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Jens Rosteck

Mein Ibiza

Eine Lebensreise

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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2013 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Simone Hoschack, mareverlag Hamburg

Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

ISBN E-Book: 978-3-86648-366-8

www.mare.de

In Ibiza setzte ich mich jeden Tag in die Cafés, die den Hafen säumen. Ich setzte mich, noch ganz betäubt von der Sonne des Tages, erfüllt von weißen Kirchen und kreidigen Mauern, von dürren Feldern und zerzausten Olivenbäumen. Ich trank süßliche Mandelmilch; ich betrachtete die geschwungene Linie der gegenüberliegenden Hügel. Sanft fielen sie ins Meer ab. Der Abend wurde grün. Auf der höchsten Kuppe drehte der letzte Windhauch die Flügel einer Mühle. Und wie durch ein natürliches Wunder senkten alle Menschen die Stimme, so dass nur noch der Himmel da war und der Singsang der Worte, die zu ihm aufstiegen, aber aus großer Ferne zu kommen schienen.

Während dieses kurzen Augenblicks der Dämmerung herrschte etwas Flüchtiges und Schwermütiges, das nicht nur ein einzelner Mensch spürte, sondern ein ganzes Volk. Was mich angeht, so hatte ich Lust zu lieben, so wie man Lust hat zu weinen. Es schien mir, als sei jede Stunde meines Schlafes künftig dem Leben gestohlen …

Albert Camus

Amour de vivre / Amor de vivir, 1936

Für Li und Fu

Molts d’anys i bons!

Inhalt

Ibiza

Liebeserklärung an eine unbestechliche Schöne

Ebusus

Wie alles anfing

Aivis

Menschen im Hotel

Ebysos

Stadtspaziergang durch eine Seelenlandschaft

Yvica

Verpflanzt, verborgen, verführt, verwurzelt

Yebisah

Wie die Jungfrau zur Kunst

Ibosim

Von Musenküssen, Machwerken und Mondscheinsonaten

Iiih Bitza

Kleine Sittengeschichte des Strandes

Ibissim

Endstation Sehnsucht

Isla de Bes

Tanit muss Trauer tragen

Eivissa

Meine Insel als Nabelschnur

Zitatnachweis

Literaturverzeichnis

Ibiza

Liebeserklärung an eine unbestechliche Schöne

Wenn Liebenden die Worte der Vernunft ausgehen, brabbeln sie Unverständliches. Dann flüstern sie einander zärtliche Albernheiten zu und erfinden Kosenamen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Verballhornen die vertraute Silbenfolge, auf die das Objekt ihrer Begierde bislang hörte. Fügen Verniedlichungen ein, verschleifen Vokale, erfinden Provisorien, experimentieren mit Bezeichnungen. Einige dieser Umbenennungen bleiben am geliebten Gegenüber haften, verselbstständigen sich und führen bald ein Eigenleben. Andere haben sich so weit vom Original entfernt, dass man ihren Ursprung kaum noch erahnt. Am Ende steht dem Schöpfer solcher mots doux ein ganzes Arsenal von Vokabeln und Pseudonymen zur Verfügung, ein beachtliches Ausdrucksspektrum der Zuneigung, der Sympathie und des Begehrens. Mit dessen Nuancen nach Belieben jongliert werden kann. Selten nur lässt sich erkennen, welche Spitznamen zuerst da waren. Und der oder die Geliebte wird sich das schmeichelhafte Sprachspiel mit der eigenen Person gern gefallen lassen, erinnert es doch stets an die Anfangsphase der Beziehung, an die Euphorie des Entdecktwerdens und an die Leidenschaft, mit der sich die Eroberung vollzog.

Nur der Urheber solcher Lautfolgen vermag jedoch mit Bestimmtheit zu sagen, welche Stimmung ihn zu seiner Schöpfung verleitet hat und was er damit ausdrücken wollte. Ziemlich einseitige Liebesbekundungen sind solche kreativen Zuschreibungen, deren manchmal törichte Resultate am Bezeichneten dann oftmals für lange Zeit hängen bleiben, ob er nun möchte oder nicht. Wie Pech und Schwefel sind beide miteinander verbunden. Und Spötter können die Begriffe später leicht ins Lächerliche ziehen.

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Mit Ibiza, der emblematischen Wohnstätte der undurchsichtigen karthagischen Schutzgöttin Tanit und des grausamen ägyptischen Schlangenwürgers Bes, verbindet mich eine nun schon fast fünf Jahrzehnte währende Lebens- und Liebesgeschichte. Ibiza, die stolze und verschwiegene Baleareninsel, die keines ihrer Geheimnisse leichtfertig preisgibt, sorgte nicht nur dafür, dass ich überhaupt auf diese Welt gelangte, sondern führte mich liebevoll und geduldig an Lebensbereiche heran, die seither einen ganz besonderen Stellenwert für mich einnehmen – Literatur und Musik, Kunst und Sinnlichkeit. Mit seinem einzigartigen Fluidum half Ibiza mir, meine Affinitäten zu entdecken und zu vertiefen. Meine Aufenthalte hier glichen einem sich über Jahre erstreckenden Initiationsritual. Jede Reise hierher war von aufgeregter Vorfreude gekennzeichnet. Ibiza wurde zu meiner treuen Geliebten. Und ich hatte bislang nicht den geringsten Anlass, fremdzugehen.

