Peter Handke

Die Geschichte des Bleistifts

Suhrkamp Verlag

 
 
 
 
 

Der Pfadfinder sagte: »Die ganze Welt ist geographisch erforscht.« Die Frau sagte zu dem Mann: »Gestern habe ich dem Herrn XY dein Leid geklagt.« Der Kulturjournalist sagte, der Unterschied zwischen einem Schriftsteller und einem Kritiker sei, daß der Schriftsteller keine Scham habe, der Kritiker aber sehr wohl; er, der Journalist, habe eben Scham, zu viel Scham, um Schriftsteller zu sein. Der Zukunftsforscher sagte: »Ihre Angriffe auf andere sind nur der Ersatz für den Orgasmus.« Der Politiker sagte, manchmal gerate er beim Schreiben in einen Rausch, vor allem, wenn er über Allgemeines, Grundsätzliches schreibe. Der Sozialreferent sagte, das Unglück eines Sozialhilfeansuchers sei zwar selbstverschuldet gewesen, es habe ihn aber trotzdem nachts nicht schlafen lassen. Die Tochter sagte zur Mutter: »Ich werde glücklich verheiratet sein! Und du, Mutter, bist du glücklich verheiratet?«, worauf die Mutter die Tochter nur lange finster anblickte und dann sagte: »Iß weiter«, und wegging. Der Mann sagte: »Ich möchte keinen Kranz, keine Blumen aufs Grab. Wenn du zu Allerseelen auf die Friedhöfe gehst, kannst du zuschauen, wie das Geld vernichtet wird.« Die Interviewer im Radio hatten Stimmen, als spielten sie in einem Hörspiel.

»Hilf mir, Mond, beim Tischgespräch!« Das Verschwinden des Jähzorns ihres Mannes führte die Frau darauf zurück, daß er endlich zu reden gelernt habe, und auch ich habe zu reden gelernt, und es ist oft eine Wut in mir, klarer als je zuvor. Hundertfünfzig Jahre nach Eichendorff versuchte uns jemand am Ufer der Donau auf der Gitarre etwas vorzuspielen, aber kein Ton war zu hören, obwohl der Spieler sogar aufstand, um mit mehr Kraft schlagen zu können. Alle warteten darauf, wiederentdeckt zu werden: so, unentdeckt, konnten sie nur zum Schein weiterleben, sich selber bloß Ballast, sich dahinschleppen; sie brauchten eine vernünftige, irdische Erlösung. »Jedes Wesen ist ein Schrei danach, anders gelesen zu werden.« War die Welt nicht schon immer untergegangen gewesen und ging nur manchmal, kurz, mildstrahlend wieder auf? Ich schloß die Augen und sah, quer über den Himmel, ein gigantisches Weltzerstörungsinsekt daliegen, aber noch verpuppt. Schriftsteller, arbeite mit letzter Kraft die Würde des Menschen hervor. Zwangsläufig wird dein sprachliches Wiedererobern der Welt zunächst geschmäht werden als »Harmonisierung«, wobei das Wort allein schon genügen wird als Hohn. Immer begrüßte ich von weitem den Kirchturm jedes Ortes: so seelenlos konnte es dort also nicht zugehen; doch dann stand an der Ortstafel »Feriendorf«, oder »Erholungsort«, oder der Name des Ortes war geschrieben wie eine Telegrammanschrift: »St. Georgen/Walde«, statt »Zimmerei« las ich nur noch »Zimmer frei«, und die Aussicht war mir gewidmet von der Sparkasse oder von »cash und carry«. Jede seltsam gebildete Naturform war benannt, entgeheimnist, entwirklicht, wie dieser als »Bärenkopf« bezeichnete Felsen, diese als »Räucherkammer« bezeichnete Tropfsteingrotte. Das »Willkommen«-Schild des anderen Staates war von der Sonne durchschienen, und der Grenzpolizist ging mit seiner Maschinenpistole davor auf und ab wie ein Minnesänger (die Hundenamen auf der anderen Seite der Grenze waren dieselben wie diesseits). Ich dachte: Gäbe es doch jemanden, an dem ich mir ein Beispiel nehmen könnte! Ich sehnte mich danach, daß Juden in diesem Mitteleuropa wären. Ich ging über den nächtlichen Feldweg mit seinen Steinen wie über einen unbewohnten Planeten und dachte: »Energie für ein neues Zeitalter! Es muß ein neues Zeitalter anfangen!«

Angesichts des gotischen Altars entstand in mir eine Ahnung der wahnwitzigen Schmerzen der damaligen Menschen, in der aufschießenden Hektik, der Verschlungenheit, der Gefangenschaft der Figuren innerhalb des Holzgerankes: das Schnitzwerk erschien als ein äußerst kunstvolles, ausgiebiges Monument der Zerstörung. Es ist so viel »gemacht«, »zugefügt«, »geteilt«, »gestaltet«, daß der Eindruck der Zerstörtheit der damals arbeitenden Menschen ganz stark wurde. Wie eingesperrt ins Holz sind die Figuren, und über ihnen stehen die kleinen Holztürmchen mit den gebogenen Zapfen wie drohende Dornenkronen; »Ausgefressenheit« ist der Eindruck, ausgefressen die Figuren wie von einer Krankheit, einer Käferplage, einer Würmerplage; und das Wort »Gesprenge« für die Ranken obenauf, in die das Holzvolk eingekerkert ist, klingt treffend; fast empfand ich es als Aufforderung: »Sprenge!«, und sah dann zwei zugehörige Bilder: einmal den Retter dieses Altarwerks, der sich im Schmerz der Todeskrankheit vor mehr als einem Jahrhundert die Kehle durchschnitt; und später draußen auf der sonnigen Landstraße einen Motorradfahrer: einen aus meinem Jahrhundert, der als ein aus dem Gesprenge Befreiter dahinbrauste. Wohl dir!

