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Bullshit.Sprech

 

Inhalt

Armin Nassehi | Editorial

Deniz Yücel | Brief eines Lesers (19)

Maurice Summen | Pop Life. Über den Kulturimperialismus des Bequemen

Hans Hütt | Das Hohlsprech-Prinzip. 14 Anleitungen für erfolgreichen Talkshow-Bullshit

Georg Seeßlen | Die Sprache der Verblödung. 7 kleine Versuche über semantische Krisen und ihre politischen Folgen

Georg M. Oswald | Alles Kommunikation, oder was? Ein kurzes Plädoyer für intellektuelle Selbstbehauptung

Markus Baumanns, Torsten Schumacher | Schon wieder eine Sau. Von Agilität und anderem Bullshit im Unternehmensalltag

Birger P. Priddat | Poesie der Ökonomie. Die große Parade von Vermutungen, Vagheiten, Überredungen und Kontingenzen

Jan Soeken | Super Story

Armin Nassehi | Political Correctness. Zwischen Orthofonie, Bullshit und sozialem Wandel

Josef Früchtl | Idioten. Blödmänner. Assholes. Brauchen moderne Demokratien unverschämte Bürger?

Friedrich Wilhelm Graf | Klerikaljargon. Über den Sprachverlust der Kirchen

Peter Felixberger | Das hochsterilisierte Runde ins primär Eckige. Bullshit im Fußball

Jakob Schrenk | Unsinn im Sinn. Bullshit im Kursbuch – eine Sammlung

Kerstin Hensel | Der verwachsene Schnabel

Anhang

Die Autoren

Impressum

Armin Nassehi
Editorial

Harry G. Frankfurt, Philosoph an der Princeton University, hat einen Essay mit dem Titel Bullshit veröffentlicht.1 Er startet mit einer lapidaren Diagnose: Es gehöre zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur, dass es viel Bullshit gebe. Wir wüssten zwar nicht genau, was das ist, aber jeder kenne es. Frankfurts Analyse selbst changiert zwischen Bullshit, der einfach anfällt, und Bullshit, der bewusst eingesetzt wird. Gemeinsam ist beiden Perspektiven nach Frankfurt, dass sich Bullshit-Sprech nicht darum schert, ob die Dinge der Wahrheit entsprechen. Das ist das eigentliche Charakteristikum. Dem Bullshitter ist sein Bullshit egal, Hauptsache, er kommt damit durch.

Kurz vor Redaktionsschluss dieses Kursbuchs gab es im Rahmen des sogenannten Diesel-Gipfels eine geradezu perfekte öffentliche Inszenierung dessen, was man Bullshit nennen kann. Der Vorstandsvorsitzende der Volkswagen-AG, wir vermeiden, den Namen zu nennen, hat in der abschließenden Pressekonferenz einen sicher legendär werdenden Satz gesagt. Die Nachfrage lautete, warum sich die deutschen Automobilhersteller nur auf ein hübsches Software-Update einlassen, statt eine technisch mögliche Lösung in die Automobile zu installieren, die zu einer wirklich signifikanten Reduzierung von Schadstoffen führen würde. Die Antwort: Man wolle die Ingenieure des Hauses nicht mit dem Werkeln an alten Technologien, an zehn Jahre alten Motoren beschäftigen, sondern deren Kapazität lieber in Zukunftstechnologien investieren – sagte einer der Vertreter einer Branche, die seit Jahren nichts anderes tut, als auf eine antiquiert werdende Technologie statt auf Zukunftstechnologien zu setzen. Zukunftstechnologie – hört sich gut an, dagegen kann niemand etwas sagen! Aber es war extremster Bullshit. Offenkundiger Unsinn – aber dem Bullshitter war das völlig egal, er kam damit (zumindest in der Situation) durch. Exakt das meint Harry G. Frankfurt mit Bullshit.

Dieses Kursbuch ist kein Bullshit, denn wir wollen zwar damit durchkommen, aber es ist uns nicht egal. Die Beiträge dieses Kursbuchs thematisieren Bullshit auf unterschiedlichen Ebenen. Es geht um Bullshit in der Business-Sprache (Baumanns/Schumacher) und in der Sprache der Ökonomen (Priddat), um das Bullshit-Potenzial der sogenannten »Political Correctness« (Nassehi), um ein allgemein wachsendes Bullshit-Potenzial (Seeßlen), um Bullshit in politischen Talkshows (Hütt), um die Anfälligkeit der religiösen Sprache für Bullshit (Graf), um Bullshit in der Fußballersprache (Felixberger), um die Ambivalenz der Unverschämtheit (Früchtl), um den Zweifel an (juristischer) Kommunikation (Oswald) und Bullshit im Pop (Summen).

