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Susanne Dohrn

DER BODEN

Bedrohter Helfer
gegen den Klimawandel

Mit Illustrationen von Walther Weiss

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Oktober 2019
entspricht der 1. Druckauflage von Oktober 2019
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 0232-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Einbandgestaltung: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag,
unter Verwendung von Albrecht Dürers Gemälde
»Das große Rasenstück« (1503)

eISBN 978-3-86284-457-9
ISBN 978-3-96289-054-4

INHALT

PROLOG

Eine Reise in die Unterwelt

DER BODEN

Dunkle Materie

PFLANZEN

Mittler zwischen den Sphären

WURZELN

Titanen der Unterwelt

PILZE

Netzwerker, Jäger und Verpackungskünstler

BÄUME

Himmelsstürmer mit Bodenhaftung

REGENWÜRMER

Ingenieure des Bodens

AMEISEN

Weltmacht unter unseren Füßen

DUNGKÄFER UND WEIDETIERE

Lebensgemeinschaft mit Rissen

NEMATODEN

Könige des Grauens

MIKROPLASTIK

Don Juan aus der Retorte

BODENEXPERIMENTE

Glaskugel der Wissenschaft

HUMUS

Die Verwandlung

KOHLENSTOFFSPEICHERUNG

Die 4-Promille-Initiative

DER BODEN UND DAS KAPITAL

Jagd nach Rendite

PIONIERE DES WANDELS

Der Zukunft den Boden bereiten

ANHANG

Anmerkungen

Danksagung

Die Autorin und der Illustrator

»Was die Erde befällt, befällt auch die Söhne der Erde.«
Häuptling Noah Seattle 1855

PROLOG

Eine Reise in die Unterwelt

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So wie auf dem Titelbild dieses Buches sähe eine Schnecke die Welt oder ein Regenwurm, wenn er denn Augen hätte: Rispengras und Löwenzahn, Ehrenpreis und Gänseblümchen, Breitwegerich und Schafgarbe. In seinem großen Rasenstück hat Albrecht Dürer sie mit dem Auge eines Naturforschers porträtiert. Dazu den Boden, von Wurzeln durchwachsen, die Grundlage des Lebens. Das Gemälde entstand vor mehr als 500 Jahren. Das Besondere daran ist die Perspektive, der Blick von unten, als habe Dürer beim Malen auf dem Bauch gelegen.

Albrecht Dürer sieht die Natur wie ein Wissenschaftler – detailgenau bis in die Wurzeln der Pflanzen. Keiner seiner Zeitgenossen hat zuvor solch ein alltägliches Motiv aufgegriffen und dargestellt. Es heißt, er habe die einzelnen Pflanzen mit in seine Werkstatt genommen, sie aquarelliert und dann zu seinem Mikrokosmos einer Wiese komponiert. Gerade mal 41 mal 31,5 Zentimeter groß, ist das Werk ein Wunder botanischer Genauigkeit. Der Boden und die Flora und Fauna, die in und über ihm lebt, gehören zusammen. Das große Rasenstück verbildlicht den Kreislauf des Lebens, der im Boden seinen Ausgang nimmt und dort sein Ende findet.

Mit Dürers Rasenstück wächst man auf, es begegnet einem als Poster, als Illustration in Schulbüchern, im Kunstunterricht. Das Spannende an dem Gemälde ist, dass sich an ihm immer wieder neue Seiten entdecken lassen. Ich habe es oft in meinen Vorträgen über Das Ende der Natur gezeigt, meinem ersten Buch (Ch. Links, 2017): Seht her, unsere Naturlandschaft ist Kulturlandschaft, Natur ist Kultur, weltberühmte noch dazu.

Die Erde, die bei Dürer an den Pflanzenwurzeln haftet, war nebensächlich, bis ich angefangen habe, mich mit dem Boden zu beschäftigen, und dabei feststellte: Für den Künstler war es selbstverständlich, dass die Vielfalt über der Erde und in der Erde zusammengehören. Der Boden war ihm viel näher als uns Menschen heute, die wir unsere Lebensmittel im Supermarkt kaufen, Pflanzerde aus Plastiktüten verwenden, Kompost aus Kompostwerken beziehen und bei der Gartenarbeit Handschuhe tragen.

Wer wie ich mit einem großen Garten aufgewachsen ist, hat einen Restbezug zum Boden. Um ehrlich zu sein: Ich mochte ihn nicht. Als Kinder mussten wir samstags im Garten helfen, vor allem Unkraut jäten. Waren die Radieschen fertig, kamen die Möhren an die Reihe, die Zwiebeln, der Lauch, die Erbsen und Bohnen. Es nahm kein Ende. Ich habe das gehasst, nicht wegen der Pflanzen, sondern wegen der Erde, die an den Fingern vertrocknete. Gartenhandschuhe hatten wir nicht, hätten sie auch gar nicht benutzen dürfen. Die kleinen Pflänzchen, die es auseinanderzuhalten galt, musste man nicht nur sehen, sondern zwischen Daumen und Zeigefinger fühlen können, selbst wenn einem die trockene Erde an den Fingerspitzen kalte Schauer über den Rücken jagte.

Später, mit einem eigenen Garten und Handschuhen, sah es schon anders aus. Aber die Annäherung an den Boden war eine praktische: Unkraut jäten, immer noch, den Garten gestalten, Pflanzen umsetzen, die Wurzeln möglichst heil aus dem Boden bekommen und mit viel Wasser an einem neuen Ort einpflanzen, wo sie munter weiterwuchsen. Mir wurde ein »Grüner Daumen« attestiert, aber mit tiefergehenden Bodenkenntnissen hatte das nichts zu tun. Es folgten schwerere Arbeiten: Den Kompost umheben und im Garten verteilen ist schweißtreibendes Werk, das die Fähigkeit voraussetzt, sich über verrottetes Pflanzenmaterial zu freuen, ungeachtet der Schmerzen in Rücken und Schultern. Wie aus Pflanzenresten Kompost wurde, warum mein Boden fruchtbarer ist als der auf der anderen Straßenseite, habe ich mich erst viel später gefragt.