Im Bewusstsein vieler Zeitgenossen ist meine Gastgeberin Ibiza als Massenreiseziel, als Emblem für hochkarätige Diskothekenkultur und Ort für Extrem-Entertainment hinlänglich verankert. Leider eher negativ besetzt – als berüchtigtes Party-Eiland, als Schauplatz exzessiver Techno-Nächte, als Rundum-die-Uhr-Laufsteg für eitle Sonnenbadende und Zuflucht für radikale Hedonisten, als Sündenpfuhl. Als abschreckendes Beispiel für Allerweltstourismus, ja als Stereotyp fehlgeschlagener Entwicklungen im Fremdenverkehr. Chaotisch, dubios, moralisch verwahrlost, oberflächlich, flatterhaft, verachtenswert. Mehr noch: überkandidelt. Synonym für Dekadenz auf hohem Niveau.

Mein Eivissa, das im Lauf seiner Geschichte noch viel ärgere Invasionen verkraften musste, hat hingegen gottlob nur wenig mit dem Party-Eiland der schicken Schönen und coolen Hipster gemein. Ich durfte es als Oase der Poesie, Harmonie und Unbestechlichkeit, als Heimstatt der Kreativität, Toleranz und Unverdorbenheit kennenlernen; ich durfte hier meine Lehr- und Wanderjahre absolvieren. Ein Privileg. Ibiza brachte mir das Laufen bei; Ibiza machte mich zu dem, der ich heute bin. Ich hatte das unverschämte Glück, einen fantastischen Kindheitstraum, der für mich ganz reale Züge angenommen hatte, Jahr für Jahr weiterspinnen und wiederbeleben zu können.

Ibiza konfrontierte mich früh in meinem Leben mit Sonderlingen, Paradiesvögeln und Käuzen; Ibiza lehrte mich, dass »schräg« oft gleichgesetzt werden kann mit »faszinierend«. Dass nichts so öde ist wie Normalität. Ibiza ließ mich meine ersten, kostbaren Erfahrungen verinnerlichen; Ibiza war und ist für mich ein Garant von Stabilität und Verlässlichkeit. Es verhalf mir zur Lebens- und Liebesfähigkeit. Ich verdanke Ibiza unendlich viel. Ich verliebte mich in diese Insel, als ich solche Gefühle noch gar nicht in Worte fassen konnte. Meine Zärtlichkeit für Ibiza war schon immer da.

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Gemessen an der Vielfalt von Namen, die für die Insel Ibiza vorliegen, muss ihr über Jahrhunderte hinweg grenzenlose, hemmungslose, ja durch und durch unkritische Zuneigung entgegengeschlagen sein, ist sie anscheinend über alle Maßen geliebt und begehrt worden. Doch diese vielen Bezeichnungen bekam sie nicht nur von ihren Liebhabern verpasst, sondern auch von Rivalen und Invasoren, von Besetzern, Nebenbuhlern und eifersüchtigen Mitbewerbern.

I Bes A, Insel des Bes, stand wohl am Anfang. Iboshim und Aiboshim folgten. Aivis, Ebusus und Yebisah. Ebysos, Yvica und Ibosim. Ibissim und Eivissa. Island of love, island of the sun. Hippie-Insel, isla blanca, magic island. Everybody’s darling. Die Insel mit Sex-Appeal. Pityusa – die Pinienreiche. Selbst ein Adjektiv gibt es: ebusitanisch. Die Liste ließe sich fortsetzen. Anlass für mich, ihr keine weiteren Wortschöpfungen hinzuzufügen, sondern die gebräuchlichsten und klangschönsten darunter an den Anfang der nachfolgenden Kapitel zu stellen.

Ibiza musste in der Vergangenheit viele Feinde abschütteln, Usurpatoren vertreiben, fremde Händler integrieren, Aggressoren in die Schranken weisen und unliebsame Siedler loswerden. Seit fast drei Jahrtausenden befindet es sich im Belagerungszustand.

Sieben Jahrhunderte vor Christus ging es los mit dem Ansturm. Damals befanden sich die Karthager auf Expansionskurs, landeten an den Gestaden der Bes-Insel und siedelten bei Sa Caleta. Danach kehrte eigentlich nie wieder Ruhe ein. Auf die Phönizier oder Punier folgten Römer und Vandalen, Byzantiner, Normannen und Mauren. Es ging Schlag auf Schlag mit den Heimsuchungen; die günstige strategische Lage machte die Pinienreiche erst so richtig begehrenswert, wurde ihr für lange Zeit gar zum Verhängnis. Alle enemigos kamen über das Meer, umzingelten die stolze Schöne. Die eine halbe Ewigkeit währende Herrschaft des Emirats von Córdoba wurde erst von den pisanisch-katalanischen Kreuzzügen unterbrochen; die Hegemonie der Almoraviden im westlichen Mittelmeer beendeten die Katalanen mit ihrer erfolgreichen Rückeroberungsstrategie. Das Königreich der Balearen bescherte dem von der reconquista befreiten Ibiza schon um 1300 eine Universität, aber dann schlossen sich erneut Jahrhunderte der Instabilität und Orientierungslosigkeit an. Die Ibicencos, Opfer schrankenloser Freibeuterei und gezielter Plünderungen, waren praktisch ununterbrochen mit der Verteidigung ihrer Dörfer und Städtchen beschäftigt, errichteten Wälle und Wehrkirchen, machten gegen die Türken mobil.

Bis es ihnen mit der ewigen Piratenplage und Brandschatzung zu bunt wurde und sie ihre eigene Korsarenflotte aufstellten. Sie drehten den Spieß einfach um und gingen in die Offensive. Feindliche Boote wurden gekapert und versenkt. Der Strategiewechsel zahlte sich aus; man verschaffte sich Respekt. Bald hatten sich die Verwegenheit und der Todesmut der Leute von Eivissa herumgesprochen; das »organisierte« Korsarentum bescherte der Insel sogar eine gewisse wirtschaftliche Blüte. Im 19. Jahrhundert konzentrierte sich dann der ganze Stolz der Insulaner auf den heldenhaften Antonio Riquer Arabí, dem es 1806 gelungen war, das englische Kriegsschiff Felicity, von erfahrenen Marinesoldaten gelenkt und von Waffen nur so strotzend, in seine Gewalt zu bringen. Der vorgeblich überlegene Feind wurde von Arabí in die Knie gezwungen.