So unterschiedlich diese Perspektiven sind, so sehr haben sie doch alle jene Spannung im Blick, die sich nach der Lektüre von Harry G. Frankfurts Bullshit-Essay einstellt: Haben all die Kommunikationsformen, Sprechweisen und Bullshitter, die hier analysiert werden, den Bullshit gewollt? Sind sie einfach reingeschlittert? War es ihnen wirklich egal? Oder ist das womöglich egal? Jedenfalls sind es alles Geschichten des »Damit-Durchkommens«.

Hervorheben möchte ich zwei Texte. Die literarische Annäherung von Kerstin Hensel ist ein Potpourri von sich selbst ad absurdum führenden Sprechweisen. Der Anfangswahlspruch: »Am Anfang war das Wort. Am Ende Bockmist.«

Und Jakob Schrenks akribischer Nachweis, dass auch das Kursbuch nicht frei von Bullshit-Sprech ist – wie sollte es auch? Seine Aufzählung von verunglückten Kursbuch-Sätzen ist zugleich ein schöner Spiegel des Wandels jener Verhältnisse, denen auch die Kursbuch-Themen ausgesetzt waren und sind. An der Anfälligkeit für Bullshit hat sich freilich nichts gewandelt.

»Man würde zum Beispiel niemals sagen: ›Wir haben den ganzen Tag am Pool rumgehängt.‹« In der Tat, das wäre – Bullshit. Oder einfach falsch? Oder ist es nur in dem Kontext Bullshit? Oder weist es darauf hin? Was für Fragen! Die Comics von Jan Soeken jedenfalls spielen mit genau diesen Fragen. Haben sie Antworten? Wir haben sie. Würden sie aber nicht weitersagen. Wäre Bullshit!

Der »Brief eines Lesers« gehört zu den festen Rubriken des Kursbuchs. Diesmal weichen wir etwas ab. Es gibt einen Brief, aber der ist bereits drei Jahre alt und stammt von Deniz Yücel. Es handelt sich um einen Text, den wir mit freundlicher Genehmigung der taz der Kolumne »Besser« entnommen haben. Der Text stammt vom 15. September 2014 und ist ein kurzes Glossar des Bullshit-Sprechs der AfD – unschwer ist zu erkennen, dass das Personal und der Rekurs auf Ereignisse nicht aktuell sind und noch aus der Lucke-Phase der AfD stammen. Der Bullshit freilich ist derselbe.

Wir hätten Deniz, der 2015 von der taz zur Welt wechselte und übrigens auch ein Kursbuch-Autor ist (Kursbuch 188), gerne um einen aktuellen »Brief eines Lesers« gebeten. Deniz sitzt seit Anfang des Jahres in türkischer Haft – unter fadenscheinigen rechtlichen Bedingungen und ebenso fadenscheinigen Begründungen. Diese Begründungen sind Bullshit-Sprech in Reinform: offenkundiger Unsinn, dessen Offenkundigkeit wohl auch den Sprechern bekannt sein dürfte, freilich gepaart mit der Chance, damit durchzukommen.

Wir hoffen sehr, dass sie am Ende nicht damit durchkommen werden – vielleicht haben sich in der Türkei wenigstens Reste von Rechtsstaatlichkeit erhalten, vielleicht gelingt es auch politischem Druck, Deniz (und andere Journalisten) freizubekommen. Wir sind uns sicher, dass er an manchem Bullshit-Sprech, den wir in diesem Kursbuch zusammengetragen haben, seine Freude hätte.

Anmerkung

1 1 Harry G. Frankfurt: Bullshit. Frankfurt am Main 2006.

Deniz Yücel
Brief eines Lesers (19)

Das AfD-ABC

Von Brüssel zum Hans-Olaf, von der Jungen Alternative zu Russland – was Sie über die Alternative für Deutschland wissen müssen.

A wie Alternative: Eine Politik, die für »alternativlos« erklärt wird, schreit nach Alternativen. Dafür: Danke, Angela Merkel!

B wie Brüssel: Ort des Grauens, das biblische Babylon, Orwells Ozeanien und Tolkiens Mordor in einem.

C wie christlich: Auch und ganz besonders das. Mehr als die Parteien mit C im Namen.

D wie Deutschland: Beste Land wo gibt.

E wie Euro: Kommt aus →Brüssel, macht →Deutschland kaputt, muss weg, weg, weg.

F wie für: Tolles Vorwort. Erhöht durch Kleinschreibung den Coolnessfaktor.

G wie Gendermainstreaming: Zerstört Gesellschaft; führt dazu, dass kaum noch Männer wie →Lucke nachwachsen.