Den ganzen Tag sah ich auf dem Land, wo ich auch vorbeikam, Frauen in den leeren Räumen, auf Leitern stehend und Glühbirnen einschraubend, die Wände weißend, und auf den Fensterbänken vor ihnen große Flaschen, leicht gelblich von den Holunderblüten, die obenauf, mit dem Kopf nach unten, darin lagen: die stillen Frauen in den vielen vereinzelten Häusern und Ställen auf dem Land, werkelnd auf den Feldern, in den Obstgärten, und daneben die Kinder, die zu zweit oder zu dritt vor den Häusern saßen, auf Bänken, im Gras, nicht spielend, nur redend, oder stumm — überall auf dem Land die rackernden Frauen ohne die Männer, und die nichtspielenden, schönen, ernsten, kichernden, lieblichen Kinder, und die an ihnen vorbeibrausenden Lastwagen

In der Kirche, beim Anblick der Gestalt Johannes des Täufers, sehnte ich mich plötzlich heftig, körperlich, nach der Zeit vor Jesus Christus

Als die Sonne auf einmal durch die Blätter auf den Weg strahlte, war es, als finge endlich der Film an, auf den man schon gar nicht mehr gewartet hat, und der Schatten des Kastanienlaubs auf dem Boden bildete das Drehkreuz nach, mit dessen Hilfe der Film sich in Bewegung setzte (»Wer wagte, die Sonne falsch zu nennen?«)

Ich dachte, frisch gewaschen, gekämmt, umgezogen: »Jetzt bin ich wieder ein Mensch«, während ich vor einer Stunde noch verdreckt, durchnäßt, erschöpft, verängstigt gewesen war. Vielleicht war es aber eher umgekehrt

»Trugdolde«, »Scheinquirle«, »Falsches …-kraut«, »Gemeine …-blume«: warum wohl den Pflanzen und ihren Teilen solche Namen gegeben wurden — als seien einzelne Blumenarten mies, schlecht oder betrügerisch; jedenfalls nehmen diese Namen viel Lust am Studieren

»… denn man verdient wenig Dank von den Menschen, wenn man ihr inneres Bedürfnis erhöhen, ihnen eine große Idee von ihnen selber geben, ihnen das Herrliche eines wahren, edlen Daseins zum Gefühl bringen will. Aber wenn man die Vögel belügt, Märchen erzählt, von Tag zu Tag ihnen forthelfend, sie verschlechtert, so ist man ihr Mann, und darum gefällt sich die neuere Zeit in so viel Abgeschmacktem« (Goethe)

Goethe gegenüber: das bewundernde — und zugleich doch leicht angewiderte — Gefühl, daß er immerzu aufmerksam sein konnte (oder täuschte er diese Fähigkeit nur vor?)

Auf dem wüstesten Schlachtenbild (zum Beispiel Altdorfers Alexanderschlacht) gibt es doch ein paar Unbeteiligte; Boote weit draußen auf dem Meer; oder es wird einer gesteinigt (ich), und doch spaziert hinten weit weg jemand friedlich allein durch die Landschaft (ich)

Bei Hieronymus Bosch sind wenigstens alle verdammt

Nie sagen: »Ein Paar« (»Ein Liebespaar keucht«, las ich gerade) —: es gibt immer nur den einen und den anderen

Das Stieren des Heiligen, abgewendet von dem Armen, dem er die Wohltat erweist (Martin): bei all diesen wiederkehrenden Motiven ein Widerwille gegen die Vergangenheit; ist denen nichts anderes zum Darstellen eingefallen als all diese geretteten, kalten, engherzigen Figuren? — »Jetzt muß ich schnell ein Gedicht lesen, sonst hasse ich mich und die Welt«

In regelmäßiger Sinnlosigkeit freue ich mich darauf, Leute zu treffen

Ich war unfähig, die Geschichte, die mir immer wieder erzählt wurde, komisch zu finden, und zählte im stillen mit, wie oft sie mir aufgetischt wurde. Ein Dritter, dem ich das dann sagte, bemerkte tadelnd, ein Onkel habe ihm dreizehnmal die gleiche Geschichte erzählt, und er habe dreizehnmal gelacht, aus »Herzenshöflichkeit«

Goethe, der von allen Dingen das Material weiß und von daher einen »Vorsprung« in seiner Kunst hat; und ich mit meiner Schwierigkeit, wenigstens den Stuckschmuck in einer Kirche wahrzunehmen

Wie durch ein Schwimmbad die ganze umliegende Natur wesenlos wird

Vor der »Goethit-Ader«, braun, im Serpentin: »Mit dem, was man klassischen Boden nennt, hat es eine andere Bewandtnis. Wenn man hier nicht phantastisch verfährt, sondern die Gegend real nimmt, wie sie daliegt, so ist sie doch immer der entscheidende Schauplatz, der die größten Taten bedingt, und so habe ich immer bisher den geologischen und landschaftlichen Blick benutzt, um Einbildungskraft und Empfindung zu unterdrücken und mir ein freies, klares Anschauen der Lokalität zu erhalten. Da schließt sich denn auf eine wunderbare Weise die Geschichte lebendig an, und man begreift nicht, wie einem geschieht, und ich fühle die größte Sehnsucht, den Tacitus in Rom zu lesen« (Goethe ging es gut: die Empfindungen und die Einbildungskraft kann man wohl nur vermeiden in einer »klassischen Landschaft«, nicht aber in dieser grünen Hölle Zentraleuropa)

Western: Erinnerung an den Traum von der Bewährung

Haben die Weltkriege unsereinem das Allgefallen Goethes nicht ein für allemal verleidet?