Schließlich hatte der Freiheitskampf Früchte getragen. Der hohe Blutzoll war nicht umsonst entrichtet worden, und in Ibiza war man künftig auf seine siegreichen Piraten so stolz wie anderswo auf Monarchen und Kirchenmänner. Nahezu jeder zweite Einwohner kann noch heute einen illustren Freibeuter als Ahnen vorweisen.

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Die Drittgrößte oder je nachdem Zweitkleinste der Balearen war schon in der Antike respektiert worden für ihre virtuosen, erschreckend treffsicheren Steinschleuderer und die Furchtlosigkeit ihrer Söldner, für den aufrührerischen Geist ihrer Bewohner und deren rebellische Natur. Und gleich nachdem Ibiza nun auch mit Arabí unter Beweis gestellt hatte, dass es sich nicht ungestraft auf der Nase herumtanzen ließ, begann es, sich sirenenhaft zu gebärden, seine verführerischen Seiten hervorzukehren und seinen Besuchern gehörig den Kopf zu verdrehen. Wenige Generationen nach dem Triumph der Korsaren nahm eine fruchtbare Periode der Selbstbehauptung und Gastfreundschaft ihren Anfang, die sich bis zum heutigen Tag fortsetzt.

Ibiza bot seither vielen ein Dach. Zuallererst den Entdeckern der Neuzeit. Dem Pionier unter den Globetrottern etwa, Ludwig Salvator, Prinz von Toskana und Erzherzog von Österreich: dem ersten fleißigen Enzyklopädisten der Insel. Ihm, einem enthusiastischen Forschungsreisenden, hatten es in den 1860er-Jahren die nixenhaften jungen Ibicencas angetan, »herrliche Gestalten, bald wie aus Elfenbein geformte Statuen«, ebenso die einladenden Badebuchten und die »dumpfen, summenden Akkorde des Brummeisens«, wie er das emotionsreiche Gitarrenspiel der verliebten Jünglinge blumig nannte.

Den katalanischen Schriftsteller und Maler Santiago Rusiñol wiederum beflügelte das außerordentliche Inselerlebnis zur Schöpfung eines weithin bekannten Slogans. Rusiñol, einer der Hauptvertreter des modernismo, katapultierte Ibiza 1913 mit seinem Schlagwort »la isla blanca«, »die weiße Insel«, in Reiseführern und Urlaubskatalogen dankbar aufgegriffen, unfreiwillig in die vorderen Ränge des neuzeitlichen, internationalen Fremdenverkehrs. Ein prägnantes und auch sehr strapazierfähiges Attribut, das den Ruhm der bis dato unbekannten Pityuse in die Welt hinaustrug. »Weiß wie am ersten Tag, in einem Weiß, das den Schatten noch nicht kennt«, leuchteten Rusiñol die kubistischen Flachdachbauten der Dalt Vila, der befestigten Oberstadt Ibizas, und die fincas der unberührten Dörfer entgegen.

Ibiza beherbergte den deutschen Philosophen und Literaturkritiker Walter Benjamin, der im Sommer 1932 seinen Freund Felix Noeggerath in San Antonio Abad besuchte, sich dort gewissermaßen auf die schwierige Emigrationszeit vorbereitete und der tatsächlich so etwas wie eine Phase der Erholung erfuhr: »Ich führe ein Leben«, gestand Benjamin in einem Brief, »wie die Hundertjährigen es als Geheimnis den Reportern anvertrauen: aufstehen um sieben Uhr und im Meer baden. Darauf, gegen einen gefügigen Stamm im Walde gelehnt, ein Sonnenbad, dessen heilsame Kräfte […] auf den Kopf übergreifen, und dann ein langer Tag der Enthaltung von zahllosen Dingen.«

Ibiza hielt schützend seine Hand über den französischen Ethnologen Michel Leiris, der, in Gesellschaft des Wortakrobaten Raymond Queneau, zu ahnen begann, dass der Spanische Bürgerkrieg vor der Tür stand, und in seinem Tagebuch notierte: »Im Juli 1936 war es, auf Ibiza, dass ich spürte, wie die Welt zerbarst.« Das Ende einer Ära. Und wenig später der Beginn einer neuen: Ibiza wurde von Filmgrößen wie Romy Schneider und Sam Peckinpah aufgesucht, die sich im Gästebuch des mythischen Altstadthotels El Corsario eintrugen. Und es hielt dem Argwohn des rumänisch-französischen Dichters und Berufsskeptikers E. M. Cioran stand, der es im Juli 1960 fertigbrachte, selbst auf Ibiza von Schlaflosigkeit geplagt zu werden, und der seinen überraschend eintönigen Tagesablauf in lakonische Worte fasste: »Auf einer kleinen Insel leben, sich langweilen und beten, beten und sich langweilen …«

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Gelangweilt habe ich mich auf Ibiza eigentlich nie. Gebetet habe ich eher selten. Und im Gegensatz zu Cioran habe ich auch wenig daran auszusetzen, was die Insel mit mir anstellt. Eher störe ich mich daran, was ihre Besucher ihr antun. Zum Beispiel, wenn man unter Deutschen ihren Namen auch heute noch so ausspricht, als ekele man sich vor einem italienischen Nationalgericht: »Iiih Bitza«. Mit falscher Betonung auf der ersten Silbe. Unter Umgehung des feinen, surrenden th, das man unseligerweise stets durch einen hässlichen, schmatzenden tz-Laut ersetzt.

