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exquisite corpse

Schriften zu Ästhetik, Intermedialität und Moderne

BAND 7

In Verbindung mit

Lorenz Aggermann (Bern) – Wouter Berteloot (Antwerpen) – Marie-Claire Dangerfield (Dublin) – Alexander Edelhofer (Wien) – Thomas Edlinger (Wien) – David Fine (San Francisco) – Günther Friesinger (Wien) – Karin Kaltenbrunner (Wien) – Deborah Kindermann-Zeilinger (Wien) – Günter Krenn (Wien) – Kathrin Kuna (Berlin) – Helena Langewitz (Basel) – Tina Lorenz (München) – Camille R. Meyer (Boston) – Kerstin Ohler (Wien) – Stefanie Populorum (Wien) – Uwe Schütte (Birmingham) – Christian Stiegler (Wien) – Jörg Vogeltanz (Graz) – Ines Wagner (Wien) – Matthias Wittmann (Basel) – Barbara Zeman (Wien)

HERAUSGEGEBEN VON

THOMAS BALLHAUSEN

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ZUM BUCH

Francis Leslie Cauldhame ist ein seltsames Kind: ebenso fantasievoll wie verschlagen, grausam und aggressiv. Er ist sechzehn Jahre alt und lebt mit seinem ebenfalls verschrobenen Vater in einer Wildnis am Meer nahe eines schottischen Dorfes. Seine Mutter hat längst das Weite gesucht. Sein Bruder Eric, der während des Medizinstudiums durchdrehte, ist in einer geschlossenen Anstalt in Sicherheitsverwahrung. Francis lebt zu Hause in seiner eigenen Fantasiewelt, durch seinen Vater abgeschirmt von der Außenwelt. Er kann sich ungestört seinen grausamen Tagträumen hingeben, die immer mehr in bizarre Rituale des Tötens münden. Es bereitet ihm Lust, Kleintiere mit seiner Steinschleuder zu töten, um sie dann auf Pfählen aufzuspießen. Seine grausigen Totems kontrolliert er jeden Tag auf ihren Zustand. Sie sind für ihn die Wächter seines Reviers. Daß Francis auch schon drei Menschen getötet hat, weiß nur er selbst. Doch eines Tages flieht Eric aus der Anstalt, und dann kommt das schreckliche Geheimnis der Familie Cauldhame ans Licht …

Iain Banks Debütroman Die Wespenfabrik ist eine wilde, zornige Mischung aus der Blechtrommel und American Psycho. Teils psychopathologische Innenansicht eines jugendlichen Killers, teils schwarzhumorige schottische Familiengeschichte, wurde das Buch bei seinem Erscheinen 1984 gleichermaßen bejubelt und bekämpft. Wollten die konservativen Kritiker darin nur eine Gewaltorgie sehen, so erkannte ein sensibleres Publikum das erste Werk einer starken erzählerischen Stimme vom Schlage eines Alasdair Gray oder einer A. L. Kennedy. Mit der ersten vollständigen, überarbeiteten Übersetzung von Die Wespenfabrik wird ein Klassiker der modernen Literatur dem deutschsprachigen Publikum endlich in angemessener Form zugänglich gemacht.

ZUM AUTOR

IAIN BANKS, geboren 1954 in Schottland, studierte Philosophie, Englisch und Psychologie in Stirling. Nach dem College arbeitete Banks als Portier eines Krankenhauses, Angestellter, Gärtner und Techniker. Alle Berufe ließen ihm ausreichend Zeit, seine schriftstellerischen Ambitionen zu verfolgen. Danach trampte er durch Europa und arbeitete als Techniker für British Steel. 1980 schrieb Banks in London seinen ersten Roman Die Wespenfabrik, der 1984 veröffentlicht und mit dem er auf einen Schlag weltberühmt wurde. Seither schreibt Banks regelmäßig Romane und gelegentlich Kurzgeschichten, die in Großbritannien fast alle Bestseller sind.

Für Ann

INHALT

1. DIE OPFERPFÄHLE

2. DER SCHLANGENPARK

3. IM BUNKER

4. DER BOMBENKREIS

5. EIN BLUMENSTRAUSS

6. DER SCHÄDELHAIN

7. SPACE-INVADERS

8. DIE WESPENFABRIK

9. WAS MIT ERIC PASSIERT IST

10. GEHETZTER HUND

11. DER VERLORENE SOHN

12. WAS MIT MIR PASSIERT IST

NACHWORT

DIE OPFERPFÄHLE

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An dem Tag, an dem wir hörten, daß mein Bruder davongelaufen war, war ich bei den OPFERPFÄHLEN gewesen. Ich wußte bereits, daß etwas geschehen würde; die FABRIK hatte mich darüber unterrichtet.

Am nördlichen Ende der Insel, in der Nähe der Überreste der zusammengebrochenen Schiffsrutsche, wo die Kurbel der rostigen Winde in der östlichen Brise immer noch quietscht, standen zwei meiner PFÄHLE auf der anderen Seite der letzten Düne. Auf einem der PFÄHLE waren ein Rattenkopf und zwei Libellen aufgespießt, auf dem anderen eine Möwe und zwei Mäuse. Ich war gerade dabei, einen der Mäuseköpfe wieder zu befestigen, als sich die Vögel keifend und schreiend in die Abendluft erhoben und Kreise über den Dünenpfad zogen, wo er dicht an ihren Nestern vorbeiführte. Ich vergewisserte mich, daß der Kopf hielt, dann stieg ich auf den Gipfel der Düne, um durch mein Fernglas zu blicken.

Diggs, der Polizist aus der Stadt, kam auf seinem Fahrrad den Weg heruntergefahren; er trat kräftig in die Pedale und hielt den Kopf gesenkt, da die Räder ziemlich tief in der sandigen Oberfläche versanken. An der Brücke stieg er vom Fahrrad und lehnte es gegen die Hängeseile, dann ging er bis zur Mitte der schwankenden Brücke, wo sich das Tor befindet. Ich sah, wie er den Knopf der Sprechanlage drückte. Er stand eine Weile da und betrachtete die stillen Dünen ringsum und die sich beruhigenden Vögel. Er sah mich nicht, weil ich zu gut versteckt war. Offenbar hatte mein Vater inzwischen im Haus den Gegendrücker betätigt, denn Diggs beugte sich etwas vor und sprach in das Gitter neben dem Knopf, bevor er das Tor aufschob und über die Brücke marschierte, auf die Insel und den Weg entlang, der zum Haus führte. Als er hinter den Dünen verschwand, blieb ich noch eine Weile sitzen und kratzte mich zwischen den Beinen, während der Wind mit meinen Haaren spielte und die Vögel in ihre Nester zurückkehrten.