Albrecht Dürers forschender Blick ist das Leitmotiv für dieses Buch. Wie schon bei Das Ende der Natur geht es mir darum, genau hinzuschauen, auf die Vielfalt der Pflanzen und Tiere und die endlose Kaskade von Fressen und Gefressenwerden, die die Artenvielfalt sichert. Es gibt in dem Buch ein Kapitel über den Boden. Als ich es schrieb, stellte ich fest: Hier tut sich eine Welt auf, die unendlich komplexer, unendlich faszinierender ist als die über der Erde. Eine Welt zudem, die mir völlig unbekannt war. Ich wurde neugierig, wollte wissen, wie dieses geheime Leben funktioniert, wie es dafür sorgt, dass Pflanzen wachsen, Leben entsteht und wie es wieder vergeht.

Boden ist Physik und Chemie, Boden ist Botanik und Zoologie, ist Mikrobiologie, Geologie, und, und, und … die Recherche hielt viele Lektionen bereit. Ich begann zu verstehen, welche Wunderwelt dort, verborgen vor unseren Blicken, existiert. Um sie zu ergründen, habe ich mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gesprochen, die sich viele Stunden Zeit für mich genommen haben. Ohne sie würde es dieses Buch nicht geben.

Den heißesten Nachmittag meines Lebens verbrachte ich in einem Büro in Halle. Draußen herrschten mehr als 30 Grad, drinnen gefühlte 50, wir schauten uns auf einem riesigen Bildschirm an, wie Pflanzenwurzeln mit Trockenheit umgehen. Sie können sich ihre Umgebung bis zu einem gewissen Grad selbst organisieren. An diesem Nachmittag, als mein Gehirn kurz vor dem Schmelzpunkt stand, kamen sie mir klüger vor als ich. An einem anderen Tag sah ich Wiesenpflanzen beim Wachsen zu, Schafen beim Grasen und Bäume, deren Laub sich langsam verfärbte. Weit entfernt pflügte ein Traktor einen Acker. Stundenlang redeten wir über den Boden, wie das, was auf ihm wächst, das Leben darunter beeinflusst und umgekehrt. Den Boden sahen wir nicht. Auch das ist eine Lektion dieses Buches: Es handelt von etwas Verborgenem, etwas, das sich dem Auge entzieht.

Eine weitere Lektion erhielt ich in Berlin, und ein Satz geht mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf: »Boden ist unfassbare Oberfläche.«1 Für mich, die den Boden immer als etwas Festes wahrgenommen hat, etwas Sicheres, auf dem man steht und geht, sein Handtuch ausbreiten kann, um sich in die Sonne zu legen, oder auf dem man seine Gartenmöbel abstellen kann, war das eine völlig neue Sichtweise. Gäbe es eine Steigerung des Wortes dreidimensional, der Boden wäre der »dreidimensionalste« Lebensraum, den man sich vorstellen kann. Kleine und mikroskopisch kleinste Bodenteilchen aus zermahlenem Gestein liegen über-, unter-, an-, neben- und umeinander. Jedes Einzelne von ihnen, und sei es noch so klein, ist umschlossen von Feuchtigkeit und durchsetzt mit luftigen Zwischenräumen, und alles ist idealerweise wie ein System von Kapillaren im Körper miteinander verbunden. Dazwischen tobt das Leben. Eine Handvoll Boden ist eine Handvoll Leben, bildet ein eigenes kleines Universum mit eigenen Regeln.

Relativ schnell stellte ich fest: Wenn wir über den Boden reden, reden wir immer auch über den Klimawandel. Das zentrale Element allen Lebens, der Kohlenstoff, treibt nicht nur den Klimawandel an, sondern spielt im Boden eine bedeutende Rolle. Deshalb zieht sich die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Bodenleben, Kohlenstoff und Klima wie ein roter Faden durch das Buch.

Die Reise in diese unbekannte Welt beginnt mit den Pflanzen. Sie sind wahre Wunder, denn sie versorgen nicht nur die Lebewesen über der Erde mit Nährstoffen, sondern »füttern« unterirdisch mit den Ausscheidungen ihrer Wurzeln ein Nahrungsnetz von Mikroorganismen. Eine der Haupthandelswaren in diesem Nahrungsnetz ist Kohlenstoff, den die Pflanzen aus der Atmosphäre assimiliert haben und in Form von nährstoffreichen Verbindungen im Boden weitergeben. Es ist ein ständiges Geben und Nehmen. »Boden ist keine Fabrikhalle, sondern ein Ökosystem, ein Raum voller Leben. Er hat die Kraft, fruchtbarer zu werden, wenn Regenwürmer, Bakterien und andere Organismen zusammenwirken«, sagt Professor Michael Succow, Bodenkundler und Träger des alternativen Nobelpreises. Ein auf diese Weise fruchtbarer Boden kann sogar zum Helfer im Klimawandel werden.

Wer sich auf die Reise in die Vielfalt unter unseren Füßen begibt, entdeckt eine neue und eine von menschlichen Eingriffen bedrohte Welt. Der natürliche Zustand im Boden ist der Mangel, auch das ist eine Lektion dieses Buches. In einem System, das davon abhängig ist, wie viel »Futter« Pflanzen mithilfe der Photosynthese zur Verfügung stellen können, gibt es keinen Abfall, sondern viele Spezialisten, die darauf aus sind, noch die kleinsten Reste an Nährstoffen zu ergattern. Professor François Buscot vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle hat es so formuliert: »Je mehr Beziehungen Sie haben zwischen Armen und Reichen, Gebildeten und Ungebildeten, Jungen und Alten, Tätigen und Nichttätigen, je solider diese Verlinkung ist, desto solider ist eine Gesellschaft. Das ist im Boden das Gleiche.«

DER BODEN

Dunkle Materie

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Ich bin der Stoff, den alle nutzen und niemand kennt. Ich bestehe zur Hälfte aus Luft – um genau zu sein zwischen 30 und 65 Prozent – und werde Tag für Tag milliardenfach mit Füßen getreten. Bin tonnenschwer und gleichzeitig so federleicht, dass mich der Wind über Ozeane hinweg von Kontinent zu Kontinent tragen kann. Die meisten Menschen halten mich für tote Materie, dabei gibt es auf Erden nichts Lebendigeres. In einer Handvoll von mir kann es mehr Organismen geben, als Menschen auf unserem Planeten leben.1 Mich bevölkern Wesen, die schon vor Jahrmillionen tonnenschwere Fleischberge wie den Tyrannosaurus zerlegt haben. Für viele Wissenschaftler bin ich die letzte große »Terra incognita«, der letzte große weiße Fleck auf der Weltkarte der irdischen Wissenschaften. Ich bin die Grundlage allen Lebens.