Heute ist Ibiza eine Insel der friedlichen Koexistenz. Autokratisch agierende, machtbesessene Parteichefs und Entscheidungsträger sowie selbstherrlich regierende Lokalpolitiker haben es sich neben Reformern, tapferen Ökologen und um die Zukunft der Insel ehrlich bemühten Idealisten bequem gemacht. Eine eigensinnige, stolze Landbevölkerung behauptet sich neben Kleinstädtern. Bohemiens und Intellektuelle ziehen ihre Bahnen neben Gelegenheitstouristen, die es sonst eher an die Costa Brava verschlägt. Die Klientel eines familienorientierten, biederen Fremdenverkehrs kommt so gut wie nie in Berührung mit Radikalindividualisten – Malern, Schriftstellern, Philosophen und Musikern. Rauschmittelsüchtige lassen es sich neben Meditationswütigen und eingefleischten finca-Siedlern gut gehen. Überdrehte Twens neben abgeklärten Senioren und bedürfnislosen Eremiten. Schaumschläger neben ehrlichen Häuten. Von kriegerischen Auseinandersetzungen ist seit Langem nichts mehr zu spüren, und Ibizas Gastlichkeit ist sprichwörtlich. Es hat sich ein dickes Fell zugelegt und erträgt die Dauerbelagerung mit bewundernswerter Geduld.

Ibiza leidet ganz sicher nicht unter Minderwertigkeitskomplexen, lässt sich nicht darauf reduzieren, als »kleinere Schwester« oder charmanter Ableger Mallorcas zu gelten. Es darf sich vielmehr rühmen, Vorreiter zu sein. In vielen Belangen der Off-Kultur führend und richtungsweisend. In erster Linie für die Adlib-Mode natürlich, die von hier aus in den frühen Siebzigern ihren Siegeszug antrat. Initiiert von der Prinzessin Smilja Mihailovitch, kreativ propagiert und weiterentwickelt von Dora Herbst und vielen weiteren Designern. Bequem, lässig, leicht. »Nach Belieben« kombinierbar und mit viel Bewegungsfreiheit. Frech und chic. Sexy, romantisch und eben »typisch« mediterran. Ihr Weltruf steht dem von Ibizas ungeheuer vielfältiger Disco-Szene, deren Klubs in jedem Sommer wieder von Abertausenden hoch motivierten Tanz-Travellern umschwirrt werden, in nichts nach.

Ibiza rollt für zahlungskräftige Gäste und die glitzernden Sternchen der Boulevardpresse unbeirrt den roten Teppich aus, hat aber auch ein großes Herz für dreiste Schmarotzer und findige Lebenskünstler. Ibiza hat viele kurzlebige Phänomene kommen und gehen sehen.

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Und heute? Es ist noch immer ausreichend Platz da, trotz der begrenzten Ausdehnung der Insel. Für Visionäre, Tagträumer und Eintagsfliegen. Neue, attraktive Nischen werden sich auftun. Und überlebten Traditionen keine Krokodilstränen nachgeweint werden. Wer sesshaft werden möchte, sollte Assimilierungsbereitschaft, Mut und Ausdauer mitbringen – und sich auf ein unsentimentales, nostalgieresistentes Eiland einstellen.

Am leichtesten haben es zweifellos die frisch Verliebten bei ihrem Erstkontakt mit dem Balearen-Kleinod. Für sie wird noch einmal eine Tür aufgestoßen, ihnen eröffnet sich ein himmelblauer Horizont von unabsehbaren Möglichkeiten. Ihnen allein ist es gestattet, zu säuseln, zu flüstern und zu raunen. Ibiza, te amo. Te quiero. Te deseo.

Ihnen gehört von jeher die Welt. Ihnen schenkt die Insel erneut ihre ursprüngliche Unbefangenheit. Ihnen gibt sie wieder eine echte Chance.

Die Stadt Ibiza breitet sich nicht aus: … in einem einzigen kühnen Aufschwung erobern ihre weißen Häuser den gegen das alte Hafen- und Piratenviertel meerwärts abfallenden Hügel und halten ihn besetzt. Es ist eine Siedlung klar gegliederter weißer Kuben, zwischen die sich – sehr selten – vereinzelte Würfel aus Rosa, aus Ocker oder Schwarz geschoben haben. Ibiza ist eine Stadt ewiger Jugend: ähnlich wie bei der Einfahrt nachAlgier strahlen auch hier die weißen Fassaden im blauesten Licht. Uralt scheint es in Bau und Anlage zu sein und modern zugleich, eine nordafrikanische Kasbah und eine Siedlung Corbusiers in einem. …

Zwischen weißen Mauern gehe ich weiter. Licht und Schatten bilden im Mondglanz wunderbare Gegensätze und lassen alles klar, alles selbstverständlich und edel erscheinen. Aus einem Café voll feiernder Soldaten dringt mir reine arabische Musik entgegen, und auf einmal meine ich wieder in Fès, in Rabat oder Tanger zu sein.