H wie Henkel, Hans-Olaf: Parteipromi. Beliebt in Talkshow-Redaktionen (Kategorie: Quasselstrippe für den Notfall, hat zu allem eine Meinung). Hat demnächst in Hamburg, wo man noch jeden Spießer mit überhöhtem Geltungsdrang in die Bürgerschaft gewählt hat, prima Chancen.

I wie Islam: Gehört nicht zu, ist auch keine →Alternative →für →Deutschland.

J wie Junge Alternative für Deutschland: Coolster Jugendverband seit der FDJ. Picklige Jungs, die immer auf dem Schulhof verprügelt wurden, haben jetzt auch eine Facebookseite.

K wie konservativ: Alles, was es 1950 noch nicht gab, ist doof.

L wie Lucke, Bernd: Wer? Ach der. Wird man auch dann nicht auf der Straße erkennen, wenn die AfD 60 Prozent bekommt.

M wie Mark, D-: Beste Währung von Welt. Muss zurück.

N wie Nazis: Waren nicht koscher. Um in dieser Sache Pannen zu vermeiden, lässt die Partei ihre Mitglieder schulen. (»Nazis waren nicht koscher, kannten auch keine D-→Mark.«)

O wie Ossis: Wer die DDR eigentlich okay findet (keine Arbeitslosigkeit, keine Ausländer, alles sauber), aber ihr ankreidet, dass es dort keine D-→Mark gab, hat endlich eine →Alternative zur Linkspartei.

P wie Petry, Frauke: Zonen-Gaby in der Parteiführung, lehnt →Gendermainstreaming trotzdem ab.

Q wie Quote: Teufelswerk. Darum ist die Ausländerquote bei der AfD so hoch wie im Ku-Klux-Klan und die Frauenquote (→Petry) nur geringfügig höher als bei ISIS.

R wie Russland: Demokratisches Nachbarland mit friedlichen Absichten; kein blödes →Gendermainstreaming, keine nervige →Quote, aber viel Gas und Öl.

S wie Schwule: Gab es 1950 nicht, müssen genauso weg, weg, weg wie der →Euro.

T wie Türkei: Die EU ist doof, aber die Türkei gehört auf keinen Fall dazu.

U wie Universitäten, deutsche: Drei Viertel aller AfD-Funktionäre hatten dort Lehrstühle, bis ihnen langweilig wurde und sie nach einer →Alternative suchten.

W wie World Wide Web: C4-Professoren (→Universität) allein machen keine Volkspartei, dafür braucht es noch ein paar Spinner aus dem Internet. Sind jetzt alle da, Laden läuft.

X wie X: AfD, das Kreuz an der richtigen Stelle (→christlich).

Y wie Üpsilon: Als hoch qualifizierte Fachkraft mit 1-a-Deutschkenntnissen akzeptabel, sonst nicht.

Z wie zehn: Über zehn Prozent in Thüringen (»Land ohne Prominente«) und Brandenburg (»Nimm dir Essen mit«) sind schon was. Aber da geht noch mehr.

Besser: Keine Alternative für Deutschland.

Kolumne »Besser« aus der taz vom 15.09.2014.

Maurice Summen
Pop Life
Über den Kulturimperialismus des Bequemen

Sucht man unter gläubigen Katholiken jemanden, der einem die Heilige Dreifaltigkeit erklären kann, wird man ewig recherchieren müssen. Halten wir unter Pop-Konsumenten nach jemandem Ausschau, der einem Pop erklären soll, stehen wir vor dem gleichen Problem.

Es geht im Pop nicht darum, etwas zu erklären, sondern darum, durch Konsum etwas zu erfahren, was man eben nicht verbalisieren kann. Da Pop fast gleichzeitig in der Kunst- und Musikwelt der 1950er-Jahre in Amerika und Europa entstand und in der Wirtschaft rasch einen cleveren Dritten im Bunde fand, wurde er in gewisser Weise zur Heiligen Dreifaltigkeit im Kapitalismus.

Wie man schon gleich zu Beginn meines Textausflugs sehen kann, lässt sich mithilfe des Begriffs Pop so ziemlich jeder Nonsens behaupten. Deshalb ist Pop auch ein stolzes Enkelkind von Dada, allerdings von Anfang an mit einem ausgeklügelten Businessplan.

Pop hat – da geht er Hand in Hand mit seinem Paten von der katholischen Kirche – keine Angst vor der Masse. Durch die Massenmedien, vom Buchdruck über die Vinylschallplatte bis hin zum Streaming, erobert Pop die Märkte. Allerdings steckt hier der Teufel im juristischen Detail: Während das Urheberecht der katholischen Kirche für immer und ewig sicher im Vatikan vor sich hin schlummert, liegen die Urheberrechte im Pop heute bei global agierenden und sich ständig neu fusionierenden Unterhaltungskonzernen wie Universal Music, Disney Music oder Sony Music Entertainment. Amen.

