HORST PUKALLUS & RONALD M. HAHN

 

 

T.N.T. Smith, Band 6:

Der Tempel von Bagdad

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autoren 

DER TEMPEL VON BAGDAD 

Das Abenteuer geht weiter! 

 

Das Buch

 

1940: Im brodelnd-heißen Hexenkessel Bagdad lernt der Journalist T.N.T. Smith Cassandra kennen, die Tochter des Geschäftsführers einer Scheinfirma der Unsterblichen-Clique. Nazi-Agenten belauern Smith und Cassandra, während das Paar Licht in die dunkle Vergangenheit ihres Vaters Helmuth von Arret zu bringen versucht. Im Laufe der Nachforschungen geraten sie in die Katakomben eines geheimnisvollen Tempels, der nicht nur alte Archive birgt, sondern auch zur Veranstaltung hemmungsloser Orgien dient. An dieser Kultstätte rasender Geilheit wird Smith bis zum Äußersten gefordert und gerät erneut mit seinem Erz-Widersacher aneinander, dem schurkischen Sturmbannführer Diethelm Ritter van Thal.

Und wieder drohen Smiths Bemühungen zu scheitern, als Cassandra in die Gewalt der skrupellosen Nazis fällt...

 

T.N.T. SMITH. Die beinharte Science Fiction-Serie spielt vor der atemberaubenden Kulisse des Zweiten Weltkriegs und führt den Leser in rasanten Abenteuern um die ganze Welt.

Die Autoren

 

 

Horst Pukallus, Jahrgang 1949.

Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer.

Seit den späten 1960er Jahren veröffentlichte er Kritiken zur SF-Literatur, vor allem in der Zeitschrift Science Fiction-Times. 1974 erschien seine erste Erzählung Interludium. Es folgten u.a. die Story-Sammlungen Die Wellenlänge der Wirklichkeit (1983) und Songs aus der Konverter-Kammer (1985), die Pukallus als einen der vielseitigsten und intellektuell versiertesten deutschsprachigen Genre-Autoren seiner Generation etablierten. Neben seiner Meisterschaft im Metier der Kurzgeschichten/Erzählungen sind auch seine Romane Krisenzentrum Dschinnistan (1985) und Hinter den Mauern der Zeit (1989, zusammen mit Michael Iwoleit) von überragender inhaltlicher und stilistischer Qualität. Zu Recht wird Horst Pukallus mit dem großen amerikanischen SF-Schriftsteller Philip K. Dick verglichen.

Zu seinen herausragenden Übersetzungen aus dem Englischen/Amerikanischen gehören u.a.: Iain Banks: Vor einem dunklen Hintergrund (1998), John Brunner: Morgenwelt (1980), John Brunner: Schafe blicken auf (1978), John Brunner: Der Schockwellenreiter (1979), Philip K. Dick: Kinder des Holocaust (1984), Jack Womack: Heidern (1993) sowie die Deryni-Romane von Katherine Kurtz (1978 – 2000).

In den Jahren 1980, 1981, 1984, 1985 und 2001 erhielt er den Kurd-Laßwitz-Preis für die beste Übersetzung; 1991 erhielt er diese Ehrung für seine Erzählung Das Blei der Zeit.

Horst Pukallus lebt und arbeitet in Wuppertal.

 

 

 

Ronald M. Hahn, Jahrgang 1948.

Schriftsteller, Übersetzer, Literaturagent, Journalist, Herausgeber, Lektor, Redakteur von Zeitschriften.

Bekannt ist Ronald M. Hahn für die Herausgabe der SF-Magazine Science Fiction-Times (1972) und Nova (2002, mit Michael K. Iwoleit) sowie als Autor von Romanen/Kurzgeschichten/Erzählungen in den Bereichen Science Fiction, Krimi und Abenteuer.

