf Marika.

Wie hübsch sie ist, schoss es der jungen Frau durch den Kopf. Sie hat das gleiche Haar wie ihr Vater, und auch dieselbe Augenfarbe.

Ja, Nadja glich ihrem Vater tatsächlich so sehr, dass Marika durch sie immer wieder an den Mann erinnert wurde, den sie einstmals geliebt und dem sie bedingungslos vertraut hatte.

»Mama, warum gibst du mir keine Antwort?«, fragte das Kind ungeduldig.

»Weißt du, Nadja, es gibt Dinge, die sehr schwer zu erklären sind. Papa und ich vertragen uns nicht mehr.«

»Ist es wegen dieser Sibylle?«, fragte die Kleine nachdenklich. »Ich mag sie nicht.«

»Das darfst du nicht sagen, Nadja. Sibylle ist ein nettes Mädchen und …«

»Aber ich mag sie nicht, weil ich gesehen habe, wie sie Papa geküsst hat. Sie ist an allem schuld.«

Marika schwieg. War Sibylle Bruckner wirklich schuld an dem Zerwürfnis zwischen ihr und ihrem Mann? Oder lag es an ihr selbst, dass Tibor sich von ihr abgewandt hatte? Ja, es lag nur an ihr, weil sie ihm keine Liebe hatte geben können. Sie mochte ihn gut leiden, aber geliebt hatte sie ihn niemals! Geliebt hatte sie immer nur den anderen, Nadjas Vater, der sie eines Tages grundlos verlassen hatte.

»Mama, warum weinst du denn?«, fragte Nadja mitfühlend und schmiegte sich an sie. »Bist du auch traurig, weil die Schimpansen nicht mehr bei uns sind? Mama, was soll nur aus Luja und Batu, meinen beiden Schimpansen werden, Papa hat sie mir doch geschenkt.«

»Nadja, sei mein gescheites kleines Mädchen. Wir können doch keine Affen in einer Wohnung halten! Tante Ursula wäre gewiss nicht begeistert, wenn Luja und Batu hier in ihrer Wohnung herumtollen würden.«

Marika blickte sich in dem Zimmer um. Voller Dankbarkeit dachte sie dabei an ihre Freundin Ursula Strasser, die ihr dieses Appartement für einige Wochen überlassen hatte. Ursula war Schauspielerin und vor ein paar Tagen mit einer Filmgesellschaft nach Afrika geflogen, wo Aufnahmen für einen Fernsehfilm gemacht werden sollten. Ursula spielte darin die Hauptrolle. Als Marika sich nach der Trennung von ihrem Mann an sie gewandt hatte, hatte sie sofort erklärt:

»Marika, du bleibst hier, bis du alles für das Kind und dich geregelt hast. Nadja würde ich in Sophienlust unterbringen. Das ist ein Kinderheim, wie es seinesgleichen kein zweites mehr gibt. Es heißt, Sophienlust sei ein Kinderparadies. Nadja wird dort gut untergebracht sein. Ich besorge dir noch heute die Adresse und die Telefonnummer. Du musst schnellstens operiert werden, Marika.«

Verstohlen wischte sich Marika die Tränen fort. Ja, Ursula hatte sich als gute Freundin bewährt.

»Aber ich will Luja und Batu wiederhaben«, erklärte Nadja eigensinnig. »Papa hat doch gesagt, dass er die beiden mit nach London nehmen muss, wenn wir sie nicht in den nächsten acht Tagen abholen. Aber sie gehören mir!«

»Bitte, Nadja, mach es mir nicht noch schwerer.« Marika strich sich eine rotblonde Locke aus der Stirn. Ja, die Schimpansen waren für sie ein großes Problem geworden. Einesteils wollte sie Nadja nicht weh tun, andererseits wiederum war es unmöglich, die beiden kleinen Schimpansen zu behalten.

Nadja presste die Lippen zusammen und kletterte wieder auf den Sessel, um aus dem Fenster zu blicken. Auf der anderen Seite des Flusses stand das Haus, in dem ihr Papa und die Schimpansen wohnten. Voller Sehnsucht schaute das Kind in diese Richtung.

Marika schloss die Augen. Sie fühlte sich sehr angegriffen, auch fürchtete sie sich vor der recht komplizierten Operation, die vor ihr lag. Gestern, bei der letzten ärztlichen Untersuchung, hatte man ihr nahegelegt, nicht mehr allzu lange damit zu warten. Darum musste sie Nadja so bald wie möglich nach Sophienlust bringen. Hoffentlich hatte Ursula ihr nicht zu viel versprochen. Wusste sie Nadja in guter Obhut, würde alles viel leichter für sie sein.