Musik ist an sich schon Mythologisierung; sie stellt vorschnelle Harmonien her; aber ich mag die Volksmusik (sie »entspricht« mir), mit allen Jauchzern, doch ohne Triller

Wie doch die Ortsmaße immer die der Kindheitsumgebung bleiben

Wieder Goethe: Wenn man heutzutage sich veräußerlichen will in Aufmerksamkeit (das ist ja auch mein Bedürfnis), statt auf seine Empfindungen und Vorstellungen zu achten, landet man bei Wirtshausgesprächen und -leuten (man kann dazu auch »Frühschoppen« oder »Nachtstudio« sagen)

Das Gefühl von Nutzlosigkeit genießen lernen, wenigstens einige Augenblicke lang, d. ‌h. imstande sein, sich von der Sonne bescheinen zu lassen: »Hier liege ich jetzt in der Sonne, im Moment unverweslich, von Hoffnungslosigkeit bewegt«

In den Cafés meines Heimatlandes sitzen die alten Zeitungsleser, und mulmig steigen auch schon die Spruchgestänke auf: »Was ist denn der Hitler dagegen …«, »die waren doch alle für uns«, »ich bin ja kein Judenfeind, aber …«, »ich muß ehrlich sagen, mir sind die Juden fast lieber, von der Wirtschaft her …«, »ein zweites Mal dürfen wir im Leben leider nicht anfangen …«: ein riesiger trüber mulmiger Bottich mit unzähligen raschelnden, nie verstummenden, sich unaufhörlich wiederholenden Krebsscheren; die dazugehörigen Krebskörper sind schon krepiert, aber die Scheren scharren und rascheln im Mulm (im vermoderten Baumholz) weiter in Ewigkeit. — Nur einer der Alten fragte: »Haben Sie gestern die Mondfinsternis gesehen?«, und bekam die Antwort: »Nein, ist ohnedies in der Zeitung abgebildet.« — Der Frager sei gelobt; er gehörte auch nicht zu den andern: er nannte die Mondfinsternis »herrlich« und langweilte mit seiner Erzählung davon sichtlich die umsitzenden Mulmbewohner (»Die Ballade vom mulmigen Café«)

Die vollkommene Gleichgültigkeit, mit der der Portier des Werks über die Ein- und Ausgehenden redete: »Der ist ein Vertreter oder sowas«, »der geht da irgendwo herum« — als seien es einfach zu viele. Dann kamen zwei Ausländer in die Portiersbaracke: »Arbeit?« — Der Portier schüttelte den Kopf: »Nur für Staatsbürger«. — Drinnen im Werk schien die Atmosphäre — Inländer unter sich — gelöst, aber auf den zweiten Blick herrschte die vollkommene Despotie. Die Scherze, welche die Arbeiter untereinander austauschten, waren ausnahmslos Drohungen oder die Zitate von Drohungen: selbst im Spaß ging es einzig um Hinauswurf, Entlassung, Wegschicken (und der Spaß konnte im nächsten Moment ernst werden). Die einzelnen Arbeitsgänge wurden jeweils in einer finsteren Raserei erledigt, in Wahnsinnsschüben, aberwitzigen Wetten; dazwischen stand man herum, bierkistenleerend, und ließ die Drohscherze fliegen

Die Gesichter Rembrandts: offen, bekümmert, sachlich, trostlos, triumphal-sterblich: und mein Moment von Zugehörigkeit an diesem Tag — der Wind der Welt wehte von Rembrandts Augen her zu mir. Draußen betrachtete ich dann die schwankenden Grashalme und spürte, wie auch ich allmählich ein Gesicht bekam

Die Tatsache meiner Hilflosigkeit, sooft ich inbrünstig an jemanden denken will

Die Binnenlandbewohner glotzen den anderen, den Fremden, deswegen so an, weil sie das Meer nicht kennen; aber sie schauen ihn leider nicht an wie das Meer; und auch das Meer, wenn sie einmal davorstehen, wird von ihnen nur angeglotzt

Die scheinheiligen Gesichter der Gerechten beim Jüngsten Gericht; die Gerechtigkeit ist etwas anderes (gib den Menschen den Schmerz wieder)

Sie war mit Ketten und Armreifen behängt, als sie eintrat. Deswegen dachte ich unwillkürlich, es müßte ihr inzwischen gut gehen. Ihr Profil wurde im Lauf des Nachmittags das einer viel älteren Besitzersfrau: Frau, die besitzt, nicht Frau eines Besitzers; und ich bekam, beim Anhören ihrer Hoffnungslosigkeit, ein vorübergehendes Verständnis für all die Besitzersfrauen und ihre harten Blicke. Ihre Haare waren ganz aus dem Gesicht gebürstet, straff an den Kopf gelegt; es mußte angenehm sein, keine Haare auf der Haut zu spüren. In der Ruhe war ihr Gesicht manchmal das einer fremden Frau, das ich, auf der Straße oder in der Metro, neugierig angeschaut hätte, ein Gesicht voll Klarheit: die Linien zur Klarheit der Flächen beitragend und dadurch unauffällig. Das Schöne war die strenge Entschlossenheit dieses Gesichts. Dann freilich zog sie plötzlich, immer wieder, Grimassen, und die gespannte Haut erschien mit einem Schlag aus Gummi: es waren Grimassen »aus dem Stand«, worauf das Gesicht sogleich wieder ruhig und bildhaft wurde, was dann aber, durch die jähe Grimasse zuvor, starr aussah. Sie redete oft im Profil zu mir. Unvermutet hatte sie Tränen in den Augen. Sie wollte nicht gerade arbeiten, aber etwas tun. Wenn sie von ihrer Enttäuschung über alle Welt sprach, fühlte ich mich davon ausgenommen: nicht weil sie von mir eine bessere Meinung gehabt hätte, sondern weil sie sich von mir von vornherein nichts erwartete