Herausragend sind das (mit Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs und Wolfgang Jeschke verfasste) Lexikon der Science Fiction-Literatur (1980/1987), die Standard-Werke Lexikon des Science Fiction-Films (1984/1998, mit Volker Jansen), Lexikon des Horror-Films (1985, mit Volker Jansen) und das Lexikon des Fantasy-Films (1986, mit Volker Jansen und Norbert Stresau).

Für das Lexikon der Fantasy-Literatur (2005, mit Hans-Joachim Alpers und Werner Fuchs) wurde er im Jahr 2005 mit dem Deutschen Fantasy-Preis ausgezeichnet. Insgesamt sechsmal erhielt Hahn darüber hinaus den Kurd-Laßwitz-Preis – dem renommiertesten deutschen SF-Preis - , u.a. für die beste Kurzgeschichte (Auf dem großen Strom, 1981) und als bester Übersetzer (für John Clute: Science Fiction – Eine illustrierte Enzyklopädie, 1997).

Weitere Werke sind u.a. die Kurzgeschichten-Sammlungen Ein Dutzend H-Bomben (1983), Inmitten der großen Leere (1984) und Auf dem großen Strom (1986) sowie – als Übersetzer – der Dune-Zyklus von Frank Herbert.

Ronald M. Hahn lebt und arbeitet in Wuppertal.

 

Horst Pukallus & Ronald M. Hahn

DER TEMPEL VON BAGDAD

 

 

1. Kapitel 

 

Berlin, Deutsches Reich, Juni 1940 

 

Eigentlich könnte Sturmbannführer Diethelm Ritter van Thal an diesem schönen Frühlingsmorgen zufrieden sein: Am 9. April hat der Führer Dänemark besetzen lassen. Am 10. Mai ist die Wehrmacht in Holland, Belgien und Luxemburg eingefallen. Mussolini, ihr treuer Garant in Italien, hat Frankreich und Großbritannien den Krieg erklärt – und erst vor drei Tagen, am 10. Juni, ist es den deutschen Truppen gelungen, Norwegen einzunehmen. 

Doch als er sich nach der ausschweifenden Feier seines Geburtstages heute morgen im Badezimmerspiegel sieht, wird ihm seine Sterblichkeit erschütternd bewusst. 

Zwar hat er nun das vierzigste Lebensjahr vollendet, doch seine Hauptziele sind noch immer in weiter Ferne. Sein mittelblondes Haar wird langsam dünn, und seine blauen Augen wirken stumpf, was sicher nicht nur auf den Alkoholgenuss der vergangenen Nacht zurückzuführen ist. dass er noch blasser wirkt als sonst, jagt ihm Angst ein. Er mustert verkniffen seine hohe Stirn und übt den Herrenmenschenblick, den man von ihm gewohnt ist, wenn er in der Prinz-Albrecht-Straße aus dem Dienst-Mercedes steigt. Irgendwie haut es heute nicht ganz hin. Er wird den Eindruck nicht los, dass er wie ein blutarmer Landjunker aussieht. 

Schuld daran ist der verfluchte Journalistenlump T.N.T. Smith, der ihm und seinen Leuten im vergangenen Jahr in der Südsee eine fürchterliche Schlappe beigebracht hat. Bei dem Gemetzel mit dem Tommy und seinen Freunden hat es nicht nur seinen treuen Unterling Brock erwischt; der sorgfältig geplante, doch leider katastrophal ausgegangene Coup ihrer Einsatzgruppe hat auch noch die japanischen Bundesgenossen des Deutschen Reiches vergrätzt, die bei der Schießerei einen ganzen Zug Marineinfanteristen verloren haben. Dank des höchstpersönlichen Eingreifens des Führers ist die Sache jedoch gedeichselt worden: Die Deutschen, hat der Führer den japanischen Botschafter wissen lassen, seien in Wahrheit ein aus Emigranten bestehendes Sonderkommando des amerikanischen OSS gewesen und haben nur Zwietracht zwischen Japan und dem Deutschen Reich säen wollen. 