Marikas Gedanken beschäftigten sich nun wieder mit der Vergangenheit. Sie sah sich wieder als neunzehnjähriges Mädchen verzweifelt durch die Straßen von Wien laufen, zu allem entschlossen. Wenige Tage zuvor war ihr Vater beerdigt worden, und seit ungefähr einer Woche hatte sie gewusst, dass sie ein Kind erwartete. Ein Kind von einem Mann, der sie verlassen hatte. So allein gelassen hatte sie nicht mehr leben wollen. Doch da sie seit Tagen kaum mehr etwas gegessen hatte, hatte sie plötzlich unerträglichen Hunger gespürt. Deshalb hatte sie ein kleines Kaffeehaus betreten. Beim ersten Schluck Kaffee hatten ihre Hände so stark gezittert, dass der Herr am Nebentisch sie aufmerksam beobachtet hatte. Er schien bemerkt zu haben, in welchem Gemütszustand sie sich befand, denn er hatte versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Aber Marika hatte dazu keine Lust gehabt. Sie hatte hastig das Stück Kuchen gegessen, nach dem Ober gerufen und gezahlt. Dann war sie gegangen.

Tibor Bogdan jedoch hatte es sich in den Kopf gesetzt gehabt, ihre Bekanntschaft zu machen. Auf der Straße hatte er sie angesprochen. Ein Wort hatte das andere gegeben, und schließlich waren sie zusammen in ein ungarisches Restaurant essen gegangen. Nach dem saftigen Gulasch und dem feurigen Wein hatte sich Marika bedeutend besser gefühlt. Später aber hatte sie nicht mehr den Mut gefunden, freiwillig aus dem Leben zu scheiden.

Tibor aber hatte sich als zuverlässiger Freund erwiesen. Als Marika im vierten Monat gewesen war, hatte er ihr vorgeschlagen, ihn zu heiraten, um dem Kind einen Namen zu geben. Sie war damit einverstanden gewesen. Doch auch Tibor hatte damals Probleme gehabt. Sie waren nur mit Geld zu lösen gewesen. Das aber hatte sie von ihrem Vater geerbt. So hatte sie ihm seinen Herzenswunsch erfüllen können. Gemeinsam hatten sie einem Dresseur vier Schimpansen abgekauft und damit eine Nummer aufgebaut. Zunächst waren sie mit den Schimpansen in einem Zirkus aufgetreten. Dann war Nadja geboren worden, und Tibor hatte das Mädchen vom ersten Tag an wie eine eigene Tochter geliebt.

Seit der Geburt des Kindes, das seinem wirklichen Vater auf eine schon lächerliche Weise glich, hatte Marika sich Tibor entzogen. Sie hatte einfach nicht anders gekonnt. Anfangs hatte Tibor versucht, sie zurückzugewinnen, dann aber hatte sich sein Interesse auf andere Frauen gerichtet. Seine Geliebten hatten ständig gewechselt. Doch nach außen hin hatten sie eine tadellose Ehe geführt. Ihre Schimpansennummer war weltbekannt geworden. Sie waren mit ihren Affen durch ganz Europa und auch durch die Vereinigten Staaten gereist. Hatten sie in Frankfurt gastiert, hatten sie in einem alten Haus gewohnt, das Tibor recht billig erstanden hatte. Während ihrer Abwesenheit war das Haus von dem Ehepaar Bruckner betreut worden, das eine Tochter hatte. Sie hieß Sibylle.

Sibylle war jung und sehr apart mit ihren blauschwarzen Haaren und den hellblauen Augen. Sie war heißblütig und triebhaft. Tibor hatte Feuer gefangen.

Dann hatte das eine Schimpansenweibchen Zwillinge bekommen. Nadja war ganz begeistert gewesen von den Affenbabys. Obwohl sie damals noch nicht einmal sechs Jahre alt gewesen war, hatte sie die Pflege der beiden übernommen, die sie Luja und Batu getauft hatte. Ihre Puppen, mit denen sie zuvor begeistert gespielt hatte, waren nun vergessen. Für Nadja hatten nur noch die beiden Schimpansen existiert.

Dann waren sie von Frankfurt nach Wien gereist, wo sie in einem Variete einen Riesenerfolg hatten. Diesmal war auch Nadja mit aufgetreten. In einem Kinderwagen hatte sie ihre Lieblinge über die Bühne gefahren. Sie hatte dabei ein Kleid getragen, wie es die Gouvernanten zu Ende des vorigen Jahrhunderts getragen hatten, dazu auch eine Brille. Das Publikum hatte vor Begeisterung jedes Mal getobt.

Tibor hatte diese Nummer noch weiter ausbauen wollen. Doch dann war alles ganz anders gekommen, als geplant. Sibylle Bruckner hatte eines Tages vor der Villa in Hietzing gestanden, die sie, Marika, von ihren Eltern geerbt hatte. Tibor hatte sie hereingelassen.