Walter Läubli

Ibiza, 1959

Ebusus

Wie alles anfing

August 1961. Eine junge deutsche Frau entsteigt einer kleinen Propellermaschine. Die Luft, die ihr auf dem Treppchen entgegenschlägt, ist von betäubender Hitze; als sie ihren Fuß auf die Landebahn setzt, wird sie von glutgelbem, blendendem Licht umhüllt. Sie bereut es bereits, sich noch keine Sonnenbrille zugelegt zu haben. Der Weg vom Flugzeug über die Sandpiste in einen Palmengarten beträgt nur wenige Meter, ein richtiges Abfertigungsgebäude gibt es nicht. Zusammen mit den anderen Passagieren schreitet sie durch ein weiß gemauertes ibizenkisches Portal, wie es auch an der Einfahrt zu einer finca stehen könnte. Sie bahnt sich einen Weg an winkenden Kindern und strahlenden Gesichtern vorbei. Das Gepäck wartet schon auf sie, steht auf einem Holzkarren bereit. Ihm entnimmt sie ein Handköfferchen. Sonst wartet niemand auf sie. Sie hält inne und blickt sich um. Kakteen, Agaven, Pinien. Verdorrte Erde. Schwarz gekleidete Männer an Metalltischen schlagen die Zeit tot, paffen Zigarren und trinken café con leche. Jemand lädt sie auf einen tallat ein. Lächelnd willigt sie ein, leert das Tässchen, das ihr im Handumdrehen serviert wird, im Stehen und verbrennt sich fast den Mund. Man mustert sie mit Wohlgefallen. Eine echte Blondine, noch dazu mit taillenlangen Haaren, sieht man hier nicht alle Tage. Señorita und por favor ist alles, was sie versteht; was ¿qué tal? oder ¿cómo puedo ayudarle? bedeutet, weiß sie noch nicht.

Um sie herum Gedränge, Kommandos und Palaver; Uniformierte bemühen sich um Ordnung. Sie lässt den Familien den Vortritt, sie scheinen es eilig zu haben. Ein Zollbeamter hat einen flüchtigen Blick in ihren Pass geworfen, aber da sie aus Palma angereist ist, ist die Kontrolle kurz ausgefallen. Gestempelt wird hier nicht. Sie atmet tief durch. Zehn Schritte weiter liegt der Flughafen schon hinter ihr und auch das Geplauder der Spanier. Am Feldrand sieht sie Windmühlen, deren Räder stillstehen, in der Ferne macht sie einzelne Gehöfte aus, sattgrüne Hügel, die Ruine einer Wehrkirche. Grillen zirpen, der azurne prächtige Himmel ist von einer unverschämten Vollkommenheit. Ihre Mitreisenden werden von ihren Familien abgeholt. Die Wagen verschwinden, einer nach dem anderen, in Staubwolken. Weiter hinten steht ein einzelnes klappriges Auto. Ein Vorkriegsmodell. Sie hofft, dass es ein Taxi ist. Blinzelt und geht darauf zu. Es ist eins. Der Fahrer nimmt ihr den Koffer ab, sie sinkt auf den staubigen Rücksitz und streicht, nun doch etwas nervös geworden, mit ihrer Hand den vergilbten Prospekt glatt, den man ihr vorgestern in die Hand gedrückt hat. »Mar Blau«. Da möchte sie hin. Das klingt schön und ist auch für Deutsche verständlich. Sie sagt es dreimal, beschwörend und mit Nachdruck, wie eine Zauberformel. Der Alte vor ihr nickt, betätigt die Zündung und zockelt los. Er weiß Bescheid. »Mar Blau«. 1961 gibt es noch nicht allzu viele Hotels auf Ibiza, und dieses ist eines der bekannteren.

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Es ist erst die zweite Reise in den Süden für sie. Die erste hat sie nach Italien geführt, im Vorjahr, eine Woche mit dem Reisebus. Jetzt ist Spanien an der Reihe. Wieder mit dem Bus. Barcelona, Valencia und Gerona. Mit Zwischenstopps in Lyon, Montpellier und Perpignan. Zehn Tage Urlaub stehen ihr vor Ort zur Verfügung, den hat sie sich vom Munde abgespart. Vor zwei Jahren, mit knapp zwanzig, hat sie rübergemacht in den Westen. Hat die mecklenburg-vorpommersche Heimat hinter sich gelassen und auch einen Großteil ihrer Verwandtschaft und Freunde. In Hessen ist sie gelandet. Mit leeren Händen und einem Abitur, das nicht anerkannt wird, mit viel Hoffnung und eher trüben Aussichten. Einen Job hat sie schnell gefunden, als Sekretärin, doch er ist unterbezahlt und entspricht nicht ihrer Schulbildung. Sie tanzt leidenschaftlich gern und findet Anschluss. Einen Verehrer hat sie auch, der paddelt mit ihr im Sommer an späten Samstagnachmittagen, wenn die Arbeit endlich geschafft ist, im Kanu auf dem Altrhein. Schrecklich eifersüchtig ist er, das macht ihr zu schaffen, aber auch klug, liebevoll und aufmerksam. Dass sie ohne ihn in den Süden will, findet er unverständlich und auch enttäuschend. Sie lässt sich nicht beirren. Sie will ihre Neugier stillen, aber allein. Sie möchte sich noch nicht endgültig binden. Abstand zu gewinnen, das schwebt ihr vor, und endlich an einer der Küsten des Mittelmeers zur Ruhe zu kommen, von denen sie schon so viel gelesen hat. Bei Goethe, bei Winckelmann, bei Axel Munthe und bei Rilke.

In Barcelona läuft, ja rennt sie gleich nach der Ankunft die Ramblas hinunter, unausgeschlafen, wie sie ist, hat vorerst keine Augen für die Vogelhändler, Blumenstände, Kioske und Straßenmusikanten, entbietet Kolumbus auf seiner Säule einen kurzen, respektvollen Gruß und steht zum ersten Mal vor diesem magischen mar mediterráneo. Betrachtet die Wiege der Menschheit. Kutter, Fähren und Segelschiffe tanzen auf den Wellen, sie schnuppert die unbeschreiblich milde Hafenluft. Nach arroz a la marinera riecht es und nach Fischernetzen. Über ihr quietscht die Luftseilbahn, katalanische Laute dringen an ihr Ohr. Sie, die zwei Jahrzehnte lang an der Peenemündung beheimatet war, auf zugefrorenen Teichen Schlittschuh lief, bislang nur die Ostsee kennengelernt und sich noch im Spätherbst bei Usedom in die eiskalten Fluten gestürzt hat, spürt, dass sie angekommen ist. Bei sich selbst. Zu Hause. Melancholisch und zugleich euphorisch ist ihr zumute, der großartige Anblick versetzt sie in Aufruhr. Sie hat Blut geleckt.