Pop hält über die Kunst eine Nähe zum akademischen Betrieb, der wiederum in seinen soziologischen und kulturpolitischen Exkursen immer wieder in Kontakt mit ihm tritt – dies ist für alle im Bunde von Vorteil. Der immer etwas träge erscheinende wissenschaftliche Apparat zeigt sich durch den Untersuchungsgegenstand Pop auf der Höhe der Zeit, und die Konsumartikel des Pop bekommen nie geahnte Bedeutungsebenen verpasst, die jeden Konsumenten gleich zum wissenschaftlichen Probanden machen. Wer Lust hat, ist jederzeit dazu eingeladen, sich selbst zu untersuchen.

Auch weist Pop eine Nähe zu Milieus auf, die auf die gesellschaftliche Mitte schon immer eine ungeheure Anziehungskraft ausübten, aber leider nur so halb auf der Liste des Erlaubten stehen: Bordelle, Opiumhöhlen, Spelunken, illegale Klubs, geheime Bars und Salons. Mit diesen Orten gehen Arbeitsverweigerung, exzessiver Drogenkonsum, freie Liebe, Glücksspiel und sonstige Freuden einher. Alles Dinge, die den Philosophiedozenten mit roten Wangen von seinen griechischen Lieblingsgöttern schwärmen lassen. Oder von Foucaults heterotopischen Räumen. Oder er zitiert gleich seinen Lieblingssong von den Doors.

Break on through to the – Powerpoint-Präsentation.

Pop-Konsum

Wen wundert es da, dass Pop seit vielen Jahren keinen ernst zu nehmenden Gegenspieler mehr hat. Während es in der Musikwelt noch bis in die 1990er-Jahre zumindest die Pseudorivalenpaarung Rock und Pop gab, wurde die Rockwelt inzwischen längst ohne spürbaren Widerstand eingemeindet. Dies gilt auch global für Hip-Hop-Künstler wie aktuell Kendrick Lamar oder in Deutschland für die Schlagersängerin Helene Fischer. Inzwischen halten selbst namhafte Pop-Kritiker hierzulande Helene Fischer ernsthaft für einen großen Pop-Star – und Millionen Menschen »Atemlos« für eines der größten Lieder aller Zeiten.

Pop ist immer eine Glaubensfrage. Kein erfolgreicher Künstler wehrt sich indes gegen das ewige Prinzip der Eingemeindung. Pop ist schließlich ein friedlicher Ort. Und alle wollen im Pop stattfinden.

Selbst eine Skandalnudel wie GG Allin, der sich einst live eine Bockwurst in den Hintern schob, um die Abscheu vor dem eigenen, männlichen Geschlecht zur Schau zu stellen, wäre heute – man ahnt es bereits – einfach nur noch ein Pop-Phänomen. Vermutlich ein randständiges.

Auch Lemmy Kilmister, Sänger und Bassist von der britischen Hardrockband Motörhead, tauchte in den letzten Jahren seines Lebens verstärkt in den Lieblingsgazetten von Leuten auf, die auch die vollständige Pet-Shop-Boys-Plattensammlung im Schrank stehen haben: »Being Boring«.

Pop liebt am Ende immer die Vielfalt und hat die neue Mitte, von der uns auch die Merkel-Raute immer wieder erzählt, maßgeblich mitgestaltet und portionsweise von den Rändern in sein Zentrum getragen. So hat Pop unsere Welt mit seinen Protagonisten ein Stück weit toleranter und attraktiver gemacht. Solange man nur nicht auf die Idee kommt, diese glitzernde Oberfläche, die regelmäßig einen erfrischenden Relaunch erfährt, kritisch zu hinterfragen. Denn Pop, der kein Gegenteil mehr kennt, kein Geschlecht hat und offenbar in der Lage ist, alles und jede(n) in sich aufzunehmen, lässt auf seinen Kreuzzügen des Glücks natürlich unfassbar viele Menschen auf der Strecke. Oder lässt sie erst gar nicht teilhaben. Pop kostet eine Stange Geld.

Aber auf den ersten Blick ist Pop natürlich free & easy und gibt sich so emanzipatorisch wie nichts anderes auf dieser Welt. Mal ist Pop ein kuscheliger Teddybär (Elvis Presley), hegt rebellische Sympathien für den Leibhaftigen (The Rolling Stones), spielt mit der Unschuld einer Jungfrau (Madonna) – und ist im Jahr darauf vielleicht schon wieder so gefühlskalt wie eine Schaufensterpuppe. Oder ein Topmodel. Je nachdem welche der Platten der deutschen Elektropioniere Kraftwerk gerade die Lieblingsplatte ist. Pop kann links wie rechts, ist ideologisch immer stereo, und seine Fadenzieher im Hintergrund sind so neoliberal wie Dieter Bohlens diabolisches Grinsen.