Sibylle hatte es von Anfang an darauf angelegt, ihn für sich einzufangen. Sie hatte ein leichtes Spiel gehabt. Marika hatte sich das eine Weile angeschaut. Außerdem hatte sie sich schon seit Monaten seltsam elend gefühlt. Endlich hatte sie sich entschlossen, zum Arzt zu gehen. Die Diagnose war alles andere als erfreulich gewesen. Eine Operation sei unumgänglich, hatte der Arzt gesagt.

Marika hatte sich in Freundschaft von Tibor getrennt. Allerdings hatte sie darauf bestanden, dass er und Sybille das Haus in Hietzing so schnell wie möglich verließen. Tibor aber hatte sie gebeten, noch mit nach Frankfurt zu fahren, da er Nadja noch gebraucht hatte, um seinen Vertrag mit einem dortigen Agenten zu erfüllen. Marika war einverstanden gewesen. Erst nach den Fernsehaufnahmen hatte sie ihren Mann endgültig verlassen.

Nun also saß sie hier in der Wohnung ihrer Freundin. Bis zu diesem Tag hatte sie sich verboten, über Nadjas und ihre eigene Zukunft nachzudenken. Jetzt aber kam sie nicht davon los. Sie war etwas über sechsundzwanzig Jahre alt, kam sich aber uralt vor. Glücklicherweise hatte sie wenigstens keine finanziellen Sorgen. Sollte sie nach der Operation wieder ganz gesund werden, würde sie einen Beruf ergreifen, um ihrem Leben einen Sinn zu geben. Es gab ja so viele Frauenberufe, die einer Frau Erfüllung schenkten.

»Mama, ist dir nicht gut?« Nadja stand dicht neben ihr und strich ihr über die Wange.

»Ich war nur müde. So, mein Kleines, jetzt hilf mir bitte beim Packen. Wenn es dir in dem Kinderheim gefällt, bleibst du gleich dort. Je eher ich operiert werde, desto eher sind wir wieder beisammen.«

»Aber vielleicht darf ich Luja und Batu mitnehmen?«

»Kind, schlag dir das bitte aus dem Sinn«, bat Marika bekümmert. »Du kannst doch keine Affen mitbringen. Da würde sich die Heimleiterin sicherlich aufregen. Und das mit Recht.«

Nadja war ein kluges kleines Mädchen. Durch ihre vielen Reisen und das ständige Beisammensein mit Erwachsenen war sie reifer als die meisten Mädchen ihres Alters. Außerdem war sie aber eigenwillig. Deshalb gab sie den Gedanken nicht auf, ihre beiden Lieblinge wiederzubekommen.

*

Tief beeindruckt von dem schlossähnlichen Gebäude sah sich das Kind am nächsten Vormittag in Sophienlust um. Auch Marika fiel ein Stein vom Herzen bei diesem Anblick. Sie war überzeugt, dass Nadja sich hier wohl fühlen würde.

Nadja zeigte keine Schüchternheit, als sie die Kinder bemerkte, die auf der Freitreppe standen und ihnen entgegenblickten. Sie hatte sich schon immer nach der Gesellschaft von Kindern gesehnt. Obwohl sie fast sieben war, war sie noch keinen Tag in die Schule gegangen. Ihre Mama hatte sie bisher unterrichtet.

Sehr selbstbewusst stieg Nadja neben ihrer Mutter die Freitreppe empor. Frau Rennert hatte das Auto gehört und erwartete sie vor dem Portal. Die Kinder standen etwas abseits und ließen das kleine Mädchen nicht aus den Augen. Alle waren sich darin einig, dass es ein auffallend hübsches Kind war. Das dunkelblonde Haar, das Nadja über die Schultern fiel, umrahmte ein sehr regelmäßiges ovales Gesicht. Die Farbe der Augen konnten die Kinder aus der Ferne nicht erkennen. Später stellten sie jedoch fest, dass die Augen grau waren.

»Sie sieht wie ein Gemälde aus«, raunte Angelika ihrer Busenfreundin Pünktchen zu.

»Findest du?« Pünktchen forschte in Nicks Gesicht, der das fremde kleine Mädchen ebenfalls wie gebannt anblickte. Pünktchen war erleichtert, dass Nadja noch so klein war. Mit Mädchen dieses Alters gab Nick sich selten ab.

Nadja lächelte die Kinder schelmisch an. Am liebsten wäre sie zu ihnen gelaufen, um sie sofort zu begrüßen. Aber ihre Mama ließ ihre Hand nicht los, als sie die Halle betraten, in der es nach der sommerlichen Hitze draußen angenehm kühl war.