Ich nahm die Schleuder von meinem Gürtel, wählte ein Halbzoll-Stahlgeschoß, zielte gründlich und schickte es schließlich in einem weiten Flugbogen hinaus über den Fluß, vorbei an den Telefonmasten und der kleinen Hängebrücke, die die Verbindung zum Festland darstellte. Das Geschoß traf das Schild mit der Aufschrift »Privatbesitz – Betreten verboten« mit einem Aufprall, den ich gerade noch hören konnte, und ich lächelte. Das war ein gutes Omen. Die FABRIK hatte sich nicht sehr klar geäußert (das tat sie selten), doch ich hatte das Gefühl, daß das, wovor sie mich warnte, wichtig sein mußte, und ich hatte außerdem den Verdacht, daß es nichts Gutes sein konnte, doch ich war klug genug gewesen, den Hinweis ernst zu nehmen und meine PFÄHLE zu überprüfen, und jetzt wußte ich, daß ich noch immer zielsicher war; die Dinge verliefen nach wie vor zu meinen Gunsten.

Ich beschloß, nicht direkt zum Haus zurückzugehen. Vater hatte es nicht gern, wenn ich in Anwesenheit von Diggs dort auftauchte, und überhaupt hatte ich noch einige PFÄHLE zu inspizieren, bevor die Sonne unterging. Ich sprang mit einem Satz auf, rutschte den Hang der Düne hinunter in ihren Schatten, dann drehte ich mich an ihrem Fuß um und blickte zurück zu den kleinen Köpfen und Körpern, die die nördlichen Zugänge zur Insel beobachteten. Sie sahen gut aus, diese Hülsen an ihren knorrigen Ästen. Schwarze Bänder, die um die hölzernen Zweige gebunden waren, flatterten sanft im Wind und winkten mir zu. Ich kam zu dem Schluß, daß alles gar nicht so schlimm sein konnte, und nahm mir vor, von der FABRIK morgen ausführlichere Informationen zu erbitten. Wenn ich Glück hatte, würde mir mein Vater etwas sagen, und wenn ich noch mehr Glück hatte, wäre es vielleicht sogar die Wahrheit.

Ich verstaute den Beutel mit Köpfen und Körpern im BUNKER, und unterdessen wurde es vollkommen dunkel, und die Sterne erschienen nach und nach am Himmel. Die Vögel hatten mir erzählt, daß Diggs ein paar Minuten zuvor weggegangen war, also rannte ich über die Abkürzung zum Haus, wo wie üblich alle Lichter brannten. Ich traf meinen Vater in der Küche an.

»Diggs war gerade hier. Ich nehme an, du weißt das.«

Er hielt den Stumpen seiner dicken Zigarre, die er geraucht hatte, unter den Kaltwasserhahn und ließ den Strahl kurz darüberlaufen, woraufhin der braune Stummel zischte und erlosch; dann schmiß er den aufgeweichten Rest in den Mülleimer. Ich legte meine Sachen auf den großen Tisch und setzte mich mit einem Achselzucken hin. Mein Vater drehte den Schalter für die Herdplatte, auf der der Suppentopf stand, auf eine höhere Stufe, hob den Deckel, um die aufzuwärmende Mischung zu begutachten, und wandte sich wieder zu mir um.

Eine Schicht blauen Rauchs hing etwa in Schulterhöhe im Raum, mit einer großen Welle darin, die wahrscheinlich von mir verursacht wurde, als ich durch die Doppeltür des Hintereingangs hereinkam. Die Welle stieg langsam zwischen uns höher, während mein Vater mich ansah. Ich rutschte nervös auf meinem Stuhl hin und her, blickte zu Boden und spielte mit dem Handriemen der schwarzen Schleuder. Flüchtig kam mir in den Sinn, daß mein Vater besorgt aussah, aber er war ein begabter Schauspieler, und vielleicht wollte er, daß ich genau das dachte, weshalb tief in meinem Inneren ein Hauch von Zweifel blieb.

»Ich denke, ich sollte es dir besser sagen«, setzte er an, dann wandte er sich wieder ab, nahm einen Holzlöffel und rührte die Suppe um. Ich wartete. »Es geht um Eric.«

Da wußte ich, was passiert war. Er brauchte mir den Rest nicht zu erzählen. Ich schätze, ich hätte nach seinen wenigen Worten auf den Gedanken kommen können, daß mein Halbbruder tot war oder krank oder daß ihm etwas passiert war, aber ich wußte in diesem Moment bereits, daß es um etwas ging, das Eric seinerseits getan hatte, und es gab nur eine Sache, die Eric getan haben konnte und die meinen Vater besorgt aussehen ließ. Er war geflohen. Ich sagte jedoch nichts.

»Eric ist aus dem Krankenhaus weggelaufen. Um uns das zu sagen, ist Diggs hergekommen. Man vermutet, daß er auf dem Weg hierher ist. Nimm dieses Zeug vom Tisch; das habe ich dir schon so oft gesagt.« Er probierte schlürfend die Suppe, immer noch mit dem Rücken zu mir gewandt. Ich wartete, bis er sich umdrehte, dann nahm ich die Schleuder, das Fernglas und den Spaten vom Tisch. Im gleichen flachen Tonfall fuhr mein Vater fort: »Nun, ich glaube gar nicht, daß er so weit kommen wird. Man wird ihn vermutlich in ein oder zwei Tagen aufgreifen. Ich dachte nur, ich sage es dir besser. Für den Fall, daß jemand anderes irgend etwas hört und darüber spricht. Hol dir einen Teller.«

Ich ging an den Schrank und nahm einen Teller heraus, dann setzte ich mich wieder mit einem untergeschlagenen Bein hin. Mein Vater machte sich erneut ans Rühren der Suppe, deren Duft jetzt den Zigarrenrauch übertraf. Ich spürte Aufregung im Magen – einen emporsteigenden prickelnden Schwall. Eric kam also wieder nach Hause; das war gut und schlecht. Ich wußte, daß er es schaffen würde. Es kam mir gar nicht in den Sinn, mich bei der FABRIK danach zu erkundigen; er würde herkommen. Ich fragte mich, wie lange er wohl brauchen würde und ob Diggs es überall in der Stadt verbreiten und die Leute warnen würde, daß der Verrückte, der Hunde anzündete, wieder auf freiem Fuß war; sperrt eure Köter weg!

Mein Vater goß mit einer Schöpfkelle Suppe in meinen Teller. Ich blies darauf. Ich dachte an die OPFERPFÄHLE. Sie waren mein Frühwarnsystem und Abschreckungsmechanismus in einem; ausgeklügelte, wirkungsvolle Einrichtungen, die Ausschau hielten und Unheil von der Insel fernhielten. Diese Totems waren mein Warnschuß; jeder, der ihrer ansichtig wurde und dennoch den Fuß auf die Insel setzte, mußte wissen, auf was er sich einließ. Doch es hatte den Anschein, daß sie, anstatt wie eine drohend geballte Faust aufgefaßt zu werden, eine einladend geöffnete Hand darstellten. Für Eric.

»Wie ich feststelle, hast du dir auch diesmal wieder die Hände gewaschen«, sagte mein Vater, während ich die heiße Suppe schlürfte. Er meinte es ironisch. Er nahm die Whiskyflasche von der Anrichte und goß sich ein Glas ein. Das andere Glas, aus dem meiner Vermutung nach der Polizist getrunken hatte, stellte er ins Spülbecken. Er nahm am anderen Ende des Tisches Platz.