Das verheiratete, noch junge Mädchen zeigt im Sprechen, Schauen und Handeln eine Art Pflichtbewußtsein, eine Beflissenheit, ein unablässiges Zuvorkommenwollen: auch als Ehebrecherin ist sie diensteifrig. Dabei ist sie ungeschickt: läßt Besteck oft fallen, kriegt das Feuerzeug lange nicht an, steckt sich die Zigarette verkehrt in den Mund. Sie spricht sehr schnell, mit der Stimme einer Diskutantin, auch wenn gar nicht diskutiert wird. Dabei ist diese Stimme kein Teil des Körpers, erzeugt nie einen Raum um sich, ist, sprechend, jeweils schon auf das Ende aus, das sich dann aber jedesmal immer weiter hinausschiebt. Sie will einem bei jedem Handgriff helfen: wenn ein Weinglas in die Küche getragen wird, sucht sie sogleich etwas anderes zum Tragen; ist ordentlich — leert beim Weggehen regelmäßig den Aschenbecher — und schaut einen, bei Gelegenheit, mit vollendet routinierter Zärtlichkeit an. Aber diese Routine ist ihre Ausdrucksweise; in die Routine eingeschlossen, lebt sie zugleich auch ernsthaft. Vor lauter Eifer des Zuhörens hört sie schlecht; redet sehr in Floskeln, die sie, darauf hingewiesen, als notwendig bezeichnet, »zur Überbrückung«: diese Überbrückung bleibt aber oft das ganze Gespräch, die ganze Aktion. Es gibt einen Zusammenhang zwischen ihrer Ungeschicklichkeit und ihrer Floskelhaftigkeit: die Floskeln sind ein Ausdruck ihrer Ungeschicklichkeit (ja ihres Ungeschicks) und wirken selber ungeschickt (das Slapstickhafte ihrer Floskeln, durch deren tapferen Gebrauch, auch in der Katastrophe, sie manchmal liebenswert werden kann). Ihre Scham — eher ihre Pein — äußert sich dann in einem verstärkten Weiterwursteln mit Gesellschaftsbewegungen und Schnellkursusgerede. All ihre Lebensäußerungen sind von der Art, wie sie in Sprachkursen als Beispiele jeweils für eine Lektion »Haus«, »Geschäft«, »Restaurant«, »Eisenbahn« etc. durchtrainiert werden

Wie oft bin ich schmerzlich allein auf der Bühne meines Innern, und dann kommen endlich andre dazu, du und du, manchmal die Völker der Erde, und auf meiner Bühne spielen wir dann nicht, sondern sind einfach zusammen, und in meiner Brust ist es weit und warm geworden

Ich stand unter dem Kirschbaum in der ruhig-starken Sonne und hatte die Empfindung, tatsächlich gerade das Reifen der Kirschen zu erleben. Es war eine Kraft stiller Wärme um den Baum, die dann auch von dem Baum selber mit den reifenden Früchten ausging

Verrate die Ereignisse — das Sonnenlicht auf den Blättern, den blauen Himmel — nicht an die Sprache. Die Kunst wäre es, zu warten, sich zu konzentrieren, bis diese Ereignisse von selber Sprache würden … Die Blätter im blauen Azur schimmern an den Rändern und sind fast hinüber ins materienlose Blau, an ihren Spitzen mehr Erscheinung als Gegenständlichkeit. »Verlangend« wirken sie, auf das tiefe Blau sich zubewegend, zitternd (so wie ich schreibend zittere), durchschienen von der Sonne, die sie mit mir aufhebt in etwas Zeitliches: in die Zeit dieses hellen stillen Frühnachmittags am Rand des Parks von Vanves/Hauts-de-Seine (zu manchen Ereignissen gehört der Name des Ortes dazu)

Das junge Mädchen fühlte sich an diesem Tag sportlich, ohne sich sportlich zu verhalten. Sie schlenderte nur dahin, im Trainingsanzug, wie eine Kurzstreckenläuferin nach einem Sieg. Sie sagte: »Die Kinder in Deutschland rennen viel mehr als die in Frankreich.« In ihrer vorangegangenen Niedergeschlagenheit wollte sie Macht — wobei sie alle tothaben wollte, nur jene nicht, die so allein seien wie sie selber. Ihre Schwester, die im Nebenzimmer laut für das Abitur »Geschichte« lernte, wollte sie mit einer Pistole, durch die Wand, erschießen. Daß man sie in ihrem Zustand begriff, wie ihr Freund, war ihr wohl recht, reizte sie aber auch. Sie verstand nicht, daß er Waldläufe unternehmen konnte. »Er ist nicht sportlich, sondern zäh.« Sie selber rannte jeweils nur fünfzig Meter

In der Liebe fühlte ich die Brust als ein gespanntes Instrument, aus einem anderen, härteren Stoff als dem tatsächlichen, eisenartig

Mich betrachtend, dachte ich zufrieden, daß ich die meisten der Fähigkeiten, die ich auch besitze, nicht entwickelt habe: etwa, Held in der Schlacht zu sein

Ein Mann und eine Frau: seine Stimme ist meist sehr hoch, eine reine Konversationsstimme; sie, im Büro nur mit Zahlen beschäftigt, liebt die Zahlen, und also ihre Arbeit. In der Mittagspause macht sie Kinesiotherapie, um Muskeln anzusetzen. An ihrer winzigen Tochter hebt sie die dünnen Arme empor und beklagt sich über die mangelnden Muskeln des Kindes. Der Mann gehört zu einem Radfahrerclub und legt jeden Sonntagvormittag hundert Kilometer zurück, wobei er an jedem neuen Ort sich einen Stempel in seine Clubkarte setzen läßt. Sie tranken den Wein im Freien nur aus dem Grund, weil man im Freien den Wein besser »verdaue«, hatten den Badeanzug mitgebracht und setzten sich auch alsbald damit in die Sonne, mit ihren wegtrainierten Körpern (aber warum schreibe ich von den beiden etwas auf, da sie mich doch gar nicht kümmern, weder so noch so? Und ist es nicht auch mit mir selber so: Ich will nicht beschrieben werden, auch nicht mit Anteilnahme?)