Im Café erwähnt jemand Ibiza. Auch in einer kleinen Bar im Barrio Chino fällt das Wort wieder. Bei einem Ausflug auf den Montjuic dringt der anziehende Dreisilber mit dem gelispelten »S« abermals an ihr Ohr. Jedes Mal horcht sie auf. So, als sei sie gemeint. Selbst im Hotelrestaurant sprechen die Kellner fortwährend von dieser Insel, deren Namen sie bisher lediglich vom Hörensagen kannte. Kurz vorm Einschlafen gibt ihr die ältere, reiseerfahrene Zimmernachbarin, von der sie mit Informationen aus erster Hand versorgt wird, schließlich den entscheidenden Tipp. Gerade du solltest da mal hinfahren, bekommt sie zu hören. Das ist was für dich. Da spielt momentan die Musik. Und wenn schon, dann in dieses kleine hostal. Ganz einsam soll es liegen, günstig ist es auch. Stierkämpfer steigen dort ab. Künstler und Flamencotänzer. Amerikaner und eine Handvoll Deutsche. »Mar Blau«. Vielleicht etwas für die nächste Reise.

Die nächste? Sie schläft drüber und beschließt am nächsten Morgen, dass eine solche Chance nur ein Mal kommt. Und dass man sie ergreifen sollte. Keine dreihundert Kilometer trennen sie noch von der Insel, die in aller Munde zu sein scheint. Con algo hay que empezar heißt die erste Lektion in ihrem völlig zerlesenen Sprachbuch Modernes Spanisch, das sie sich aus der Stadtbücherei ausgeliehen hat und das sie seit der Abfahrt in Biebrich in ihrer Handtasche spazieren führt. Mit etwas muss man ja anfangen! Irgendwo muss es ja losgehen! So beschließt sie, diese Redewendung zu beherzigen und in die Tat umzusetzen. Sie lässt den Rest der Besichtigungen auf dem Festland einfach sausen, jemand erklärt ihr den Weg zum Iberia-Reisebüro. Nein, die nächste Maschine nach Ibiza ist noch nicht ausgebucht. Sie kratzt die letzten pesetas zusammen und opfert ihr restliches Reisebudget für den Trip. Ihr erster Flug noch dazu! Mit einmal Umsteigen auf Mallorca. Ihre Lufttaufe feiert sie mit einem Glas Orangensaft. Und raucht vor lauter Aufregung ihre erste Zigarette. Der Steward gibt ihr Feuer.

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Der Anflug steckt ihr noch in den Knochen. Im Sichtflug ist der Pilot auf die Insel zugesteuert, Schafe sind in Panik auseinandergestoben, als die Maschine beim Landen auf die staubige Piste zuhielt. Jetzt darf sie sich entspannt zurücklehnen. Es ist eine gemächliche Taxitour, der Fahrtwind spielt mit ihren Haarsträhnen. Sie schaut aus dem Fenster. Ramponierte Osborne-Reklametafeln in Form markanter Stiersilhouetten fliegen an ihr vorbei, gesichtslose Felder, Stierkampfwerbung auf Brandmauern, Brachflächen, streunende Hunde. Ein Esel, dessen Satteltaschen mit bunter Keramik beladen sind, bezopfte alte Frauen im Kopftuch am Straßenrand. Ab und an blitzt das Meer auf. Die ersten Wohnblocks werden sichtbar, Kasernen, Spielplätze. Dann, als sie sich der Stadt nähern und plötzlich die Zitadelle ins Blickfeld rückt, als Wälle, Kirchturmspitzen und weiß-blaue Fassaden auszumachen sind, biegt ihr Taxi scharf nach rechts ab, quält sich einen steilen Hügel hinauf und bleibt unvermittelt stehen. Die Asphaltierung endet bei den letzten Häusern. Und was jetzt? Bedauernd zuckt der Fahrer mit den Schultern. Er weigert sich standhaft, auf einem schlaglochübersäten Schotterweg weiterzufahren, und weist stattdessen auf eine Gruppe von Gebäuden auf der nächsten Bergkuppe. »Los Molinos«, sagt er noch, und tatsächlich wird jede Anhöhe am Horizont von einer alten Windmühle gekrönt. Die letzten fünfhundert Meter zum Mar Blau werden zu einer schweißtreibenden Angelegenheit.

Doch der Aufstieg lohnt sich. Das hostal mit seiner unwirklichen, märchenhaften Atmosphäre übertrifft ihre kühnsten Erwartungen. Eine Enklave der Ruhe und Liebenswürdigkeit. Der Mühlenhügel verleiht der schlichten Herberge, die nur aus offenen Terrassen und weiten Flächen zu bestehen scheint, eine Leuchtturmposition. Nach allen Seiten geht der Blick ins Blaue. Und in die Ferne. Sie thront über Klippen und Wogen; sie fühlt sich erdenthoben und frei. Man empfängt sie wie eine schon immer Dazugehörige. Die Zimmer sind einfach, hell und kaum möbliert, die Tage opulent und unendlich intensiv, die Nächte lau und kurz. Aus der tiefblauen Dunkelheit vor ihrem Balkonfenster im Dalt Mar hört sie zuweilen das Meer, das, fordernd und gelassen zugleich, Welle für Welle an Land trägt. Sie fühlt sich beschenkt. Sie findet das Leben wieder lebenswert.