Schlüsselelement der Natur

Wer sich auf eine Reise in die Welt des Bodens begibt, dem ergeht es leicht wie dem Literaturnobelpreisträger Maurice Maeterlinck. Nachdem der naturbegeisterte Dichter und Dramatiker über Bienen, Termiten und – hochaktuell – über Die Intelligenz der Blumen geschrieben hatte, verzweifelte er schier an seinem nächsten Werk Das Leben der Ameisen. »Man kommt dem Gegenstand niemals nahe, man weiß nicht, wo man ihn anpacken soll. Die Materie ist zu reich, zu umfassend, sie verzweigt sich unaufhörlich«, stöhnt er in seinem 1930 verfassten Vorwort.2

Der Boden ist wie Maeterlincks Ameisen: vielfältig und schwer zu greifen, kompakt und mikroskopisch klein, präsent bei jedem Blick aus dem Fenster, aber verborgen unter Pflanzenbewuchs und Steinen, unter Gebäuden, Beton und Asphalt. Jeden Tag werden allein in Deutschland Bodenflächen in der Größe von knapp 60 Hektar versiegelt. Das entspricht etwa 85 Fußballfeldern. Damit hören die Misshandlungen nicht auf. Man presst den Boden mit tonnenschweren Landmaschinen zusammen, sodass ihm die Luft ausgeht. Man zerreißt seine Haut beim Pflügen bis zu einer Tiefe von einem halben Meter. Könnte der Boden schreien, wäre der Lärm um uns herum unerträglich. Aber er hat keine Stimme. Wenn mit ihm etwas nicht in Ordnung ist, merkt es sehr, sehr lange niemand.

Zum Glück gibt es immer mehr Forscher, die sich ihm widmen und ihn wertschätzen. Sie nennen sich Bodenökologen und haben bis vor 15, 20 Jahren in der Welt der Wissenschaft eher ein Schattendasein geführt. Das liegt an ihrem Gegenstand. Versuche mit dem Boden sind mühsam, sie dauern Jahre, bisweilen Jahrzehnte, und die Ergebnisse lassen sich schwer verallgemeinern, weil Böden so vielfältig sind. Hinzu kommt: Bodenlebewesen sind keine Sympathieträger. Schaut man sie unter dem Mikroskop an, taucht man ein in ein Gruselkabinett, in dem es ständig Mord und Totschlag gibt – begangen mit Raspeln, Kieferklauen, Scheren oder Stacheln. Der Boden ist bevölkert von Minimonstern. Wer sich mit ihnen beschäftigt, liebt sie trotzdem, braucht jedoch ein unerschütterliches Gemüt und vielleicht manchmal einen etwas schrägen Geschmack. Professor Willi Xylander, Direktor des Senckenberg Museums für Naturkunde in Görlitz / Sachsen, formuliert es so: »Ich mag meine Bodentiere, aber zugegeben: Ich lieb sie auch schon ziemlich lange.«3

Die Hauptaufgabe dieser Myriaden von Lebewesen ist es, einen Stoff zu verarbeiten, dem die Böden ihre Fruchtbarkeit verdanken – den Kohlenstoff, Carbonium, kurz C. Er ist ein vielseitiges Element. In seiner reinen Form als Diamant ist er teuer und seine Größe und Klarheit ein Maßstab der Zuneigung des Liebsten. Handwerker nutzen ihn als Bleistift, dann heißt er Graphit, Autofahrer füllen ihn in Form von Benzin oder Diesel in ihre Tanks, und Klimaforscher sorgen sich seinetwegen, weil er zusammen mit zwei Sauerstoffatomen (O) die Erderwärmung fördert. Warum ist ausgerechnet der Kohlenstoff für das Leben so zentral? Weil er über eine einzigartige Fähigkeit verfügt, die er im heißen Inneren schwerer Sterne erworben hat. Dort verschmelzen drei Kerne des Gases Helium (He, je zwei Protonen, zwei Neutronen, zwei Elektronen) durch Kernfusion zu Kohlenstoffatomen (sechs Protonen, sechs Neutronen, sechs Elektronen). Zwei der Elektronen nutzt der Kohlenstoff, um sein Innerstes zu bilden, die restlichen vier hat er in seiner äußeren Schale deponiert, hätte aber Platz für acht.

Diese äußere Schale ist wie ein halb besetztes Karussell, dessen Betreiber alle einlädt, die gerade vorbeikommen, damit sie die leeren Plätze besetzen. Dabei ist der Kohlenstoff nicht wählerisch. Ihm ist es egal, ob es andere Elemente sind oder weitere Kohlenstoffatome. Nur Edelgase wie Helium oder Neon bleiben auf Distanz, denn die sind sich selbst genug. Diese Geselligkeit des Kohlenstoffs macht ihn zu einem idealen Kooperationspartner: An 90 Prozent aller bekannten Verbindungen ist der Don Juan unter den Elementen beteiligt. Und mit anderen Kohlenstoffatomen können Kohlenstoffatome lange Ketten, Ringe und Verzweigungen, Ebenen oder Kugeln bilden.

Alles Leben besteht zu einem großen Teil aus Kohlenstoff, Menschen beispielsweise zu 28 Prozent. »Jede Zelle, jeder Bestandteil der Zelle ist kohlenstoffbasiert«, schreibt die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Natalie Angier. Ganz gleich, ob es sich um eine Amöbe handelt oder ein Bakterium, um Milbe, Maulwurf oder Mensch, der Kohlenstoff ist immer mit von der Partie. Sogar Viren, die keinen eigenen Stoffwechsel haben und sich nur in den Zellen ihrer Wirte vermehren können, schleppen Kohlenstoff als Teil ihrer genetischen Grundausrüstung von Wirt zu Wirt, so Angier.4 Er ist die Kraft, die alles Lebende zusammenhält, auch in der Welt unter unseren Füßen. »Das Schlüsselelement allen Lebens«, wie ihn der Chemiker und Schriftsteller Primo Levi nannte.