Die durch die Geburt des Kindes vereinsamte Weltdame: humorvoll vereinsamt. Die Kinderschwester platzt immer mit den neuesten Horrornachrichten aus dem Radio ins Zimmer, und sie muß mit ihr darüber diskutieren. Das eigene Kind ist ihr lieb, aber auch »fremd«, und manchmal mag sie seinen Gesichtsausdruck nicht, wegen seiner »debilen Fröhlichkeit«. Sie liest viel, möchte aber keine »down-to-earth«-Literatur lesen. Sie ißt und ißt, weil sie dicker werden soll; wird es aber nicht. Am wenigsten mag sie sich, wenn sie spätabends zerstreut Schokolade ißt und fahrig Zeitung liest

Bedürfnis, eine lange, zusammenhängende Geschichte zu schreiben, um wieder einmal die Möglichkeit des Versagens zu erleben

Endlich konnte ich denken. Dann kam ein Wortspiel dazwischen, und ich konnte nicht mehr weiterdenken. Das Wortspiel hatte vielleicht recht, aber ich verachtete seine Desillusionierung, seine Besserwisserei

Als ob man, schon indem man »Regenschwaden« denkt, den so schön dahinziehenden Regen verriete (und doch der Schmerz, nichts anderes sagen zu können)

Gebeugtes Selbstbildnis: vom Schub der Wahrnehmung eines Zusammenhangs

Im Nachspann des Films erschien der Name eines Schauspielers, der die kleine Nebenrolle eines immer mit dem Tablett hinfallenden Kellners gespielt hatte. Dabei erinnerte ich mich an das gutmütige alte Gesicht und empfand Bewunderung für sein tapferes Aushalten so ohne Umschweife. Und ich? dachte ich, recht getröstet

Warum warte ich so auf die Erscheinung eines Wunders? Es müßte doch nur das Alltägliche erscheinen (und bleiben bis ans Lebensende)

Das wissentlich wahrnehmen, was andere auch wahrnehmen, aber nicht wissen. Hoffen auf wenigstens nachträgliche Gemeinschaft, beim Lesen

Er hatte entschieden, daß auch die anderen keine Geschichte haben sollten, so wie er selber keine Geschichte hatte: auf diese Weise konnte er sie ertragen, ja, sie überhaupt erst recht wahrnehmen und Lust bekommen, sie zu beschreiben. Erst ohne Geschichte fingen sie zu gelten an, und die Landschaft weitete sich um sie, endlich befreit von jeder entwürdigenden Anekdote (ja, meine Herkunft aus der Herkunftslosigkeit wird mich für immer davon abhalten, einen »Text«, eine »Story«, ein »Sittenbild«, eine »Widerspiegelung«, ja sogar ein »Gedicht« zu schreiben; aber was sonst? — Eine die Leere in Energie umwandelnde und so erhaltende Erzählung)

Die meisten Geschichten, ob mündlich erzählt oder geschrieben, wären mit einem einzigen Vorbehaltsatz aus der Form, aus dem Schwung zu bringen. Aber es gibt meist nur servile Zuhörer-Leser-Kameraden. »Ich habe mich glänzend amüsiert«: dabei wurden nur kettenreaktionshaft analog-scheinende Stories erzählt

»Warum beschäftigst du dich so ausführlich mit deinen Vorurteilen über andere, wo du doch weißt, daß es Vorurteile sind?« — »Weil mich gegenwärtig meine Vorurteile über die anderen mehr interessieren als all die Leute. Ich glaube nichts von den Leuten zu wissen; deswegen beginne ich erst einmal, meine Vorurteile zu erforschen.«

Indem ich mich selber bedenke, habe ich keine Angst vor Unaufmerksamkeit, vor Ungerechtigkeit, vor Gleichgültigkeit. Mir selber gegenüber ist wenigstens Feindschaft möglich (anderen kann ich nicht dauerhaft feind sein). Wir sind kaum noch wir, aber ich bin doch manchmal ich. Meine Unfähigkeit, Feind zu sein: wenn ich mit einem anderen zusammengerate, denke ich dazwischen an dessen »Sterblichkeit« und fühle mich schon deswegen in jedem Fall schuldig. Meine eigene Sterblichkeit fühle ich bei Auseinandersetzungen nie

Dummer alter Mythos vom Künstler als »Handwerker«: dabei schaffe ich, Handwerker, zugleich doch auch das Material zu diesem Handwerk. Zwei Produktionsgrundlagen in einem: Natur und Handwerk = Kunst

Nach manchen Filmen kam ich mir, kurz, wie ein Held vor; nach manchen Büchern weiß ich, daß ich einer bin (und weiß mich dazu auch verpflichtet)

Wie lange ich brauche an jedem Tag, bis ich anfangen kann, aufzunehmen; bis es Linien, Gestalten, Existenzen vor mir gibt, endlich