Mein Vater ist hochgewachsen und schlank, obwohl er leicht gebeugt geht. Er hat ein zartes Gesicht, wie das einer Frau, und dunkle Augen. Er humpelt, und das, so lange ich zurückdenken kann. Sein linkes Bein ist fast vollkommen steif, und für gewöhnlich nimmt er beim Verlassen des Hauses einen Stock mit. An manchen Tagen, wenn feuchte Witterung herrscht, braucht er den Stock auch im Haus, und ich höre ihn dann über die nackten Böden der Räume und Flure des Hauses tappen; es ist ein hohler Klang, der von einer Stelle zur anderen wandert. Nur hier in der Küche schweigt der Stock; die Fliesen lassen ihn verstummen.

Dieser Stock ist der Garant für die Sicherheit der FABRIK. Dem Bein meines Vaters, fest eingerastet, verdanke ich meinen Zufluchtsort dort oben in der Wärme des weitläufigen Dachbodens, im Giebel des Hauses, wo Gerümpel und Unrat verstaut sind, wo der Staub schwebt und das Sonnenlicht schräg hereinfällt und wo die FABRIK ihren Sitz hat – schweigend, lebendig und still.

Mein Vater kann die schmale Leiter, die vom oberen Stockwerk hinaufführt, nicht erklimmen; und selbst wenn er es könnte, weiß ich, daß er nicht fähig wäre, die Drehung zu vollführen, um von der obersten Sprosse der Leiter um das Mauerwerk des Kaminschachtes herum in den eigentlichen Dachboden zu gelangen.

Ich habe diesen Ort also ganz für mich.

Ich schätze, mein Vater ist jetzt ungefähr fünfundvierzig, obwohl ich manchmal denke, daß er viel älter aussieht, und er mir bei manchen Gelegenheiten ein wenig jünger erscheint. Er verrät mir sein wahres Alter nicht, also bleibe ich bei meiner Schätzung von fünfundvierzig, seinem Äußeren nach zu urteilen.

»Wie hoch ist dieser Tisch?« fragte er unvermittelt, als ich gerade im Begriff war, zum Brotkasten zu gehen und mir eine Scheibe zu holen, um meinen Teller damit auszuwischen. Ich drehte mich zu ihm um und fragte mich, warum er sich mit einer so leichten Frage abgab.

»Dreißig Inches«, antwortete ich und nahm einen Brotkanten aus dem Kasten.

»Falsch«, sagte er mit einem hämischen Grinsen. »Zwei Fuß sechs.«

Ich sah ihn kopfschüttelnd an und runzelte die Stirn, dann schabte ich den braunen Suppenrand aus meinem Teller. Es gab eine Zeit, da hatte ich wahrhaftig Angst vor derart idiotischen Fragen, aber jetzt, abgesehen davon, daß ich Höhe, Länge, Breite, Grundfläche und Volumen von jedem Teil des Hauses und jedem Gegenstand darin hätte wissen müssen, nehme ich diese Obsession meines Vaters als das hin, was sie ist. Manchmal wird es etwas peinlich, wenn wir Gäste haben, selbst wenn es sich um Familienangehörige handelt, die eigentlich wissen müßten, was sie zu erwarten haben. Sie pflegen dann dazusitzen, meistens im Wohnzimmer, und sich zu fragen, ob Vater ihnen wohl etwas zu essen anbieten oder ihnen lediglich einen improvisierten Vortrag über Dickdarmkrebs oder Bandwürmer halten wird, bis er sich neben einen von ihnen stellt, sich umsieht, um sich zu vergewissern, daß auch aller Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet ist, und dann in einem verschwörerischen Bühnenflüstern sagt: »Siehst du die Tür dort? Sie ist fünfundachtzig Inches breit, von Ecke zu Ecke.« Dann zwinkert er und verläßt den Raum, oder läßt sich mit gelassenem Gesicht auf seinen Stuhl sinken.

Seit ich mich erinnern kann, gibt es überall im Haus weiße Papieraufkleber, die zierlich mit schwarzem Kugelschreiber beschriftet sind. Sie kleben an Stuhlbeinen, an Teppichrändern, unter Bechern, an Radioantennen, Schubladenfronten, Bettgestellen, Fernsehbildschirmen sowie an den Griffen von Töpfen und Pfannen und geben die genauen Maße des betreffenden Gegenstandes an. Es sind sogar welche, mit Bleistift beschriftet, an den Blättern der Topfpflanzen angebracht. Als ich ein Kind war, bin ich einmal durch das ganze Haus gelaufen und habe alle Aufkleber abgerissen; ich bekam eine Tracht Prügel und zwei Tage Arrest in meinem Zimmer. Später beschloß mein Vater, daß es nützlich für mich und der Entwicklung meines Charakters zuträglich wäre, wenn ich all die Maße ebenso auswendig wüßte wie er, und ich mußte stundenlang vor dem BUCH DER MAßE (einer gewaltigen Loseblattsammlung mit allen Informationen von den kleinen Aufklebern, sorgfältig registriert und unterteilt nach Raum und Kategorie) sitzen oder mit einem Notizbuch durch das Haus wandern und meine eigenen Aufzeichnungen machen. All das war eine Ergänzung zu den üblichen Lektionen, die mir mein Vater in Mathematik und Geschichte und so weiter erteilte. Das ließ mir nicht viel Zeit, um hinauszugehen und zu spielen, und ich war darüber sehr betrübt. Ich führte zu jener Zeit gerade einen KRIEG – MUSCHELN gegen TOTE FLIEGEN, glaube ich –, und während ich in der Bibliothek saß und mich mit den Büchern langweilte und versuchte, die Augen offenzuhalten, um all diese absurden imperialen Maße in mich aufzunehmen, blies der Wind meine Fliegenarmee über die halbe Insel, und das Meer überschwemmte zunächst meine Muscheln mit der Flut und bedeckte sie dann mit Sand. Glücklicherweise wurde mein Vater diese großangelegte Ausbildung leid und begnügte sich damit, mir abwegige Überraschungsfragen an den Kopf zu werfen, zum Beispiel über das Fassungsvermögen des Schirmständers in Pints oder die Gesamtfläche aller Gardinen des Hauses in Morgen, beschränkt auf die jeweils tatsächlich aufgehängten.