Die Gäste, nicht mehr als zwei Dutzend, speisen im Schatten eines knorrigen alten Olivenbaumes, bedient von einer Schar halbwüchsiger Brüder, von denen der älteste, Juanito, den Direktor mimt. Joaquín, Javier und Jesús heißen die anderen. Sie muss erst üben, bevor ihr die vier Namen mühelos über die Lippen kommen. Rachenlaute und rollende R erfordern eine gewisse Routine. Sie nippt am Rosado, probiert Campari, bleibt aber vorerst bei Cola. Sie kostet von der roten sobrasada, einer würzigen, wohlschmeckenden Wurst, stochert etwas lustlos in der truita amb sardinas, einem Fischomelett, herum und begnügt sich mit einer dünnen sopa de fideos. Nach dem frugalen Abendessen, der cena, begibt man sich in den benachbarten Night Club, eine sternenbeschienene sala de fiestas, und tanzt, von den Rhythmen einer talentierten Kapelle umschmeichelt, bis in die Morgenstunden. Let’s Twist Again. Magic Moments. Are You Lonesome Tonight? Jeder Titel ein Motto, ein Versprechen.

Mit einer Gruppe von Toreros aus Cádiz und Jerez de la Frontera, die sich im Mar Blau auf ihre Corrida vorbereitet, hat sie großen Spaß; wenn einer der muchachos ihr den Hof machen möchte, gibt sie sich unnahbar. Ansonsten wohnen hier ausschließlich Individualisten. Ein älterer Herr, der sich als Manager von Ava Gardner ausgibt, ein amerikanischer Ölmagnat, eine schwarzhaarige, rassige Deutsche, die jeder für eine Andalusierin hält, Maler, Architekten, madrileños und einige »Inselberufene«, die nichts über ihren Broterwerb preisgeben möchten. Ohnehin fragt niemand nach Vorgeschichte oder Vergangenheit seiner Mitbewohner, für alle zählt nur die Gegenwart. Niemand plant über den nächsten Sommertag hinaus. Geheimnisse bleiben unangetastet. Und Ehepaare? Fehlanzeige.

Am späten Vormittag schlendert sie allein durch die leuchtend weißen Gassen rund um das Ayuntamiento, das hiesige Rathaus – eine Oase der Stille. Um eins kehrt sie zurück, verzehrt ein paar Feigen und versucht, mit Felix, dem rothaarigen, sommersprossigen Einsiedler aus der dem hostal am nächsten gelegenen Mühle, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Wie ein Ire sieht er aus. Weit kommen sie nicht. Es ist ein Gespräch mit Händen und Füßen. Das spielt keine Rolle: Wo die Worte versagen, spricht die Seele. Die zwei verstehen sich auch so ganz gut.

Eine Siesta hält sie nicht, sie verzichtet auf eine Mittagsmahlzeit und verbringt die heißesten Stunden in einer kleinen Felsbucht zwischen Dalt Mar und Figueretas. El laguito. Lange Schwimmausflüge, bei denen sie vorgelagerte Inseln anpeilt, wechseln mit Lektüre und Nichtstun. Stundenlang blickt sie traumverloren auf den Golf. Sie erlebt sich als gänzlich bedürfnislos. Ist schon dabei, ihre Identität abzustreifen. Von ihr aus könnte es jetzt wochenlang so weitergehen.

Nur noch drei Tage bleiben ihr. Es ist der 13. August. Sie bemüht sich nach Kräften, die Zeit anzuhalten. Schon von Weitem sieht sie, als sie sich ihrer Lieblingsbadestätte nähert, dass der Platz heute besetzt ist. Zwei Männer haben sich bereits vor ihr dort eingefunden. Deutsche natürlich. Missmutig verzieht sie sich auf einen anderen Felsen, vermeidet einen Blickwechsel. Als sie zum ersten Mal schwimmen geht, spürt sie, dass sie beobachtet wird. Beim zweiten Mal entgeht sie der Kontaktaufnahme durch einen Kopfsprung und einige schnelle Kraulzüge. Beim dritten Mal lässt sie sich ansprechen. Sie solle doch bitte erklären, wie man hier ins Wasser kommt. Sie traut ihren Ohren nicht, gibt aber Anweisungen. Leistet Hilfestellung. Selten ungeschickt stellen sich die beiden an, es ist ein Schauspiel für die Götter. Sie bricht in Gelächter aus. Ist es nicht eher Männersache, einer Dame galant ins kühle Nass zu helfen? Verkehrte Welt! Doch der Jüngere von beiden, ein charmanter, braun gebrannter Dreißigjähriger aus der Rattenfängerstadt Hameln, gefällt ihr. Und flirten kann er auch. Er und sein älterer Bekannter sind, enttäuscht vom Hotel Cenit, gerade ins Ebeso umgezogen, direkt um die Ecke. Der Austausch am laguito zieht sich in die Länge. Von schwimmen oder gekonnter Felskletterei ist bald keine Rede mehr. Als die Sonne schon hinter den Hügeln westlich der Playa d’en Bossa verschwunden ist, verabreden die drei sich zum Abendessen.

Einen Fernsehapparat gibt es im Mar Blau nicht, aber Javier, der mittlere Bruder, hört gerne Radio, wenn er nicht gerade eine neue Tanzscheibe auflegt. Irgendwas ist in Deutschland passiert, ruft er ihr aufgeregt zu, als sie sich gerade umgezogen hat, um sich von Felix in die Stadt fahren zu lassen, wo er sie am Hafen absetzen soll. Sie hört nur mit halbem Ohr hin und winkt im Vorbeigehen. Sie hat es heute eilig.