Pop is Modern Talking!

Pop schiebt die Ränder in den Mainstream und mit Strategien von Camp bis Retro auch schon mal wieder alte Mainstream-Phänomene zurück an die Ränder, von wo aus sie wieder neu erstarkt zu noch größeren Mainstream-Phänomenen werden können. Man denke nur an Tarantino-Filme, die Guardians of the Galaxy oder an Revivals wie Swing oder Easy Listening.

Aber in erster Linie lädt Pop immer wieder zur kreativen Neuerfindung ein. Oder gibt sich zumindest den Schein eines Novums – im Auftrag ewiger Jugend und Glückseligkeit für die frisch auf dem Markt stets willkommen geheißenen Teenager. Alle Protagonisten auf der Oberfläche eint im Zentrum eine immer wiederkehrende zentrale Botschaft: Konsumier mich!

Das Entwerfen von Kunstfiguren mithilfe neuester Technologien aus der Bilder- und Soundwelt, mit historischen Verweisen auf in Vergessenheit geratene Vorbilder, am liebsten noch durch eine aufgepeppte Coverversion – Pop funktioniert wie durch Instagram-Filter gejagte alte Familienfotos.

Lässt sich eine amerikanische Künstlerin wie Lady Gaga ein Rilke-Zitat auf den Arm tätowieren und ist zudem noch bekennender Fan von Madonna genauso wie von hippen jungen Electro- und R&B-Produzenten, und lässt sie sich ihr Album-Cover zu Artpop auch noch von Jeff Koons (Fan von Lady Gaga!) gestalten, dann sind erst einmal alle, vom Kunstbetrieb über die Pop-Kritik bis zum Betriebswirt, im Unterhaltungskonzern hochzufrieden. Und Lyrik-Tattoos werden über Nacht zum In-Style.

So wie es in der Maklersprache insgesamt nur drei Faktoren gibt, die für den Wert eines Objekts sprechen, nämlich »Lage«, »Lage« und »Lage«, sprechen die Umstände im Pop eine ganz ähnliche Sprache, was den Marktwert seiner Künstler betrifft. Es gibt auch hier nur drei entscheidende Faktoren: »Hits«, »Hits« und »Hits«.

Ein Kind wird sich jedenfalls vor seinen Eltern nicht lange rechtfertigen müssen, sein Taschengeld für ein neues Lady-Gaga-Album auszugeben. Es konsumiert ein erfolgreiches Produkt mit Nähe zu Kunst, Literatur und Schnullibulli. »My Artpop could mean anything«, singt die Künstlerin selbst über ihren hybriden Pop-Entwurf. Sicher lässt sich sein Geld sinnvoller ausgeben als für ein Lady-Gaga-Album, aber das ist ja nun mal eine der Grundvoraussetzungen im Pop: sein Geld zu verjubeln!

Denn erst durch den Konsum findet die den Pop erhaltende unbedingte Bejahung statt, und Künstler müssen von ihren Fans nun mal rund um die Uhr konsumiert werden, um oben im Charthimmel zu bleiben. Der Fan wird somit zum Herrscher über die Hitparade: Wer unter den Künstlern aus der Konsumentenliste fliegt, fällt schneller wieder vom Himmel als sie oder er – und alle Geschlechter dazwischen – einst aufgestiegen ist, und landet betrunken in der »bar called Heaven«.

Wer Pop konsumiert, der glaubt allein durch die Kraft der Konsumption, das Rad der Geschichte weiterzudrehen. Pop transformiert entfremdete Arbeit in ästhetische Prozesse und verlängert dabei sein Narrativ ständig. Während es in den 1980er- und 1990er-Jahren vor allem noch Musikalben oder Kinofilme waren, die zwischen 40 und 90 Minuten dauerten, liefert er seinen Konsumenten heute nicht enden wollende Serienformate: von Cliffhanger zu Cliffhanger! Womit wir jetzt fast unbemerkt von der Pop-Musik direkt ins Filmgeschäft gesprungen sind. Und das, obwohl wir bis hierher von einer diffusen Dreifaltigkeit des Pop ausgegangen sind.

Nun, ich befürchte, wir werden diese Position an dieser Stelle wieder aufgeben müssen, denn ohne das Bewegtbild und seine Medien, von Kino, TV bis YouTube und Netflix, wäre Pop von Anfang an nicht denkbar gewesen. Und wir sprachen ja schon drüber: Pop ist in der Lage, alles und jeden in sich aufzunehmen. Und sich an seiner Oberfläche ständig zu verändern.