»Ich beantworte dir diese Fragen nicht mehr«, sagte ich, während ich meinen Teller zur Spüle trug. »Wir hätten schon vor Jahren zum metrischen System übergehen sollen.«

Mein Vater schnaubte in sein Glas, während er es leer trank. »Hektar und solchen Quatsch. Ganz sicher nicht. Es beruht alles auf den Abmessungen des Globus, weißt du. Ich brauche dir nicht zu erklären, was für ein Unsinn das ist.«

Ich seufzte und nahm einen Apfel aus der Schale, die auf der Fensterbank stand. Mein Vater hatte mir einmal weismachen wollen, die Erde sei ein Möbius-Band, keine Kugel. Er tut immer noch so, als hielte er an diesem Glauben fest, und schickt mit viel Aufhebens Manuskripte an Verlage in London, um sie zur Veröffentlichung eines Buches zu bewegen, das seinen Standpunkt darlegt, aber ich weiß, daß es ihm nur wieder ums Unruhestiften geht und daß sein Hauptvergnügen darin besteht, den Fassungslosen und rechtmäßig Empörten zu spielen, wenn das Manuskript irgendwann zurückgeschickt wird. Das wiederholt sich etwa alle drei Monate, und ich bezweifle, daß das Leben ohne dieses Ritual für ihn auch nur halb so vergnüglich wäre. Jedenfalls ist das einer der Gründe, warum er seine albernen Maße nicht längst ins metrische System übertragen hat, abgesehen davon, daß er schlicht und einfach faul ist.

»Was hast du heute so getrieben?« Er sah mich über den Tisch hinweg an und rollte dabei das leere Glas auf der hölzernen Tischplatte hin und her.

Ich zuckte die Achseln. »War draußen. Bin spazieren gegangen und so.«

»Hast du wieder mal Dämme gebaut?« fragte er höhnisch.

»Nein«, sagte ich mit überzeugtem Kopfschütteln und biß in den Apfel. »Heute nicht.«

»Ich hoffe, du hast da draußen keine von Gottes Kreaturen umgebracht.«

Ich bedachte ihn erneut mit einem Achselzucken.

Natürlich habe ich da draußen Dinge umgebracht. Wie zum Teufel soll ich denn an Köpfe und Körper für die PFÄHLE und den BUNKER kommen, wenn ich nicht Dinge umbringe? Es gibt einfach nicht genügend natürliche Todesfälle. So etwas kann man den Leuten jedoch nicht klarmachen.

»Manchmal denke ich, daß du es bist, der in die Klinik gehört, nicht Eric.« Seine Augen unter den dunklen Brauen sahen mich vielsagend an, und er sprach mit gedämpfter Stimme. Früher hätte mir ein solches Gespräch Angst gemacht, aber jetzt nicht mehr. Ich bin fast siebzehn und kein Kind mehr. Hier in Schottland bin ich nach dem Gesetz alt genug, um ohne die Einwilligung meiner Eltern zu heiraten, und das schon seit einem Jahr. Vielleicht wäre es nicht sehr sinnvoll, wenn ich heiraten würde – das gebe ich zu –, aber es geht ums Prinzip.

Abgesehen davon bin ich nicht Eric; ich bin ich, und ich bin hier, und damit hat sich die Sache. Ich kümmere mich nicht um andere Leute, und sie tun gut daran, sich nicht um mich zu kümmern, wenn sie sich Schwierigkeiten ersparen wollen. Ich beschere den Leuten keine brennenden Hunde und erschrecke die hiesigen Kleinkinder nicht mit einer Handvoll Maden oder einem Mundvoll Würmer. Kann schon sein, daß die Leute in der Stadt sagen: »Oh, der hat nicht alle beisammen, wissen Sie.« Aber das ist ihr Spaß (und manchmal, wenn sie es besonders spannend machen wollen, zeigen sie nicht einmal mit dem Finger zum Kopf, während sie es sagen); mich stört das nicht. Ich habe gelernt, mit meiner Behinderung zu leben, und ich habe gelernt, ohne andere Menschen zu leben, also kann mir das alles nichts anhaben.

Mein Vater hatte jedoch offenbar die Absicht, mich zu verletzen; so etwas pflegte er normalerweise nicht zu sagen. Die Nachricht über Eric mußte ihn erschüttert haben. Ich glaube, er wußte, genausogut wie ich, daß Eric zurückkommen würde, und er machte sich Sorgen, welche Probleme daraus entstehen würden. Ich konnte es ihm nicht verübeln, und ich zweifelte nicht daran, daß er sich auch meinetwegen Sorgen machte. Ich verkörpere ein Verbrechen, und wenn Eric zurückkommt und alles wieder neu aufwühlt, könnte DIE WAHRHEIT ÜBER FRANK herauskommen.

Ich bin nirgends registriert. Ich habe keine Geburtsurkunde, keine Sozialversicherungsnummer, nichts, aus dem hervorgeht, daß ich lebe oder je existiert habe. Ich weiß, daß das ein Verbrechen ist, und mein Vater weiß es auch, und ich glaube, daß er die Entscheidung manchmal bedauert, die er vor siebzehn Jahren getroffen hat – in seinen Hippie-Anarchisten-Zeiten oder wie immer man sie nennen soll.

Nicht, daß ich wirklich darunter gelitten hätte. Mir hat es Spaß gemacht, und man kann nicht behaupten, daß ich keine Ausbildung genossen hätte. Ich weiß wahrscheinlich besser in den herkömmlichen Schulfächern Bescheid als irgend jemand sonst in meinem Alter. Ich könnte mich allenfalls über den mangelnden Wahrheitsgehalt einiger der Informationen beschweren, die mir mein Vater vermittelt hat, das schon. Seit ich in der Lage bin, allein nach Porteneil zu gehen und die Dinge in der Bibliothek nachzulesen, kann mir mein Vater kaum noch etwas vormachen, aber als ich noch jünger war, hat er mich immer wieder zum Narren gehalten und meine ehrlichen, wenn auch naiven Fragen mit ausgemachtem Quatsch beantwortet. Jahrelang war ich der Meinung, Pathos sei einer der drei Musketiere, Fellatio eine Figur aus Hamlet, Vitriol eine Stadt in China und irische Bauern müßten Torf mit den Füßen stampfen, um Guinness herzustellen.

Nun, heute kann ich das oberste Regalbrett unserer Hausbibliothek erreichen und einfach nach Porteneil spazieren, um die dortige Bücherei zu besuchen, und somit kann ich alles überprüfen, was mein Vater sagt, und er muß mir die Wahrheit sagen. Das ärgert ihn sehr, vermute ich, aber das ist nun mal der Lauf der Welt. Man könnte es Fortschritt nennen.

Aber ich bin gebildet. Obwohl er es sich nicht verkneifen konnte, sich mit seinem ziemlich kindischen Humor auszutoben, indem er mir etliche Finten vorsetzte, wollte mein Vater auch nicht darauf verzichten, in seinem Sohn sich selbst in irgendeiner Weise verwirklicht zu sehen; was meinen Körper betrifft, wäre alles vergebliche Liebesmühe gewesen, also blieb nur mein Geist. Deshalb der intensive Unterricht. Mein Vater ist ein gebildeter Mann, und einen Großteil seines bereits vorhandenen Wissens hat er an mich weitergegeben, darüber hinaus betrieb er für sich selbst Studien auf Gebieten, in denen er sich bis dahin nicht so gut auskannte, nur um mich unterrichten zu können. Mein Vater ist Doktor der Chemie oder vielleicht der Biochemie – ich bin mir nicht ganz sicher. Er besaß offenbar ausreichende Kenntnisse in der allgemeinen Medizin – und vielleicht hatte er auch noch Kontakte zu diesem Berufsstand –, um dafür zu sorgen, daß ich alle Impfungen und Spritzen zum richtigen Zeitpunkt in meinem Leben bekam, trotz meiner offiziellen Nichtexistenz im Hinblick auf die staatliche Gesundheitsfürsorge.