Öffentlich zu reden, aufzutreten, und künstlerisches Schreiben gehen nicht zusammen. Schreiben allein geht auch nicht mit Schreiben zusammen; wohl aber gehen alltägliche Pflichten mit Schreiben, private Tagtäglichkeit mit Schreiben zusammen: so redet dieses von selber öffentlich und kann (will, soll) auftreten

»Einsamkeit«: was für ein beschönigender Ausdruck für einen unwürdigen Zustand

Die Idee des Erlösens (»Was die Wörter als Begriffe nicht vermögen, das leisten sie als Ideen«, lernte ich von Walter Benjamin): und ich mußte plötzlich unbedingt zu dir hingehen und einen Satz an dich richten, gleich welchen

Eine andere als die poetische Sprache, vor allem die ausdrücklich reflektierende, wo man jedem Einzelsatz das System und das Angelernte anmerkt (das »Dach und Fach«), erscheint mir als eine angemaßte, zungenbrechende und mich auch nie erfüllende Zweit-Sprache (wie es etwa ja auch die Liebe tötet, wenn ich diese in einer fremden Sprache ausdrücke)

Ich beschloß, mich nicht mehr zu beachten: und schon wurde ich zerstreut

»Glauben Sie immer noch, was Sie einmal gedacht haben?« — »Ich glaube nicht daran, ich denke es noch immer.«

»Alle Einzelheiten meiner Geschichte sind erfunden. Aber ich habe viel Nicht-Erzähltes erlebt — sonst hätte ich die Geschichte nicht erfinden können«

Das Innere (oder »Innerliche«) ist umso wirklicher, als ich es mir immer wieder erst erobern muß

Auf die Selbstaufforderung: »Zieh dich doch endlich aus der Welt zurück!« — »Wenn ich nicht jeden Tag der Welt Herr werde, sterbe ich ja.«

Ganz ich werde ich erst im Angesicht eines Baums und dessen Laubwerks: »vor dem Baum« muß dann heißen: »angesichts des Baums«: das Gesicht des Baums und meines werden eins: ganz Baum, ganz ich

Sein Dilemma: er wollte keine Schwierigkeiten vorführen mit den Wörtern, aber er wollte auch nichts vortäuschen an Harmonie in der Sprache

Hassenswert die, denen Sorge ganz fremd ist, die aber die Sorge nachahmen: nun treten sie als vollkommen auf (sag statt »Sorge« besser »Sorgsamkeit«; erst sorgsam bist du mein Mensch)

Selbstlos beschreiben: und die energischste, am meisten selbstlose Art von Beschreibung ist die der Natur

Die großen Epiker gebrauchten einst vieles von dem, was ich jetzt als etwas für sich aufschreibe, als bloße Vergleiche, um ihre »größeren« Ereignisse anschaulicher zu machen. Ihre Ereignisse waren der Krieg, und die kleinen Vergleiche dazu stammen aus dem Frieden: »… wie die unzähligen Scharen der Fliegen, wenn die Milch von der Butter herabtrieft, rastlos das Gehege der ländlichen Hirten im luftigen Frühling durchschwärmen …«, oder: »wie Zikaden, die auf den Bäumen sitzen, von ihren hellen Stimmen die Wälder erschwirren lassen …« (Homer). Von Hesiod, dem Zeitgenossen Homers, dem Dichter des Friedens, sind manchmal überhaupt nur solche Vergleiche erhalten — das Verglichene ist verschollen

Ein Geheimnis kann ich nicht »ausplaudern«, ich kann es nur erzählend, umschreibend entfalten. Ich kann (ich soll) dem Geheimnis seine Fülle geben

Ich hatte natürlich auch ein bißchen recht im Streit. Aber gerade das machte mich nachher besonders traurig: recht zu haben gegenüber einem Kind

Worte wie Klammern: so schreiben, daß niemand mehr lachen, »auskommen« kann; umklammern; »die verzweifelte Schrift«

Ich erinnerte mich an einen längst verschollenen Augenblick von Zärtlichkeit, und dann war das heute morgen gewesen

Das Pathos meiner Herkunft bewahrt mich vor dem Klassizistischen (das Zeichen des Bürgerlichen ist) und verlangt von mir das Klassische (das nicht nur mich adelt)

Nach Mitternacht sagt ein Betrunkener das Gedicht seines Lebens auf: er weiß es auf einmal (und nur einmal)

Ich dachte: Bis zum Ende des Jahrhunderts wird niemand mehr weiterzuwissen wagen — Schweigen, freiwilliges, bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Niemand mehr will des anderen Geschichte hören (ich auch nicht). Vielleicht ist sie zu oft falsch erzählt worden (so als ob jeder gerade in der falschen Welt wäre) (und die Hand rutschte vom Kopf)

In der Müdigkeit, Gleichgültigkeit, Weltverachtung: ich sah Pflanzen, die doch von unten nach oben wachsen, von oben nach unten hängen

Die Liebe wird zurückkommen, und wenn sie nicht zurückkommt, werde ich sterben

Wenn die Beschäftigung mit den anderen besonders tief, vollkommen wird, dann ist der Beschriebene, der andere, doch wieder ich

Die wiederkehrende Vorstellung von dem Streichholz, das, angezündet, etwas von der allgemeinen Kälte des Weltraums wegnimmt

Die Kraft, ernst zu bleiben; immer witzloser werden, auch zur eigenen Erleichterung

Eine Müdigkeit ergriff mich beim Lesen, wie sie nur die bekannte Beschreibung von scheinbar Bekanntem erzeugen kann