Ohne Filmaufnahmen wäre es jedenfalls weder Elvis Presley noch den Beatles noch Madonna oder heute Rihanna oder Ed Sheeran jemals gelungen, die Massen für sich zu begeistern. Klar, so ein Lied, das geht unter die Haut, aber kein Mensch möchte sich von einer Art Quasimodo in den Schlaf singen lassen. Höchstens wenn es sich um eine liebenswerte Cartoon-Figur wie Shrek handelt.

Nein, wir wollen ein komplettes, perfektes Image. Nicht nur ein nettes Liedchen. Wir wollen unsere Libido an den leuchtenden Sternen auftanken, nicht an ihnen abschlaffen. Sie sollen uns ein strahlend-leuchtender Stern sein, wenn wir in unseren entfremdeten Arbeitsprozessen mal wieder an Sinn und Zweck der Veranstaltung Leben zweifeln. Oder mal wieder im privaten Gefühlschaos hängen geblieben sind. Pop hat mächtig viel Sex-Appeal! Die Ausnahmen sind einfach nur süß.

Pop-Stars

Ein erfolgreicher Star beherrscht natürlich die komplette Gefühlspalette. Von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. Im Gegensatz zu uns Normalsterblichen sieht er dabei allerdings immer blendend aus. Das liegt natürlich am Make-up und am perfekt eingestellten Licht. Und den sündhaft teuren Klamotten, von denen sich Fans Kopien im Internet-Kaufhaus bestellen können. In Billiglohnländern hergestellt. Aber dafür spielen die guten Stars regelmäßig auf Charity-Veranstaltungen oder beteiligen sich an Online-Petitionen gegen das Böse.

Pop ist nie böse! Pop ist das blühende Leben. Auch wenn es den Tod verhandeln muss. Wie etwa Nick Cave auf seinem letzten Album den tragischen Tod seines Sohnes. Pop macht ein Event aus dem Tod. Und Kondolenz ist längst fester Bestandteil gelebter Pop-Kultur geworden. Kein Album verkauft sich schließlich so gut wie das eines frisch von uns Gegangenen.

Auch wer heute in der Literatur etwas gelten will, muss seine Karriere im Pop planen. Längst vorbei die Zeiten, in denen ein Autor das mystische, fast übersinnliche Wesen war, mit seinen außerordentlich guten Kontakten zum gesellschaftlich Unterbewussten. Heute muss sich ein Autor schon mit seinem Debüt nahbar machen – ab an die Oberfläche: Lesereisen, Internet-Filmchen, Hörbücher, Talkshows. Oder gleich über Lieblingspopalben oder Serien schreiben. Zumindest im Roman sollte ein Autor heute immer mal wieder auf Pop-Phänomene zu sprechen kommen. Oder wie neulich Haruki Murakami einfach seine komplette Jazz-Schallplattensammlung als Spotify-Playlist veröffentlichen. Seine liebsten Whiskeys kann sein Verleger dann im nächsten Social-Media-Post verbraten.

Social Media ist in den letzten zehn Jahren zu so etwas geworden wie die Hauptpost des Pop-Betriebs. Wo wir früher noch Tage, Wochen oder gar Monate auf neue Leuchtsignale der Stars warten mussten, erledigen die sozialen Dienste das in immer kürzeren Intervallen: keine Langeweile mehr. Dabei scheint es den im Internet agierenden Fans egal zu sein, dass sich die großen Stars von Agenturen vertreten lassen, die ihr Geld damit verdienen, virtuelle Werbekonzepte zu konzipieren und zu realisieren. Sie loben den Schauspieler persönlich für seinen letzten Film, mäkeln an der Qualität der neuesten Single ihrer Lieblingsband herum oder freuen sich über einen gesellschaftspolitischen Kommentar eines Stars, den man mit anderen Bewunderern gemeinsam bewerten und kommentieren kann.

Nach dem Vorbild der US-amerikanischen Politik, spätestens aber seit dem Schauspieler Ronald Reagan, sollen heute auch Politiker Pop-Stars sein! Bei Obama, der Social Media in den Wahlkampf einführte mit seiner Hit-Single »Yes, we can«, fanden alle noch große Freude an der medialen Progressivität – die Arme weit ausgestreckt in Richtung Pop-Betrieb. Bei Trump allerdings bleibt vielen mit jedem weiteren Tweet das Liken im Halse stecken.