Ich glaube, mein Vater hat nach seiner Doktorarbeit noch ein paar Jahre an der Universität gearbeitet, und vielleicht hat er irgend etwas erfunden; er läßt ab und zu eine Bemerkung fallen, daß er irgendwelche Gewinnanteile aus einem Patent oder so ähnlich erhält, aber ich habe den Verdacht, der alte Hippie lebt vom Familienvermögen der Cauldhames, das irgendwo gut versteckt angelegt ist.

Die Familie lebt seit etwa zweihundert Jahren in diesem Teil Schottlands, oder sogar noch länger, soweit ich erfahren habe, und uns gehörte mal eine ganze Menge Land in dieser Gegend. Jetzt besitzen wir nur noch die Insel, und die ist ziemlich klein und bei Ebbe eigentlich keine Insel mehr. Das einzige andere Zeugnis unserer glorreichen Vergangenheit ist der Name des Hotspots von Porteneil, einer heruntergekommenen alten Kneipe namens Cauldhame Arms, wo ich jetzt ab und zu hingehe, obwohl ich natürlich noch nicht alt genug dafür bin, und die Jugend des Ortes bei ihren Versuchen beobachte, Punk-Gruppen zu bilden. Dort traf und treffe ich immer noch den einzigen Menschen, den ich als meinen Freund bezeichne; Jamie den Zwerg, den ich auf meinen Schultern sitzen lasse, damit er die Bands sieht.

»Nun ja, ich glaube nicht, daß er es so weit schafft. Man wird ihn vorher aufgreifen«, sagte mein Vater erneut, nach langem und nachdenklichem Schweigen. Er stand auf, um sein Glas auszuspülen. Ich summte vor mich hin, was ich immer tat, wenn mir nach Lächeln oder Lachen zumute war und ich es mir anders überlegte. Mein Vater sah mich an. »Ich gehe ins Arbeitszimmer. Vergiß nicht abzuschließen, ja?«

»Alles klar«, sagte ich und nickte. »Gute Nacht.«

Mein Vater verließ die Küche. Ich saß da und betrachtete meinen Spaten, STOUTSTROKE. Kleine Krümel von trockenem Sand klebten daran, und ich wischte sie weg. Das Arbeitszimmer. Eine meiner wenigen unbefriedigten Bestrebungen ist es, das Arbeitszimmer des Alten zu betreten. Den Keller habe ich wenigstens gesehen und war auch schon einige Male darin, ich kenne alle Räume im Erdgeschoß und im zweiten Stock; der Dachboden ist ganz und gar meine Domäne und immerhin der Sitz meiner WESPENFABRIK; aber diesen einen Raum im ersten Stock kenne ich nicht, ich habe ihn nie von innen gesehen.

Ich weiß, daß er darin irgendwelche Chemikalien hat, und ich vermute, daß er Experimente oder so etwas macht, aber wie der Raum aussieht, was er wirklich darin treibt – davon habe ich keine Ahnung. Die einzigen Eindrücke, die ich von ihm habe, sind ein paar eigenartige Gerüche und das Tap-Tap des Stocks meines Vaters.

Ich strich über den langen Griff des Spatens und fragte mich, ob mein Vater seinem Stock wohl einen Namen gegeben hatte. Ich bezweifelte es. Er mißt diesen Dingen nicht die gleiche Bedeutung bei wie ich. Ich weiß, daß sie wichtig sind.

Ich glaube, das Arbeitszimmer birgt ein Geheimnis. Er hatte mehr als einmal entsprechende Andeutungen gemacht, zwar nur vage, aber immerhin ausreichend, um in mir den Drang zum Weiterfragen zu wecken, damit er weiß, daß ich eigentlich fragen will. Ich frage natürlich nicht, denn ich bekäme sowieso keine befriedigende Antwort. Wenn er überhaupt darauf einginge, würde er mir einen Haufen Lügen auftischen, denn es liegt auf der Hand, daß das Geheimnis kein Geheimnis mehr wäre, wenn er mir die Wahrheit sagte, und er spürt genau wie ich, daß er, je erwachsener ich werde, mir gegenüber so viele Trümpfe wie möglich in der Hand halten muß; ich bin kein Kind mehr. Es sind lediglich diese kleinen Stückchen scheinbarer Macht, die ihn in dem Glauben bestärken, daß er das Sagen in unserer Beziehung hat, die er für die angemessene Vater-Sohn-Beziehung hält. Es ist wirklich bedauernswert, aber mit seinen Spielchen und seinen Geheimnissen und seinen verletzenden Äußerungen versucht er, seine Überlegenheit zu wahren.

Ich lehnte mich auf dem Holzstuhl zurück und streckte mich aus. Ich mag den Geruch der Küche. Das Essen, der Schlamm an unseren Gummistiefeln und manchmal der Gestank von Kordit, der schwach aus dem Keller heraufdringt, all das erweckt in mir ein gutes, dichtes, aufwühlendes Gefühl, wenn ich darüber nachdenke. Bei Regen, wenn unsere Kleider naß sind, riecht es anders. Im Winter stößt der große schwarze Ofen eine Hitze aus, die nach Treibholz oder Torf duftet, und alles dampft, und der Regen hämmert gegen die Fensterscheiben. Dann macht sich ein behagliches Gefühl der Geborgenheit breit, man kommt sich bestens aufgehoben vor, wie eine große, dicke Katze, die den Schwanz um sich selbst geschlungen hat. Manchmal wünschte ich, wir hätten eine Katze. Bisher besaß ich lediglich einmal einen Katzenkopf, und den haben mir die Möwen geklaut.

Ich ging zur Toilette, die von der Küche aus am anderen Ende des Flurs lag, um zu scheißen. Ich brauchte nicht zu pinkeln, denn ich hatte den ganzen Tag über die PFÄHLE angepinkelt und ihnen meine Duftnote und meine Macht eingegeben.

Ich saß da und dachte über Eric nach, dem etwas so Unerfreuliches widerfahren war. Armer verdrehter Kerl. Ich fragte mich, wie ich mich schon so oft gefragt hatte, wie ich damit fertig geworden wäre. Aber es war nun mal nicht mir passiert. Ich bin hiergeblieben, und Eric war derjenige, der weggegangen war, und es war alles an einem anderen Ort geschehen, und mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich bin ich, und hier ist hier.