Dennoch war der Zorn des Führers enorm. Van Thal hält es nur ihrer persönlichen Bekanntschaft zugute, dass sein Kopf nicht hat rollen müssen. Natürlich hat der Führer ihm nicht nur wegen ihrer alten Bekanntschaft beigestanden: Er weiß auch sehr gut, dass Van Thal den Tag nicht vergessen hat, an dem er aufgrund des Suizids seiner Nichte Geli in den Teppich gebissen und mit seinem ebenfalls alsbaldigen Ableben gedroht hat, falls es Rudolf Heß und ihm nicht gelänge, die Leiche der jungen Frau aus seinem Schlafzimmer zu entfernen. 

Zwar sind Van Thal die exakten Hintergründe des Nichtensuizids unbekannt, doch er vermutet, dass der Führer, wie damals bei der Filmschauspielerin Renate Müller, den Fauxpas begangen hat, Geli unvorbereitet in seine Neigungen einzuweihen. Van Thal weiß, dass er seinem Wissen auch seine Sonderstellung in der SS verdankt: Der Führer hat ihn nach der Machtergreifung zum Leiter der Geheimabteilung ‘Ragnarök’ gemacht, die die Aufgabe hat, angloamerikanische Literatur zu studieren, um Anregungen für sogenannte Wunderwaffen zu gewinnen. Trotzdem ist und bleibt Smith für ihn und die Seinen Staatsfeind Nr. 1 des Deutschen Reiches – auch wenn man im Februar 1939 seine Spur im Inselgewirr der Südsee verloren hat. Smith ist ihm als einziger bei der Suche nach den unsterblichen Legionären voraus: Er hat eine Nase für Zusammenhänge und steht wahrscheinlich in Kontakt mit Cedric Grosvenor, über dessen Leben die Organisation dank Frederick Wellington inzwischen einiges in Erfahrung gebracht hat. 

Van Thal wurmen drei Tatsachen: dass es Smith und seinen Freunden Blaine und Gasponi gelungen ist, dem weltumspannenden Agentennetz der SS zu entwischen; dass er gestern Abend seinen 40. Geburtstag hat feiern müssen, und dass seine Schwester Stephanie eine neuerliche Reise nach Kuba plant, wo sie sich zweifellos wieder mit irgendwelchen zweifelhaften Gestalten trifft, die ihr – im Gegensatz zu ihm – an die Wäsche gehen dürfen. 

Van Thal wischt mit dem Handtuch die Reste der Kaloderma-Rasierseife von seinem Kinn, putzt sich die Zähne mit Chlorodont, benetzt seinen Kopf mit einer Prise Sebalds Haartinktur, bindet den Gürtel seines schwarzseidenen und mit grünen Drachen bestickten chinesischen Morgengewandes zu und kehrt mit zitternden Knien in den Salon zurück, in dem der Anblick der Überreste der letzten Nacht ihn sich beinahe übergeben lässt. 

Die Vorhänge sind zugezogen. Die Ölgemälde an der Wand hängen schief. Die Aschenbecher quellen vor Zigarettenkippen über. Auf dem Glastisch wimmelt es von leeren und halbleeren Gläsern. Auf dem Boden liegen fünf leere Flaschen Henkell Trocken, drei Flaschen Kupferberg Gold und zwei Flaschen Asbach Uralt. Das Grammophon und die Schallplatten auf der Anrichte sind von verschüttetem Bier verklebt. Vor seinen Füßen liegt ein zerknüllter altrosafarbener Damenschlüpfer. Sein Blick fällt auf einen laufmaschigen Perlonstrumpf, einen altrosafarbenen Büstenhalter und vier oder fünf Pumps. Vor dem einen Sessel liegt eine offene Handtasche. Ihr Inhalt ist über den ganzen Perser verteilt: Lippenstift, Puderdose, Portemonnaie, Schlüsselbund, Notizbuch, ein Faber-Castell-Kopierstift, Heftpflaster, ein Fläschchen Riechsalz, eine Rolle Drops, die Visitenkarte eines Prokuristen der Auto Union AG, die bekanntlich vom Zweieinhalb-PS-Motorrad bis zur schweren Maschine, vom volkstümlichen Kleinwagen bis zum edlen Spitzenerzeugnis neuzeitlicher Technik ein Programm bietet, dessen Lückenlosigkeit jeden Wunsch erfüllt; eine halbleere Packung Eckstein, ein silbernes Feuerzeug Marke Rowenta, eine Lesebrille und – Van Thal rümpft die Nase – ein Probefläschchen Nordhäuser Korn. 