»Frau von Schoenecker muss jeden Augenblick eintreffen«, entschuldigte Frau Rennert Denise, die ihr vor ein paar Minuten telefonisch mitgeteilt hatte, dass sie im Aufbruch begriffen sei.

Nadja musterte die ältere Dame prüfend. Ob sie sehr streng war, fragte sie sich nachdenklich. Doch dann war sie sicher, dass sie sehr nett war. Denn sie

lächelte sie mit so einem lieben Lächeln an, dass ihr ganz warm ums Herz wurde.

Was für ein entzückendes Kind, dachte Frau Rennert und führte Mutter und Tochter ins Biedermeierzimmer.

Marika hatte bisher nur das Nötigste gesagt, denn sie war sich noch immer nicht im klaren, ob sie Frau von Schoenecker über ihre Privatverhältnisse informieren sollte. Wenig später jedoch, als sie in Denises dunkle Augen schaute, war sie entschlossen, zu dieser reizenden Dame schonungslos offen zu sein. Kein Mensch wusste, ob sie die Operation überstehen würde. Deshalb sollte Frau von Schoenecker wissen, was mit Nadja geschehen sollte, wenn sie …

Schaudernd unterbrach Marika ihre quälenden Gedankengänge. Sie durfte nicht so schwarz in die Zukunft blicken.

Denise sprach anfangs über belanglose Dinge. Bald erkannte sie, dass die junge Frau, deren leidende Züge sie mit tiefem Mitleid erfüllten, etwas auf dem Herzen hatte.

Nadja rutschte unruhig auf dem Sessel hin und her. Man sah ihr an, wie schwer es ihr fiel, still sitzen zu bleiben.

»Sicherlich kannst du es kaum erwarten, die Kinder kennen zu lernen?«, sagte Denise freundlich.

»Ja, das möchte ich schon.« Freimütig erwiderte das Kind den Blick der netten Dame, die ihr sehr gut gefiel. Sollte sie sie fragen, ob sie die beiden Schimpansen herbringen dürfe?

»Hast du etwas auf dem Herzen?« Denise konnte in Kindergesichtern wie in offenen Büchern lesen.

»Ja, Frau …«

»Ich bin für alle Kinder Tante Isi. Nicht wahr, du willst doch bei uns bleiben?«

»Ich glaub schon«, schränkte Nadja ein. Sie wollte sich erst einmal überzeugen, ob die Kinder auch wirklich so nett waren, wie sie es sich wünschte.

»Also, dann bin ich für dich Tante Isi.«

»Ja. Tante Isi?«

»Nun, was hast du auf dem Herzen, Nadja?«

»Bitte, Nadja, werde nicht unverschämt«, mischte sich Marika ein, die ahnte, was kommen würde.

»Tante Isi, ich habe nämlich zwei Schimpansen. Sie heißen Luja und Batu. Sie sind ein Pärchen. Papa hat sie mir geschenkt und …«

»Bitte, Nadja, ich habe dir doch gesagt, dass so etwas unmöglich ist!«, rief Marika erregt, dabei blickte sie Denise entschuldigend an.

»Aber ich will nicht, dass Luja und Batu mit nach London fliegen. Auch soll Sibylle sie nicht pflegen. Bestimmt haben die beiden schon große Sehnsucht nach mir.« Es hätte nicht viel gefehlt, und Nadja hätte mit dem Fuß aufgestampft.

»Bitte, entschuldigen Sie das Benehmen meiner Tochter, doch …«

»Liebe Frau Bogdan, das ist doch verständlich. Alle unsere Kinder hängen an etwas – an Tieren oder an irgendwelchen Gegenständen. Ein Kinderherz braucht etwas zum Liebhaben.«

Nadjas kleines Herz begann wie wild zu schlagen. Sollte es möglich sein, dass die liebe Tante Isi ihr erlaubte, Luja und Batu zu behalten?

»Weißt du, Tante Isi«, erklärte Nadja spontan, »Luja und Batu sind mit mir schon oft auf der Bühne aufgetreten. Und neulich haben sie Aufnahmen von uns gemacht.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Marika die Worte ihrer Tochter. »Das Fernsehen bringt Nadja und die Affen in einer Sendung heraus.«

»Dann bist du schon ein kleiner Star. Verständlich, dass du dich nicht von deinen Affen trennen willst. Allerdings können wir die beiden nicht hier behalten …«

Nadjas große Augen füllten sich mit Tränen, die plötzlich über ihre Wangen kullerten. Sie war schon ganz sicher gewesen, die Affen behalten zu können.