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Im verräucherten Fischrestaurant bei der Mole kommen zwei sich näher, der Dritte zeigt Verständnis und zieht sich frühzeitig zurück. Beide Männer, so errät sie, sind schon eine ganze Weile auf der Flucht vor gescheiterten Ehen. Nehmen sich eine Auszeit vom Alltag, verreisen zusammen, werden oft für Vater und Sohn gehalten, entdecken gemeinsam die Mittelmeerländer. Individuelle Eroberungen nicht ausgeschlossen. In Marokko und Tunesien sind sie gewesen, aber nirgends haben sie sich so wohlgefühlt wie auf Ibiza. Und sie hat sich selten so wohlgefühlt wie in Gegenwart dieses Charmeurs. Er bekennt, gern Hemingway zu lesen, sie hält ein flammendes Plädoyer für Dostojewski. Doch sonst sind sie sich in allem einig. Die Nacht bricht an. Und auch die Emotionen brechen über die beiden herein. Verlegen sind sie nicht. Das Mädchen von der Ostsee, die ihre flachsblonden Haare zu zwei dicken Zöpfen geflochten hat, nimmt ihren unbeholfenen niedersächsischen Strandnachbarn bei der Hand, führt ihn den Mühlenhügel hinauf und zeigt ihm ihren berückend schönen Tanzklub am Meer. Und er darf staunen, wie viele Leute sie hier schon kennt, wie viele Männer sie auffordern, wie beliebt sie ist. Das stachelt seinen Ehrgeiz an – er will jetzt ihr Auserwählter sein. Bis zum Morgengrauen tanzen sie in den siebenten Himmel, vergessen die Zeit, die Konventionen, ihre Herkunft, die deutsche Provinz, in die sie bald wieder zurückmüssen. Zwei neugeborene Balearenfans sind füreinander entflammt.

In den kommenden achtundvierzig Stunden dreht sich die Welt nur noch um sie beide, gehört das ibizenkische Paradies ihnen allein. Wo sie auch hinkommen, sind sie die Einzigen. Er treibt einen der wenigen Mietwagen der Insel auf, und zu zweit gondeln sie bis nach Port Roig und Portinatx, zwei Reifenpannen inklusive. Sie baden vor Tagomago, sie schnorcheln in der Cala Llonga, und in der Cala Moli nimmt sie ein Fischer in seinem Kahn mit aufs Meer hinaus. Das Lunchpaket, das Küchenchef Mateo ihnen mitgegeben hat, fällt zwar bei einer Rast auf dem campo einer Ameisenattacke zum Opfer, weil sie es lange vor dem Picknicken an den viel zu tief hängenden Ast einer Schirmkiefer gebunden haben. Egal – zwei bocadillos, die sie auf dem Dorfplatz von San Miguel einnehmen, tun es dann auch.

Am Sonntagnachmittag jubeln sie in der Plaza de Toros dem andalusischen Stierkämpfer zu, mit dem sie morgens schon beim Frühstück auf der Pensionsterrasse beisammengesessen haben. Manolo, der Torero, widmet ihr den Kampf, wirft ihr unter dem Jubel des Publikums seine montera zu. Aus dem freundlichen Tischgesellen, kaum dem Knabenalter entwachsen, wird im Laufe einer Viertelstunde ein todesmutiger Matador. Das junge Paar kommt gerade noch mit dem Schrecken davon, als der angriffslustige Jungstier, kaum dass er in die Arena gestürmt ist, mit einem mächtigen Satz im engen Zwischenraum hinter der hölzernen Barriere landet, die entsetzten, im Kreis rennenden Bandilleros vor sich herscheucht und schließlich seine Hörner direkt vor den Füßen der beiden enamorados wutschnaubend ins Mauerwerk bohrt. So eine verrückte novillada hat man auf Ibiza lange nicht gesehen. Ein springender, ja ein fliegender Stier. Eine blonde Deutsche, die am Ende des Gemetzels, von Trommelwirbeln unterstützt, wie wild mit ihrem Taschentuch wedelt, damit dem siegreichen Manolo auch die gebührende Trophäe zuteilwird: Die beiden Stierohren hat er sich verdient. Und abends wird im Mar Blau weitergefeiert, bis in die Puppen. Mit cava und xampán, den spritzigen katalanischen Schaumweinen. Das Fest steigert die Verliebtheit noch, beschleunigt die Gefühle. Zurück nach Deutschland mag keiner von beiden.

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Sie haben aneinander Geschmack gefunden, sie haben der Insel ihre Zuneigung zu verdanken, sie schmieden bereits Zukunftspläne. Pläne, die wenig mit dem engstirnigen deutschen Kleinstadtleben zu tun haben. Und viel mit unwahrscheinlichen, aber belebenden Ibiza-Perspektiven. Con algo hay que empezar. Sie liebäugeln sogar mit Auswanderung. Da trifft es sich denkbar schlecht, dass der hessische Verehrer, mit dessen Erscheinen auch nicht im Entferntesten gerechnet werden konnte, ihnen mit einem Überraschungsbesuch die amouröse Idylle und das Luftschlossbauen gründlich vermasselt. Er ist seiner Gefährtin nachgereist, um sie abzuholen und nach Hause zu begleiten; in Barcelona hat er erfahren müssen, dass sie sich in der Zwischenzeit in Richtung Pityusen aus dem Staub gemacht hat. Er hat ihre Spur verfolgt. Und im Mar Blau wird er, genauer, als es ihm lieb sein kann, durch Dritte vom aktuellen Stand der Dinge in Kenntnis gesetzt. Während das Liebespärchen durch Abwesenheit glänzt. Sich noch an seinem ganz persönlichen Felsenstrand befindet.