Frederick Wellington, sein englischer Schwager, liegt in weißen Unterhosen schnarchend auf einer der geblümten Chaiselongues. Seine Uniform hängt über einem Sessel. Vor der Chaiselongue stehen zwei schwarze Herrenschuhe der Marke Solidus, deren Schnittigkeit im ganzen Reich bekannt ist. Wellington ist zehn Jahre älter und zehn Zentimeter größer als Van Thal. Der aristokratisch wirkende Ex-Journalist hat braunes, nach hinten gekämmtes Haar, ein Bärtchen wie Adolphe Menjou und dekorative Schmisse im Gesicht, die ihn bei deutschnational gesinnten Weibern sehr begehrt machen. 

Seine Gattin Adele, die Schwester von Van Thals Frau Martha, ruht in einem schwarzen Korsett bäuchlings auf der Chaiselongue am Kamin. Eins ihrer formschönen Beine baumelt herab; es ist mit einem Perlonstrumpf bekleidet. Adeles Kopf liegt auf dem Bauch ihrer ‘Sklavin’, einer Gräfin Vonundzu, die ihre Freizeit vorwiegend in den Kreisen von Flagellanten verbringt. Die auf dem Teppich verstreute altrosa Damenwäsche scheint der Gräfin zu gehören, denn Van Thals Blick stellt fachkundig fest, dass diese so gut wie nackt ist. 

Adele und der Gräfin gegenüber liegt eine dritte Frau im Sessel: ein rothaariges, grünäugiges Weib mit gewellter Mähne, vollen Lippen und knackigem, jedoch verhülltem Busen: Van Thals Schwester Stephanie. Sie ist mit einem Schwachkopf verheiratet und arbeitet als Fotografin für Ullsteins Berliner Illustrirte Zeitung. Natürlich hat sie es nicht nötig, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, aber als wahre Künstlerin „kann sie nicht anders“. Stephanie kennt sämtliche exotischen Orte der Welt, jeden faulenzenden Millionenerben und jeden amerikanischen Gangster. 

Dank ihrer Abenteuerlust kann Van Thal sie hin und wieder dazu bewegen, für seine Organisation zu arbeiten. Was sich aber nicht immer auszahlt, fällt ihm ein, denn bei seiner letzten Begegnung mit dem Schmieranten Smith ist ihm Ungeheuerliches über sie zu Ohren gekommen. 

Van Thals ohnehin schon angegriffener Kreislauf spielt verrückt, als er daran denkt, welch gemeine Lügen Smith über seine geliebte Schwester erzählt hat, doch bevor er dazu kommt, intensiver darüber nachzusinnen, macht Stephanie die Augen auf und gähnt herzhaft. 

„Morgen, Bruderherz...“ 

Ihre rauchige Stimme zwingt ihn zu körperlichen Reaktionen. Van Thal kontrolliert schnell den Sitz seines Hausgewandes. Dann erwidert er ihren Gruß und wirft einen grämlichen Blick auf Wellington, Adele und die Gräfin, die keine Anstalten machen, sich von ihrem Lotterlager zu erheben. Er fragt sich, was nach seinem Abgang ins Bett hier vorgefallen ist, aber da ihm die Vorlieben der Wellingtons kein Geheimnis sind, kann er es sich lebhaft vorstellen. „Du bist schon fertig?“, fragt Stephanie. 