»Bitte, deshalb brauchst du wirklich nicht zu weinen. Schau, ich habe eine große verheiratete Tochter, deren Mann Tierarzt ist. Die beiden haben ein Tierheim eingerichtet. Es heißt ›Tierheim Waldi & Co.‹ und gibt bereits vielen Tieren Unterkunft. Wenn du dich ein wenig geduldest, rufe ich gleich mal an. Bachenau ist nur ein paar Kilometer von hier entfernt. Also könntest du deine Lieblinge jeden Tag besuchen.«

Das Aufstrahlen in den Kinderaugen war für Denise ein Beweis dafür, dass sie das Vertrauen des reizenden Kindes bereits gewonnen hatte. Sie nickte Marika und Nadja zu und verließ mit leichten Schritten das Biedermeierzimmer.

»Nadja, du hättest Frau von Schoenecker nicht fragen dürfen! Was soll sie denn von dir denken?«, warf Marika dem Kind vor.

»Tante Isi ist sehr lieb. Sie weiß, dass ich ohne Luja und Batu unglücklich bin. Wo ich doch schon so traurig bin, weil wir unseren Papa für immer verlassen haben …« Tränen stürzten ihr aus den Augen, denn sie hatte ihren Papa sehr lieb.

»Nun ist es mal geschehen.« Marika fühlte sich unendlich müde und sehr allein. Sicherlich lag das auch an ihrer Krankheit, die ihr seelisches Gleichgewicht vollkommen durcheinanderbrachte. Nach der Operation würde sie wohl wieder froher sein. Dann wollte sie sich nach Wien in die elterliche Villa zurückziehen. Nadja würde in eine Schule gehen und das Leben eines bürgerlichen Kindes führen.

»Mama, ob Papa mich mal hier besucht?«

»Vielleicht, Nadja.«

»Du, es gefällt mir hier schon sehr gut. Ich möchte gern die Kinder kennen lernen.«

»Das wirst du gleich. Sei doch nicht immer so schrecklich ungeduldig, mein Kind. Ich …«

Denise kam zurück. »Meine Tochter nimmt die Schimpansen. Aber sie können erst in ungefähr drei Tagen kommen, weil ein Käfig für sie hergerichtet werden muss.«

»Aber ja, sie können diese Zeit noch bei meinem Mann bleiben«, erklärte Marika.

Nadja lachte über das ganze Gesicht. »Fein, Tante Isi. Ich habe nämlich schon so große Sehnsucht nach meinen Schimpansen. Sicherlich werden auch sie sehr traurig sein.«

»Ach, da bist du ja, Malu!«, rief Denise in diesem Augenblick einem großen blondhaarigen Mädchen mit grünen Augen zu. Malu befand sich seit ihrem zwölften Lebensjahr in Sophienlust. Sie war für die Erwachsenen bereits eine große Hilfe und kümmerte sich stets rührend um die kleinen Kinder, die auch alle sehr an ihr hingen.

»Ich habe dich rufen lassen«, fuhr Denise fort, »um dich zu bitten, Nadja zu den anderen Kindern zu bringen. Ich habe noch einiges mit Frau Bogdan zu besprechen.«

Malu begrüßte Marika lächelnd und sah dann Nadja an.

Die Kleine fragte keineswegs schüchtern: »Gehen wir gleich?«

»Ja, Nadja. Wann soll ich sie wieder zurückbringen, Tante Isi?«

»Wir werden euch schon irgendwo draußen finden. Lauft aber nicht zu weit vom Haus fort.«

Nadja sah nicht einmal zu ihrer Mami hin, als sie mit Malu das Zimmer verließ. Sie konnte es kaum erwarten, endlich die Kinder kennen zu lernen, mit denen sie von nun an von morgens bis abends zusammen sein würde.

»Gefällt es dir bei uns?«, fragte Malu lächelnd.

»Ja, es ist schön hier. Hier drinnen sieht es wie in einem Schloss aus. Ich war einmal mit Mama und Papa in einem großen Schloss. Wir haben dort zu Mittag gegessen. Der Besitzer ist ein Freund von meinem Papa. Er ist auch Ungar.«

Malu wunderte sich über die gewandte Ausdrucksweise des noch nicht siebenjährigen Mädchens. »Also, dann ist dein Papa Ungar?«

»Ja, das ist er. Er ist Dresseur. Wir haben sechs Schimpansen und zwei Schimpansenkinder, die mir gehören. Sie heißen Luja und Batu und sind ein Mädchen und ein Junge. Sie werden bald hierherkommen«, fügte Nadja mit einem glücklichen Seufzer hinzu.

»Da kommen sie sicher ins Tierheim Waldi & Co. Darüber werden sich auch die anderen Kinder freuen.« Malu konnte es kaum erwarten, ihnen das zu erzählen.

Die Kinder befanden sich im Wintergarten. Sie hatten vor, Nadja als erste Sehenswürdigkeit von Sophienlust Habakuk und das Aquarium zu zeigen. Der Papagei war am besten geeignet, eventuelle Schwierigkeiten mit einem neuen Kind zu beseitigen. Doch Nadja war selbst angesichts der vielen Kinder nicht ein bisschen verlegen.