Ich lauschte, ob ich meinen Vater hören konnte. Vielleicht war er gleich ins Bett gegangen. Er schläft oft in seinem Arbeitszimmer, lieber als in dem großen Schlafzimmer im zweiten Stock, wo auch das meine liegt. Kann sein, daß dieser Raum zu viele unangenehme (oder angenehme) Erinnerungen für ihn birgt. Wie auch immer, ich hörte kein Schnarchen.

Ich hasse es, daß ich mich in der Toilette immer hinsetzen muß. Mit meiner unseligen Behinderung bin ich im allgemeinen gezwungen dazu, als ob ich eine verdammte Frau wäre, aber ich hasse es. Manchmal stelle ich mich im Cauldhame Arms vor das Urinierbecken, aber meistens endet das damit, daß mir alles an den Händen oder Beinen entlangläuft.

Ich strengte mich an. Plumps platsch. Etwas Wasser spritzte hoch und traf meine Arschbacken, und in diesem Moment klingelte das Telefon.

»Scheiße«, sagte ich und mußte gleich darauf über mich selbst lachen. Ich wischte mir schnell den Hintern ab, zog meine Hose hoch, betätigte die Spülung und tapste in den Flur hinaus, während ich noch mit dem Reißverschluß beschäftigt war. Ich hastete die breiten Stufen zum Treppenabsatz des ersten Stocks hinauf, wo unser Telefon steht. Ich rede seit ewigen Zeiten auf meinen Vater ein, daß er noch ein paar Telefone anschaffen soll, doch er sagt, daß wir nicht oft genug angerufen werden, als daß Nebenanschlüsse gerechtfertigt wären. Ich erreichte das Telefon, bevor der Anrufer, wer immer es sein mochte, auflegte. Mein Vater war nicht aufgetaucht.

»Hallo«, sagte ich. Der Anruf kam aus einer Fernsprechzelle.

»Krä-äächz!« brüllte eine Stimme am anderen Ende.

Ich hielt den Hörer von meinem Ohr weg und sah ihn mürrisch an. Weitere kleine Schreie drangen aus der Hörmuschel. Als sie aufhörten, hob ich den Hörer wieder an mein Ohr.

»Porteneil 531«, sagte ich kühl.

»Frank! Frank! Ich bin’s. Ich! Hallo! Hallo!«

»Ist da ein Echo in der Leitung, oder sagst du alles zweimal?« fragte ich. Ich erkannte Erics Stimme.

»Sowohl als auch! Ha ha ha ha ha!«

»Hallo, Eric. Wo bist du?«

»Hier! Wo bist du?«

»Hier.«

»Wenn wir beide hier sind, warum bemühen wir dann das Telefon?«

»Sag mir, wo du bist, ehe dein Kleingeld zu Ende ist.«

»Aber wenn du hier bist, dann mußt du das doch wissen. Oder weißt du nicht, wo du bist?« Er kicherte.

Ich sagte ruhig: »Hör auf, so albern zu sein, Eric.«

»Ich bin nicht albern. Ich verrate dir nicht, wo ich bin; du würdest es bloß Angus weitersagen, und der würde die Polizei benachrichtigen, und die würde mich in die beschissene Klinik zurückbringen.«

»Gebrauche nicht so ordinäre Vierbuchstabenworte. Du weißt, daß ich sie nicht leiden kann. Natürlich werde ich Dad nichts verraten.«

»›Scheiße‹ ist kein Wort mit vier Buchstaben. Es ist… es ist ein Wort mit sieben Buchstaben. Ist die Sieben nicht deine Glückszahl?«

»Nein. Hör mal, willst du mir nicht endlich sagen, wo du bist? Ich möchte es wissen.«

»Ich werde dir sagen, wo ich bin, wenn du mir deine Glückszahl nennst.«

»Meine Glückszahl ist e.«

»Das ist keine Zahl. Das ist ein Buchstabe.«

»Es ist eine Zahl. Es ist eine transzendente Zahl: 2,718… «

»Das ist Betrug. Ich meinte eine ganze Zahl.«

»Dann hättest du dich genauer ausdrücken sollen«, sagte ich und seufzte, als das Piepsen ertönte und Eric mehrere Münzen nachwarf. »Soll ich dich zurückrufen?«

»Ho-ho. So leicht bekommst du es nicht aus mir heraus. Wie geht es dir überhaupt?«

»Mir geht es gut. Wie läuft’s bei dir?«

»Wie verrückt, ist doch klar«, sagte er ziemlich empört. Ich mußte lächeln.

»Hör mal, ich gehe davon aus, daß du hierher zurückkommst. Wenn du kommst, verbrenne bitte keine Hunde oder so was. Okay?«

»Wovon redest du? Ich bin es, Eric. Ich verbrenne keine Hunde!« Er fing an zu schreien. »Ich verbrenne keine beschissenen Hunde! Was zum Teufel glaubst du eigentlich, wer ich bin? Beschuldige mich ja nicht, daß ich Hunde verbrenne, du kleiner Bastard! Bastard

»Schon gut, Eric, es tut mir leid, es tut mir leid«, sagte ich so schnell ich konnte. »Ich möchte nur, daß du keine Schwierigkeiten bekommst; sei vorsichtig. Tu nichts, was die Leute gegen dich aufbringt, verstehst du? Die Leute können schrecklich empfindlich sein… «

»Na ja… «, hörte ich ihn sagen. Ich lauschte auf sein Atmen, dann wandelte sich seine Stimme. »Ja, ich komme nach Hause. Nur für kurze Zeit, um zu sehen, wie es euch beiden geht. Ich nehme an, ihr seid allein, du und der Alte?«

»Ja, nur wir beide. Ich freue mich darauf, dich zu sehen.«

»Oh, gut.« Er machte eine Pause. »Warum besuchst du mich nie?«

»Ich… ich dachte, Vater hätte dich an Weihnachten besucht?«

»Hat er das? Na ja… aber warum kommst du nie?« Er hörte sich traurig an. Ich verlagerte mein Gewicht auf den anderen Fuß und ließ den Blick über die Treppe zum oberen Absatz schweifen, halb in der Erwartung, meinen Vater zu sehen, wie er sich über das Geländer beugte, oder seinen Schatten an der Wand des oberen Flurs zu entdecken, wo er glaubte, sich verstecken und heimlich meine Telefongespräche belauschen zu können.

»Ich verlasse die Insel nicht gern für längere Zeit, Eric. Es tut mir leid, aber ich bekomme dabei immer so ein entsetzliches Gefühl im Magen, als ob darin ein dicker Klumpen wäre. Ich kann nicht so weit weggehen, nicht über Nacht bleiben oder… Ich kann es einfach nicht. Ich würde dich gern besuchen, aber du bist so weit weg.«

»Ich komme näher.« Seine Stimme klang wieder zuversichtlich.