Der Regen fiel auf das Land, vor dem Fichtenwald im Hintergrund, ein einzelner schwerer Fall. Nicken der Grashalme, Orgeln in der Dachrinne. Zuvor rauschte ein Wind in der Linde, der noch kein Regen war, aber den Regen vorwegnahm. Das Gras wehte nicht im Regen, beugte sich auch nicht, sondern ruckte nur hin und her. Der Donner war ein Gefühl am Ohrknochen. Vor dem Geschütte draußen glänzten die trockenen Lippen eines Kindes im Hausinnern. Dann begann es zu hageln, und die Gräser bewegten sich wie bei einem Boxkampf. Man sah den Hagel nicht fallen, sondern erst, als er aus dem Gras bogenförmig aufsprang, viel weniger hoch als von dem Holztisch und der Autokarosserie. Wolken trieben auf den Feldern, die Felderoberfläche entlang. Der Regen fiel immer schneller, als würde er im Lauf der Zeit schwerer, und die Blätter bewegten sich jetzt nicht mehr vom Wind, sondern nur noch vom darauffallenden Regen. Ein einzelnes Blatt erzitterte zweimal, von einem Doppelschlag, der es fast gleichzeitig traf, und dann fiel ein Tropfen auf den Blattstiel, unmittelbar am Blattansatz, als ein ganz starker Hieb. Manchmal geschah eine Zur-Seite-Bewegung des Baums im ganzen, ein Auspendeln der Zweige unter den Tropfenschlägen: große Anmut des jungen Baums im geschwindfallenden Regen. Allmählich war auch die Rinde des Baums völlig durchnäßt: »Landregen«. Überall im Gras schnellte es wie von dort hüpfenden Insekten: »Grashüpfer«. In jedem der Fenster des Hauses zeigte der Regen sich anders, mit anderen Geräuschen, anderen Farben, und ich legte den Kopf in den Nacken, mit der Vorstellung, mit einem Blick nach hinten die Natur des Regens zu begreifen … Dann tropfte es von den Blättern, als habe der Regen schon aufgehört (oder war es nur das Beschreiben, das ein Aufhören wollte?). Nein, es regnete weiter, aber der Regen wurde unsichtbar, nur merkbar in einer dauernden Auflösung der Formen, einem Zucken in dem winzigen Hell-Dunkel einer Lache. Manche Gräser, gerade die dünnen, bewegten sich nur an den Spitzen, während die dickeren sich mit dem ganzen Schaft regten. Allmählich war die Wiese wie »kleingemacht« durch den langen Regen, und alle Gegenstände schienen zu Einzelheiten geworden: die gelben Blumen, die Flechten an den Baumstämmen. Alles schien schwerer und eigentümlicher geworden. Auf der Tischfläche spielte der Regen, als sei da eine »Regenkultur« ausgebrochen. Mit der Zeit erzeugte der Regen im Erdreich eine Struktur: selbst die kleinsten Steine standen frei, und der Weg zeigte sich wie der übersichtliche, saubere Grund eines Baches. Und dann ging ein Hahn schon wieder pickend im Freien, und die ersten Kinder waren wieder draußen, zumindest für einen kurzen Ausflug, obwohl es immer weiterregnete. Ich ging auch hinaus, und fühlte dann die Kälte des Regens geballt, als ich in den nassen Holunderbusch griff

Mit dem, was ich weiß, kann ich so selten enthusiastisch sein; wohl aber mit dem, was ich ahne; deswegen will ich nicht zu viel wissen

Einer Lebensnotwendigkeit einen Namen geben (z. ‌B. »Identität« — von der ich nicht weiß, was sie ist, wohl aber, daß sie etwas Lebensnotwendiges ist), heißt schon, sie aus dem Lebenszusammenhang zu lösen — literarisch gesprochen, sie aus der »Erzählung« zu lösen — und diese Notwendigkeit zu einer bloßen Ansicht, Lehrmeinung (einem Terminus) zu entwirklichen —, also hieße Schreiben: die Unantastbarkeit verteidigen, indem man sich auf das Erzählen konzentriert und jede wohlfeile Abstraktheit durch höchste Erzählkonzentration unmöglich macht, und undenkbar: das heißt, unnötig, sie ausdrücklich zu denken

Es ist klar: ich kann mir eine Heimat nicht zusammenfinden durch Sehen, Hören, Riechen, Erinnern — ich muß sie mir erschreiben, erfinden (sag auch nie: »meine Heimat«, aber doch: »meine Art Heimat«)

Auf dem Feld waren ein Mann, ein Pferd, eine Frau, ein Pflug: wie eine Prozession vieler Menschen. Dann kamen die Mittagsglocken, als Andrang. Eine Wasserlache vom gestrigen Regen leuchtete still auf einem Seitenweg. Ein wahnsinnig gewordener Kettenhund bellte. Eine Katze saß einer anderen gegenüber und fauchte. Aus den Häusern der Einöde kamen Fernseherstimmen: »wie ein Arztbesuch«, dachte ich. Von den schimmernden Ährenspitzen des Weizens blinkte es im Vorbeigehen durchs ganze Feld, so wie von einem Flugzeug aus die Wasserläufe und Wasserstellen unten auf der Erde blinkend abwechseln. Ein Indianerpfeil, abgeschossen in Übersee, kam über die Wiese geflogen und blieb rotleuchtend zwischen den Gräsern stecken. Die sich ändernden Gerüche der Hand auf dem langen Weg, je nachdem, was sie anfaßte: Kamille, Holunder, Fichtenzapfen … In der Dämmerung lief ein Hund mit rasselnder Kette, befreit, über die Wegsteine. In den Büschen schwirrten die Vögel, ohne aufzufliegen, und die Wegsteine leuchteten wie Eierschalen. Im geschlossenen Geschäft stand eine leere Waage. Die Hunde bellten sich vor dem Vollmond blutig. Eine schwarzgraue Kröte saß unbeweglich im Moos: als ich sie mit dem Fuß anstieß, kollerte sie weg wie tot, bewegte sich erst nach einiger Zeit. Im Abend ragten Pferdeköpfe auf (wie nur je Pferdeköpfe). Im Dunkel der weiße Klee; das Papier zwischen den Deckeln der Milchkannen (wobei ich an eine »Botschaft« dachte); die Motten in den Baumkronen, als einzige Flugtiere jetzt; und der allerschönste, so schwache Geruch der Lindenblüten … Der Blitz draußen als zusätzlicher Streifen auf dem Teller im Wirtshauszimmer