Nick fühlte sich verpflichtet, die Vorstellung zu übernehmen. »Also, du bist Nadja Bogdan«, begann er.

»Ja, die bin ich.« Nadja blinzelte ihn schelmisch an.

»Der Name klingt so ausländisch«, ließ sich die vorlaute Vicky vernehmen, wobei sie ihr Meerschweinchen Micky, das sie überall mit herumschleppte, zärtlich an sich drückte.

»Ja, mein Papa ist Ungar«, klärte Nadja sie voller Stolz auf. »Meine Mama ist Wienerin.«

»Das hatte ich vermutet«, lachte ein großer Junge. »Deine singende Sprechweise ist nicht zu überhören.«

»Bei uns in Wien sprechen alle Menschen so.« Nadja sah ihn aufmerksam an. »Ihr sprecht hier ganz anders. So wie die Leute in Frankfurt.«

»Ich aber nicht. Ich bin nämlich Münchnerin!«, rief ein ungefähr vierzehnjähriges Mädchen, das nur während der Sommerferien in Sophienlust weilte.

»Und ich bin aus Schoeneich.« Henrik trat ein paar Schritte näher an Nadja heran. »Bist du schon sechs Jahre alt?«

»Aber ja. Ich werde im Dezember schon sieben.«

»Ich bin aber größer als du«, stellte er erleichtert fest.

»Dafür ist Nadja auch ein Mädchen.« Nick seufzte auf. »Erst einmal muss Nadja eure Namen kennen lernen. Also, fangen wir mit Malu an.«

Nadja hörte bei der Vorstellung nur halb hin. Interessiert betrachtete sie das große Aquarium mit den schillernden Fischen.

»Nick! Nick! Böser Schlingel!«, kreischte nun Habakuk, der bis dahin still auf seiner Stange gesessen hatte.

Die meisten Kinder hatten mit einem überraschten Gesicht von Nadja gerechnet. Doch sie sahen sich enttäuscht.

»Oh, ihr habt auch einen Papagei?«, rief Nadja. »Wie heißt er denn? Kann er viel sprechen?«

»Ja, Nadja, er hat einen riesigen Wortschatz. Vor allen Dingen kennt er die Namen aller Kinder, die einmal bei uns waren.«

»Wir sind einmal mit einem Papagei aufgetreten. Er war noch bunter als dieser. Und er konnte Gedichte aufsagen und auch singen. Kann das dieser auch?«

»Noch nicht. Aber Habakuk würde bestimmt ein Gedicht lernen. Singen wird er allerdings kaum können«, überlegte Nick. »Wo bist du denn aufgetreten?«

»Oh, überall.« Nadja blickte durch die riesige – Fensterscheibe hinaus. »Im Zirkus, im Variete … Und ich bin sogar gefilmt worden. Ich …«

»Ihr müsst wissen, dass ihr Papa sechs Schimpansen hat, die Kunststücke vorführen. Zwei Schimpansenbabys kommen in den nächsten Tagen ins Tierheim Waldi & Co.«, warf Malu ein.

»Mensch, das ist klasse!«, rief Nick begeistert. »Ist das auch wahr?«

»Ja, es stimmt. Meine Schimpansen heißen Luja und Batu. Mein Papa hat sie mir zum Abschied geschenkt.«

»Wieso?« Fabian sah die Kleine mitfühlend an. Alles, was mit Abschied zusammenhing, erregte ihn auf eine bedrückende Art.

»Weil Mama und Papa sich scheiden lassen. Und Mama muss operiert werden. Ich hätte ja bei Papa bleiben können, aber er hat jetzt Sibylle, und die mag ich nicht leiden.« Nadja sah auf einmal ganz traurig aus.

Da hat man es wieder einmal, dachte Nick. Jedes Kind kommt mit einem Problem hierher. Aber Sophienlust würde Nadja schon helfen, mit ihrem stillen Kummer fertig zu werden.

Nadja war nun dicht an Habakuks Käfig herangetreten. Angst vor Tieren kannte sie nicht. Sie steckte den Finger durch die Stäbe und sagte: »Habakuk, du bist ein schöner Vogel.«

Der Papagei blinzelte sie an. »Habakuk schöner Vogel«, plapperte er nach.

»Er mag dich leiden«, freute sich Isabel. »Wenn er ein Kind nicht mag, hackt er nach ihm.«

»Habt ihr noch mehr Tiere?«, fragte Nadja, der es von Minute zu Minute in Sophienlust besser gefiel.