Dabei kommt Kohlenstoff auf der Erde in relativ geringen Mengen vor. Im Weltraum ist er mit 4,6 Promille das vierthäufigste Element nach Wasserstoff (H), Helium und Sauerstoff. Bezogen auf die Gesamtmasse der Erde beträgt der Anteil des Kohlenstoffs hingegen gerade einmal ein halbes Promille. Das meiste davon, 99,8 Prozent, oder unvorstellbare 107 Gigatonnen (1 Gigatonne = 1 Milliarde Tonnen), ist im Kalkstein anorganisch fest gebunden, zum Beispiel in den Alpen oder im Gestein des Mount Everest. Anorganisch bedeutet unbelebt. Kalkstein ist hart, verwittert langsam und lässt sich allenfalls mit Säure auflösen. Deshalb bildet der Boden über kalkhaltigem Gestein meistens nur eine dünne Schicht. Flachgründig nennen Landwirte und Wissenschaftler das. Für den Klimawandel auf der Erde spielt der in Kalk gebundene Kohlenstoff kaum eine Rolle.

Das gilt weitgehend außerdem für die 38 000 Gigatonnen Kohlenstoff im Wasser, vor allem in den Ozeanen. Dort verbindet sich das CO2 aus der Luft mit Wasser (H2O) zu Hydrogencarbonat (HCO3), sinkt in die Tiefe und kommt vielleicht irgendwann wieder an die Erdoberfläche, wenn Erdbeben oder Vulkanausbrüche den Kohlenstoff ans Tageslicht befördern. Aber das dauert Jahrmillionen, und dann ist er so hart gepresst, dass er fest im Gestein gebunden ist. Bedeutender für den Klimawandel sind die circa 4100 Gigatonnen Kohlenstoff, die in Form von Kohle, Erdöl und Erdgas langfristig und unterirdisch gebunden sind, aber heute als Brennstoff genutzt werden. Dabei handelt es sich um organischen Kohlenstoff, der aus lebenden Zellen entstanden ist. Bei seiner Verbrennung reagiert er mit Sauerstoff zu CO2 und fördert so den Klimawandel.

Die Atmosphäre ist mit etwa 800 Gigatonnen der kleinste Kohlenstoffspeicher, aber für alles Leben auf dieser Erde, den Boden und den Klimawandel von zentraler Bedeutung, denn dieser kleinste Speicher ist sehr mobil. Hier ist der Kohlenstoff nicht, wie zum Beispiel in der Steinkohle oder dem Erdöl, an feste Moleküle gebunden, sondern bewegt sich zusammen mit zwei Sauerstoffatomen frei in der Luft, wird eingeatmet und ausgeatmet, in lebende Substanz eingebaut, umgebaut, gefressen, verdaut und wieder ausgeschieden. Weil die Atmosphäre ein kleiner mobiler Speicher ist, hat es solch gravierende Konsequenzen, wenn sich der Anteil von CO2 in der Atmosphäre erhöht. Lag er vor der industriellen Revolution bei 280 ppm (parts per million), so ist er seitdem wegen der Nutzung fossiler Brennstoffe auf 400 ppm angestiegen und wird vermutlich weiter steigen. Das spüren wir beispielsweise in Form der Erderwärmung.

Ebenso viel Kohlenstoff wie in der Atmosphäre ist in den Lebewesen, den Pflanzen, Tieren und Menschen, gespeichert. Hinzu kommen weitere 1580 Gigatonnen im Boden. Damit ist der Boden die größte terrestrische – also an die Landoberfläche gebundene – Senke für Kohlenstoff. In ihm ist so viel davon gespeichert wie in den Lebewesen und in der Atmosphäre zusammen. Denn alles, was stirbt, was Lebewesen auf dem Land ausscheiden oder absondern, nimmt der Boden früher oder später in sich auf. Eine Armee von über- und unterirdischen Lebewesen hilft ihm dabei, es entweder zu neuem Leben zu verarbeiten oder zu speichern. Zusätzlich steht der Boden mit der Atmosphäre in ständigem Austausch. Seine wichtigsten Partner dafür sind die Pflanzen. Sie versorgen ihn ständig mit Futter für seine Mikroorganismen. Ohne die Pflanzen wäre der Boden tot.

Wollen Wissenschaftler dem Bodenleben auf die Schliche kommen, hatten sie dafür bis vor kurzem nur sehr begrenzte Möglichkeiten. Eine ist, den Kohlenstoff im Boden zu verbrennen. Man nimmt eine Bodenprobe, trocknet und erhitzt sie. Der organische Kohlenstoff oxidiert zu CO2 – wird vermuffelt, wie die Wissenschaftler es nennen. Aus der Differenz zwischen der ursprünglichen Probe und dem, was übrig ist, lässt sich errechnen, wie viel Leben in der Bodenprobe existiert hat. Das ist brutal und wenig effektiv. Eine andere Methode macht sich die Bodenatmung zunutze. Wie ein Lebewesen atmen Böden Sauerstoff ein und Kohlendioxid (CO2) aus, je nachdem, wie aktiv ihre Lebewesen sind, mal mehr und mal weniger. Das kann man messen, zum Beispiel wenn neue Pflanzenschutzmittel getestet werden. Dann schauen die Wissenschaftler: Atmet ein Boden nach 90 Tagen wieder so wie vor der Behandlung? Ist das der Fall, gehen die Hersteller davon aus, dass ihm kein dauerhafter Schaden zugefügt wurde. Wer da atmet und ob die Zusammensetzung der unterirdischen Flora und Fauna eine andere ist als zuvor, konnte man jahrzehntelang nicht messen, weil die technischen Möglichkeiten dazu fehlten.