»Gut. Wie weit bist du noch weg?«

»Das sage ich dir nicht.«

»Ich habe dir meine Glückszahl genannt.«

»Ich habe gelogen. Ich verrate dir trotzdem nicht, wo ich bin.«

»Das ist nicht… «

»Also, ich lege jetzt auf.«

»Möchtest du nicht mit Dad sprechen?«

»Noch nicht. Ich werde später mit ihm sprechen, wenn ich noch viel näher bin. Ich hänge jetzt ein. Bis dann. Paß auf dich auf.«

»Paß du auf dich auf.«

»Warum machst du dir Sorgen? Mit mir ist alles in Ordnung. Was soll mir schon passieren?«

»Laß alles sein, was die Leute ärgern könnte. Du weißt schon; ich meine, sie sind so schnell aufgebracht. Besonders was ihre Haustiere betrifft. Ich meine, ich will nicht… «

»Was? Was? Was redest du da von Tieren?« brüllte er.

»Nichts! Ich wollte nur sagen… «

»Du kleiner Scheißer!« schrie er. »Jetzt beschuldigst du mich wieder, Hunde zu verbrennen, ja? Und ich vermute, ich stopfe außerdem kleinen Kindern Würmer und Maden in den Mund und pinkle sie an, was?« kreischte er.

»Na ja«, sagte ich mit Bedacht, während ich mit dem Telefonkabel spielte, »da du davon sprichst… «

»Bastard! Bastard! Du kleiner Scheißer! Ich werde dich umbringen! Du… « Seine Stimme versagte, und ich mußte das Telefon erneut von mir weghalten, da er anfing, mit dem Hörer gegen die Wand der Telefonzelle zu hämmern. Lautes Gepolter übertönte das dezente Piepsen, das ankündigte, daß sein Geld zu Ende ging. Ich legte den Hörer auf die Gabel.

Ich blickte mich um, doch von Vater war immer noch nichts zu sehen. Ich kroch die Stufen hinauf und steckte den Kopf zwischen den Geländerholmen hindurch, doch der Flur war leer. Ich seufzte und setzte mich auf die Treppe. Das Gefühl beschlich mich, daß ich Eric am Telefon nicht besonders geschickt behandelt hatte. Ich habe nicht viel Talent im Umgang mit Menschen, und obwohl Eric mein Bruder ist, habe ich ihn seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen, seit er verrückt geworden ist.

Ich stand auf und ging in die Küche hinunter, um abzuschließen und meine Sachen zu holen, dann ging ich ins Bad. Ich beschloß, in meinem Zimmer fernzusehen oder Radio zu hören und bald einzuschlafen, damit ich gleich nach der Morgendämmerung aufstehen und eine Wespe für die FABRIK fangen konnte.

Ich lag auf dem Bett und hörte John Peel im Radio und den Wind, der um das Haus blies, und die Brandung am Strand. Unter meinem Bett verströmte mein Eigengebräu einen hefeschweren Geruch.

Ich dachte wieder an die OPFERPFÄHLE; diesmal ganz gezielt. Ich stellte mir einen nach dem anderen vor, rief mir ihre Position und die jeweiligen Komponenten ins Gedächtnis; ich sah im Geiste, welcher Ausblick sich den nichtsehenden Augen bot, und hastete durch jedes Bild wie ein Sicherheitsbeamter, der sich durch die Monitorbildschirme verschiedener Kameras schaltet. Ich hatte nicht das Gefühl, daß etwas fehlte; alles schien in bester Ordnung zu sein. Meine toten Wächter, diese Erweiterung von mir selbst, die durch die schlichte, doch unwiderrufliche Niederlage des Todes meiner Macht unterstanden, nahmen nichts wahr, was mir oder der Insel hätte Schaden zufügen können.

Ich öffnete die Augen und knipste das Nachttischlämpchen wieder an. Ich betrachtete mich in dem Spiegel über dem Frisiertisch auf der anderen Seite des Zimmers. Ich lag oben auf meinem Bettzeug, nackt bis auf die Unterhose.

Ich bin zu dick. Es ist nicht sehr schlimm, und ich kann auch nichts dafür – aber trotzdem, ich sehe nicht so aus, wie ich aussehen möchte. Schwabbelig, das bin ich. Stark und gesund, aber trotzdem zu plump. Ich möchte dunkel und bedrohlich aussehen; so wie ich eigentlich aussehen sollte, wie ich aussehen müßte, wie ich vielleicht aussehen würde, wenn ich nicht meinen kleinen Unfall gehabt hätte. Wenn man mich sah, würde man nie auf die Idee kommen, daß ich drei Menschen umgebracht habe. Es ist einfach nicht gerecht.

Ich schaltete das Licht wieder aus. Der Raum lag vollkommen im Dunkeln, nicht einmal der Schein der Sterne drang herein, während sich meine Augen anpaßten. Vielleicht sollte ich mir eines dieser LED-Weckradios wünschen, obwohl ich eigentlich sehr an meinem alten Messingwecker hänge. Einmal habe ich je eine Wespe an die Klangkörper der kupferfarbenen Glocken auf dem Gehäuse gebunden, so daß der kleine Hammer auf sie eindrosch, als am Morgen der Alarm losging.

Ich wache immer vor dem Weckerläuten auf, deshalb konnte ich es beobachten.

DER SCHLANGENPARK

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Ich nahm das Häuflein Asche, die Überbleibsel der Wespe, und füllte es in eine Streichholzschachtel, eingewickelt in ein altes Foto, das Eric zusammen mit meinem Vater zeigte. Auf dem Bild hielt mein Vater eine Porträtfotografie seiner ersten Frau, Erics Mutter, in der Hand, und sie war die einzige, die lächelte. Mein Vater starrte mit finsterer Miene in die Kamera. Der kleine Eric blickte in eine andere Richtung und bohrte mit gelangweiltem Gesicht in der Nase.

Der Morgen war frisch und kühl. Ich sah Dunst über dem Wald am Fuße der Berge und Nebel draußen über der Nordsee. Ich rannte mit kräftigen, schnellen Schritten über den nassen Sand, wo er glatt und fest war; dabei erzeugte ich mit dem Mund das Geräusch eines Düsentriebwerks und drückte mein Fernglas und meinen Umhängebeutel fest zu beiden Seiten an mich. Als ich auf gleicher Höhe mit dem BUNKER war, schwenkte ich landeinwärts ab und wurde langsamer, als ich auf den weichen weißen Sand des oberen Strandstreifens traf. Ich untersuchte im Streifflug sowohl Treibgut als auch Strandgut, doch ich entdeckte nichts Bemerkenswertes, nichts, das des Bergens wert gewesen wäre, lediglich eine alte Qualle, eine purpurfarbene Masse mit vier blassen Ringen im Inneren. Ich nahm eine geringfügige Kursänderung vor, um sie zu überfliegen, machte »Trrrrrfffao! Trrrrrrrrrrrrrfffao!« dazu und holte im Laufen zu einem kräftigen Tritt aus, woraufhin eine schmutzige Fontäne aus Sand und Quallenmasse um mich herum aufstob. »Pchrrt!« war das Geräusch der Explosion. Ich schwenkte wieder in die vorherige Richtung ein und strebte dem BUNKER zu.