Ich sah durch den Bergzaun in der Taltiefe ein gelbleuchtendes Hoftor: den Mond. Dann war der Mond eine strahlende Lautsprecherbox, quergeteilt von den Zaunlatten davor. Er stieg zusehends, am Zaun zu beobachten, aus der Ebene und stand neben dem Berghaus als das Fenster eines kleinen unsichtbaren Nebengebäudes. In den hohen Linden rauschte es immerwährend, auch bei völliger Windstille auf der Bank darunter. Ein Glühwürmchen flog seltsam hoch. Auf dem Mond erschienen zwei Kratzer, von den Zaunspitzen. Auf der Wiese war ein grauer Schein, und ein Geruch von Kümmelpflanzen wurde spürbar beim Einatmen. Es war jetzt, als ob das so leise Rauschen der Bäume die Herrschaft über die Landschaft übernommen hätte. Das Rauschen galt. Der Mond hatte auf einmal einen langen dünnen dunklen Wolkenpfeil zwischen den Zähnen. Allmählich kam der Wind von den Bäumen als kalter Hauch herab auf den Erdboden. Mit der Zeit fühlte ich mich von dem Rauschen umkreist — das auch stärker wurde. Im Gehen dann wurden Gerüche oder Düfte und Wärme ununterscheidbar: mit der Wärme kam jeweils ein Duft. Allmählich befand ich mich in einer neuartigen Helligkeit, ohne daß der Mond, nun hinter dem Haus verschwunden, schon wieder zu sehen war: es wurde immer lichter, auch auf dem Papier, auf das ich schrieb, so daß ich mich unwillkürlich nach einer Lichtquelle umschaute. Die schwarzen Fenster an dem Haus gaben mir das Gefühl von einer tiefen, schweren Abwesenheit jemandes, eines einst Geliebten. Dann blinkten die Gegenstände im unmittelbaren Mondlicht, in welchem das Glühwürmchen erlosch. Das endlich bewegungslose Ende eines Zweiges ragte in den Mond, als dessen Wappen: ein Hahnenfuß. Aus dem Talgrund — viele Kilometer weit weg — kam jetzt Blasmusik, leise wie eine Ohrentäuschung, wie eine Erzählung von einer Blasmusik und einer Tanzveranstaltung (Geräusche der fernen Rhythmusinstrumente wie von der Hand unter der Achsel erzeugt) und von Leuten als Punkten in der Mondnachtkälte. Im Gras zu meinen Füßen, tief unten zwischen den Halmen, bewegte sich in der Dunkelheit ein kleines gelbes Stück Kohle, das das Gras rundum ausleuchtete: dieses Stück leuchtender Kohle, in der Mitte ein schwarzer Längsstrich, rotierte langsam um sich selber, wie eine schwer drehbare Schraube

Zum ersten Mal verstand ich, daß man, wie im Orient, einen Teppich mit auf eine Reise nehmen will (ich wollte es selber)

»Denn ein Mythos wird, wenn er geschichtlich zu Recht besteht, zu seiner Zeit geglaubt, und er muß das letzte Wort des kritischen Denkens seiner Zeit sein.«

»Ihr seid vom Zeitungswahnsinn zerstört.« — »Wer sagt das?« — »Der vom Zeitungswahnsinn Bedrohte.«

Für meine Art zu leben muß ich allein sein (damit überhaupt eine Lebens-Art einsetzen kann) — nicht so, wie ich jetzt, in Gesellschaft, auf die Bäume schaue: mit anderen zusammen, sind mir die Bäume in der Regel schon weggeschaut

»Ich weiß nicht, ob ich ein Dichter bin oder ein Empfindungsgebundener«

Von Deutschland nach Österreich: Empfindung eines Übergangs wie vom »Gedruckten« zum »Handschriftlichen«; und: Ich nähere mich dem Zentrum meiner Vorurteile

Viele, statt daß ihr »Wesen verstummt und lauscht«, werden in der Natur automatisch zu Schreihälsen

Meine Liebesvorstellung: jemanden aufzuheben (nicht: zu tragen)

Ein Bewußtsein von »Gesundheit« habe ich, sooft ich mich verbessere (mich korrigiere)

Die Schizophrenie stellte ich mir gerade vor als akute Schauspielerei im Bewußtsein des äußersten Alleinseins

Ein Hund bellte nachts draußen unablässig, und im Traum sagte der Polizist: »Mach, mach, mach …«

Ich spürte meinen Herzschlag: d. ‌h., ich spürte in einem Anblick, draußen, mein Herz schlagen; ich sah in einer Baumgabelung in der Ferne mein Herz

Sind die bestehenden Wörter nicht schon die Beweise, daß das von ihnen Bezeichnete, wenn auch im Moment nicht offenbar, Tatsache ist? Und kann man die Wörter nicht alle verwenden, im rechten Moment (im rechten Satz)?

Es gibt keine »Gleichgültigkeit«; diese ist eher das Leiden »Leiden«; ohne besondere Eigenheit mehr, ohne Lokalisierungsmöglichkeit, ohne Richtung; und erst eine Folge davon ist das Schuld- und Schmerzgefühl darüber, daß einem alles andere gleichgültig ist