Ihre grünen Kulleraugen schauen ihn an, und Van Thal verflucht das Spiel seiner Unterleibsmuskulatur und beißt sich auf die Lippe. Obwohl er um drei Uhr morgens ins Bett gekrochen ist, fühlt er sich wie durch die Mangel gedreht. Außerdem hat er Hunger und sehnt sich nach einer Tasse Kathreiner. 

Unter normalen Umständen hätte er dem Etagenkellner geläutet, aber natürlich kann eine hohe SS-Charge es sich nicht leisten, dass ein biederer Arbeitsmann im Hotel Adlon diesen Saustall erblickt, bevor er halbwegs aufgeräumt ist. Er fragt sich, warum er die Suite überhaupt gemietet hat: Außer ihm hat offenbar keiner der gebliebenen Gäste die Gelegenheit genutzt, sein Haupt auf ein flauschiges Eiderdaunenkissen zu betten. 

„Der Dienst ruft“, knurrt er ungehalten. „Du vergisst wohl, wer ich bin...“ 

Stephanie steht auf, umrundet den Sessel, richtet den Blick zu Boden, hebt schnell etwas langes Schwarzes auf, rollt es zusammen und verstaut es in ihrer Handtasche. Van Thal kann den Gegenstand zwar nicht erkennen, vermutet aber, dass es sich um eine Peitsche handelt. Dann fällt sein Blick missbilligend auf das dralle Hinterteil der sich im Schlafe drehenden Gräfin Vonundzu und erblickt diverse Striemchen. Offenbar haben Stephanie und die Wellingtons mal wieder ihrem alten Laster gefrönt. Erst jetzt fällt ihm auf, dass der Lippenstift und das Makeup seiner Schwester verschmiert sind. Ihr Haar ist zerzaust. Sie reckt sich noch einmal, winkt ihm zu und geht leicht wankend zu den Schlafzimmern, um versäumten Schlaf nachzuholen. Sekunden später erwacht Wellington. Seine Augen sind verquollen. Er schwenkt die Beine über den Rand der Chaiselongue, zupft gedankenverloren an seinem Schnauz und sagt dann mit einem schmunzelnden Blick auf seine Angetraute und deren Gespielin: „Oh, what a night!“ 

Van Thal schnaubt empört. Wellington bemerkt erst jetzt, dass er sich versehentlich der englischen Sprache bedient hat. Er wiederholt den Satz auf Deutsch, doch Van Thal ist schon auf dem Weg ins Schlafzimmer, um sich fertig anzukleiden. Als er in den Salon zurückkehrt, sind Adele und die Gräfin Vonundzu aufgestanden und plätschern kreischend in einem der Bäder. Van Thal ist die aufgekratzte Lebensfreude der Weiber völlig unverständlich. Er selbst empfindet nur brennenden Frust und eine Kreislaufschwäche, die sich gewaschen hat. 

Vierzig, denkt er mit zusammengebissenen Zähnen. Ich bin vierzig Jahre alt! Ich bin seit vier Jahren im Auftrag des Führers hinter diesem verfluchten Smith her, ohne der Unsterblichkeit auch nur einen Meter näher gekommen zu sein! Wenn dies ein Omen ist, bin ich vielleicht schon fünfzig, wenn ich sie erringe. Dann ist Stephanie dreiundvierzig! Wie soll ich mit ihr dann noch eine Dynastie gründen? Gebärende Frauen über vierzig sind so selten wie weiße Elefanten ... Wenn ich dem Führer nicht bald ein konkretes Ergebnis präsentieren kann, ist es aus mit meinen Plänen ... Und überhaupt, wäre es nicht an der Zeit, dass er mich endlich mal befördert? Ich bin seit sechs Jahren Sturmbannführer, aber nichts deutet darauf hin, dass ... Ob der Führer vielleicht an mir und meinen Fähigkeiten zweifelt? 

„Lass uns frühstücken gehen, Diethelm“, sagt Wellington. Er kommt gewaschen, rasiert, gestiefelt, gespornt und mit der Dienstmütze auf dem Kopf aus dem Badezimmer und schwenkt seine Bruyérepfeife. 