Die PFÄHLE waren in gutem Zustand. Ich brauchte den Beutel mit den Köpfen und Körpern nicht. Ich suchte sie alle auf, arbeitete den ganzen Morgen hindurch, pflanzte die tote Wespe in ihrem Papiersarg nicht zwischen zwei der wichtigeren PFÄHLE ein, wie ich es ursprünglich vorgehabt hatte, sondern unter dem Weg, direkt am inselwärtigen Ende der Brücke. Da ich schon mal da war, kletterte ich an den Tragetauen hinauf zu der Stütze an der Festlandseite und sah mich um. Ich konnte bis zum Giebel des Hauses blicken und erkannte eines der Dachfenster des Dachbodens. Außerdem sah ich die Spitze der Church of Scotland in Porteneil und den Rauch, der aus einigen Kaminen in der Stadt aufstieg. Ich nahm das kleine Messer aus meiner linken Brusttasche und ritzte behutsam meinen linken Daumen an. Ich schmierte das rote Zeug über die Oberseite der Hauptquerstrebe, die einen der T-Träger der Stütze mit dem anderen verband, dann wischte ich meine kleine Wunde mit einem antiseptischen Tüchlein ab, das ich in einer meiner Taschen bei mir hatte. Danach kletterte ich wieder hinunter und las die Kugellagerkugel auf, mit der ich am Tag zuvor das Schild beschossen hatte.

Die erste Mrs. Cauldhame, Mary, Erics Mutter, starb zu Hause bei der Geburt ihres Kindes. Erics Kopf war zu groß für sie gewesen; sie erlitt einen Blutsturz und verblutete im Kindbett; das war im Jahr 1960. Eric litt sein ganzes Leben lang an ziemlich schlimmer Migräne, und ich neige sehr dazu, diese Unpäßlichkeit auf die Art seines Eintritts in diese Welt zurückzuführen. All das, seine Migräne und der Tod seiner Mutter, hatte, so glaube ich, viel damit zu tun, WAS MIT ERIC PASSIERT IST. Arme unglückliche Seele; er befand sich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, und etwas sehr Unwahrscheinliches trat ein und bewirkte durch puren Zufall bei ihm mehr, als es bei irgend jemandem sonst, dem es hätte widerfahren können, bewirkt hätte. Aber dieses Risiko geht man nun mal ein, wenn man von hier weggeht.

Wenn man es genau bedenkt, bedeutet das, daß Eric ebenfalls jemanden umgebracht hat. Ich hatte gedacht, ich sei der einzige Mörder in der Familie, aber der gute, alte Eric hat mich dabei übertrumpft, indem er seine Mama tötete, bevor er überhaupt einen Atemzug getan hatte. Unabsichtlich, zugegebenermaßen, aber nicht immer ist der Vorsatz der entscheidende Faktor.

Die FABRIK ließ etwas von Feuer verlauten.

Ich grübelte, was das zu bedeuten haben mochte. Die naheliegende Erklärung war, daß Eric irgendwelche Hunde in Brand stecken würde, doch war ich mit den Eigenarten der FABRIK zu sehr vertraut, um das als endgültig anzunehmen; ich hatte den Verdacht, daß noch mehr dahintersteckte.

In gewisser Weise tat es mir leid, daß Eric zurückkam. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, in Kürze einen KRIEG durchzuführen, vielleicht in der nächsten Woche oder so, doch da Eric wahrscheinlich in Erscheinung treten würde, hatte ich das Vorhaben aufgegeben. Ich hatte schon seit Monaten keinen guten KRIEG mehr geführt; der letzte war der zwischen den EINFACHEN SOLDATEN und den AEROSOLERN. In diesem Szenarium mußten sich sämtliche Truppen der 72. Division, komplett mit Panzern und Kanonen und Lastwagen und Nachschubtransportern und Hubschraubern und Schiffe, gegen die Invasion der AEROSOLER verbünden. Es war fast unmöglich, die AEROSOLER aufzuhalten, und die Soldaten samt ihren Waffen und ihrer Ausrüstung fielen dem Feuer zum Opfer und zerschmolzen überall zu nichts, bis ein tapferer Soldat, der sich an die Fersen eines AEROSOLERS geheftet hatte, als dieser zu seinem Stützpunkt zurückfloh, mit der Nachricht zurückkehrte (nach vielen Abenteuern), daß der Stützpunkt des Gegners ein Brotbrett war, das unter einem Überhang an einem Bach vertäut war. Eine Spezial-Kommandotruppe gelangte gerade rechtzeitig dorthin, um den Stützpunkt in tausend Stücke zu zerfetzen und schließlich den Überhang über den qualmenden Überresten in die Luft zu jagen. Ein guter KRIEG, mit allem, was dazugehörte, und einem aufsehenerregenderen Ende als die meisten (das ging sogar so weit, daß mein Vater mich bei meiner Rückkehr ins Haus an jenem Abend fragte, was es mit all den Explosionen und Feuern auf sich habe), aber er lag schon zu weit zurück.

Wie auch immer, jetzt, da Eric im Anmarsch war, erschien es mir keine besonders gute Idee zu sein, einen KRIEG zu beginnen, nur um ihn dann mitten im vollen Gange zu unterbrechen und sich der realen Welt zuzuwenden. Ich beschloß, die Feindseligkeiten für eine Weile zu verschieben. Statt dessen baute ich, nachdem ich einige der wichtigeren PFÄHLE mit wertvollen Substanzen eingerieben hatte, eine Dammanlage.

Als ich kleiner war, pflegte ich mir in der Fantasie auszumalen, daß ich das Haus durch einen Damm retten würde. Ein Feuer würde im Gras der Dünen ausbrechen oder ein Flugzeug abstürzen, und das einzige, was verhinderte, daß das Kordit im Keller in die Luft flog, war die Umleitung von Wasser aus der Dammanlage durch einen Kanal zum Haus. Zeitweise war es mein größter Wunsch, daß mein Vater mir einen Bagger kaufen sollte, damit ich wirklich große Dämme bauen konnte. Heute habe ich eine entschieden weisere, ja sogar metaphysische Einstellung zum Dammbau. Ich habe eingesehen, daß man das Wasser niemals wirklich besiegen kann; es wird am Ende immer triumphieren, einsickernd und benässend und ansteigend und untergrabend und überflutend. Das einzige, das man tun kann, ist, es umzuleiten oder seinen Weg für eine Weile zu versperren; es dazu zu überreden, etwas zu tun, das es eigentlich nicht tun will. Der Reiz liegt in der Eleganz des Kompromisses zwischen der Bahn, die das Wasser ziehen will (geleitet von der Schwerkraft und dem Mittel, durch das es bewegt wird) und dem Zweck, den der Mensch damit erfüllen möchte.

Tatsächlich glaube ich, daß nur wenige Wonnen im Leben mit der des Dammbauens vergleichbar sind. Man gebe mir einen ordentlich breiten Strand mit einer vernünftigen Neigung und nicht zuviel Seegras, dazu einen Meeresarm angemessener Größe, und ich bin den ganzen Tag glücklich, jeden Tag.