»Aber ja. Bei uns gibt es Pferde, Ponys, Kühe, Ochsen und zwei Bullen. Natürlich auch jegliches Federvieh. Und außerdem eine Menge Katzen und Hunde«, berichtete Nick.

»Im Tierheim gibt es auch viele Tiere: einen Igel, einen Hasen, zwei Füchse, ein Reh, eine Dohle und einen Waldkauz. Ein fast blinder Esel ist auch dort. Er heißt Benjamin und ist schon sehr alt. Aber du wirst die Tiere bald alle kennen lernen«, erklärte Malu dem Kind liebevoll.

*

Indessen erfuhr Denise Marikas Lebensgeschichte. Nur den Namen von Nadjas leiblichem Vater verschwieg Marika.

»Niemals soll er erfahren, dass ich ein Kind von ihm habe«, erklärte sie fast heftig, als Denise meinte, es sei vielleicht besser, wenn sie seinen Namen kenne. »Selbst wenn ich sterben sollte, ist er unwichtig, Frau von Schoenecker. Ich habe Ihnen die Adresse meines Wiener Anwalts aufnotiert. Sollte mir etwas zustoßen, wird er alles regeln. Nadja bleibt nicht mittellos zurück. Ich wäre in diesem Fall sehr froh, wenn Nadja in Sophienlust aufwachsen könnte.«

»Natürlich soll sie hierbleiben. Aber so etwas sollen Sie nicht denken, Frau Bogdan. Operationen wie die Ihre werden täglich gemacht. Fast alle verlaufen positiv.«

»Ich hoffe es. Aber nun möchte ich fahren. Morgen früh werde ich im Krankenhaus erwartet. Ich habe Nadjas Sachen noch im Auto.«

»Ich werde sogleich dafür sorgen, dass das Gepäck in Nadjas Zimmer gebracht wird. Aber möchten Sie nicht noch das Haus besichtigen?«

»O ja, das würde ich gern tun. Dann kann ich mir, wenn ich an mein Kind denke, ein bestimmtes Bild von seinem Leben machen und leide nicht so sehr unter der Trennung.«

»Ich weiß, Frau Bogdan.« Denise hatte großes Mitleid mit der Besucherin. Wie tapfer die junge Frau trotz allem war!

Denise führte Marika durch das ganze Haus. Für einen Augenblick blieben sie bei Carola Rennert, die in einem Anbau des Herrenhauses mit ihrem Mann und den Zwillingen Andreas und Alexandra eine sehr geschmackvoll eingerichtete Wohnung besaß. Als auch Wolfgang Rennert erschien, stellte Denise den Hauslehrer von Sophienlust vor. Marika wechselte einige Worte mit ihm.

»Ich glaube, es wäre angebracht, wenn Sie Nadja etwas unterrichten würden, Herr Rennert«, überlegte Denise laut. »Sie könnte dann vielleicht gleich in die zweite Klasse aufgenommen werden.«

»Das wäre fein«, stimmte Marika ihr sogleich zu. »Ich bin nun mal keine überaus gute Lehrerin. Nadja scheint aber recht begabt zu sein. Sie lernt erstaunlich schnell.«

»Wenn sich das Kind bei uns eingelebt hat, werde ich es testen. Dann erst kann ich mir ein Bild über Nadjas Intelligenz machen«, erklärte Wolfgang Rennert.

»Das sehe ich ein. Jedenfalls kann ich mich beruhigt unters Messer legen«, scherzte Marika.

Denise zeigte Marika auch die Wirtschaftsgebäude und die Koppeln, auf denen Pferde und Ponys weideten. Dort fanden sie auch Nadja, die mitten unter den Kindern stand und sie mit Fragen überschüttete. Als sie ihre Mama und Tante Isi entdeckte, lief sie den beiden entgegen und rief: »Mama! Mama! Nick will mir Reitunterricht geben. Ich brauche dazu eine Reiterausrüstung!«

»Mach dir deshalb keine Sorgen«, erwiderte Denise lächelnd. »Ich werde einige Reitsachen aus dem Schrank heraussuchen, in dem die Kleidungsstücke aufbewahrt sind, die sich im Laufe der Jahre bei uns angesammelt haben.«

»Vielen Dank, Tante Isi.« Nadja schmiegte sich an ihre Mutter. »Es gefällt mir sehr gut hier«, wisperte sie ihr zu.

Marika strich ihr übers Haar. »Das freut mich, mein Herzchen«, flüsterte sie zurück.

Als sich Marika von der Kleinen verabschiedete, vergoss diese keine Träne. Erst abends im Bett überließ sie sich dem Abschiedsschmerz. Doch die größeren Mädchen, die noch einmal nach ihr schauten, trösteten Nadja und blieben so lange bei ihr, bis sie eingeschlafen war. Alle waren sich einig, dass Nadja Bogdan ein sehr liebes Mädchen war.