„Ich habe einen Bärenhunger!“ 

Van Thal nickt. „Ja, ich auch.“ 

Sie gehen durch die schick tapezierten Korridore des Luxushotels, das unter der Adresse Unter den Linden 1 anzutreffen ist. 

In diesen Tagen sind Angehörige der SS, hohe Wehrmachtsoffiziere und die schleimigen Kröten der Gestapo in diesem Haus kein besonderer Anblick. 

In einem reservierten Salon voller grüner Plüschmöbel werden sie von dem dritten Mann erwartet, der außer ihnen und dem Führer von der Existenz unsterblicher Menschen auf der Erde weiß: dem Dresdener Baron und SS-Hauptsturmführer Bernd von Hagen, der ebenso hoch aufragt wie Wellington, doch mit seinen achtundzwanzig Lebensjahren die beste Zeit noch vor sich hat. 

Von Hagen ist schlank und hat haselnussbraunes Haar und braune Augen. Seine Mundwinkel sind immer irgendwie leicht nach oben gezogen. Wie Van Thal aus seinen Akten weiß, hat er schon als Halbwüchsiger nur Karten und Huren im Kopf gehabt. Aber das kann er ihm verzeihen. Es schert ihn auch nicht, dass er das Abitur mittels Erpressung eines schwulen Lehrers gemacht hat. Doch die ewigen Einzelaktionen des arroganten Fatzke stinken ihm gewaltig. Leider ist ihm noch kein Grund eingefallen, der ihm erlaubt, ihn umzulegen. Ihn sich anderweitig vom Hals zu schaffen, hat keinen Zweck. Dazu weiß der Laffe einfach zu viel. 

„Heil Hitler, Herr Sturmbannführer!“, blökt Von Hagen, als er Van Thal erblickt. „Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem neuerlichen Wiegenfeste!“ 

Rottenführer Fritz Weber, der neben ihm steht, wiederholt seine Worte wie ein Papagei. „Heil“, knurrt Van Thal und geht an ihm vorbei. 

„Heil Hitler!“, bellt Von Hagen Wellington an, der lässig die Rechte hebt und ihm mit der Pfeife zuwinkt. 

Der Tisch ist gedeckt. Van Thal und Wellington fallen über Brötchen mit Marmelade und Kathreiner-Kaffee her. Vor der Tür hält der brave Rottenführer Weber, in Abwesenheit „Depp vom Dienst“ genannt, treudeutsche Wacht und schiebt seinen Priem von der rechten in die linke Backentasche. Van Thal und Wellington lassen es sich schmecken. Von Hagen schaut ihnen unbeteiligt zu und begnügt sich mit einem Tässchen Kaffee. Als sie fertig sind, steckt Wellington den Tabak in seiner Pfeife in Brand, und Van Thal schiebt sich eine Trommler ins Gesicht. Von Hagen gibt ihm eilfertig Feuer. 

Dann lehnt er sich zurück und setzt eine triumphierende Miene auf, die Van Thal sagt, dass er eine wichtige Meldung zu machen hat. 

„Heraus damit“, sagt er und beugt sich so drohend über den Eichentisch, dass Wellington beim Inhalieren des Pfeifenrauchs vor Schreck fast erstickt. 

Von Hagen glotzt ihn an. „Woher w...?“ 

„Intuition“, knurrt Van Thal. „Pure Intuition.“ Und er denkt: Ich hätte auch sagen können, ich hätte es deiner blöden Fresse angesehen, aber das wäre einfach zu profan. 

„Nun, ähm ...“, sagt Von Hagen und kratzt sich am Kinn. „Unser Mann in Paris ...“ 

Van Thal schaut verdattert auf. „Unser Mann in Paris?“ 

Von Hagen gestattet sich ein Grinsen. „Sagen wir es so: Mein Mann in Paris ...“ Er hüstelt. „Mein Vetter Ethelbert ... arbeitet in unserer Pariser Gesandtschaft ... für die Gestapo.“