Das hat sich geändert. Viele Bodenbiologen haben Muffelofen und Mikroskop inzwischen zur Seite gestellt, denn der ungeheure technische Fortschritt der vergangenen Jahre hat ihr Forschungsfeld erfasst. Immer häufiger nutzen sie teure und supermoderne Maschinen: Massenspektrometer, mit denen kleinste Mengen von Substanzen nachgewiesen werden können, die die Bodentiere gefressen haben. Computertomographen, die mit Röntgenstrahlen dreidimensionale Bilder vom Innenleben des Bodens herstellen können. DNA-Sequenzierungsgeräte, mit denen sich die Erbsubstanz von Böden untersuchen lässt, sodass die Forscher Rückschlüsse ziehen können auf die Organismen, aus denen das Bodenleben zusammengesetzt ist. Hätte die Sequenzierung von 10 000 Bakteriengenomen im Jahr 2000 noch mehr als 100 Jahre gedauert, klappt das heute aufgrund neuer Hochdurchsatz-DNA-Sequenzierungsgeräte in weniger als einem Tag!5

So entlocken die Forscher den Böden nach und nach ihre Geheimnisse. Die Wissenszunahme lässt sich sogar messen. Derzeit wiegt das Wissen darüber ziemlich genau 1600 Gramm. So schwer ist das Lehrbuch der Bodenkunde, nach den ursprünglichen Autoren kurz Scheffer / Schachtschabel genannt. Als es 1937 zum ersten Mal herauskam, war es ein schmales Bändchen von 112 Seiten. Die 17. Auflage aus dem Jahr 2018 umfasst 750 Seiten. Mehr als zehn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – die Besten ihres Faches – geben darin ihr Wissen über den Boden weiter.6

Die dünne Haut der Erde

Wer bin ich und wie viele? Der Scheffer / Schachtschabel beantwortet die Frage gleich in seinem ersten Satz: »Böden sind der belebte Teil der oberen Erdkruste.« Manchmal sind sie zehn und mehr Meter dick, oftmals aber auch nur wenige Zentimeter, je nachdem, wo auf der Welt sie sich befinden und welches Klima dort herrscht. Gemessen an den 6370 Kilometern, die zwischen der Oberfläche und dem Mittelpunkt der Erde liegen, sind die Böden eine dünne Haut und eigentlich eine Quantité négligeable. Und doch wäre die Erde ohne sie wüst und leer. Es gäbe nichts zu essen, keine Wälder, Parks und Gärten. Böden sorgen für sauberes Trinkwasser, denn sie können Schadstoffe binden und verhindern, dass diese ins Grundwasser gelangen. Sie können wie ein Schwamm Regenwasser aufnehmen und so Überschwemmungen vorbeugen. Sie können sogar helfen, das Klima zu regeln, wenn man sie denn lässt.

Zwar gleicht kaum ein Boden dem anderen, aber jeder von ihnen ist im Lauf der Jahrtausende und Jahrmillionen aus einem von drei Ausgangsgesteinen entstanden: aus magmatischen Gesteinen wie Basalt, Granit oder Tuff, die tief aus dem Erdinnern aufgestiegen und an der Erdoberfläche erstarrt sind. Aus Sedimenten wie Sandstein (zusammengepresster Sand) oder Mergel (stark verfestigte Ablagerungen aus Ton und fein verteiltem Kalk). Sandböden sind leicht, nährstoffarm und können Wasser schlecht speichern. Mit Mergel hat man im 18. Jahrhundert solche Böden fruchtbar gemacht, weil die feinen Minerale des Tons die Nährstoffe binden. Das dritte Ausgangsgestein sind metamorphe Gesteine. Das sind Gesteine jeglicher Art, die tief im Erdinnern unter Hitze und hohem Druck zusammengepresst wurden und so ihre ursprüngliche Gestalt gewandelt haben – in Schiefer (unter anderem aus Tongestein), in Gneis (unter anderem aus Granit) oder in Marmor (unter anderem aus Kalkstein).

Aus diesen Urgesteinen wurden im Zeitlupentempo lebendige Böden. Je nach Härte des Grundgesteins braucht ein Zentimeter Boden für seine Entstehung 100 bis 1000 Jahre. Hitze und Frost lassen das Gestein porös werden, Wasser dringt in die Ritzen. Wenn die Feuchtigkeit gefriert, sprengt sie Teile der Felsen auseinander. Wasser und Wind zerlegen die Brocken in immer kleinere Bestandteile und zermahlen sie in feinste Partikel. Manche, wie Schluff und Ton, sind so klein, dass sie selbst mit der Lupe einzeln nicht mehr erkennbar sind. Moose und Flechten lösen mit ihren Säuren Gesteinsoberflächen auf und sorgen ebenfalls für Verwitterung. Die Lebensgrundlage für Pflanzen entsteht, die Lücken im Gestein auf der Suche nach Wasser und Nährstoffen erkunden. Wind und Wasser tragen Bodenpartikel fort und lagern sie woanders wieder ab. Überschwemmungen reißen sogar Steine mit sich fort.

So sind im Laufe der Zeit allein in Deutschland etwas mehr als 50 unterschiedliche Bodentypen entstanden. Zu ihnen gehören der vom Wind zusammengewehte Sand, den Pflanzen nach dem Ende der Eiszeiten durchwurzelt und mit ihren abgestorbenen Resten angereichert haben, oder die dünne Schicht über dem Kalkstein, in dem das Wasser sofort verrinnt. Zu ihnen gehören der Marschboden, der aus den Ablagerungen von Meeresfluten entstanden ist, feinsandig, fruchtbar, aber schwer zu bearbeiten, oder die Schwarzerde der Magdeburger Börde und des Thüringer Beckens, einer der fruchtbarsten Böden Deutschlands. Zu ihnen gehört die fruchtbare Parabraunerde Bayerns, gebildet aus feinem, kalkhaltigen Ausgangsmaterial, oder der Plaggenesch in meinem Bundesland Schleswig-Holstein, den die Menschen in Gegenden geschaffen haben, wo die Böden karg und nährstoffarm waren. Dazu haben sie den Oberboden samt der darauf wachsenden Gras- und Heidepflanzen, sogenannte Plaggen, abgestochen, ihn in ihre Ställe verfrachtet, als Einstreu genutzt und nach etwa einem Jahr als Dünger wieder auf ihre Äcker gebracht.