*

Marika fuhr, bevor sie in ihr Appartement zurückkehrte, zuerst noch zu dem Haus, in dem Tibor mit seiner Geliebten lebte. Sie wollte noch einiges mit ihm besprechen und auch einige persönliche Sachen abholen.

Das Haus lag mitten in einem verwilderten Garten. Jäh erinnerte sich Marika an den Tag vor ungefähr vier Jahren, als sie mit Tibor hierhergefahren war, um das Haus zu besichtigen. Es hatte ihnen auf den ersten Blick gefallen, sodass sie es rasch entschlossen gekauft hatten. Sie hatten viel Geld hineingesteckt. Ein Teil des Parterres gehörte den Affen, die ein Schlafzimmer und ein Spielzimmer hatten.

Marika holte den Schlüssel aus ihrer Handtasche und schloss die Haustür auf. Ein bisschen weh tat es ihr schon, dass nun eine andere Frau hier lebte. Sie hoffte nur, dass Tibor mit Sibylle glücklich werden würde.

Zögernd blieb Marika in der Diele stehen und lauschte. Sie hörte Tibors Stimme, dann die von Sibylle. Sie ging dem Klang nach und fand die beiden bei den Affen. Noch hatte weder Tibor noch Sibylle Marikas Anwesenheit bemerkt.

»Ich finde es dumm von dir, dass du Luja und Batu fortgeben willst«, sagte Sibylle eben in einem gereizten Ton.

»Ich habe sie doch Nadja geschenkt.«

»Nadja kann sie doch nicht gebrauchen. Schau dir doch Luja an. Sie ist die schönste Schimpansin, die ich kenne. Und Batu ist ein Prachtkerl und sehr gescheit. Mit den beiden hätten wir eine Nummer aufbauen können, die eine Sensation geworden wäre.«

»Nadja wollte sie doch so gernhaben.« Tibor seufzte innerlich. Zugegeben, er liebte Sibylle leidenschaftlich. Aber sie war oft recht anstrengend für ihn. Marika war viel verständnisvoller gewesen. Eigentlich war es dumm von ihm, dass er sein bequemes Leben mit ihr aufgegeben hatte. Marika hatte in all den Jahren nichts gegen seine Geliebten gehabt. Aber Sibylle wollte mehr als nur seine Geliebte sein.

»Was du nur mit Nadja hast. Sie ist nicht einmal dein eigenes Kind, Tibor«, riss Sibylle ihn aus seinen Gedanken.

»Aber ich liebe sie wie meine eigene Tochter«, sagte er leise. »Und sollte Marika etwas zustoßen, nehme ich das Kind zu mir.«

»Das werde ich niemals erlauben!«, rief Sibylle. »Ich will später eigene Kinder haben, deine Kinder, Tibor. Ein fremdes Kind werde ich niemals lieb haben können.«

»Das brauchen Sie auch nicht.« Marika hielt jetzt den Augenblick für gekommen, sich bemerkbar zu machen.

Im gleichen Augenblick begannen die Affen voller Freude zu kreischen. Sie kamen auf ihren kurzen Beinen aus dem Nebenraum angelaufen und umringten Marika.

»Meine Lieblinge«, sagte Marika zärtlich und hob Luja hoch, die die Arme nach ihr ausstreckte. Dann begrüßte sie die anderen Affen.

Sibylle beobachtete die Szene mit zusammengepressten Lippen, dann lief sie einfach hinaus. Sie war wütend auf Tibor, weil er von Marika noch immer nicht den Hausschlüssel zurückverlangt hatte.

»Verzeih, dass ich hier eindringe«, entschuldigte sich Marika.

»Aber du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Noch sind wir verheiratet. Hättest du mir damals nicht unter die Arme gegriffen, wäre ich heute vielleicht ein kleiner Angestellter in Wien.«

»Wir wollen nicht davon reden.« Marika musterte ihn sinnend. Tibor war Ende der Dreißig. Doch sah er etwas älter aus. Das lag vermutlich an seinen grauen Haaren. Auch trank er viel zu viel. Alles an ihm war ihr unendlich vertraut. In den sieben Jahren, die sie zusammengelebt hatten, waren sie einander sehr nahe gekommen. Sie hatten selten Streit gehabt. Eine Zeitlang hatte sie sogar geglaubt, ihn zu lieben, weil sie ihn hatte lieben wollen, um den anderen zu vergessen.

Tat es ihr leid, dass sie sich von ihm getrennt hatte? Das war eine Frage, die sie sich in den letzten Tagen häufig gestellt hatte – Nadjas wegen, die ja glaubte, dass er ihr wirklicher Vati sei. Vorläufig wollte sie das Kind auch noch bei diesem Glauben lassen.