Aber für Pop ist Trump natürlich ein Gewinn: Erstens zeigt er den Menschen auf der politischen Weltbühne, dass es sich mit den Waffen des Pop einfacher regieren lässt, wenn man vielleicht auch nur so tut, als würde man regieren, und zweitens liebt Pop es, sich an der Oberfläche gegen das Establishment zu inszenieren. Trump schafft es problemlos, wie seine Multimillionärsfreunde auf der Musikshowbühne, seinen Fans den Eindruck zu vermitteln, ein Gladiator im Kampf gegen die schreiende Ungerechtigkeit auf Erden zu sein! Man denke nur zurück an die großen Punkbands, namentlich die Sex Pistols, The Clash oder die Ramones. Auch sie waren Produkte der Industrie. Und wenn man in 100 Jahren über Punk spricht, dann wird vor allem von diesen drei Bands und ihrer Wirkung die Rede sein. Der Rest ist Geschichte. Und natürlich ist Punk längst auch Pop.

Man muss in Deutschland nur mal auf einem Konzert der Band Die Ärzte gewesen sein. Auf der Bühne stehen über 50-jährige Multimillionäre mit gefärbten Haaren und Totenkopf-Gürtelschnalle. Die Eltern der Fans sind aus Sicht ihrer Kinder das Taschengeld spendende Establishment. Und die Band mimt auf der Bühne den ewigen Jugendlichen. Die Fans kaufen T-Shirts, auf denen »Ich wurde gejazzt« geschrieben steht. Die Selbstironie des Konsumenten. Pop kann auch Ironie. Schon The Beatles waren gerne ironisch.

Doch noch einmal zurück zu Mr. President: Trump und die Sex Pistols sind in ihren medialen Effekten nicht so weit voneinander entfernt. Fast jeder Auftritt wird auch bei Trump zum erwartbaren Skandal – und immer liegt eine diffuse Angst um die totale Entgleisung des ganzen Systems der Ordnung in der Luft. Trump wirkt dabei so wankelmütig wie Sid Vicious, der schwer drogenabhängige Bassist der Sex Pistols, der nebenbei bemerkt kaum Bass spielen konnte. Aber seine Unberechenbarkeit macht Trump für Fans und Gegner immer attraktiver. Jeder Hinterwäldler aus dem Mittelstand würde gerne einmal so ungeniert auf den Putz hauen wie der US-Präsident. Das darf er sonst höchstens mal auf einem Schützenfest. Oder im Karneval.

Im Pop ist immer Karneval. Jeder Aufzug ein gut gewähltes Kostüm mit unendlich vielen Zeichen. Immer mit Verweisen auf Vergangenheit und eine mögliche Zukunft in einer vorgeflunkerten, perfekt durchinszenierten Scheinwelt: »Tell me lies, tell me sweet little lies …« Ja, ohne Lüge kein Pop! Ein Feel-Good-Song muss unbedingt alle gesellschaftlichen Missstände und Widersprüche ausblenden, sonst wäre es ja unmöglich, sich auf dieser Welt so gut zu fühlen, wie das Pop-Stars in einem erfolgreichen Song tun. Man denke etwa an »Happy« von Pharrell Williams. Oder »Highway to Hell«.

Während die bürgerlichen Institutionen in ihrem Bildungsauftrag immerzu auf die Spaßbremse treten, lädt Pop seine Schäfchen konsequent dazu ein, die Sau rauszulassen: Du lebst nur einmal, das Leben ist eine Party – und wenn du morgen tot bist, was du wirklich nie wissen kannst, dann hast du bis zum Tode immerhin richtig gelebt. Das ist natürlich vor allem an die Jugend gerichtet, aber die geht dank Pop heute weit über die 30 hinaus. Bis 40 kann man heute, vor allem in den urbanen Zonen, bequem einen jugendlichen Pop-Lifestyle leben und erst dann eine Familie gründen.

Pop hilft uns dabei, uns in seiner unendlichen Unschärfe und seinen ständigen Affirmationen des ewig Neuen und wiederentdeckten Alten über Missstände und widersprüchliche Handlungen auf dem Weg bis zur eigenen Fortpflanzung hinwegzutäuschen. Pop ist das Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft. Nichts muss davon ins Langzeitgedächtnis vordringen. Außer die Hits natürlich!

Nun, wir alle haben längst gelernt, dass wir uns selbst lieben müssen, um fähig zu sein, andere Menschen zu lieben, aber der Hedonismus im Pop kennt in der Eigenliebe kein Zuviel. Noch im Rentenalter hilft er uns als Digitalnarzissten, ein Leitbild für unser Tun und Handeln zu sein:

Was tun wir auf den Smartphones, was praktizieren wir in den sozialen Medien?! – Pop.

Und warum kaufen wir diesen Wein und jenes Buch?! – Pop.

Und wie gelangt Donald Trump in diesen Text?! – Pop.

Und warum habe ich gestern noch mal die dritte Staffel von »Fargo« angefangen?! – Pop.