Der »belebte Teil der oberen Erdkruste« begann vor etwa 500 Millionen Jahren sich zu entwickeln, als die ersten Pflanzen und später Tiere vom Meer aus das Land eroberten. Allerdings könnten Bakterien und Pilze, die noch sehr viel älter als Pflanzen sind, schon früher an Land gegangen sein. An den heißen Quellen auf dem Meeresboden lebten schon vor 3,7 Milliarden Jahren erste Mikroorganismen, die eine große Ähnlichkeit mit dem Bakterienbewuchs an heutigen Hydrothermalquellen aufweisen. Biofilme aus Bakterien, wie man sie heute noch vor der Küste Australiens findet, gab es schon vor etwa 3,5 Milliarden Jahren. Wer bei Bodenbewohnern also vor allem an Maulwürfe oder Regenwürmer denkt, täuscht sich. Bakterien gehören auch heute zu den häufigsten Bodenbewohnern. In einem Gramm Boden können eine Milliarde Bakterien mit 4000 bis 7000 verschiedenen Arten leben. All das lässt sich heute dank gentechnischer Analysen nachweisen.7

Inzwischen arbeiten Bodenmikrobiologen daran, das Metagenom, also die Gesamtheit der DNA im Boden, zu analysieren. Mit den klassischen mikrobiologischen Verfahren schaffen sie das nicht. Damit lassen sich zwar Mikroorganismen im Labor kultivieren, aber diese Verfahren können nur etwa 0,1 Prozent der tatsächlichen Vielfalt der Bodenlebewesen widerspiegeln. Konnten die Forscher bis noch vor wenigen Jahren innerhalb eines Forschungsprojekts nur einige hundert Gene aus einer Bodenprobe ermitteln, sind es heute mit einer einzigen Analyse in wenigen Tagen mehrere Millionen.8 In Europa gibt es inzwischen Gen-Landkarten, in denen die Biodiversität der Bodenbakterien gebietsweise erfasst wurde.

Auch über die Kohlenstoffvorräte in den Böden Deutschlands ist inzwischen mehr bekannt. Das Thünen-Institut, eine Bundesforschungsanstalt, kommt in der »Bodenzustandserhebung Landwirtschaft« zu dem Ergebnis, dass in den landwirtschaftlich genutzten Böden Deutschlands zusammen mit den ober- und unterirdischen Vorräten in unseren Wäldern fünf Milliarden Tonnen Kohlenstoff gespeichert sind. »Die Wald- und Agrarökosysteme speichern zusammen so viel organischen Kohlenstoff wie Deutschland bei dem derzeitigen Emissionsniveau in 23 Jahren als CO2 emittiert«, heißt es in dem Bericht.9

Hinter dieser freudigen Nachricht verschwindet die Tatsache, dass es noch sehr viel mehr sein könnte, denn eine landwirtschaftliche Nutzung, bei der kaum Stroh, Wurzel- oder Erntereste auf einem Acker zurückbleiben, raubt den Böden organische Substanz und damit Kohlenstoff. Das verschlechtert ihre Fähigkeit, Nährstoffe zu speichern. Um die Verluste auszugleichen, wird mit Gülle oder Mineraldünger gedüngt. Aber viele Böden können den Stickstoff (N), der ihnen auf diese Weise zugeführt wird, nicht festhalten. Er entweicht in Form von Nitrat (HNO3) ins Grundwasser und als Lachgas (N2O) in die Atmosphäre. 80 Prozent der Lachgasemissionen in Deutschland stammen aus der Landwirtschaft, und sie heizen den Klimawandel weiter an.10 Mit veränderter Bodennutzung ließe sich das verhindern. Hier kommen die wichtigsten Verbündeten des Bodens ins Spiel: die Pflanzen. Das ganze Jahr über sorgen sie dafür, dass seine Myriaden von Bewohnern gut genährt werden.

Tipp:
Düngen für Naturgärtner

Als ich Kind war, brachte ein Landwirt alle zwei Jahre ein Fuder Mist. Der lagerte ein Jahr ab und wurde anschließend auf den Gemüsebeeten verteilt. Dort blieb er ein paar Wochen liegen, dann wurde er umgegraben. Mit dem Gemüseanbau verschwand der Mist, und mit Rasenflächen und Blumenbeeten hielt der Mineraldünger Einzug. Stets stand eine Tüte mit blauen oder grünen Kügelchen in der Garage. Mal schnell vor dem Regen etwas davon ausstreuen, das gab ein gutes Gefühl, sollten die Kügelchen doch alles enthalten, was Pflanzen zum Leben brauchen.

Inzwischen kommt bei mir Kunstdünger nicht mehr ins Haus. Die kleinen Körner verätzen die empfindliche Haut von Fröschen, Kröten und Molchen. Die letzten Überlebenden ihrer Art würden gemeuchelt, setzte man Kunstdünger im Garten ein. Mineralische Düngemittel können zudem Schwermetalle wie Blei, Cadmium, Nickel, Quecksilber, Arsen und Uran enthalten. Das gilt vor allem für Phosphor-Dünger aus sedimentären Rohphosphaten, der von Natur aus hohe Schwermetallgehalte aufweist, warnt das Umweltbundesamt.11

Außerdem kann man damit die Pflanzen leicht überdüngen. Sie schießen dann zu schnell in die Höhe, werden anfällig für Trockenheit und Schädlinge und kippen bei Wind und Regen leichter um. Untersuchungen zeigen immer wieder, dass mehr als die Hälfte der privaten Gärten mit Nährstoffen überversorgt sind. Das wiederum schadet dem Grundwasser, in das die Nährstoffe ausgewaschen werden können.

Wer wirklich meint düngen zu müssen, sollte auf Kompost (siehe Kapitel Humus) oder auf Hornspäne zurückgreifen. Dafür werden die Hufe und Hörner von Rindern zermahlen. Horn ist ein natürlicher Stoff, und man kann ihn praktisch nicht überdosieren. Auch Biobauern dürfen ihn auf ihren Feldern nutzen.

PFLANZEN

Mittler zwischen den Sphären

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Wir ernähren die Welt – von der Schnecke bis zum Elefanten. Unsere Stärken sind Vielfalt und Regenerationsfähigkeit. Frisst uns jemand ab, wachsen wir wieder nach. Frisst uns jemand immer wieder ab, kann es sein, dass wir uns wehren und Gifte oder einen üblen Geschmack produzieren. Für all das brauchen wir nur CO2, Sonnenlicht, Wasser und Nährstoffe. Als Brücke zwischen Sonne und Erdreich, zwischen Atmosphäre und Boden haben wir aus der sauerstofflosen Uratmosphäre der Erde einen lebendigen Planeten geschaffen.

Erntemaschinen für Kohlenstoff

Als der Mensch die Erde betrat, waren die Pflanzen schon da – seit Hunderten Millionen von Jahren. Sie haben den Boden bereitet für das Leben, wie wir es heute kennen, denn Pflanzen haben eine Fähigkeit, die kein anderes Lebewesen beherrscht: Sie nehmen Kohlendioxid (CO2) auf und geben Sauerstoff ab. Nahezu alle tierische und menschliche Existenz verdankt ihnen die Luft zum Atmen. Zudem verwandeln sie das CO2 in der Atmosphäre mithilfe von Sonnenlicht, Wasser und Nährstoffen in Blätter, Blüten, Stängel, Äste, Stämme und Früchte. Zusammen mit Wasser und Nährstoffen aus dem Boden produzieren sie Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette – sogenannte Assimilate –, die Lebewesen vom Einzeller bis zum Menschen als Nahrung dienen. Der im CO2 enthaltene Kohlenstoff ist der Grundbaustein für süße Erdbeeren und stärkehaltige Weizenkörner, für proteinhaltige Sojabohnen und vitaminreiche Kürbiskerne, für ölhaltige Nüsse und Sonnenblumenkerne.

Das CO2 nehmen die Pflanzen mit ihren Blättern oder, wie manche Bäumen, mit ihren Nadeln auf. Sobald es hell wird, öffnen sie mikroskopisch kleine Spalte, die sich meist auf den Unterseiten befinden. Sie werden von zwei Zellen wie Lippen umschlossen, weshalb sie Stomata, von griechisch Stoma = Mund, genannt werden. Pflanzen besitzen pro Quadratmillimeter bis zu mehrere hundert davon. Die Pflanze fängt also nicht nur C aus der Atmosphäre ein, sie nagelt ihn sogar quasi fest, sodass er ihr nicht mehr entkommen kann.

Den Kohlenstoff behält die Pflanze, nutzt ihn als Baustoff für ihre Zellwände und als Energiereserve. Den Sauerstoff (O) gibt sie, gewissermaßen als Abfallprodukt, wieder ab. Erst diese Fähigkeit, die vor etwa 2,7 Milliarden Jahren von einer Bakterienart »erfunden« wurde, ermöglicht das Leben auf der Erde, wie wir es heute kennen.1 Sie wird Photosynthese genannt. Weil Pflanzen durch ihre Spaltöffnungen auch Wasser verdunsten, schließen sie ihre Lippen, wenn es zu heiß und zu trocken wird. Deshalb wägen sie ständig zwischen Feuchtigkeitsverlust und Photosynthese ab, weshalb Stefano Mancuso, ein italienischer Professor für Pflanzenkunde, sie intelligent nennt.2 Wachsen sie zu stark und verdunsten zu viel Wasser, vertrocknen sie und würden möglicherweise sterben. Nehmen sie zu wenig CO2 auf, können sie nicht oder nur sehr langsam wachsen.

Pflanzen haben das Dilemma auf unterschiedliche Weise gelöst: Der leuchtend gelb blühende Scharfe Mauerpfeffer (Sedum acre) hat beispielsweise nur um die 20 Spaltöffnungen pro Quadratmillimeter und kann daher wenig Kohlenstoff aufnehmen. Er gedeiht auf trockenen sonnenbeschienenen Böden und Steinen, muss mit Wasser haushalten und wird nur fünf bis 15 Zentimeter hoch. Die Sonnenblume (Helianthus annuus) hingegen zapft mit ihren bis zu zwei Meter tiefen Wurzeln Wasservorräte weit unten im Boden an. Sie besitzt fast 500 solcher Öffnungen pro Quadratmillimeter und wächst in einem Jahr bis zu zwei Meter. Der Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus) verfügt sogar über 860 auf seinen Blättern.3 Er speichert im Laufe seines Lebens – wie alle großen Bäume – in seinem Holz mehrere Tonnen Kohlenstoff.

Pflanzen vereinigen 80 Prozent des in Lebewesen vorhandenen Kohlenstoffs auf sich. Wir Menschen hingegen gerade mal so viel, wie alle Termiten zusammengenommen.4 Mancuso ist sicher: Würden die Pflanzen morgen von der Erde verschwinden, wäre in wenigen Wochen, spätestens Monaten, alles menschliche Leben erloschen.5 Angesichts der ungeheuren Pflanzenbiomasse sind wir Menschen eher ein Staubkorn der Naturgeschichte. Wir können uns allenfalls damit rühmen, dass wir die außergewöhnlichen Fähigkeiten der Pflanzen immer besser verstehen. Wir haben also allen Grund, ihnen mit Achtsamkeit zu begegnen, zumal von ihrem Gedeihen mit abhängt, wie es mit dem Klimawandel weitergeht. Denn je besser die Pflanzen wachsen, je mehr Biomasse sie bilden, umso mehr Kohlenstoff können sie speichern.

Erste Anhaltspunkte für diese Zusammenhänge lieferte ein von der EU gefördertes Projekt mit dem Namen BIODEPTH, das zwischen 1996 und 1999 stattfand.6 An acht Standorten von Irland bis Griechenland und von Schweden bis Portugal legten Forscher Hunderte von Minigärten an, auf denen unterschiedlich viele Arten wuchsen – von sechzehn, acht, vier und zwei bis hin zur Monokultur. Ein Unterfangen, das nicht einfach umzusetzen ist, wie jeder weiß, der schon einmal ein Gemüsebeet angelegt hat. Egal wie sorgfältig die Erde vorbereitet wird, die Wurzeln unliebsamer Gräser und Kräuter entfernt werden – immer und immer wieder muss trotzdem gejätet werden. Auch bei BIODEPTH mussten Wissenschaftler, Mitarbeiter und Studenten regelmäßig zum Unkrautjäten aufs Feld, damit die Zusammensetzung der Arten konstant blieb und die Ergebnisse vergleichbar waren.