Pop global

Längst suchen auch die Theater eine Nähe zum Pop, und auch die großen Konzerthäuser, was in diesem Kontext sicherlich niemanden mehr wundert. Man schaue sich nur einmal das Programm der Hamburger Elbphilharmonie für das nächste Jahr an. Dort finden sich längst alle Subgenres der großen Pop-Familie. Dass sich gerade Kulturschaffende in Berlin gegen die noch unter der kurzen Führung von Kultursenator Tim Renner – der nebenbei gesagt in den 1990er-Jahren bei Universal Music als CEO Pop-Acts unter Vertrag genommen hat – beschlossenen Pläne für die Berliner Volksbühne mit ihrem neuen Intendanten Chris Deacon zur Wehr setzen, darf als einer der wenigen öffentlichen Proteste gegen die zunehmende Verflachung durch Pop im Kulturbetrieb gelesen werden.

Interessanterweise heißt ein vom Berliner Senat veranstaltetes Festival, das im August dieses Jahres seine dritte Ausgabe feiert, einfach nur noch: Pop-Kultur.

Sicher finden sich auch treffende Punchlines gegen die stupide (Pop-)Welt in Hip-Hop-Tracks oder überästhetisierten Soundarbeiten junger Künstler im World Wide Web (wie etwa die Veröffentlichungen auf dem Londoner Label PC-Music), die durchaus kritisch gemeint sind. Aber so, wie wir Pop inzwischen kennen und fürchten gelernt haben, findet er immer wieder die richtigen Protagonisten, die von den kritischen Rändern in die Mitte gerückt werden. Sie bekommen dadurch eine Art Ritterschlag der Gesellschaft. Und einen saftigen Vorschuss dazu!

Dank des Internets müssen die Talentscouts heute in keinem verdreckten oder verschnarchten Vorort mehr reisen. Die Angebote kommen täglich frei Haus in die Hauptzentrale des Pop. Jeder Upload im Internet ist auf gewisse Weise ein Bewerbungsschreiben an die Kulturindustrie. Natürlich wird es wohl kaum einen Künstler geben, der nicht von so vielen Menschen wie nur eben möglich für seine Arbeit geliebt werden möchte. Die Industrie verspricht grenzenlosen Fankult bis zur Vergötterung.

Seit es das Internet gibt, braucht sich kein Konsument mehr in die gefährlichen Zonen der Subkulturen – mit Ausnahme des Darknets vielleicht – zu bewegen. Kaum ein Teenager wird sich freiwillig an den Orten aufhalten, an denen seine liebsten Rapper herumlungern, aber die sprachlichen Codes kann er sich in der Komfortzone zwischen Suburbia und Gated Community problemlos aneignen. Hauptsache on. Also online! Wo die Generation ihrer Eltern noch Bukowski oder Miller lesen musste, lässt sich der nach sprachlicher Transgression gierende junge Mensch heute das Neuste aus der Fickmaschine zu flotten Beats aus der Kiste einfach vorrappen. Was soll daran schon wieder verkehrt sein?!

Nichts. Pop ist immer richtig.

Alles in und an Pop ist auf raffinierte Art und Weise immer nur ein lässiges Angebot. Niemand wird schließlich zum Konsum gezwungen. Die alte Leier der Werbeindustrie: Die Verantwortung liegt beim Menschen selbst. Wer der Versuchung nicht widerstehen kann, kann der Versuchung eben nicht widerstehen. Einfache kausale Kette. Ja, Pop ist immer Produkt und Werbung in einem!

Wen wundert es da am Ende, wenn Bob Dylan mit seinem Sprachgewirr von den griechischen Göttern bis zum afroamerikanischen Blues tatsächlich den Literaturnobelpreis verliehen bekommt? Ja, wem sonst hätte man auf dieser Werbeoberfläche einen Literaturnobelpreis verleihen sollen? Immerhin hat Dylan aus der Transformation von Folk- und Bluesliedern der Arbeiter und Sklaven so etwas wie die Mundorgel des Pop gemacht: »Like a Rolling Stone!«

Überhaupt: Dass ein Pop-Autor, Labelbetreiber und Musiker diesen Text für ein Kursbuch schreibt, sollte Beweis genug dafür sein, dass der Pop auch im Leben dieser Leser bereits überhandgenommen hat. Die Fragen der Begriffsschärfe sind längst in die Informatik gewandert. Die Philosophie der Gegenwart – ein täglich in alle Himmelsrichtungen mäandernder Algorithmus.

Ja, wenn der Mensch nach Heidegger ein Nachbar des Seins ist, hat er durch Pop wenigstens das Gefühl, im paradiesischen Garten dieses merkwürdigen Nachbarn zu sitzen. Auch das ist natürlich Quatsch. Aber es geht hier im Pop wie gesagt nicht um Wahrheit. Es geht nur um die Behauptung! Und darum, dass mir dieser Bullshit am Ende abgekauft wird.

Der schnöde Rest ist das Problem der Leser.