Drei Jahre lang untersuchten die Forscher, ob Artenvielfalt die Produktivität eines Ökosystems beeinflusst. Sie wollten wissen: Konkurrieren viele unterschiedliche Arten miteinander um Nährstoffe und Wasser, und wachsen sie deshalb schlechter? So wie ein Kuchen schnell kleiner wird, wenn viele hungrige Esser davon futtern? Oder hatte Charles Darwin recht, der 1859 in seinem bahnbrechenden Werk Die Entstehung der Arten folgende Erkenntnis verbreitete: »Es ist durch Versuche dargethan worden, daß, wenn man eine Strecke Landes mit Gräsern verschiedener Gattungen besäet, man eine größere Anzahl von Pflanzen erzielen und ein größeres Gewicht von Heu einbringen kann, als wenn man eine gleiche Strecke nur mit einer Grasart aussäet.«7

Die Auswertung der Ergebnisse von BIODEPTH zeigte: Darwin hatte richtig beobachtet. Die Minigärten mit einer höheren pflanzlichen Diversität bauten mehr Biomasse auf als die Minigärten mit einer geringeren Artenvielfalt, egal wo in Europa sich die Flächen befanden. »Wir konnten in ersten Ansätzen experimentell zeigen, dass ökologische Unterschiede zwischen den Arten dazu führen, dass mit zunehmender Artenzahl die vorhandenen Ressourcen wie Licht, Wasser und Nährstoffe effektiver genutzt werden«, erläuterte Professor Ernst-Detlef Schulze, damals Direktor am Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena, der die Untersuchungen auf den Flächen in Deutschland leitete.8

Aber warum ist das so, und welche Faktoren spielen dabei außer der Pflanzenvielfalt noch eine Rolle? Pflanzen leben in Gemeinschaften mit anderen Pflanzen, mit Tieren und Mikroorganismen. Diese Lebensräume hat der Mensch in den vergangenen Jahrzehnten massiv verändert. Aus artenreichen Wiesen und Weiden wurde Grünland, auf dem vor allem schnellwachsende Gräser vorherrschen. Farbenfrohe Äcker mit Mohn und Kornblumen mutierten zu Getreide-, Raps- und Maismonokulturen. Gewässer, Hecken, Randstreifen, Gräben verschwanden aus der Landschaft und mit ihnen ein großer Teil der Arten, die auf diese Habitate angewiesen sind.

Die Folgen machen sich erst nach und nach bemerkbar. Viele Arten verschwinden nicht sofort. Individuen oder Gruppen schaffen es unter widrigeren Umständen oder in Fragmenten ihrer ehemaligen Habitate noch eine Weile zu überleben. Geht eine Art verloren, zum Beispiel der Bestäuber einer mehrjährigen Pflanze, wird die Pflanze noch einige Jahre weiterexistieren. Es werden sogar möglicherweise weitere Pflanzen der Art keimen, sofern sich noch Samen im Boden befinden.9 Vor allem Gewinne und Verluste von Kohlenstoff im Boden zeigen sich erst so richtig nach einigen Jahren veränderter Bewirtschaftung.

Ein Nachfolgeprojekt von BIODEPTH musste her, in dem solche Fragen untersucht werden können. Es befindet sich in Thüringen, am Rande des Flusses Saale, etwas außerhalb von Jena, wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert, nennt sich »Jena Experiment« und ist eine LangzeitFeldstudie. Seit 2002 treten dort Grünland-Monokulturen der heutigen intensiv bewirtschafteten Agrarlandschaften gegen artenreiche Wiesen an, wie sie bis vor wenigen Jahrzehnten typisch waren.

Vielfalt zahlt sich aus

Was aus der Vogelperspektive wie ein Schachbrett aus unterschiedlichen Grüntönen aussieht, ist aus der Nähe betrachtet ein Areal von fast 500 Versuchsflächen, auf denen Wissenschaftler unterschiedliche, für eine Auenlandschaft typische Graslandschaften ausgesät haben. Dr. Markus Lange ist einer der Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena, die an der Langzeitstudie mitwirken. Regelmäßig besucht er die Flächen, die bis vor knapp 20 Jahren ein intensiv bewirtschafteter Acker waren. »Wahrscheinlich wurde auch hier früher Gülle ausgebracht, was eine massive organische Kohlenstoffzufuhr bedeutete«, sagt der Wissenschaftler, als er mich an einem Oktobertag über die Fläche führt.10 Zu Beginn des Projekts befanden sich noch viele Nährstoffe im Boden, die erst nach und nach abgebaut werden. Bis sich eine natürliche Nährstoff- und Kohlenstoffbilanz einstellte, hat es also ein paar Jahre gedauert.

Markus Lange zeigt auf eine Tafel, auf der zu lesen ist, was im Mittelpunkt des Jena Experiments steht: »Welche Folgen hat der Verlust von biologischer Artenvielfalt?« Der Grund für diesen Schwerpunkt liegt auf der Hand: Wir stecken mitten in einer Biodiversitätskrise, und sie findet direkt vor unserer Haustür statt. Die Welt verliert Tiere und Pflanzenarten in rasanter Geschwindigkeit. In den vergangenen 150 Jahren sind allein in Deutschland schon 119 Pflanzenarten ausgestorben oder verschollen, mindestens ein Drittel aller Arten (inklusive der Tierarten) ist gefährdet.11 Die Häufigkeit der fliegenden Insekten ist zwischen 1989 und 2014 allein in Deutschland um durchschnittlich 76 Prozent zurückgegangen.12

Der Verlust an Vielfalt in unserer heimischen Flora und Fauna beeinflusst die Ökosysteme als Ganze. Dieses größere Bild wollen die Jenaer Wissenschaftler auf den Versuchsflächen erforschen. Ging es im Vorgängerprojekt vor allem um die Pflanzen, werden im Jena Experiment Tiere und Mikroorganismen, wie Insekten und Bakterien, mit in die Untersuchungen einbezogen. Welche Mechanismen tragen dazu bei, dass Ökosysteme gut funktionieren und stabil sind? Wie produktiv sind Ökosysteme? Welche Faktoren beeinflussen diese Produktivität? Und wie viel Kohlenstoff können die Organismen aufnehmen? Solche Fragen wurden zur Geburtsstunde dieses inzwischen weltweit längsten Freilandexperiments.